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Grundkurs Öffentliches Baurecht - Dr. Stefan Deckers

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<strong>Grundkurs</strong> Öffentliches <strong>Baurecht</strong><br />

von Rechtsanwalt <strong>Dr</strong>. <strong>Stefan</strong> <strong>Deckers</strong>, Lehrbeauftragter an der Hochschule Anhalt<br />

Literatur: Foerster/Gäbel/Luda-Rudel/Niebergall, Bauordnung des Landes Sachsen-An­<br />

halt (2008); Haar, Landesbauordnung Sachsen-Anhalt (2006) (Textausgabe mit Einfüh­<br />

rung); Hoppe/Bönker/Grotefels, Öffentliches <strong>Baurecht</strong>, 4. Auflage (2010); Maurer, Allge­<br />

meines Verwaltungsrecht, 18. Auflage (2011); Muckel, Öffentliches <strong>Baurecht</strong> (2010); Tet­<br />

tinger/Erbguth/Mann, Besonderes Verwaltungsrecht, 9. Auflage (2007)<br />

Hinweise zur Benutzung des Skripts: Allen Studierenden steht eine Sammlung mit Geset­<br />

zestexten zur Verfügung. Eine vernünftige Beschäftigung mit der Materie des öffentlichen<br />

<strong>Baurecht</strong>s setzt die Lektüre der in diesem Skript zitierten Vorschriften voraus. Ich rate drin­<br />

gend dazu, die Gesetzestexte parallel zum Skript zu lesen. Weitere Gesetze finden sich<br />

unter www.gesetze-im-internet.de, einer Website des Bundesjustizministeriums. Der Kom­<br />

mentar von Foerster/Gäbel/Luda-Rudel/Niebergall ist zum großen Teil im Internet verfüg­<br />

bar (Namen der Autoren bei amazon eingeben und dann "Blick ins Buch").<br />

§ 1 <strong>Baurecht</strong> und öffentliches <strong>Baurecht</strong><br />

I. <strong>Baurecht</strong><br />

Wir unterscheiden zwischen öffentlichem <strong>Baurecht</strong> und privatem <strong>Baurecht</strong>. Wichtig ist<br />

die Unterscheidung insbesondere für die Wahl des richtigen Rechtsweges. Für öffentlich<br />

rechtliche Streitverfahren gibt es den Verwaltungsrechtsweg (§ 40 I 1 VwGO 1 : „Der Ver­<br />

waltungsrechtsweg ist in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtli­<br />

cher Art gegeben, soweit die Streitigkeiten nicht durch Bundesgesetz einem anderen Ge­<br />

richt ausdrücklich zugewiesen sind“):<br />

1 Verwaltungsgerichtsordnung.


1. Instanz: Verwaltungsgericht (VG), in Sachsen Anhalt: Halle (Saale) und Magdeburg<br />

2. Instanz (Berufung): Oberverwaltungsgericht (OVG) Sachsen Anhalt in Magdeburg<br />

- 2 -<br />

3. Instanz (Revision): Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in Leipzig<br />

Für privatrechtliche Streitverfahren ist der ordentliche Rechtsweg gegeben (§ 13 GVG 2 :<br />

„Vor die ordentlichen Gerichte gehören die bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, die Familien­<br />

sachen und die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Zivilsachen) sowie die<br />

Strafsachen, für die nicht entweder die Zuständigkeit von Verwaltungsbehörden oder Ver­<br />

waltungsgerichten begründet ist oder auf Grund von Vorschriften des Bundesrechts be­<br />

sondere Gerichte bestellt oder zugelassen sind.“).<br />

1. Instanz: Streitwert bis 5.000,- EUR: Amtsgericht (AG)<br />

Streitwert über 5.000,- EUR: Landgericht (LG)<br />

2. Instanz (Berufung): Streitwert bis 5.000,- EUR: Landgericht (LG)<br />

Streitwert über 5.000,- EUR: Oberlandesgericht (OLG)<br />

Naumburg<br />

3. Instanz (Revision): Bundesgerichtshof (Karlsruhe)<br />

II. Öffentliches <strong>Baurecht</strong><br />

Lernziele: Im Rahmen dieser Darstellung soll vermittelt werden, dass für jede bauliche<br />

Maßnahme eine Baugenehmigung erforderlich ist. Es soll in Grundzügen verstanden<br />

werden, wie und aufgrund welcher Bedingungen eine Baugenehmigung erteilt wird und<br />

welche Rechtsbehelfe dem Bauwilligen oder bestimmten <strong>Dr</strong>itten zur Verfügung stehen,<br />

wenn die Genehmigung erteilt oder nicht erteilt wird.<br />

Darüber hinaus soll gelernt werden, welche ordnungsbehördlichen Maßnahmen der<br />

Bauverwaltung zur Verfügung stehen, wenn gegen baurechtliche Regeln verstoßen wird.<br />

Die Studierenden einen Überblick über die Möglichkeiten des Rechtsschutzes gegen sol­<br />

che Maßnahmen erlangen.<br />

Schließlich wird das öffentliche Nachbarrecht in groben Zügen dargestellt. Was kann<br />

der Nachbar gegen Baugenehmigungen zu Gunsten seines Nachbarn unternehmen,<br />

2 Gerichtsverfassungsgesetz.


- 3 -<br />

wenn sie ihn belasten? Wann hat er einen öffentlich rechtlichen Anspruch auf behördli­<br />

ches Einschreiten, wenn sich der Nachbar baurechtswidrig verhält? Was bedeutet <strong>Dr</strong>itt­<br />

schutz?<br />

Ich zitiere von der Web-Site des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwick­<br />

lung (www.bmvbs.de):<br />

„Unter öffentlichem <strong>Baurecht</strong> versteht man die Gesamtheit der öffentlich-rechtlichen<br />

Rechtsvorschriften, die sich auf die Ordnung und Förderung der baulichen Nutzung von<br />

Grundstücken beziehen. Hierzu zählen insbesondere Regelungen, die die Zulässigkeit<br />

und Grenzen von baulichen Anlagen, ihre Errichtung, Nutzung, Änderung, Beseitigung und<br />

ihre notwendige Beschaffenheit betreffen. Es dient dem Ausgleich der Interessen des<br />

Grundstückseigentümers und den Interessen der Allgemeinheit. In Abgrenzung dazu regelt<br />

das private <strong>Baurecht</strong> den Interessenausgleich privater Grundstückseigentümer (zivilrechtli­<br />

ches Nachbarrecht) und umfasst darüber hinaus das Bauvertragsrecht.“<br />

Eine Rechtsvorschrift enthält nach der so genannten modifizierten Subjektstheorie (auch<br />

Sonderrechtstheorie oder Zuordnungstheorie, vgl. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht,<br />

18. Auflage (2011), § 3 Rn. 10 bis 17, insbesondere 13) immer dann öffentliches Recht,<br />

wenn sie ausschließlich einen Träger hoheitlicher Gewalt berechtigt oder verpflichtet.<br />

Eine Vorschrift, die jedermann berechtigen oder verpflichten kann, enthält Privatrecht.<br />

Die Anwendung auf das <strong>Baurecht</strong> führt zum Ergebnis, dass vom öffentlichen <strong>Baurecht</strong><br />

immer dann die Rede ist, wenn ein Gesetz dem Bund, den Ländern, den Kommunen und<br />

ihren jeweiligen Parlamenten oder Behörden Aufgaben zur allgemeinen oder konkreten<br />

Regelung des Bauens zuweist. Träger öffentlicher Gewalt ist der Staat. Das sind die<br />

Bundesländer (Art. 30 GG) und der Bund (Art. 31 GG). Staatliche Aufgaben können durch<br />

Gesetz auf nichtstaatliche Einrichtungen übertragen werden, etwa die Gebietskörperschaf­<br />

ten, die Gemeinden und Kreise (Art. 28 GG). Diese erfüllen die Aufgaben dann unter staat­<br />

licher Aufsicht im sog. "übertragenen Wirkungskreis" ("Aufgaben zur Erfüllung nach Wei­<br />

sung"). In Sachsen-Anhalt werden die unteren Bauaufsichtsbehörden (Landkreise und<br />

kreisfreie Städte, § 56 I Nr. 1 BauO LSA) im übertragenen Wirkungskreis tätig (§ 57 I<br />

BauO LSA). Gemäß § 2 I 1 BauGB stellen die Gemeinden die Bauleitpläne in eigener<br />

Verantwortung in der Rechtsform einer Satzung (§ 10 I BauGB) auf. In beiden Fällen han­


delt es sich also um öffentliches <strong>Baurecht</strong>.<br />

- 4 -<br />

Die Verwaltung handelt durch allgemeine und durch besondere Regelungen. Allgemeine<br />

Regelungen erfolgen in der Regel durch Pläne.<br />

Beispiele: Bebauungspläne (§§ 8 ff. BauGB 3 ), Flächennutzungspläne (§§ 5 ff. BauGB),<br />

Raumordnungspläne und Regionalpläne (§§ 8 ff. ROG 4 )<br />

Konkrete Regelungen erfolgen durch Verwaltungsakte.<br />

Beispiel: Baugenehmigung (§§ 71 BauO LSA 5 ).<br />

Der Verwaltungsakt ist in § 35 I 1 VwVfG 6 definiert. Die Vorschrift lautet: „Verwaltungsakt<br />

ist jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde<br />

zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf<br />

unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist.“<br />

Im Rahmen dieser Darstellung ist das Wissen ausreichend, dass ein Verwaltungsakt einen<br />

Einzelfall regelt. So erlaubt eine Baugenehmigung (§ 71 BauO LSA) ein bestimmtes Bau­<br />

vorhaben auf einem ganz bestimmten Grundstück. Eine Beseitigungsanordnung (§ 79 S. 1<br />

BauO LSA) betrifft eine ganz bestimmte bauliche Anlage. Ein Bebauungsplan (§ 8<br />

BauGB) hingegen regelt für den beplanten Bereich ganz allgemein Art und Maß der bauli­<br />

chen Nutzung. Seine Festlegungen gelten dann für alle Bauvorhaben im Planungsgebiet.<br />

Die Unterscheidung ist z.B. wichtig für die Rechtsmittel. Für Verwaltungsakte gilt § 42<br />

VwGO (vgl. auch: § 68 VwGO). Für Pläne gilt § 47 VwGO (siehe unten).<br />

III. Das private <strong>Baurecht</strong><br />

Der Begriff "Privates <strong>Baurecht</strong>" ist gesetzlich nicht definiert. §§ 648, 648a BGB sprechen<br />

vom "Unternehmer eines Bauwerks". Gemeint ist der Werkunternehmer (§§ 631 ff. BGB),<br />

3 Baugesetzbuch.<br />

4 Raumordnungsgesetz.<br />

5 Bauordnung Land Sachsen Anhalt.<br />

6 Verwaltungsverfahrensgesetz.


- 5 -<br />

der auf einem Grundstück eine mit Grund und Boden fest verbundene Sache, insbesonde­<br />

re ein Gebäude (vgl. § 93 BGB) errichtet. Hierzu gehören auch die Personen, die Pla­<br />

nungs- und Überwachungsleistungen für ein Bauwerk erbringen, also Architekten und<br />

Fachingenieure. Gegenstand des privaten <strong>Baurecht</strong>s ist also das gesamte Vertragsrecht<br />

der Bauunternehmer, Architekten und Ingenieure. Bauunternehmer in diesem Sinne sind<br />

auch Bauträger (zur Definition vgl. § 34c I Nr. 4 a) GewO 7 ). Zum privaten <strong>Baurecht</strong> zählt<br />

nicht nur das Recht der Werkverträge selbst, sondern auch das Recht der Sicherheitsleis­<br />

tungen (z.B. Bürgschaften, Hypotheken), die Kontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen<br />

(§§ 305 ff. BGB) im Bauvertrag, das Gewerberecht der Makler und Bauträger (MaBV 8 ) so­<br />

wie das Honorarrecht der Architekten und Ingenieure (HOAI 9 ) (MaBV und HOAI enthalten<br />

eigentlich öffentliches Recht, haben aber direkte Auswirkungen auf die jeweiligen privaten<br />

Verträge und werden daher zum privaten <strong>Baurecht</strong> gezählt). Zum privaten <strong>Baurecht</strong> zählen<br />

auch andere Vertragstypen, etwa Kauf (§§ 433 ff. BGB) bei der Baustofflieferung oder Mie­<br />

te (§§ 531 ff. BGB) bei der entgeltlichen Geräteüberlassung. Schließlich sei auf das Recht<br />

der Insolvenz am Bau verwiesen. Auch dieses ist eigentlich öffentliches Recht - nur ein<br />

staatliches Gericht kann das Insolvenzverfahren eröffnen und der Insolvenzverwalter han­<br />

delt hoheitlich - es hat aber erhebliche Auswirkungen auf privatrechtliche Forderungen.<br />

Zwischen öffentlichem und privatem <strong>Baurecht</strong> gibt es Berührungspunkte. Beispiele: (1)<br />

