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Theorie & Praxis<br />
trische zwei- und dreiteilige Formkonzepte, die auf klassische Sonatenkompositionen vorverweisen. Mit<br />
<strong>de</strong>r Aufgabenstellung, <strong>musik</strong>theoretische Mo<strong>de</strong>lle zu validieren, lässt sich zu<strong>de</strong>m die Arbeitsweise <strong>musik</strong>theoretischer<br />
Forschung veranschaulichen (Annahme von Mo<strong>de</strong>llen aufgrund von Vorwissen, Überprüfung<br />
<strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>lle an Musik, Entwicklung neuer Mo<strong>de</strong>lle im Falle ihrer Unzulänglichkeit usw.). Zu<strong>de</strong>m<br />
för<strong>de</strong>rt die Auffor<strong>de</strong>rung, <strong>musik</strong>theoretisches Wissen zu überprüfen und gegebenenfalls eigene Definitionen<br />
zu versuchen, einen schüleraktiven Unterricht, stärkt die Kritikfähigkeit und regt zum bewussten<br />
Hören von Musik an. Wird dieser Ansatz <strong>de</strong>s praktischen Umgangs mit Musiktheorie für <strong>de</strong>n Musikunterricht<br />
gewählt, ließen sich je<strong>de</strong>nfalls <strong>musik</strong>theoretisches Denken und <strong>musik</strong>alisches Hören auf eine sehr<br />
sinnvolle Art verbin<strong>de</strong>n, und es könnte eine Vorstellung davon vermittelt wer<strong>de</strong>n, dass Musiktheorie<br />
mehr sein kann als Bassschlüssel und Quintenzirkel.<br />
Kritik an <strong>de</strong>m Theorie-Praxis-Schema kommt nicht nur von <strong>de</strong>m Soziologen und Systemtheoretiker<br />
Niklas Luhmann, son<strong>de</strong>rn auch aus <strong>de</strong>r Musikpsychologie. Vieles spricht dafür, dass die Unterscheidung<br />
zwischen Theorie und Praxis lediglich dazu dient, zwei verschie<strong>de</strong>ne Handlungsarten voneinan<strong>de</strong>r abzugrenzen<br />
und zwar Reflexion bzw. problemlösen<strong>de</strong>s Denken von an<strong>de</strong>ren Handlungsarten wie Tun, Handlung<br />
und Kognition. Aber warum?<br />
Der Grund wird in neuerer <strong>musik</strong>psychologischer Forschung benannt: Nur die Reflexion erfor<strong>de</strong>rt ein<br />
Unterbrechen bestehen<strong>de</strong>n Han<strong>de</strong>lns. Man kann sehr wohl Geige spielen, auf ein Dirigat schauen, sein<br />
Spiel minimal verlangsamen o<strong>de</strong>r beschleunigen, mit einem Auge auf die Wanduhr schielen und daran<br />
<strong>de</strong>nken, wann endlich Pause ist. Das alles ist gleichzeitig möglich o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Sprache <strong>de</strong>r Psychologie:<br />
Es geschieht in paralleler Reizverarbeitung. Setzt jedoch Reflexion bzw. problemlösen<strong>de</strong>s Denken ein,<br />
lassen sich all die genannten Dinge nicht mehr gleichzeitig ausführen. Wird einer Schülerin o<strong>de</strong>r einem<br />
Schüler beispielsweise eine Frage gestellt, die zur Reflexion zwingt, ist Schluss mit Musik empfin<strong>de</strong>n, Musik<br />
machen o<strong>de</strong>r an die Pause <strong>de</strong>nken. Dann wer<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>re Handlungsweisen erzwungen (Nach<strong>de</strong>nken<br />
und Antworten) und es fin<strong>de</strong>t – in <strong>de</strong>r Sprache <strong>de</strong>r Psychologie – ein Wechsel von paralleler zu serieller<br />
Reizverarbeitung statt. Erst im Anschluss an das Nach<strong>de</strong>nken und Antworten (wenn sich <strong>de</strong>r Lehrer umgedreht<br />
hat) kann man wie<strong>de</strong>r auf die Uhr schauen und sehnsüchtig die Pause herbeisehnen.<br />
Reflexion, die auf Musiktheorie und <strong>musik</strong>alische Analyse zielt, erzwingt also das Unterbrechen gewohnter<br />
Handlungen wie Musikhören, Musikempfin<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Musikmachen. Der Wechsel von einer gewohnten,<br />
positiv besetzten Handlung zu einer ungewohnten ist dabei für je<strong>de</strong>n Menschen – nicht nur für<br />
Schülerinnen und Schüler und nicht nur in <strong>de</strong>r Schule – schwer und muss geübt wer<strong>de</strong>n, damit er gelingt.<br />
Konsequent wäre es daher, nicht ein bestimmtes <strong>musik</strong>theoretisches Faktum zum Gegenstand <strong>musik</strong>theoretischer<br />
Reflexion zu erheben, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Moduswechsel zur <strong>musik</strong>theoretischen Reflexion selbst zu<br />
üben. Dabei ist die Reflexions-Problematik keineswegs ein spezielles Problem <strong>de</strong>r Musiktheorie. Immer,<br />
wenn <strong>de</strong>r Wechsel zur Reflexion erzwungen wird, können als Nebenwirkungen Abwehrhaltungen auftreten<br />
und zwar unabhängig davon, ob sich die Reflexion auf Musikmachen, Musikfühlen, Musiktheorie<br />
o<strong>de</strong>r etwas an<strong>de</strong>res bezieht (beispielsweise auf die Unterhaltung mit <strong>de</strong>r Nachbarin o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Nachbarn).<br />
Der Übergang zur Reflexion lässt sich zwar versüßen, in<strong>de</strong>m man die Ergebnisse <strong>de</strong>s problemlösen<strong>de</strong>n<br />
Denkens nicht an wahr und unwahr misst bzw. die Angst vor falschen Antworten aus <strong>de</strong>m Spiel<br />
nimmt. Aber auch bei <strong>de</strong>r Verbalisierung <strong>de</strong>s eigenen Gefühls bzw. von Geschmacksurteilen muss <strong>de</strong>r<br />
Wechsel von <strong>de</strong>r Empfindung zur Reflexion stattfin<strong>de</strong>n (mit <strong>de</strong>n bekannten Begleiterscheinungen).<br />
Aus <strong>de</strong>n genannten Grün<strong>de</strong>n ist es letztendlich auch nicht maßgeblich, wann <strong>musik</strong>theoretische Reflexion<br />
im Unterricht erfolgt bzw. ob sie am Anfang o<strong>de</strong>r am En<strong>de</strong> einer Unterrichtseinheit geplant wird. Wichtig<br />
ist nur, wie sie unterrichtet wird (ob als Praxis o<strong>de</strong>r als Abfragegegenstand bzw. Disziplinierungsmittel).<br />
Bleibt zu hoffen, dass ein Scheitern spezifischer Inhalte zukünftig auch einem mangelhaften methodischen<br />
Vermögen zugerechnet wird und nicht das Misslingen eines methodisch dürftigen Unterrichts als<br />
Legitimation für das Zurückdrängen bestimmter Inhalte missbraucht wird.<br />
Ulrich Kaiser – Johann Sebastian Bach 9