Bach im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt Ferruccio Busoni Ferrucio Busonis Entwurf einer neuen Ästhetik <strong>de</strong>r Tonkunst erschien 1907 und enthält Überlegungen zu neuen Tonskalen, Sechsteltonsystemen und auch Visionen <strong>de</strong>r Möglichkeit elektrisch erzeugter Klänge. Die Publikation einer überarbeiteten Fassung 1916 löste eine heftige Debatte aus, in <strong>de</strong>r sich Hans Pfitzner 1917 mit einer konservativen Schrift Futuristengefahr zu Wort mel<strong>de</strong>te. Diskutieren Sie die sich in <strong>de</strong>m folgen<strong>de</strong>n Text spiegeln<strong>de</strong>n Anschauungen Busonis vor <strong>de</strong>m Hintergrund seiner Notenausgaben von Werken Johann Seastian Bachs. 96 Ulrich Kaiser – Johann Sebastian Bach § 5 […] Die Notation, die Aufschreibung, von Musikstücken ist zuerst ein ingeniöser Behelf, eine Improvisation festzuhalten, um sie wie<strong>de</strong>rerstehen zu lassen. Jene verhält sich aber zu dieser wie das Portrait zum lebendigen Mo<strong>de</strong>ll. Der Vortragen<strong>de</strong> hat die Starrheit <strong>de</strong>r Zeichen wie<strong>de</strong>r aufzulösen und in Bewegung zu bringen. Die Gesetzgeber aber verlangen, daß <strong>de</strong>r Vortragen<strong>de</strong> die Starrheit <strong>de</strong>r Zeichen wie<strong>de</strong>rgebe, und erachten die Wie<strong>de</strong>rgabe für umso vollkommener, je mehr sie sich an die Zeichen hält. Was <strong>de</strong>r Tonsetzer notgedrungen von seiner Inspiration durch die Zeichen einbüßt, das soll <strong>de</strong>r Vortragen<strong>de</strong> durch seine eigene wie<strong>de</strong>rherstellen. Den Gesetzgebern sind die Zeichen selbst das Wichtigste, sie wer<strong>de</strong>n es ihnen mehr und mehr; die neue Tonkunst wird aus <strong>de</strong>n alten Zeichen abgeleitet, sie be<strong>de</strong>uten nun die Tonkunst selbst. Läge es nun in <strong>de</strong>r Macht <strong>de</strong>r Gesetzgeber, so müßte ein und dasselbe Tonstück stets in ein und <strong>de</strong>mselben Zeitmaß erklingen, sooft, von wem und unter welchen Bedingungen es auch gespielt wür<strong>de</strong>. Es ist aber nicht möglich, die schweben<strong>de</strong> expansive Natur <strong>de</strong>s göttlichen Kin<strong>de</strong>s wi<strong>de</strong>rsetzt sich; sie for<strong>de</strong>rt das Gegenteil. Je<strong>de</strong>r Tag beginnt an<strong>de</strong>rs als <strong>de</strong>r vorige und doch immer mit einer Morgenröte. Große Künstler spielen ihre eigenen Werke immer wie<strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>n, gestalten die Augenblicke um, beschleunigen und halten zurück - wie sie es nicht umsetzen konnten - und immer nach <strong>de</strong>n gegebenen Verhältnissen jener "ewigen Harmonie". Da wird <strong>de</strong>r Gesetzgeber unwillig und verweist <strong>de</strong>n Schöpfer auf <strong>de</strong>ssen eigene Zeichen. So wie es heute steht, behält <strong>de</strong>r Gesetzgeber recht. ›Notation‹ (›Skription‹) bringt mich auf Transkription: gegenwärtig ein recht mißverstan<strong>de</strong>ner, fast schimpflicher Begriff. Die häufige Opposition, die ich mit ›Transkiptionen‹ erregte, und die Opposition, die oft unvernünftige Kritik in mir hervorrief, veranlaßten mich zum Versuch, über diesen Punkt Klarheit zu gewinnen. Was ich endgültig darüber <strong>de</strong>nke, ist: Je<strong>de</strong> Notation ist schon Transkription eines abstrakten Einfalls. Mit <strong>de</strong>m Augenblick, da die Fe<strong>de</strong>r sich seiner bemächtigt, verliert <strong>de</strong>r Gedanke seine Originalgestalt. Die Absicht, <strong>de</strong>n Einfall aufzuschreiben, bedingt schon die Wahl von Taktart und Tonart. Form- und Klangmittel, für welche <strong>de</strong>r Komponist sich entschei<strong>de</strong>n muß, bestimmen mehr und mehr <strong>de</strong>n Weg und die Grenzen. Im übrigen muten die meisten Klavierkompositionen Beethovens wie Transkriptionen vom Orchester an, die meisten Schumannschen Orchesterwerke wie Übertragungen vom Klavier - und sind's in gewisser Weise auch. Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik <strong>de</strong>r Tonkunst, Triest 1907.
Bach und die Romantik Vergleichen Sie eine Variation aus Bachs Ciaconna für Violine solo in d-Moll mit ihrer Bearbeitung durch Felix Men<strong>de</strong>lssohn und Ferruccio Busoni. Beschreiben Sie auffällige Unterschie<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>n Beispielen. Variation aus <strong>de</strong>r Ciaconna in d-Moll für Violine solo: Die gleiche Stelle in <strong>de</strong>r Bearbeitung von Felix Men<strong>de</strong>lssohn: Die gleiche Stelle in <strong>de</strong>r Bearbeitung von Ferruccio Busoni: Bach im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt Ulrich Kaiser – Johann Sebastian Bach 97