Gegenüber dem Bauunternehmer ist der Bauherr zur Besorgung der Baugenehmigung<br />

verpflichtet. Solange diese nicht vorliegt, kann und darf der Unternehmer mit dem Bauen<br />

nicht beginnen. Er kann somit auch nicht in Verzug (§ 286 BGB) geraten und schuldet kei­<br />

nen Schadensersatz, wenn er später fertig wird als vereinbart, denn kein Verzug ohne Ver­<br />

schulden (§ 286 IV BGB). (2) Hat sich ein Architekt vertraglich verpflichtet, eine Baugeneh­<br />

migung für seinen Auftraggeber herbeizuführen, so muss diese unwiderruflich und unan­<br />

fechtbar sein. Wird die einmal erteilte Baugenehmigung etwa aufgrund einer Intervention<br />

des Nachbarn wieder aufgehoben, ist das Architektenwerk mangelhaft und der Auftragge­<br />

ber hat die in § 634 BGB aufgeführten Rechte.<br />

7 Gewerbeordnung.<br />

8 Makler- und Bauträgerverordnung.<br />

9 Honorarordnung der Architekten und Ingenieure.


§ 2 Planungs- und Ordnungsrecht<br />

- 6 -<br />

Innerhalb des öffentlichen <strong>Baurecht</strong>s unterscheiden wir zwischen Bauplanungsrecht und<br />

Bauordnungsrecht. Es besteht hier eine gewisse Analogie zur obigen Unterscheidung<br />

zwischen der Einzelfallregelung und der allgemeinen Regelung.<br />

I. Bauordnungsrecht<br />

Das Bauordnungsrecht ist immer objektbezogen (Hoppe, in: Hoppe/Bönker/Grotefels, Öf­<br />

fentliches <strong>Baurecht</strong>, 4. Aufl. (2010), § 1 Rn. 9). Es dient der öffentlichen Sicherheit. Gefah­<br />

ren, die mit der Errichtung, der Nutzung, der Änderung und dem Abbruch von Gebäuden<br />

verbunden sind, sollen abgewehrt werden (sogenannte „Gefahrenabwehr“). Vergleiche<br />

hierzu § 3 I BauO LSA: „Anlagen sind so anzuordnen, zu errichten, zu ändern und instand<br />

zu halten, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere Leben, Gesundheit<br />

und die natürlichen Lebensgrundlagen, nicht gefährdet werden.“ Und § 57 II BauO LSA:<br />

„Die Bauaufsichtsbehörden haben bei der Errichtung, der Änderung, der Nutzung, der Nut­<br />

zungsänderung, der Instandhaltung und der Beseitigung von Anlagen darüber zu wachen,<br />

dass die öffentlich-rechtlichen Vorschriften und die aufgrund dieser Vorschriften erlasse­<br />

nen Anordnungen eingehalten werden, soweit nicht andere Behörden zuständig sind. Sie<br />

können in Wahrnehmung dieser Aufgaben die erforderlichen Maßnahmen treffen.“<br />

Das Bauordnungsrecht ist in den Landesbauordnungen der Bundesländer kodifiziert (Ord­<br />

nungsrecht ist gemäß Art. 70 GG Ländersache - BVerfGE 10 3, 407, 433; BVerfGE 8, 143,<br />

150). In Sachsen Anhalt ist das die BauO LSA vom 20.12.2005 (auffindbar unter:<br />

http://www.landesrecht.sachsen-anhalt.de). Da es um Einzelfallregelungen geht, ist das ty­<br />

pische Regelungsmittel der Verwaltungsakt (vgl. hierzu nochmals § 35 I VwVfG).<br />

Die Bauaufsichtsbehörden können verschiedene Arten der Entscheidungen treffen.<br />

Man sollte kennen:<br />

- Baugenehmigung (§ § 71 BauO LSA)<br />

- Einstellungsanordnung (§ 78 I BauO LSA)<br />

- Beseitigungsanordnung (§ 79 S. 1 BauO LSA)<br />

10 Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Band, Seite).


- 7 -<br />

- Nutzungsuntersagung (§ 79 S. 2 BauO LSA).<br />

Verwaltungsakte können begünstigend, belastend oder auch beides sein. Gegen belasten­<br />

de Entscheidungen gibt es die Rechtsmittel des Widerspruchs (§ 68 VwGO) und der An­<br />

fechtungsklage (§ 42 I VwGO).<br />

II. Bauplanungsrecht<br />

Bauplanungsrecht nennt man auch Städtebaurecht. Der Begriff bezeichnet die Gesamt­<br />

heit der Regeln über die flächenspezifische Nutzbarkeit von Grundstücken. Vgl. § 1 I<br />

BauGB: "Aufgabe der Bauleitplanung ist es, die bauliche und sonstige Nutzung der Grund­<br />

stücke in der Gemeinde nach Maßgabe dieses Gesetzbuchs vorzubereiten und zu leiten."<br />

Das Planungsrecht ermöglicht den Trägern der Bauleitplanung, nämlich den Gemeinden<br />

(vgl. §§ 1 II 1, 2 I 1 BauGB), vorausschauend und allgemeinverbindlich die bauliche Nut­<br />

zung des Gemeindegebietes zu regeln und damit die Gemeinde in baulicher Hinsicht zu<br />

gestalten.<br />

Die den Gemeinden übertragene Befugnis zur eigenverantwortlichen (§ 2 I 1 BauGB) ist<br />

ein Ausfluss des Rechts der gemeindlichen Selbstverwaltung (vgl. Art. 28 II 1 GG: "Den<br />

Gemeinden muss das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Ge­<br />

meinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln."). Dieses wird in<br />

verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise dadurch eingeschränkt, dass die Ge­<br />

meinde die Bauleitpläne den Zielen der Raumordnung anpassen (§ 1 IV BauGB) und sie<br />

mit den Bauleitplänen benachbarter Gemeinden abstimmen muss (§ 2 II 1 BauGB) (in den<br />

Ländern sind dies der landesweite Raumordnungsplan (§ 8 I Nr. 1 ROG) und die Regional­<br />

pläne (§ 8 I Nr. 2 ROG)).<br />

Das Bauplanungsrecht ist im Wesentlichen geregelt im BauGB 11 und der BauNVO 12 , einer<br />

Verordnung, zu deren Erlass das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwick­<br />

lung durch § 9a BauGB ermächtigt ist. Der Begriff des Bauplanungsrechts rührt daher,<br />

dass das wichtigste Regelungsinstrument dieses Rechtsgebietes der Plan ist. Eine allge­<br />

meine Definition eines Rechtsbegriffs "Plan" gibt es nicht (Maurer, Allgemeines Verwal­<br />

11 Baugesetzbuch.<br />

12 Baunutzungsverordnung.


- 8 -<br />

tungsrecht, 18. Auflage (2011), § 16 Rn. 13). Das BauGB beschreibt aber, welche Bauleit­<br />

pläne es gibt und welche Inhalte diese haben. § 1 II BauGB: "Bauleitpläne sind der Flä­<br />

chennutzungsplan (vorbereitender Bauleitplan) und der Bebauungsplan (verbindlicher<br />

Bauleitplan)."<br />

§ 5 I 1 BauGB: "Im Flächennutzungsplan ist für das ganze Gemeindegebiet die sich<br />

aus der beabsichtigten städtebaulichen Entwicklung ergebende Art der Bodennutzung<br />

nach den voraussehbaren Bedürfnissen der Gemeinde in den Grundzügen darzustellen."<br />

In § 5 II BauGB ist dann ausführlich dargestellt, welche Arten von Flächen ausgewiesen<br />

werden können, etwa Bauflächen, Versorgungsflächen, Verkehrsflächen, Grünflächen,<br />

Landwirtschaftsflächen, Wald etc.<br />

"Der Bebauungsplan enthält die rechtsverbindlichen Festsetzungen für die städtebau­<br />

liche Ordnung. Er bildet die Grundlage für weitere, zum Vollzug dieses Gesetzbuchs erfor­<br />

derliche Maßnahmen." (§ 8 I BauGB). Das ist gewissermaßen die Schnittstelle zum Bau­<br />

ordnungsrecht: Da die Festsetzungen des Bebauungsplans rechtverbindlich sind, handelt<br />

es sich um öffentlich rechtliche Vorschriften im Sinne von § 71 I BauO LSA: "Die Bauge­<br />

nehmigung ist zu erteilen, wenn dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschrif­<br />

ten entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind."<br />

D.h.: Eine bauliche Anlage kann nur genehmigt werden, wenn sie mit den Festsetzungen<br />

des Bebauungsplans übereinstimmt (zum Inhalt der Festsetzungen vgl. unten § 3).<br />

§ 3 Bauplanungsrecht<br />

I. Bauplanungsrecht und Baugenehmigung<br />

Die Zulässigkeit eines Bauantrages hängt neben den ordnungsrechtlichen Bestimmungen<br />

davon ab, dass das geplante Vorhaben mit den planungsrechtlichen Normen überein­<br />

stimmt. Dabei ist zu unterscheiden, ob das Grundstück, auf dem gebaut werden soll, im<br />

Geltungsbereich eines Bebauungsplans liegt oder nicht. Ist dies der Fall, gilt § 30 BauGB:<br />

die bauliche Anlage muss die Erfordernisse des Bebauungsplans erfüllen. Gibt es keinen


- 9 -<br />

Bebauungsplan, gelten die §§ 34 und 35 BauGB. Es ist dann zu unterscheiden, ob das<br />

Bauvorhaben im Innenbereich oder im Außenbereich geplant ist.<br />

II. Die Aufstellung der Bauleitplanung<br />

Bei der Aufstellung der Bauleitplanung sind die formellen Anforderungen zu beachten. Dar­<br />

über hinaus muss die Gemeinde verschiedene Belange gerecht gegeneinander abwägen.<br />

1. Verfahren<br />

§ 2 BauGB bestimmt: "Die Bauleitpläne sind von der Gemeinde in eigener Verantwortung<br />

aufzustellen." Die Aufstellung erfolgt in Form einer Satzung. § 10 I BauGB: "Die Gemeinde<br />

beschließt den Bebauungsplan als Satzung."<br />

Das Verfahren der Aufstellung der Bauleitpläne ist im BauGB nur rudimentär geregelt. Da<br />

es sich um eine Maßnahme der Selbstverwaltung der Gemeinde handelt (Art. 28 II 1 GG)<br />

und die Pläne als Satzung beschlossen werden, gelten die Regelungen des Kommunal­<br />

rechts. Vgl. § 44 II GO 13 LSA: "Der Gemeinderat ist im Rahmen der Gesetze für alle An­<br />

gelegenheiten der Gemeinde zuständig, soweit nicht der Bürgermeister kraft Gesetzes zu­<br />

ständig ist oder ihm der Gemeinderat bestimmte Angelegenheiten übertragen hat." Der<br />

Gemeinderat kann gemäß § 44 III Nr. 1 GO LSA die Entscheidung über den Erlass, die<br />

Änderung und Aufhebung von Satzungen nicht übertragen. Er ist also für den Beschluss<br />

der Bauleitpläne zuständig. Der Gemeinderat und die Ausschüsse beschließen gemäß §<br />

54 I 1 GO LSA durch Abstimmungen und Wahlen. Der Bürgermeister hat Stimmrecht im<br />

Gemeinderat und in den Ausschüssen, soweit er diesen vorsitzt (§ 54 I 2 GO LSA). Ge­<br />

mäß § 54 II 1 GO LSA erfolgen die Abstimmungen offen. Beschlüsse werden, soweit das<br />

Gesetz oder in Angelegenheiten des Verfahrens die Geschäftsordnung nichts anderes be­<br />

stimmt, mit der Mehrheit der auf Ja oder Nein lautenden Stimmen gefasst (§ 54 II 2 GO<br />

LSA). Bei Stimmengleichheit ist ein Antrag abgelehnt (§ 54 II 3 GO LSA).<br />

Im BauGB selbst ist das Recht der Öffentlichkeitsbeteiligung geregelt (§ 3 BauGB). Die<br />

Öffentlichkeit ist gemäß § 3 I 1 BauGB möglichst frühzeitig über die allgemeinen Ziele und<br />

Zwecke der Planung, sich wesentlich unterscheidende Lösungen, die für die Neugestal­<br />

13 Gemeindeordnung.


- 10 -<br />

tung oder Entwicklung eines Gebiets in Betracht kommen, und die voraussichtlichen Aus­<br />

wirkungen der Planung öffentlich zu unterrichten; ihr ist Gelegenheit zur Äußerung und Er­<br />

örterung zu geben. Gemäß § 3 I 2 BauGB kann hiervon aus den dort genannten Gründen<br />

ausnahmsweise abgesehen werden. Die Entwürfe der Bauleitpläne sind gemäß § 3 II 1<br />

BauGB mit der Begründung und den nach Einschätzung der Gemeinde wesentlichen, be­<br />

reits vorliegenden umweltbezogenen Stellungnahmen für die Dauer eines Monats öffent­<br />

lich auszulegen. Ort und Dauer der Auslegung sowie Angaben dazu, welche Arten um­<br />

weltbezogener Informationen verfügbar sind, sind gemäß § 3 II 2 BauGB mindestens eine<br />

Woche vorher ortsüblich bekannt zu machen. Die Bürger der Gemeinde haben Gelegen­<br />

heit zur Stellungnahme. Der Gemeinderat bleibt aber frei in der Entscheidung, ob er die­<br />

se berücksichtigt oder nicht.<br />

Darüber hinaus sind die Behörden zu beteiligen, deren Belange durch die Planung berührt<br />

werden (§ 4 BauGB), etwa die Umwelt- und Denkmalschutzämter.<br />

2. Abwägung<br />

§ 1 VII BauGB sagt: "Bei der Aufstellung der Bauleitpläne sind die öffentlichen und priva­<br />

ten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen." Das ist eine allge­<br />

meine Rechtsregel. Sie schreibt vor, dass Pläne nicht nach freier Anschauung geschaffen<br />

werden, sondern dass alle Belange abgewogen werden sollen. Solche Belange sind:<br />

1. die allgemeinen Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse und die<br />

Sicherheit der Wohn- und Arbeitsbevölkerung,<br />

2. die Wohnbedürfnisse der Bevölkerung, die Schaffung und Erhaltung sozial stabiler Be­<br />

wohnerstrukturen, die Eigentumsbildung weiter Kreise der Bevölkerung und die Anforde­<br />

rungen Kosten sparenden Bauens sowie die Bevölkerungsentwicklung,<br />

3. die sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Bevölkerung, insbesondere die<br />

Bedürfnisse der Familien, der jungen, alten und behinderten Menschen, unterschiedliche<br />

Auswirkungen auf Frauen und Männer sowie die Belange des Bildungswesens und von<br />

Sport, Freizeit und Erholung,<br />

4. die Erhaltung, Erneuerung, Fortentwicklung, Anpassung und der Umbau vorhan­<br />

dener Ortsteile sowie die Erhaltung und Entwicklung zentraler Versorgungsbereiche,<br />

5. die Belange der Baukultur, des Denkmalschutzes und der Denkmalpflege, die erhal­<br />

tenswerten Ortsteile, Straßen und Plätze von geschichtlicher, künstlerischer oder städte­


- 11 -<br />

baulicher Bedeutung und die Gestaltung des Orts- und Landschaftsbildes,<br />

6. die von den Kirchen und Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts festgestell­<br />

ten Erfordernisse für Gottesdienst und Seelsorge,<br />

7. die Belange des Umweltschutzes, einschließlich des Naturschutzes und der Land­<br />

schaftspflege, insbesondere<br />

a) Auswirkungen auf Tiere, Pflanzen, Boden, Wasser, Luft, Klima und das Wirkungsgefüge<br />

zwischen ihnen sowie die Landschaft und die biologische Vielfalt,<br />

b) die Erhaltungsziele und der Schutzzweck der Natura 2000-Gebiete im Sinne des Bun­<br />

desnaturschutzgesetzes,<br />

c) umweltbezogene Auswirkungen auf den Menschen und seine Gesundheit sowie die Be­<br />

völkerung insgesamt,<br />

d) umweltbezogene Auswirkungen auf Kulturgüter und sonstige Sachgüter,<br />

e) die Vermeidung von Emissionen sowie der sachgerechte Umgang mit Abfällen und Ab­<br />

wässern,<br />

f) die Nutzung erneuerbarer Energien sowie die sparsame und effiziente Nutzung von<br />

Energie,<br />

g) die Darstellungen von Landschaftsplänen sowie von sonstigen Plänen, insbesondere<br />

des Wasser-, Abfall- und Immissionsschutzrechts,<br />

h) die Erhaltung der bestmöglichen Luftqualität in Gebieten, in denen die durch Rechts­<br />

verordnung zur Erfüllung von bindenden Beschlüssen der Europäischen Gemeinschaften<br />

festgelegten Immissionsgrenzwerte nicht überschritten werden,<br />

i) die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Belangen des Umweltschutzes nach den<br />

Buchstaben a, c und d,<br />

8. die Belange<br />

a) der Wirtschaft, auch ihrer mittelständischen Struktur im Interesse einer verbrau­<br />

chernahen Versorgung der Bevölkerung,<br />

b) der Land- und Forstwirtschaft,<br />

c) der Erhaltung, Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen,<br />

d) des Post- und Telekommunikationswesens,<br />

e) der Versorgung, insbesondere mit Energie und Wasser,<br />

f) der Sicherung von Rohstoffvorkommen,<br />

9. die Belange des Personen- und Güterverkehrs und der Mobilität der Bevölkerung, ein­<br />

schließlich des öffentlichen Personennahverkehrs und des nicht motorisierten Verkehrs,<br />

unter besonderer Berücksichtigung einer auf Vermeidung und Verringerung von Verkehr


ausgerichteten städtebaulichen Entwicklung,<br />

- 12 -<br />

10. die Belange der Verteidigung und des Zivilschutzes sowie der zivilen Anschlussnut­<br />

zung von Militärliegenschaften,<br />

11. die Ergebnisse eines von der Gemeinde beschlossenen städtebaulichen Entwick­<br />

lungskonzeptes oder einer von ihr beschlossenen sonstigen städtebaulichen Planung,<br />

12. die Belange des Hochwasserschutzes.<br />

3. Die inhaltlichen Festsetzungen der Bauleitplanung<br />

Es ist zu unterscheiden zwischen den Darstellungen im Flächennutzungsplan und den<br />

Festsetungen im Bebauungsplan.<br />

a) Flächennutzungsplan<br />

"Im Flächennutzungsplan ist für das ganze Gemeindegebiet die sich aus der<br />

beabsichtigten städtebaulichen Entwicklung ergebende Art der Bodennutzung nach den<br />

voraussehbaren Bedürfnissen der Gemeinde in den Grundzügen darzustellen." (§ 5 I 1<br />

BauGB). Die Einzelheiten ergeben sich aus § 5 II BauGB.<br />

b) Bebauungsplan<br />

"Bebauungspläne sind aus dem Flächennutzungsplan zu entwickeln." (§ 8 II 1 BauGB).<br />

Die möglichen Inhalte ergeben sich aus § 9 BauGB. Insbesondere sind möglich Festset­<br />

zungen über die Art und das Maß der baulichen Nutzung (§ 9 I Nr. 1 BauGB) sowie über<br />

die Bauweise, die überbaubaren und die nicht überbaubaren Grundstücksflächen sowie<br />

die Stellung der baulichen Anlagen (§ 9 I Nr. 2 BauGB). Wegen der weiteren Möglichkeiten<br />

wird auf § 9 Nr. 2a bis 26 BauGB sowie auf § 9 Ia bis VII BauGB verwiesen.<br />

4. Die Baunutzungsverordnung (BauNVO)<br />

§ 9 a I Nr. 2 BauGB bestimmt: „Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtent­<br />

wicklung wird ermächtigt, mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung<br />

Vorschriften zu erlassen über (…) 2. die in den Baugebieten zulässigen baulichen und<br />

sonstigen Anlagen.“ Diese Rechtsverordnung ist die sogenannte Baunutzungsverord­


- 13 -<br />

nung (BauNVO). In ihrem ersten Abschnitt regelt diese Verordnung, welche Baugebiete<br />

es gibt und welche Bauvorhaben in diesen im Regelfall oder ausnahmsweise zulässig<br />

sind. Dadurch wird den Gemeinden ermöglicht, allgemeine Regelungen über die Bebau­<br />

barkeit von Grundstücken zu treffen. Beispiele:<br />

a) Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung<br />

Art der baulichen Nutzung bedeutet Definition, als was in einem bestimmten Gebiet ein<br />

Gebäude genutzt werden darf. Beispiele: Wohngebäude, der Versorgung eines Gebiets<br />

dienende Läden, Schank- und Speisewirtschaften, nicht störenden Handwerksbetriebe,<br />

Anlagen für kirchliche, kulturelle, soziale, gesundheitliche und sportliche Zwecke,<br />

Betriebe des Beherbergungsgewerbes, nicht störende Gewerbebetriebe, Anlagen für<br />

Verwaltungen, Gartenbaubetriebe, Tankstelle etc. Die BauNVO legt in §§ 2 bis 14 fest,<br />

welche Nutzung in welchem Gebiet zulässig ist. Beispiele:<br />

aa) Allgemeine Wohngebiete<br />

§ 4 I BauNVO lautet: „Allgemeine Wohngebiete dienen vorwiegend dem Wohnen.“ Ge­<br />

mäß § 4 II BauNVO sind regelmäßig zulässig daher „1. Wohngebäude, 2. die der Versor­<br />

gung des Gebiets dienenden Läden, Schank- und Speisewirtschaften sowie nicht stö­<br />

renden Handwerksbetriebe, 3. Anlagen für kirchliche, kulturelle, soziale, gesundheit­<br />

liche und sportliche Zwecke.“ Ausnahmsweise können gemäß § 4 III BauNVO zugelas­<br />

sen werden „1. Betriebe des Beherbergungsgewerbes, 2. sonstige nicht störende Gewer­<br />

bebetriebe, 3. Anlagen für Verwaltungen, 4. Gartenbaubetriebe, 5. Tankstellen.“<br />

bb) Reine Wohngebiete<br />

Bei den reinen Wohngebieten gemäß § 3 BauNVO sind regelmäßig nur Wohngebäude<br />

zulässig (§ 3 II BauNVO). „Ausnahmsweise können zugelassen werden 1. Läden und<br />

nicht störende Handwerksbetriebe, die zur Deckung des täglichen Bedarfs für die Bewoh­<br />

ner des Gebiets dienen, sowie kleine Betriebe des Beherbergungsgewerbes, 2. Anlagen<br />

für soziale Zwecke sowie den Bedürfnissen der Bewohner des Gebiets dienende Anlagen<br />

für kirchliche, kulturelle, gesundheitliche und sportliche Zwecke.“ Gemäß § 3 VI BauNVO<br />

sind Wohngebäude im Sinne der Vorschrift auch Betreuungs- und Pflegeheime.


cc) Gewerbegebiete<br />

- 14 -<br />

Die Gewerbegebiete dienen vorwiegend der Unterbringung von nicht erheblich belästi­<br />

genden Gewerbebetrieben (§ 8 I BauNVO). Zulässig sind regelmäßig 1. Gewerbebetriebe<br />

aller Art, Lagerhäuser, Lagerplätze und öffentliche Betriebe, 2. Geschäfts-, Büro- und<br />

Verwaltungsgebäude, 3. Tankstellen, 4. Anlagen für sportliche Zwecke.“ (§ 8 II BauN­<br />

VO). „Ausnahmsweise können zugelassen werden 1. Wohnungen für Aufsichts- und<br />

Bereitschaftspersonen sowie für Betriebsinhaber und Betriebsleiter, die dem Gewerbe­<br />

betrieb zugeordnet und ihm gegenüber in Grundfläche und Baumasse untergeordnet sind,<br />

2. Anlagen für kirchliche, kulturelle, soziale und gesundheitliche Zwecke, 3. Vergnü­<br />

gungsstätten.“ (§ 8 III BauNVO).<br />

Die Beispiele verdeutlichen, dass die BauNVO einen allseitigen Interessenausgleich sucht.<br />

So sollen etwa spezifische Interessen beim „Wohnen“ berücksichtigt werden durch den<br />

grundsätzlichen Ausschluss von Emissionen, die für Gewerbe typisch sind, daher in reinen<br />

Wohngebieten nur ausnahmsweise Gewerbe und auch nur solches, das nicht stört, in Be­<br />

sonderen Wohngebieten vor allem versorgende Gewerbezweige und Anlage, die in irgend­<br />

einer Weise sozialen Zwecken dienen. Auf der anderen Seite werden aber auch die Inter­<br />

essen der Gewerbetreibenden gesehen. Es wird daher Wohnbebauung grundsätzlich un­<br />

tersagt, Ausnahme etwa Hausmeisterwohnungen.<br />

b) Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung<br />

Maß der baulichen Nutzung ist die zulässige bauliche Ausschöpfung des Gebäudes.<br />

Festgesetzt werden können<br />

- die zulässige Höhe baulicher Anlagen (§ 18 BauNVO)<br />

- die zulässige Grundfläche (§ 19 BauNVO)<br />

- die zulässige Geschossfläche je Quadratmeter Grundstücksfläche (§ 20 II BauNVO)<br />

- und die zulässige Baumasse je Quadratmeter Grundstücksfläche (§ 21 BauNVO).<br />

c) Festsetzungen über die Bauweise<br />

"Im Bebauungsplan kann die Bauweise als offene oder geschlossene Bauweise


- 15 -<br />

festgesetzt werden." (§ 22 I BauNVO). "In der offenen Bauweise werden die Gebäude mit<br />

seitlichem Grenzabstand als Einzelhäuser, Doppelhäuser oder Hausgruppen errichtet." (§<br />

22 II 1 BauNVO). "In der geschlossenen Bauweise werden die Gebäude ohne seitlichen<br />

Grenzabstand errichtet, es sei denn, daß die vorhandene Bebauung eine Abweichung<br />

erfordert." (§ 22 III BauNVO).<br />

III. Nicht beplante Gebiete<br />

Gemäß § 1 III BauGB haben die Gemeinden die Bauleitpläne aufzustellen, sobald und so­<br />

weit es für die städtebauliche Entwicklung und Ordnung erforderlich ist. Auf die Aufstellung<br />

von Bauleitplänen und städtebaulichen Satzungen besteht aber kein Anspruch; ein An­<br />

spruch kann auch nicht durch Vertrag begründet werden. Die §§ 34 und 35 BauGB regeln,<br />

wann Bauvorhaben in unbeplanten Gebieten zulässig sind. Dabei wird unterschieden<br />

zwischen Vorhaben im Innenbereich und solchen im Außenbereich.<br />

1. Unbeplanter Innenbereich<br />

§ 34 I BauGB lautet: „Innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile ist ein Vorha­<br />

ben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise<br />

und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Um­<br />

gebung einfügt und die Erschließung gesichert ist. Die Anforderungen an gesunde<br />

Wohn- und Arbeitsverhältnisse müssen gewahrt bleiben; das Ortsbild darf nicht beein­<br />

trächtigt werden.“<br />

a) Innenbereich<br />

Vom Innenbereich spricht man bei im Zusammenhang bebauten Ortsteilen (§34 I<br />

BauGB). Voraussetzung ist, dass (nach der Verkehrsauffasung) ein Eindruck von Ge­<br />

schlossenheit und Zusammengehörigkeit vermittelt wird (BVerwGE 31, 20, 21 f.). Baulück­<br />

ken durchbrechen diesen Zusammenhang jedenfalls nicht.<br />

b) Unbeplantheit<br />

Unbeplant sind solche Bereiche, wenn es hierfür keinen Bebauungsplan gibt.


c) "Einfügen"<br />

- 16 -<br />

Das beantragte Bauvorhaben ist zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen<br />

Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigen­<br />

art der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist (§ 34 I BauGB). § 34<br />

II Hs. 1 BauGB bestimmt: "Entspricht die Eigenart der näheren Umgebung einem der<br />

Baugebiete, die in der auf Grund des § 9a erlassenen Verordnung bezeichnet sind, beur­<br />

teilt sich die Zulässigkeit des Vorhabens nach seiner Art allein danach, ob es nach der Ver­<br />

ordnung in dem Baugebiet allgemein zulässig wäre (...)." D.h.: es ist zu prüfen, ob das Ge­<br />

biet, in dem die bauliche Anlage errichtet werden soll, Eigenschaften aufweist wie ein in<br />

der BauNVO beschriebenes Gebiet. Wenn das so ist, wird so entschieden, als seien tat­<br />

sächlich für dieses Gebiet Festsetzungen wie in einem Bebauungsplan vorhanden. Es gel­<br />

ten dann die Vorschriften der BauNVO gewissermaßen entsprechend.<br />

Beispiel (1): Innenstadt von Neubrandenburg (Mecklenburg-Vorpommern).<br />

© <strong>Dr</strong>. Birgit <strong>Deckers</strong><br />

Wir erkennen eine 3 1/2 geschossige Bauweise, die offensichtlich ab dem 1. Oberge­<br />

schoss dem Wohnen dient. In den Untergeschossen befinden sich Läden. Die Verwal­<br />

tungsgebäude im Hintergrund sind räumlich abgegrenzt, gehören also nicht mehr zum sel­


- 17 -<br />

ben Baugebiet. Das Gebiet im Vordergrund entspricht einem Mischgebiet (§ 6 BauNVO).<br />

Sollte es keinen Bebauungsplan geben, wären die dort genannten Nutzungen zulässig.<br />

Die Gebäudehöhe (§ 18 BauNVO) ist einheitlich, die Bauweise geschlossen (§ 22 III<br />

BauNVO). Eine geplante bauliche Anlage würde sich nur einfügen, wenn sie diese Merk­<br />

male aufweist.<br />

Beispiel (2): Innenstadt von Hildesheim (Niedersachsen)<br />

© <strong>Dr</strong>. Birgit <strong>Deckers</strong><br />

Hier besteht eine 2 1/2 geschossige historische Wohnbebauung. Allerdings gibt es mit Si­<br />

cherheit einen Bebauungsplan, der diese schützt. Wäre das nicht der Fall, würde allein die<br />

Beachtung der Art und des Maßes der baulichen Nutzung sowie der (hier geschlossenen)<br />

Bauweise noch nicht zum Schutz des historischen Ensembles führen.<br />

d) Erschließung<br />

Erschließung ist Voraussetzung für die Zulässigkeit aller Bauvorhaben. Nicht erschlossene<br />

Grundstücke dürfen nicht bebaut werden. Erschließung bedeutet: Anschluss an das öffent­<br />

liche Straßen- und Wegenetz sowie an das Ver- und Entsorgungsnetz.<br />

2. Außenbereich<br />

Zum Außenbereich gehören alle Grundstücke, die nicht zu einem im Zusammenhang<br />

bebauten Ortsteil gehören.


- 18 -<br />

Gibt es für diese Flächen keinen Bebauungsplan, so richtet sich die Zulässigkeit eines<br />

Bauvorhabens nach § 35 BauGB. Im Außenbereich sind im Regelfall nur ganz bestimmte<br />

bauliche Anlagen zugelassen. Man redet hier von Privilegierung.<br />

§ 35 I und II BauGB lauten: „(1) Im Außenbereich ist ein Vorhaben nur zulässig, wenn öf­<br />

fentliche Belange nicht entgegenstehen, die ausreichende Erschließung gesichert ist und<br />

wenn es<br />

1. einem land- oder forstwirtschaftlichen Betrieb dient und nur einen untergeordneten<br />

Teil der Betriebsfläche einnimmt,<br />

2. einem Betrieb der gartenbaulichen Erzeugung dient,<br />

3. der öffentlichen Versorgung mit Elektrizität, Gas, Telekommunikationsdienstleistun­<br />

gen, Wärme und Wasser, der Abwasserwirtschaft oder einem ortsgebundenen gewerbli­<br />

chen Betrieb dient,<br />

4. wegen seiner besonderen Anforderungen an die Umgebung, wegen seiner nachtei­<br />

ligen Wirkung auf die Umgebung oder wegen seiner besonderen Zweckbestimmung<br />

nur im Außenbereich ausgeführt werden soll,<br />

5. der Erforschung, Entwicklung oder Nutzung der Wind- oder Wasserenergie dient,<br />

6. der energetischen Nutzung von Biomasse im Rahmen eines Betriebes nach Nummer<br />

1 oder 2 oder eines Betriebes nach Nummer 4, der Tierhaltung betreibt, sowie dem An­<br />

schluss solcher Anlagen an das öffentliche Versorgungsnetz dient, unter folgenden Vor­<br />

aussetzungen:<br />

a) das Vorhaben steht in einem räumlich-funktionalen Zusammenhang mit dem Betrieb,<br />

b) die Biomasse stammt überwiegend aus dem Betrieb oder überwiegend aus diesem und<br />

aus nahe gelegenen Betrieben nach den Nummern 1, 2 oder 4, soweit letzterer Tierhal­<br />

tung betreibt,<br />

c) es wird je Hofstelle oder Betriebsstandort nur eine Anlage betrieben und<br />

d) die installierte elektrische Leistung der Anlage überschreitet nicht 0,5 MW<br />

oder<br />

7. der Erforschung, Entwicklung oder Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken<br />

oder der Entsorgung radioaktiver Abfälle dient.<br />

(2) Sonstige Vorhaben können im Einzelfall zugelassen werden, wenn ihre Ausführung<br />

oder Benutzung öffentliche Belange nicht beeinträchtigt und die Erschließung gesichert<br />

ist.“


- 19 -<br />

Die Vorschrift des § 35 BauGB ist dazu gedacht, einerseits die Wohnbebauung von Emis­<br />

sionen freizuhalten, die von privilegierten Anlagen ausgehen. Andererseits sollen aber<br />

auch solche Anlagen durch die Regelung gewissermaßen ihren „freien“ Bereich erhalten.<br />

Folglich ist etwa die Errichtung von Wohnhäusern im Außenbereich im Regelfall unzuläs­<br />

sig. Gleiches gilt für Anlagen für kirchliche Zwecke. Im Ausnahmefall kann von der stren­<br />

gen Regelung unter den Voraussetzungen des § 35 II BauGB abgesehen werden.<br />

Beispiel:<br />

Die „Bruder-Klaus-Feldkapelle“ (Bruder<br />

Klaus = St. Nikolaus) des berühmten<br />

Schweizer Architekten Peter Zumthor in<br />

Mechernich-Wachendorf in der Eifel<br />

(Rheinland-Pfalz), siehe Foto.<br />

© <strong>Dr</strong>. Birgit <strong>Deckers</strong><br />

Eine Ausnahme war hier möglich, weil keine privilegierte Bebauung vorhanden ist, die mit<br />

der Kapelle in Konflikt geraten könnte.<br />

§ 4 Die Baugenehmigung<br />

I. Gebundenheit der Entscheidung<br />

Die Baugenehmigung ist eine gebundene Entscheidung. Die Behörde ist zu ihrer Ertei­


- 20 -<br />

lung verpflichtet, wenn die gesetzlichen Vorschriften vorliegen (vgl. Frenz, JuS 14 2009,<br />

902 ff.). § 71 I BauO LSA lautet: „Die Baugenehmigung ist zu erteilen, wenn dem Bauvor­<br />

haben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen<br />

Genehmigungsverfahren zu prüfen sind.“ Der Bauwillige hat dann also einen Anspruch<br />

auf Erteilung der Baugenehmigung. Er kann gegebenenfalls vor dem Verwaltungsgericht<br />

auf Erteilung der Genehmigung klagen (sogenannte Verpflichtungsklage, § 42 I 2. Alt. 15<br />

VwGO, s. unten). Unter bestimmten Voraussetzungen können betroffene <strong>Dr</strong>itte aber auch<br />

die Aufhebung der Baugenehmigung verlangen (mit der sogenannten Anfechtungsklage, §<br />

42 I 1. Alt. VwGO). Denn die Baugenehmigung begünstigt den Adressaten, kann seinen<br />

Nachbarn aber belasten. Wenn das auf rechtswidrige Weise geschieht und der Nachbar<br />

hierdurch in eigenen Rechten verletzt wird, ist der Verwaltungsakt aufzuheben (vgl. § 113 I<br />

1 VwGO).<br />

II. Genehmigungsbedürftigkeit<br />

Es muss Genehmigungsbedürftigkeit bestehen. Fehlt diese im Einzelfall, kann die bauli­<br />

che Anlage legal ohne Baugenehmigung errichtet werden. § 58 I BauO LSA bestimmt:<br />

"Die Errichtung, Änderung und Nutzungsänderung von Anlagen bedürfen der Baugeneh­<br />

migung, soweit in den §§ 59 bis 61, 75 und 76 nichts anderes bestimmt ist."<br />

- "Errichtung" bedeutet erstmalige Erstellung.<br />

- "Änderung" ist nur die Änderung des baulichen Zustands.<br />

- "Nutzungsänderung" ist die Änderung der Nutzung, ohne dass notwendigerweise der<br />

bauliche Zustand verändert wird. Eine die Genehmigungspflicht auslösende Nutzungsän­<br />

derung soll nach obergerichtlichen Entscheidungen vorliegen, "wenn sich die neue Nut­<br />

zung von der bisherigen Nutzung dergestalt unterscheidet, dass sie anderen oder weiter­<br />

gehenden Anforderungen bauordnungs- oder bauplanungsrechtlicher Art unterworfen ist<br />

oder zumindest sein kann" (OVG Nordrhein-Westfalen, BauR 2011, 240 ff.). Eine solche<br />

Nutzungsänderung soll vorliegen, wenn auf einem landwirtschaftlich genutzten Gebäude<br />

eine Solaranlage oder auf einem Wohngebäude eine Mobilfunkanlage installiert und an<br />

einen <strong>Dr</strong>itten vermietet wird (OVG Nordrhein-Westfalen, BauR 2011, 240 ff.; OVG Nord­<br />

rhein-Westfalen, BauR 2002, 1844 ff.; kritisch hierzu: Vietmeier, BauR 2011, 210 ff.).<br />

14 Juristische Schulung, Zeitschrift.<br />

15 Alternative.


III. Genehmigungsfreiheit<br />

- 21 -<br />

Bauvorhaben sind in folgenden Fällen genehmigungsfrei:<br />

- Wenn sie nach anderen Rechtsvorschriften zulassungsbedürftig sind, § 59 BauO LSA<br />

(Vorrang anderer Gestattungsverfahren). Das sind z.B. wasserrechtlich zulassungsbe­<br />

dürftige Anlagen oder Werbeanlagen, die eine straßen- oder straßenverkehrsrechtliche<br />

Genehmigung erfordern.<br />

- Verfahrensfrei sind die in § 60 I BauO LSA abschließend aufgeführten Bauvorhaben. Es<br />

handelt sich um kleinere Vorhaben, von denen keine großen baulichen Wirkungen<br />

ausgehen, z.B. eingeschossige Gebäude mit einer Grundfläche bis 10 qm im Innenbereich<br />

(§ 60 I Nr. 1 BauO LSA). Verfahrensfreiheit bedeutet nicht, dass das Bauvorhaben mit<br />

öffentlich-rechtlichen Vorschriften nicht im Einklang stehen muss. Beispiel: ein<br />

eingeschossiges Gebäude mit einer Grundfläche bis 10 qm ist im reinen Wohngebiet (§ 3<br />

BauNVO) unzulässig, wenn es gewerblich genutzt wird. Der Bauherr muss nur selbst<br />

prüfen, ob die beabsichtigte Baumaßnahme im Einklang mit öffentlich-rechtlichen<br />

Vorschriften befindet. Tut es das nicht, kann die Behörde Ordnungsmaßnahmen ergreifen,<br />

vgl. § 79 BauO LSA.<br />

- Bestimmte Bauvorhaben, insbesondere Wohngebäude der Gebäudeklassen 1 bis 3 (vgl.<br />

§ 2 III Nr. 1 bis 3 BauO LSA) - können von der Genehmigung freigestellt sein (§ 61<br />

BauO LSA). Sie müssen dann im Geltungsbereich eines Bebauungsplans liegen (§ 61 II<br />

Nr. 1 BauO LSA), dürfen dessen Festsetzungen nicht widersprechen (§ 61 II Nr. 2 BauO<br />

LSA), und die Erschließung muss gesichert sein (§ 61 II Nr. 3 BauO LSA). Die "erforderli­<br />

chen Unterlagen" (§ 61 III 1 BauO LSA ) sind bei der Gemeinde einzureichen, die sie der<br />

unteren Bauaufsichtsbehörde (§ 56 I Nr. 1 BauO LSA) weitergibt. Der Bauherr darf einen<br />

Monat nach Einreichung der Unterlagen mit dem Bauen beginnen (§ 61 III 2 BauO LSA).<br />

Auch hier muss das Bauvorhaben materiell mit den öffentlich-rechtlichen Vorschriften<br />

übereinstimmen. Ohne Baugenehmigung riskiert der Bauherr, materiell-illegal zu bauen. Er<br />

darf daher auch in Fällen der Freistellung das Baugenehmigungsverfahren wählen (§ 61 II<br />

2 BauO LSA).


IV. Das Baugenehmigungsverfahren<br />

- 22 -<br />

Formelles Bauordnungsrecht regelt, wer wie entscheidet. Wer? Die Bauaufsichtsbehör­<br />

den. Wie? Nach den formellen Erfordernissen der BauO und des VwVfG.<br />

1. Die Bauaufsichtsbehörden<br />

Die Bauaufsichtsbehörden sind dreistufig organisiert. § 56 I 1 BauO LSA regelt:<br />

„Bauaufsichtsbehörden sind<br />

1. die Landkreise und kreisfreien Städte als untere Bauaufsichtsbehörden,<br />

2. das Landesverwaltungsamt als obere Bauaufsichtsbehörde und<br />

3. das für die Bauaufsicht zuständige Ministerium als oberste Bauaufsichtsbehörde.“<br />

Zuständig für alle Verfahren ist zunächst die untere Bauaufsichtsbehörde. § 56 I 2 BauO<br />

LSA: „Für den Vollzug dieses Gesetzes sowie anderer öffentlich-rechtlicher Vorschriften<br />

für die Errichtung, Änderung, Nutzungsänderung und Beseitigung sowie die Nutzung und<br />

die Instandhaltung von Anlagen ist die untere Bauaufsichtsbehörde zuständig, soweit<br />

nichts anderes bestimmt ist.“<br />

In Sachsen-Anhalt sind untere Bauaufsichtsbehörden in der Regel die Landkreise (Alt­<br />

markkreis Salzwedel, Landkreis Anhalt-Bitterfeld, Landkreis Börde, Burgenlandkreis, Land­<br />

kreis Harz, Landkreis Jerichower Land, Landkreis Mansfeld-Südharz, Landkreis Saale­<br />

kreis, Landkreis Stendal, Landkreis Wittenberg). Darüber hinaus gibt es untere Bauauf­<br />

sichtsbehörden bei den kreisfreien Städten und solchen Städten, die diesen per Gesetz<br />

gleichgestellt sind (Landeshauptstadt Magdeburg, Stadt Halle, Stadt Dessau-Roßlau,<br />

Stadt Köthen, Stadt Naumburg, Stadt Stendal, Stadt Weißenfels, Stadt Zeitz).<br />

Wer also etwa einen Bauantrag stellen will, muss sich dorthin richten.<br />

2. Die Erteilung der Baugenehmigung<br />

Der Bauantrag ist bei der Bauaufsichtsbehörde von einem Bauvorlageberechtigten<br />

schriftlich mit den notwendigen Unterlagen und Nachweisen einzureichen. Im Regelfall


- 23 -<br />

wird im sogenannten vereinfachten Baugenehmigungsverfahren entschieden.<br />

a) Bauvorlageberechtigung<br />

Bauvorlageberechtigung ist die Befugnis, für einen Bauwilligen einen Bauantrag zu stellen<br />

und die sogenannten Bauvorlagen einzureichen. § 64 Abs. 2 BauO LSA bestimmt:<br />

„Bauvorlageberechtigt ist, wer<br />

1. die Berufsbezeichnung ,,Architekt” oder ,,Architektin” führen darf,<br />

2. in die von der Ingenieurkammer Sachsen-Anhalt geführte Liste der bauvorlageberech­<br />

tigten Ingenieure 16 eingetragen ist; Eintragungen in anderen Bundesländern gelten auch<br />

im Land Sachsen-Anhalt,<br />

3. die Berufsbezeichnung ,,Innenarchitekt” oder ,,Innenarchitektin“ führen darf, für die<br />

mit der Berufsaufgabe des Innenarchitekten oder der Innenarchitektin verbundenen bauli­<br />

chen Änderungen von Gebäuden, oder<br />

4. einen berufsqualifizierenden Hochschulabschluss eines Studiums der Fachrichtung Ar­<br />

chitektur, Hochbau oder des Bauingenieurwesens nachweist, danach mindestens zwei<br />

Jahre auf dem Gebiet der Entwurfsplanung von Gebäuden praktisch tätig gewesen ist und<br />

Bediensteter oder Bedienstete einer juristischen Person des öffentlichen Rechts ist, für<br />

die dienstliche Tätigkeit.“<br />

b) Schriftform<br />

Der Bauantrag bedarf der Schriftform (§ 126 BGB) (§ 67 Abs. 1 BauO LSA: „Der Bauan­<br />

trag ist schriftlich bei der unteren Bauaufsichtsbehörde einzureichen.“). Unterschreiben<br />

müssen der Bauvorlageberechtigte und der Bauherr (Grotefels, in: Hoppe/Bönker/Grote­<br />

fels, Öffentliches <strong>Baurecht</strong>, 4. Aufl. (2010), § 16 Rn. 34).<br />

c) Unterlagen und Nachweise<br />

Der Baugenehmigung sind Unterlagen und Nachweise vorzulegen. § 67 Abs. 2 S. 1 BauO<br />

LSA lautet: „Mit dem Bauantrag sind alle für die Beurteilung des Bauvorhabens und die<br />

16 Erstaunlicherweise fehlen im Gegensatz zu Nummern 1, 3 und 4 die „Ingenieurinnen“.<br />

Das ist bloße Schlampigkeit, zeigt aber, welche juristischen Schwierigkeiten entstehen,<br />

wenn man mit Gesetzen die Welt verbessern will.


- 24 -<br />

Bearbeitung des Bauantrags erforderlichen Unterlagen (Bauvorlagen) einzureichen.“ § 65<br />

Abs. 1 S. 1 HS 17 1 BauO LSA bestimmt: „Die Einhaltung der Anforderungen an die Stand­<br />

sicherheit, den Brand-, Schall-, Wärme- und Erschütterungsschutz ist nach Maßgabe der<br />

aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Verordnung nachzuweisen (bautechnische Nach­<br />

weise).“ Dies verdeutlicht sehr gut, dass es beim Bauordnungsrecht um die öffentliche Si­<br />

cherheit geht, um Gefahrenabwehr.<br />

d) Nachbarbeteiligung im Baugenehmigungsverfahren<br />

Um den Nachbarschutz praktisch effektiv zu machen, sieht § 69 BauO LSA vor, dass die<br />

Nachbarn im Genehmigungsverfahren zu beteiligen sind. Die Vorschrift lautet: „(1) Die Ei­<br />

gentümer oder Eigentümerinnen benachbarter Grundstücke (Nachbarn) sind nach den<br />

Absätzen 2 bis 4 zu beteiligen. (2) Die Bauaufsichtsbehörde soll die Nachbarn vor der Zu­<br />

lassung von Abweichungen und Befreiungen benachrichtigen, wenn zu erwarten ist,<br />

dass öffentlich-rechtlich geschützte nachbarliche Belange berührt werden. Einwendungen<br />

sind innerhalb von zwei Wochen nach Zugang der Benachrichtigung bei der Bauaufsichts­<br />

behörde schriftlich oder zur Niederschrift vorzubringen. (3) Die Benachrichtigung ent­<br />

fällt, wenn die zu benachrichtigenden Nachbarn die Lagepläne und Bauzeichnungen un­<br />

terschrieben oder der Zulassung von Abweichungen und Befreiungen schriftlich zuge­<br />

stimmt haben. (4) Haben die Nachbarn dem Bauvorhaben nicht zugestimmt, ist ihnen die<br />

Baugenehmigung zuzustellen. Bei Bauvorhaben, die einer Genehmigung nicht bedür­<br />

fen, ist ihnen die Entscheidung über die Zulassung von Abweichungen und Befreiungen<br />

zuzustellen.“<br />

e) Vereinfachtes Baugenehmigungsverfahren<br />

Im Regelfall (außer bei Sonderbauten) 18 wird im sogenannten vereinfachten Genehmi­<br />

gungsverfahren entschieden. Gemäß § 62 S. 1 BauO prüft die Bauaufsichtsbehörde<br />

a) die Übereinstimmung mit den Vorschriften über die Zulässigkeit der baulichen Anla­<br />

gen nach den §§ 29 bis 38 des Baugesetzbuches,<br />

b) die Einhaltung der Anforderungen nach diesem Gesetz (also der BauO LSA) und der<br />

aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Vorschriften und<br />

17 Halbsatz.<br />

18 § 62 S. 1 BauO LSA oder wenn ein Bauvorhaben ganz genehmigungsfrei ist.


- 25 -<br />

c) die Einhaltung der anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften.<br />

Zu den „anderen“ öffentlich-rechtlichen Vorschriften gehört etwa das BauPG. 19 § 4 Abs. 1<br />

BauPG bestimmt: „Ein Bauprodukt darf nur in den Verkehr gebracht und frei gehandelt<br />

werden, wenn es brauchbar nach § 5 und auf Grund nachgewiesener Konformität nach §<br />

8 mit der CE-Kennzeichnung nach § 12 Abs. 1 gekennzeichnet ist.“ Gemäß § 17 INr. 1 a)<br />

BauO LSA sind die Vorschriften des BauPG bei der Erteilung der Baugenehmigung zu<br />

beachten.<br />

3. Die Erteilung der Baugenehmigung<br />

Die Baugenehmigung ist ein Verwaltungsakt (§ 35 VwVfG). Zur Form sagt § 71 II BauO<br />

LSA: „Die Baugenehmigung bedarf der Schriftform; sie ist nur insoweit zu begründen, als<br />

Abweichungen oder Befreiungen von nachbarschützenden Vorschriften zugelassen<br />

werden und die Nachbarn nicht nach § 69 Abs. 3 zugestimmt haben.“ Für die Schriftform<br />

gilt § 126 BGB. Die Begründung der Baugenehmigung ist nur dann erforderlich, wenn<br />

ohne Zustimmung des Nachbarn in dessen eigene Rechte eingegriffen wird.<br />

§ 5 Die bauaufsichtlichen Maßnahmen<br />

Literatur: Mampel, Bauordnungsverfügungen, BauR 2000, 996; Schoch, Das verwal­<br />

tungsbehördliche Ermessen, Jura 20 2004, 462 ff.<br />

I. Die einzelnen Ordnungsverfügungen<br />

Die Bauordnungsbehörden können nicht rechtmäßig gekennzeichnete Bauprodukte ver­<br />

bieten (§ 77 BauO LSA). Wichtiger sind die Einstellungsanordnung (§ 78 BauO LSA) und<br />

Nutzungsuntersagung und Beseitigungsanordnung (§ 79 BauO LSA).<br />

1. Die Einstellungsanordnung<br />

19 Bauproduktengesetz.<br />

20 Juristische Ausbildung, Zeitschrift.


- 26 -<br />

Die Einstellungsanordnung ist eine Ermessensentscheidung der Behörde. Diese muss<br />

sie nicht treffen, sie kann es aber. § 78 I 1 BauO LSA lautet: „Werden Anlagen im Wider­<br />

spruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet, geändert oder beseitigt, kann die<br />

Bauaufsichtsbehörde die Einstellung der Arbeiten anordnen.“ Zu beachten ist hier das<br />

Prinzip der Verhältnismäßigkeit.<br />

Im Einzelfall kann das Ermessen auf Null reduziert sein, jede andere Entscheidung als<br />

die Einstellungsanordnung wäre dann ermessensfehlerhaft. Das setzt aber voraus, dass<br />

entweder schwere Schäden für die Allgemeinheit drohen oder ein <strong>Dr</strong>itter erheblich in sei­<br />

nen Rechten verletzt wird. Im Falle einer Verletzung nachbarschützender Vorschriften des<br />

materiellen Bauordnungsrechts über die Abstandsflächen soll sich das der Bauaufsichts­<br />

behörde auf der Rechtsfolgeseite des § 79 Abs. 1 BauO LSA vom Gesetzgeber einge­<br />

räumte Entschließungsermessen für ein Tätigwerden in aller Regel zu einem positiven An­<br />

spruch des betroffenen Nachbarn auf Tätigwerden zur Ausräumung des Nachbarrechts­<br />

verstoßes verdichten (OVG Saarbrücken, BauR 2010, 1633 f. zu § 82 BauO Saarland).<br />

2. Die Beseitigungsanordnung<br />

Die Beseitigungsanordnung ist ebenfalls eine Ermessensentscheidung der Baubehörde.<br />

§ 79 S. 1 BauO lautet: „Werden Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vor­<br />

schriften errichtet oder geändert, kann die Bauaufsichtsbehörde die teilweise oder voll­<br />

ständige Beseitigung der Anlagen anordnen, wenn nicht auf andere Weise rechtmäßige<br />

Zustände hergestellt werden können.“ Bei der Beseitigungsanordnung ist im besonderen<br />

Maße das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu beachten (auch sogenanntes Übermaß­<br />

verbot).<br />

3. Nutzungsuntersagung<br />

§ 79 S. 2 BauO LSA bestimmt: „Werden Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen<br />

Vorschriften genutzt, kann diese Nutzung untersagt werden.“ Aus dem Wort „kann“ ergibt<br />

sich, dass es sich hierbei ebenfalls um eine Ermessensentscheidung der Behörde handelt.<br />

Auch hier ist die Verhältnismäßigkeit streng zu beachten.<br />

4. Anpassungsanordnung


- 27 -<br />

§ 86 I BauO LSA bestimmt, dass verlangt werden kann, dass bestehende oder nach ge­<br />

nehmigten Bauvorlagen bereits begonnene bauliche Anlagen angepasst werden müssen,<br />

wenn aufgrund neuer Vorschriften andere Anforderungen als nach früherem Recht gestellt<br />

werden und dies wegen der Sicherheit oder Gesundheit erforderlich ist.<br />

II. Die Verhältnismäßigkeit<br />

Der Staat darf nicht übermäßig hart in die persönlichen Verhältnisse der Bürger eingreifen.<br />

Er darf nur Notwendiges tun und sein Handeln muss immer angemessen sein. Das Prinzip<br />

der Verhältnismäßigkeit ist ein allgemeiner Grundsatz des Verwaltungsrechts (BVerwG,<br />

DÖV 21 1971, 858). Verhältnismäßigkeit setzt voraus, dass eine Maßnahme geeignet ist,<br />

den mit der Verfügung angestrebten Zweck zu bewirken, es darf dieser Zweck nicht durch<br />

ein milderes Mittel erreichbar sein, die Maßnahme muss also notwendig sein. Schließlich<br />

muss die Verfügung auch im engeren Sinne verhältnismäßig sein, es muss überprüft<br />

werden, ob das angestrebte Ziel durch die Schwere des Eingriffs in persönliche Rechte<br />

gerechtfertigt sein kann.<br />

1. Geeignetheit<br />

Eine Verwaltungsmaßnahme muss immer ein Ziel verfolgen, dass durch das Grundgesetz<br />

oder ein einfaches Gesetz angestrebt wird. Sie muss zur Erreichung dieses Ziels geeignet<br />

sein. Das ist der Fall, wenn sie dieses Ziel erreichen kann. Sie muss die Erreichung des<br />

Zwecks bewirken oder zumindest fördern. Beispiele:<br />

(1) Eine bauordnungsbehördliche Rückbauverfügung ist rechtswidrig, wenn sie nicht ge­<br />

eignet ist, rechtmäßige Zustände herzustellen, die nur durch eine Beseitigungsanordnung<br />

erreicht werden kann (OVG Nordrhein-Westfalen BauR 2006, 90, 92). Eine Maßnahme,<br />

die lediglich auf eine (erhebliche) Reduzierung des Rechtsverstoßes hinwirkt, ist nur dann<br />

ermessensgerecht, wenn der Verpflichtete darauf vertrauen darf, dass die Behörde nicht<br />

die vollständige Beseitigung des rechtswidrigen Zustandes verfolgen werde (OVG Nord­<br />

rhein-Westfalen BauR 2006, 90, 93).<br />

21 Die öffentliche Verwaltung (Zeitschrift).


- 28 -<br />

(2) Die Bauaufsichtsbehörde ordnet gemäß § 86 BauO LSA an, dass ein Fabrikschorn­<br />

stein um 30 m erhöht werden muss, um Rauchbelästigungen der Umgebung zu verhin­<br />

dern. Diese Verfügung ist ungeeignet, wenn die Erhöhung des Schornsteins aus naturwis­<br />

senschaftlichen Gründen nicht dazu führt, dass die Belästigungen ausbleiben (Beispiel<br />

nach: Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Auflage (2011), § 10 Rn. 17).<br />

2. Notwendigkeit<br />

Man spricht auch von Erforderlichkeit. Erforderlich ist eine Maßnahme dann, wenn kein<br />

milderes Mittel vorhanden ist, in gleicher Weise ist, den angestrebten Erfolg zu<br />

erreichen, das den Betroffenen weniger belastet. Beispiel: Eine Beseitigungsanordnung ist<br />

nicht erforderlich, wenn durch eine Rückbauverfügung rechtmäßige Zustände geschaffen<br />

werden können. Beispiele:<br />

(1) Ein Gebäude ist im Einklang mit den (materiellen) Vorschriften der BauO LSA errichtet<br />

worden, es ist also baulich völlig in Ordnung und sicher. Allerdings wurde eine Baugeneh­<br />

migung nie beantragt. Das Gebäude ist also formell illegal. Bauvorhaben bedürfen der öf­<br />

fentlich rechtlichen Genehmigung. § 58 I BauO LSA: „Die Errichtung, Änderung und Nut­<br />

zungsänderung von Anlagen bedürfen der Baugenehmigung, soweit in den §§ 59 bis 61,<br />

75 und 76 nichts anderes bestimmt ist.“ Da die Baugenehmigung fehlt, ist das Gebäude<br />

„im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet“ (§ 79 S. 1 BauO LSA).<br />

Demnach liegen die Voraussetzungen einer Beseitigungsanordnung grundsätzlich vor.<br />

Aber eine solche Anordnung ist schon nicht notwendig. Denn die Baugenehmigung<br />

könnte nachträglich erteilt werden. Bei bloß formeller Illegalität ist eine Beseitigungsverfü­<br />

gung also regelmäßig unverhältnismäßig im weiteren Sinne (Grotefels, in:<br />

Hoppe/Bönker/Grotefels, Öffentliches <strong>Baurecht</strong>, 4. Aufl. (2010), § 16 Rn. 89; Muckel, Öf­<br />

fentliches <strong>Baurecht</strong> (2010), § 9 Rn. 29; Mampel, BauR 2000, 996, 1001, 1004).<br />

(2) Im obigen Beispiel (2) ist die Verfügung nicht notwendig, wenn der Zweck bereits durch<br />

die Erhöhung des Schornsteins um 15 m oder durch die Einrichtung einer preisgünstige­<br />

ren Filteranlage erreicht werden kann (Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Auflage<br />

(2011), § 10 Rn. 17).<br />

(3) Bauhaus Dessau (Atelierhaus).


- 29 -<br />

Das Gebäude ist 1926 fertiggestellt worden. Die Umwehrungen der Balkone weisen nicht<br />

die in § 37 BauO LSA vorgeschiebene Höhe (90 cm) auf. Das Begehen der Balkone ist ge-<br />

© <strong>Dr</strong>. <strong>Stefan</strong> <strong>Deckers</strong><br />

fährlich, deswegen ist eine Anpassungsverfügung gemäß § 86 I BauO LSA grundsätzlich<br />

möglich. Hiergegen sprechen aber der Denkmalschutz und die Einstufung des Gebäudes<br />

als UNESCO-Weltkulturerbe. Deswegen war (nur) erforderlich, die Balkontüren abzu­<br />

schließen. Das ist inzwischen geschehen.<br />

3. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne<br />

Das eingesetzte Mittel muss proportional sein (Merksatz: Die Verwaltung darf nicht mit<br />

„Kanonen auf Spatzen schießen“). Es ist zu prüfen, ob das, was an Eingriff vorgesehen ist,<br />

durch die Schwere der Beeinträchtigung des Betroffenen gerechtfertigt ist. Dabei ist eine<br />

Wertung vorzunehmen, juristisch: Abwägung der Güter. Beispiele:<br />

(1) Eine Abbruchanordnung darf keinen Nachteil herbeiführen, der erkennbar außer Ver­<br />

hältnis zu dem beabsichtigten Erfolg steht (VGH Baden-Württemberg, BauR 1989, 193<br />

194).


- 30 -<br />

(2) In den obigen Beispielen (2) wird durch die Erhöhung des Schornsteins nur eine ge­<br />

ringfügige Verbesserung erreicht. Die Baumaßnahme ist aber so teuer, dass der Eigentü­<br />

mer der baulichen Anlage durch die Erfüllung der Anordnung wirtschaftlich überfordert wird<br />

(Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Auflage (2011), § 10 Rn. 17).<br />

III. Der Bestandsschutz<br />

Literatur: Aichele/Herr, Die Aufgabe des übergesetzlichen Bestandsschutzes und die Fol­<br />

gen, NVwZ 22 2003, 415; Boecker, Zur Reduktion des Bestandsschutzes in der baurechtli­<br />

chen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, BauR 1998, 441 ff.<br />

Ausnahmsweise darf die Verwaltung keine Ordnungsverfügungen erlassen, obwohl eine<br />

Anlage gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt, dann nämlich, wenn diese Be­<br />

standsschutz genießt.<br />

Die Rechtsprechung hat den Bestandsschutz früher unmittelbar aus der Verfassung (Art.<br />

14 I GG) abgeleitet. Er bedeutete, dass eine bauliche Anlage, die einmal genehmigt oder<br />

jedenfalls genehmigungsfähig war, bestehen bleiben darf, wenn sich die rechtlichen Bedin­<br />

gungen nachträglich dergestalt ändern, dass sie aktuell nicht mehr genehmigt werden<br />

könnte.<br />

Beispiel: Nachträgliche Änderung eines Bebauungsplans.<br />

Man sprach vom passiven Bestandsschutz. Dieser umfasste das Recht, die im Bestand<br />

geschützte Anlage neu errichtet werden durfte, wenn sie zufällig - etwa durch Brand - zer­<br />

stört wurde.<br />

Auf der Grundlage von Art. 14 I GG hat man darüber hinaus Änderungen und Erweiterun­<br />

gen der baulichen Anlage zugelassen, die für deren funktionsgerechte Nutzung notwendig<br />

waren (sog. aktiver Bestandsschutz).<br />

Diese Rechtsprechung ist nicht mehr aktuell. Das BVerfG (BVerfGE 58, 300 ff. = NJW<br />

22 Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht.


- 31 -<br />

1982, 745 ff., sogenannte "Nassauskiesungs-Entscheidung") hat entschieden, dass der<br />

einfache Gesetzgeber den Inhalt des Eigentumsrechts (Art. 14 I GG) selbst ausgestaltet.<br />

Er kann in den einfachen Gesetzen einen Bestandsschutz schaffen oder es auch lassen.<br />

Die Verfassung bindet ihn hier nicht. Ein unmittelbarer Zugriff auf Art. 14 I GG scheidet da­<br />

her aus. Bestandsschutz besteht daher nur noch, soweit eine einfach-gesetzliche Grundla­<br />

ge hierfür besteht. "Außerhalb der gesetzlichen Regelungen gibt es keinen Anspruch auf<br />

Zulassung eines Vorhabens aus eigentumsrechtlichem Bestandsschutz" (BVerwG, BauR<br />

1998, 760 ff.).<br />

In Sachsen-Anhalt ergibt sich der Bestandsschutz zunächst mittelbar aus § 86 BauO LSA.<br />

Danach kann die Bauaufsichtsbehörde verlangen, dass bei baulichen Anlagen, für die auf­<br />

grund der BauO LSA heute andere Anforderungen gestellt werden als nach früherem<br />

Recht, Anpassungen erfolgen, wenn dies wegen der Sicherheit oder Gesundheit erforder­<br />

lich ist. D.h.: die Verwaltung kann nur "Anpassungen" verlangen, nicht etwa eine Beseiti­<br />

gungsanordnung erlassen. Jedenfalls sind Beseitigungs- oder Nutzungsuntersagungsver­<br />

fügungen ermessensfehlerhaft, wenn baurechtlicher Bestandsschutz besteht (OVG<br />

Sachsen, BauR 2011, 1699, 1700). Anders ist es allerdings beim Vorliegen schwerwiegen­<br />

der Gründe (öffentliche Sicherheit oder Gesundheit von Personen sind gefährdet). Die<br />

Verwaltung hat ("kann") bei der Anordnung von Anpassungen ein Ermessen. D.h.: sie ist<br />

grundsätzlich berechtigt, den Bestand zu schützen, also auch dann, wenn ein <strong>Dr</strong>itter eine<br />

Beseitigungsanordnung verlangt.<br />

Der aktive Bestandsschutz ist inzwischen gesetzlich geregelt, nämlich für den Außenbe­<br />

reich in § 35 IV BauGB, für den Innenbereich in § 34 IIIa BauGB (siehe dort).<br />

§ 34 IIIa BauGB: "Vom Erfordernis des Einfügens in die Eigenart der näheren Umgebung<br />

nach Absatz 1 Satz 1 kann im Einzelfall abgewichen werden, wenn die Abweichung<br />

1. der Erweiterung, Änderung, Nutzungsänderung oder Erneuerung eines<br />

zulässigerweise errichteten Gewerbe- oder Handwerksbetriebs oder der Erweiterung,<br />

Änderung oder Erneuerung einer zulässigerweise errichteten baulichen Anlage zu<br />

Wohnzwecken dient,<br />

2. städtebaulich vertretbar ist und<br />

3. auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar<br />

ist."


- 32 -<br />

Nach § 35 IV Nr. 1 BauGB darf die Nutzung eines nicht privilegierten Gebäudes geändert<br />

werden, wenn das Gebäude vor mehr als sieben Jahren zulässigerweise errichtet worden<br />

ist, die bisherige Nutzung vor nicht mehr als sieben Jahren aufgegeben wurde und die äu­<br />

ßere Gestalt im wesentlichen unverändert bleibt (wegen der weiteren Voraussetzungen<br />

verweise ich auf den Wortlaut des Gesetzes). Gemäß § 34 IV Nr. 2 BauGB ist die Neuer­<br />

richtung eines gleichartigen Wohngebäudes an gleicher Stelle unter folgenden Vorausset­<br />

zungen zulässig:<br />

a) das vorhandene Gebäude ist zulässigerweise errichtet worden,<br />

b) das vorhandene Gebäude weist Missstände oder Mängel auf,<br />

c) das vorhandene Gebäude wird seit längerer Zeit vom Eigentümer selbst genutzt und<br />

d) Tatsachen rechtfertigen die Annahme, dass das neu errichtete Gebäude für den Eigen­<br />

bedarf des bisherigen Eigentümers oder seiner Familie genutzt wird; hat der Eigentümer<br />

das vorhandene Gebäude im Wege der Erbfolge von einem Voreigentümer erworben, der<br />

es seit längerer Zeit selbst genutzt hat, reicht es aus, wenn Tatsachen die Annahme recht­<br />

fertigen, dass das neu errichtete Gebäude für den Eigenbedarf des Eigentümers oder sei­<br />

ner Familie genutzt wird."<br />

Zulässig ist auch die alsbaldige Neuerrichtung eines zulässigerweise errichteten, durch<br />

Brand, Naturereignisse oder andere außergewöhnliche Ereignisse zerstörten,<br />

gleichartigen Gebäudes an gleicher Stelle (§ 35 IV Nr. 3 BauGB).<br />

§ 6 Materielles Bauordnungsrecht<br />

Im materiellen Bauordnungsrecht ist geregelt, wie „bauliche Anlagen“ gestaltet sein<br />

müssen, damit sie den Erfordernissen der öffentlichen Sicherheit entsprechen.<br />

I. Bauliche Anlagen<br />

§ 2 I 2 bis 4 BauO LSA definieren bauliche Anlagen. Die Vorschriften lauten: „Bauliche An­<br />

lagen sind mit dem Erdboden verbundene, aus Bauprodukten hergestellte Anlagen.<br />

Eine Verbindung mit dem Boden besteht auch dann, wenn die Anlage durch eigene


- 33 -<br />

Schwere auf dem Boden ruht oder auf ortsfesten Bahnen begrenzt beweglich ist oder<br />

wenn die Anlage nach ihrem Verwendungszweck dazu bestimmt ist, überwiegend ortsfest<br />

genutzt zu werden. Bauliche Anlagen sind auch<br />

1. Aufschüttungen und Abgrabungen,<br />

2. Lagerplätze, Abstellplätze und Ausstellungsplätze,<br />

3. Sport- und Spielflächen,<br />

4. Campingplätze, Wochenendplätze und Zeltplätze,<br />

5. Freizeit- und Vergnügungsparks,<br />

6. Stellplätze für Kraftfahrzeuge,<br />

7. Gerüste,<br />

8. Hilfseinrichtungen zur statischen Sicherung von Bauzuständen.“<br />

II. Allgemeine Anforderungen<br />

§ 3 I BauO LSA regelt die allgemeinen Anforderungen an die baulichen Anlagen. Die Vor­<br />

schrift lautet: „Anlagen sind so anzuordnen, zu errichten, zu ändern und instand zu halten,<br />

dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere Leben, Gesundheit und die na­<br />

türlichen Lebensgrundlagen, nicht gefährdet werden.“<br />

III. Besondere Anforderungen<br />

Die BauO LSA regelt in ihren weiteren Vorschriften ausführlich, was beim Bauen zu<br />

beachten ist. Die Baubehörden haben mit ihren Regelungsmitteln sicherzustellen, dass die<br />

Vorschriften eingehalten werden. Beispiele:<br />

1. Bauprodukte und Bauarten<br />

Bauprodukte und Bauarten (Definition § 2, 9 und 10 BauO LSA): „Bauprodukte und<br />

Bauarten dürfen nur verwendet oder angewendet werden, wenn bei ihrer Verwendung<br />

oder Anwendung die Anlagen bei ordnungsgemäßer Instandhaltung während einer dem<br />

Zweck entsprechenden angemessenen Zeitdauer die Anforderungen dieses Gesetzes<br />

oder aufgrund dieses Gesetzes erlassener Vorschriften erfüllen und gebrauchstauglich<br />

sind.“


2. Erschließung<br />

- 34 -<br />

Verkehrsmäßige Erschließung des Baugrundstücks: „Gebäude dürfen nur errichtet wer­<br />

den, wenn das Grundstück in angemessener Breite an einer befahrbaren öffentlichen Ver­<br />

kehrsfläche liegt oder wenn das Grundstück eine befahrbare, rechtlich gesicherte Zufahrt<br />

zu einer befahrbaren öffentlichen Verkehrsfläche hat.“ (§ 4 I BauO LSA).<br />

3. Verunstaltungsverbot<br />

§ 9 BauO LSA bestimmt: „Bauliche Anlagen müssen nach Form, Maßstab, Verhältnis der<br />

Baumassen und Bauteile zueinander, Werkstoff und Farbe so gestaltet sein, dass sie nicht<br />

verunstaltet wirken. Bauliche Anlagen dürfen das Straßen-, Orts- und Landschaftsbild nicht<br />

verunstalten.“ Die Vorschrift ist eng auszulegen (Tettinger/Erbguth/Mann, Besonderes<br />

Verwaltungsrecht, 9. Aufl. (2007), Rn. 1196). Die Anwendung der Vorschrift kann nicht<br />

dazu führen, dass subjektive ästhetische Vorstellung der Bauverwaltung die verfassungs­<br />

rechtlich garantierte (Art. 2, 14 GG) Baufreiheit beschränken.<br />

4. Standsicherheit<br />

Man spricht auch von Statik: „Jede Anlage muss im Ganzen und in ihren einzelnen Teilen<br />

für sich allein standsicher sein. Die Standsicherheit anderer Anlagen und die Tragfähigkeit<br />

des Baugrundes der Nachbargrundstücke dürfen nicht gefährdet werden.“ (§ 12 I BauO<br />

LSA).<br />

5. Brandschutz<br />

§ 14 BauO LSA regelt: „Bauliche Anlagen sind so anzuordnen, zu errichten, zu ändern und<br />

instand zu halten, dass der Entstehung eines Brandes und der Ausbreitung von Feuer und<br />

Rauch (Brandausbreitung) vorgebeugt wird und bei einem Brand die Rettung von Men­<br />

schen und Tieren sowie wirksame Löscharbeiten möglich sind.“ (§ 14 I BauO LSA). Und:<br />

„Brandwände müssen als raumabschließende Bauteile zum Abschluss von Gebäuden<br />

(Gebäudeabschlusswand) oder zur Unterteilung von Gebäuden in Brandabschnitte (innere<br />

Brandwand) ausreichend lang die Brandausbreitung auf andere Gebäude oder Brandab­


- 35 -<br />

schnitte verhindern.“ (§ 29 I BauO LSA). Die Anforderungen an die bauliche Anlage sind in<br />

der Bauordung technisch detailliert vorgeschrieben. Beispiel: „Brandwände sind 0,30 m<br />

über die Bedachung zu führen oder in Höhe der Dachhaut mit einer beiderseits 0,50 m<br />

auskragenden feuerbeständigen Platte aus nichtbrennbaren Baustoffen abzuschließen;<br />

darüber dürfen brennbare Teile des Daches nicht hinweggeführt werden. Bei Gebäuden<br />

der Gebäudeklassen 1 bis 3 sind Brandwände mindestens bis unter die Dachhaut zu füh­<br />

ren. Verbleibende Hohlräume sind vollständig mit nichtbrennbaren Baustoffen auszufül­<br />

len.“ (§ 29 V BauO LSA).<br />

IV. Verantwortlichkeit der Planer<br />

Es ist Sache des planenden Architekten und der sogenannten Sonderfachleute (Statiker<br />

= Tragwerksplaner, TGA 23 -Planer etc.), bei der Planung eines Bauvorhabens die Überein­<br />

stimmung der Planung mit den öffentlich rechtlichen Vorschriften herzustellen. Das Ver­<br />

hältnis zwischen diesen Planern und dem Bauwilligen ist allerdings privatrechtlich.<br />

V. Insbesondere: Abstandsflächen<br />

Die Abstandsflächenregelungen gehören zu den besonderen Anforderungen an die Zu­<br />

lässigkeit von Bauvorhaben. Die Abstandsfläche ist die Fläche vor den Außenwänden ei­<br />

nes Gebäudes, der von Bebauung freizuhalten ist. Abstandsflächen haben die Funktion,<br />

ausreichende Belichtung und Belüftung zwischen benachbarten Gebäuden zu gewähr­<br />

leisten und darüber hinaus dem Brandschutz zu dienen (Zugänglichkeit von Gebäuden<br />

für die Feuerwehr) zu dienen. Schließlich soll ein sozialer Abstand gesichert sein (jeder<br />

soll seinen privaten Frieden haben, er soll soweit wie möglich ohne Beobachtung durch<br />

die Nachbarn leben dürfen).<br />

In der BauO LSA ist die Abstandsfläche im Wesentlichen wie folgt geregelt:<br />

Grundsatz: „Vor den Außenwänden von Gebäuden sind Abstandsflächen von oberirdi­<br />

schen Gebäuden freizuhalten.“ (§ 6 I 1 BauO LSA). „Abstandsflächen sowie Abstände<br />

nach § 29 Abs. 2 Nr. 1 und § 31 Abs. 2 müssen auf dem Grundstück selbst liegen.“ (§ 6 II<br />

1 BauO LSA).<br />

23 Technische Gebäudeausrüstung.


- 36 -<br />

Tiefe der Abstandsfläche: „Die Tiefe der Abstandsflächen bemisst sich nach der Wand­<br />

höhe; sie wird senkrecht zur Wand gemessen. Wandhöhe ist das Maß von der Geländeo­<br />

berfläche bis zum Schnittpunkt der Wand mit der Dachhaut oder bis zum oberen Ab­<br />

schluss der Wand. Die Höhe von Dächern mit einer Neigung von weniger als 70 Grad wird<br />

zu einem <strong>Dr</strong>ittel der Wandhöhe hinzugerechnet. Andernfalls wird die Höhe des Daches voll<br />

hinzugerechnet. Die Sätze 1 bis 4 gelten für Dachaufbauten entsprechend. Das sich erge­<br />

bende Maß ist H.“ (§ 6 IV BauO LSA). „Die Tiefe der Abstandsflächen beträgt 0,4 H, min­<br />

destens 3 m. In Gewerbe- und Industriegebieten genügt eine Tiefe von 0,2 H, mindestens<br />

3 m. Vor den Außenwänden von Wohngebäuden der Gebäudeklassen 1 und 2 mit nicht<br />

mehr als drei oberirdischen Geschossen genügt als Tiefe der Abstandsfläche 3 m.“ (§ 6 V<br />

BauO LSA).<br />

Prüfung: Es ist also ein Maß „H“ zu ermitteln. Gemessen wird an der Außenwand des Ge­<br />

bäudes von der Oberfläche des Geländes bis zu der Kante, an der das Dach beginnt, bei<br />

Flachdächern an der oberen Kante. Bei Dächern mit geringer Neigung wird das ganze<br />

Dach mitgerechnet. Die Abstandsfläche ist mindestens 40 % von H, mindestens aber 3<br />

Meter. Sie muss auf dem eigenen Grundstück liegen. Wesentlich ist also nicht der Abstand<br />

zum benachbarten Gebäude, sondern der zum benachbarten Grundstück.<br />

V. Die Übereinstimmung mit den planungsrechtlichen Vorschriften<br />

In solchen Gebieten, für die ein Bebauungsplan besteht, muss die geplante Anlage mit<br />

dessen Festsetzungen übereinstimmen. Gibt es keinen Bebauungsplan, ist zu<br />

unterscheiden, ob die Anlage im unbeplanten Innenbereich (§ 34 BauGB) oder im<br />

unbeplanten Außenbereich (35 BauGB) errichtet werden soll.<br />

1. Bebauungsplan<br />

§ 30 I BauGB lautet: „Im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, der allein oder gemein­<br />

sam mit sonstigen baurechtlichen Vorschriften mindestens Festsetzungen über die Art und<br />

das Maß der baulichen Nutzung, die überbaubaren Grundstücksflächen und die örtlichen<br />

Verkehrsflächen enthält, ist ein Vorhaben zulässig, wenn es diesen Festsetzungen nicht<br />

widerspricht und die Erschließung gesichert ist.“


2. Innenbereich<br />

- 37 -<br />

Gemäß § 34 I BauGB ist innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile ein Vor­<br />

haben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und<br />

der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung<br />

einfügt und die Erschließung gesichert ist. Die Anforderungen an gesunde Wohn- und Ar­<br />

beitsverhältnisse müssen gewahrt bleiben; das Ortsbild darf nicht beeinträchtigt werden.<br />

Wegen der Einzelheiten, vgl. o. § 3 III 1.<br />

3. Außenbereich<br />

Im Außenbereich sind grundsätzlich die in § 35 I BauGB genannten privilegierten Bauvor­<br />

haben zulässig und "sonstige" (§ 35 II BauGB) nur ausnahmsweise. Wegen der<br />

Einzelheiten, vgl. o. § 3 III 2.<br />

§ 7 Nachbarschutz und Rücksichtnahme<br />

Literatur: Beckmann, Neue Rechtsprechung zum Schutz des Nachbarn im öffentlichen<br />

<strong>Baurecht</strong>, BauR 2009, 1525 ff.; Debus, Vorläufiger Rechtsschutz des Nachbarn im öffentli­<br />

chen <strong>Baurecht</strong>, Jura 2006, 487 ff.; Decker, Der spezielle Gebietsprägungserhaltungsan­<br />

spruch, JA 24 2007, 55 ff.; Frenz, Der Baugenehmigungsanspruch, JuS 2009, 902 ff.; Hoff­<br />

mann, Der Anspruch auf Wahrung der typischen Gebietsprägung, BauR 2010, 1859 ff.;<br />

Otto, Rechtsschutz gegen genehmigungsfreie Bauvorhaben, ZfBR 2012, 15 ff.; Pflüger, In­<br />

halt und Grenzen des Abwehranspruchs eines Denkmaleigentümers gegen Nachbarbau­<br />

vorhaben, BauR 2011, 1597 ff.; Scherzberg, Das subjektiv-öffentliche Recht - Grundfra­<br />

gen und Fälle, Jura 2006, 839-848 Schmehl/Ludewig, Basisstationen für Mobilfunknetze:<br />

Bau- und immissionsschutzrechtliche Bedingungen der Versorgung mit Telekommunikati­<br />

ons-Infrastruktur, Jura 2011, 669 ff.; Schröer, Das Spannungsverhältnis zwischen bauord­<br />

nungsrechtlichem Verunstaltungsverbot und bauplanungsrechtlichem Genehmigungsan­<br />

spruch, NZBau 2008, 759 ff.; Spennemann, Kein Anspruch auf Denkmalschutz?, BauR<br />

24 Juristische Arbeitsblätter, Zeitschrift.


2003, 1655 ff.<br />

- 38 -<br />

Die Baugenehmigung ist für den Bauwilligen eine begünstigende Entscheidung. <strong>Dr</strong>itte -<br />

vor allem Nachbarn - können durch sie aber belastet werden. Deswegen besteht die Mög­<br />

lichkeit, gegen eine einem Nachbarn erteilte Baugenehmigung vorzugehen. Widerspruch<br />

(§ 68 VwGO 25 ) und Anfechtungsklage (§ 42 I 1. Alt. VwGO) des <strong>Dr</strong>itten sind aber nur zu­<br />

lässig, wenn er geltend machen kann, dass durch die Erteilung der Baugenehmigung ge­<br />

gen eine Rechtsvorschrift verstoßen wird, die gerade auch den Zweck hat, seine Interes­<br />

sen zu schützen (sog. <strong>Dr</strong>ittschutz) (zuletzt etwa: OVG Münster, Beschluss vom<br />

30.12.2010, Aktenzeichen 10 B 1118/10). Ob eine solche Rechtsvorschrift betroffen ist,<br />

wird geprüft anhand der sogenannten Schutznormtheorie. Diese besagt, dass subjektive<br />

(eigene) Rechte sich nur aus solchen Rechtssätzen herleiten lassen, die nicht nur öffentli­<br />

chen, sondern auch den privaten Interessen eines einzelnen (oder einer individualisierten<br />

Gruppe) zu dienen bestimmt sind. Nur dann besteht die Befugnis, die für den Fall des<br />

Normverstoßes angeordnete Rechtsfolge durchzusetzen, etwa die Verurteilung der unte­<br />

ren Bauaufsichtsbehörde zum Erlass einer Einstellungsanordnung (vgl. § 78 BauO LSA).<br />

I. <strong>Dr</strong>ittschützende Normen<br />

Die folgende Darstellung ist nicht abschließend. Es handelt sich um Beispiele.<br />

1. Abstandsflächen<br />

Vor Außenwänden von Gebäuden sind Abstandsflächen von oberirdischen Gebäuden<br />

freizuhalten (§ 6 I 1 BauO LSA). Die Abstände dienen der Versorgung mit Licht und Luft,<br />

der Erreichbarkeit des Gebäudes durch die Feuerwehr und dem sozialen Abstand. Diese<br />

Zwecke dienen dem Wohl der Nachbarn. § 6 I 1 BauO LSA ist somit drittschützend (Bön­<br />

ker, in: Hoppe/Bönker/Grotefels, § 18 Rn. 63). Der Nachbar kann sich im Widerspruchs­<br />

verfahren darauf berufen, dass die Abstandsflächenregelung der BauO nicht eingehalten<br />

ist. Begründet ist der Widerspruch allerdings nur, wenn die Abstände tatsächlich zu klein<br />

sind.<br />

2. Außenwände<br />

25 Verwaltungsgerichtsordnung.


- 39 -<br />

Außenwände sind so auszubilden, dass eine Brandausbreitung aus und in diesen<br />

Brandteilen ausreichend lang begrenzt ist (§ 27 I BauO LSA). Die Vorschrift soll (auch)<br />

den Nachbarn vor einem Übergreifen eines Brandes auf sein Grundstück schützen. § 27 I<br />

BauO LSA ist damit drittschützend.<br />

3. Der Gebietserhaltungsanspruch<br />

Literatur: Stühler , Der allgemeine und besondere Gebietserhaltungsanspruch und seine<br />

Abgrenzung zum Gebot der Rücksichtnahme nach § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO, BauR<br />

2011, 1576 ff.<br />

Der Eigentümer eines Grundstücks hat nach der Rechtsprechung des BVerwG einen An­<br />

spruch darauf, dass in dem Plangebiet, in dem sein Grundstück liegt, die Art der baulichen<br />

Nutzung nicht dadurch verändert wird, dass Bauvorhaben zugelassen werden, die nach<br />

den §§ 1 bis 15 BauNVO dort nicht errichtet werden dürfen (so genannter (allgemeiner)<br />

Gebietserhaltungsanspruch). Beispiel: Verwaltungsgebäude (vgl. § 4 III Nr. 3 BauNVO)<br />

im reinen Wohngebiet (§ 3 BauNVO). Die Genehmigung eines solchen Gebäudes ist also<br />

nicht nur objektiv rechtswidrig. Der Nachbar kann sich hierauf auch persönlich berufen.<br />

Der Anspruch setzt keine konkrete, tatsächlich spürbare oder nachweisbare Beeinträchti­<br />

gung des Nachbarn durch das baugebietswidrige Vorhaben voraus. Denn jeder Planbe­<br />

troffene soll das Eindringen einer gebietsfremden Nutzung und damit eine schleichende<br />

Umwandlung des Baugebietscharakters verhindern können (OVG Rheinland-Pfalz, BauR<br />

2011, 1805, 1806 unter Berufung auf: BVerwG, BauR 1994, 223; BVerwGE, BauR 1997,<br />

72; BVerwG, BauR 2008, 793).<br />

Von dem allgemeinen ist der spezielle Gebietserhaltungsanspruch (auch: Gebietsprä­<br />

gungsanspruch, vgl. Muckel, Öffentliches <strong>Baurecht</strong> 2010), § 10 Rn. 24) zu unterscheiden.<br />

Danach kann ein Grundstückseigentümer verlangen, dass eine Baugenehmigung unter­<br />

bleibt, die nach der BauNVO zwar allgemein oder ausnahmsweise zulässig ist, die sich<br />

aber allgemein als unzuträglich für das Gebiet erweist. Beispiel: Pflegeheime können so­<br />

ziale Einrichtungen im Sinne von § 8 III Nr. 2 BauNVO sein, die im Gewerbegebiet aus­<br />

nahmsweise zulässig sind. Das gilt aber nicht, wenn das Pflegeheim der Zweckbestim­<br />

mung des Gebietes widerspricht (BVerwG, BauR 2002, 1499 f.), ihm gewissermaßen eine


- 40 -<br />

andere Prägung verleiht (vgl. BVerwG, NVwZ 2008, 786; Decker, JA 2007, 55, 57). Vgl.<br />

hierzu § 15 BauNVO!<br />

4. Der Denkmalschutz<br />

Problematisch ist, ob die Regelungen des Denkmalschutzes drittschützend sind. Nach<br />

der Rechtsprechung des BVerwG ist der Eigentümer eines geschützten Kulturdenkmals<br />

jedenfalls dann berechtigt, die denkmalrechtliche Genehmigung eines benachbarten<br />

Vorhabens anzufechten, wenn das Vorhaben die Denkmalwürdigkeit seines Anwesens<br />

möglicherweise erheblich beeinträchtigt (BVerwG, BauR 2009, 1281 ff.; vgl. auch: OVG<br />

Koblenz, BauR 2010, 84 ff.; VG Köln, Urteil vom 20.07.2011, 4 K 3146/10; vgl. auch: Pflü­<br />

ger, BauR 2011, 1597 ff.; Spennemann, BauR 2003, 1655 ff.). Allerdings entscheidet das<br />

BVerwG nur über Bundesrecht und deshalb nicht über die Anwendung der Bauodnungen<br />

und Denkmalschutzgesetze der Länder (§ 173 VwGO i.V.m. § 560 ZPO). In Nordrhein-<br />

Westfalen aber ist z.B. in der Rechtsprechung des OVG Münster bislang nicht abschlie­<br />

ßend geklärt, ob und in welchem Umfang das nordrhein-westfälische Denkmalrecht <strong>Dr</strong>itt­<br />

schutz vermittelt (Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 27. November 2008 10 B 1732/08 ,<br />

BRS 73 Nr. 209, vom 21. September 2010 7 B 727/10 und 30.12.2010 10 B 1118/10). Das<br />

OVG Magdeburg war mit der Frage noch nicht befasst, so das sie auch für Sachsen An­<br />

halt noch geklärt werden muss. M.E. ist das Denkmalschutzgesetz LSA (DSchG LSA) dritt­<br />

schützend. Das kann mit § 9 I 3 DSchG LSA gerechtfertigt werden. § 9 I DSchG lautet:<br />

"Die Kulturdenkmale unterliegen dem Schutz dieses Gesetzes. Sie sind so zu nutzen, daß<br />

ihre Erhaltung auf Dauer gesichert ist. Das Land und die kommunalen Gebietskörper­<br />

schaften sollen die Eigentümer, Besitzer und sonstigen Verfügungsberechtigten von Kul­<br />

turdenkmalen dabei unterstützen." 26 Die Unterstützung kann auch darin bestehen, Bauvor­<br />

haben nicht zuzulassen, die das Denkmal beeinträchtigen.<br />

4. Festsetzungen in Bebauungsplänen über die Art der baulichen Nutzung<br />

Die Festsetzungen in Bebauungsplänen sind Normen (in Satzungen, vgl. § 10 I<br />

BauGB). Diese sind nach allgemeiner Auffassung drittschützend im Hinblick auf die Art<br />

der baulichen Nutzung (§§ 2 bis 15 BauNVO). Das Bundesverwaltungsgericht betrachtet<br />

die Eigentümer der Grundstücke innerhalb eines Planungsgebiets als "Schicksalsgemein­<br />

26 Eine entsprechende Regelung gibt es in NRW nicht.


- 41 -<br />

schaft", da ihnen allen dieselben Vorgaben auferlegt werden. "Der Hauptanwendungsfall<br />

im Bauplanungsrecht für diesen Grundsatz sind die Festsetzungen eines Bebauungsplans<br />

über die Art der baulichen Nutzung. Durch sie werden die Planbetroffenen im Hinblick<br />

auf die Nutzung ihrer Grundstücke zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft verbun­<br />

den. Die Beschränkung der Nutzungsmöglichkeiten des eigenen Grundstücks wird da­<br />

durch ausgeglichen, dass auch die anderen Grundeigentümer diesen Beschränkungen un­<br />

terworfen sind (vgl. OVG Berlin, Beschluß v. 25.2.1988 – 2 S 1.88 –, BRS 48 Nr. 167). So­<br />

weit die Gemeinde durch die BauNVO zur Festsetzung von Baugebieten ermächtigt wird,<br />

schließt die Ermächtigung deshalb ein, das die Gebietsfestsetzung grundsätzlich nachbar­<br />

schützend sein muß. Eine nicht nachbarschützende Gebietsfestsetzung würde gegen das<br />

Abwägungsgebot des § 1 Abs. 6 BauGB verstoßen." (BVerwG, BauR 1994, 223, 224).<br />

5. § 34 II BauGB<br />

§ 34 II BauGB soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine gene­<br />

rell nachbarschützende Wirkung entfalten (BVerwGE 94, 151, 156). Die Vorschrift stelle<br />

nämlich faktische Baugebiete den tatsächlich durch Bauleitplanung festgelegten Gebie­<br />

ten gleich.<br />

II. Das Gebot der Rücksichtnahme<br />

Literatur: Konrad, Gebietserhaltungsanspruch und Gebot der Rücksichtnahme, JA 2006,<br />

59 f.; Pecher, Die Rechtsprechung zum <strong>Dr</strong>ittschutz im öffentlichen <strong>Baurecht</strong>, JuS 1996,<br />

887 ff.; Seibel, Das Rücksichtnahmegebot im öffentlichen <strong>Baurecht</strong>, BauR 2007, 1831 ff.;<br />

Weyreuther, Das bebauungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme und seine Bedeutung<br />

für den Nachbarschutz, BauR 1975, 1 ff. (grundlegender Aufsatz, allerdings nicht mehr ak­<br />

tuell)<br />

Das Gebot der Rücksichtnahme ist eine richterrechtliche Regel. D.h.: sie steht nicht<br />

ausdrücklich im Gesetz, sondern ist von Rechtswissenschaft und Rechtsprechung im<br />

Wege der sog. Rechtsfortbildung entwickelt worden.<br />

Das Gebot der Rücksichtnahme besagt, dass beim Bauen Rücksicht zu nehmen ist<br />

- nicht schon auf sämtliche Interessen der Allgemeinheit


- 42 -<br />

- aber auf besondere Interessen eines eingrenzbaren Personenkreises.<br />

Folgende Aspekte sind zu beleuchten: (a) Woraus wird das Gebot abgeleitet? (b) Wer ist<br />

geschützt? (c) Welche Interessen sind geschützt? (d) Wann ist das Rücksichtnahmege­<br />

bot drittschützend?<br />

1. Rechtliche Grundlagen des Rücksichtnahmegebots<br />

Art. 14 II GG lautet: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der<br />

Allgemeinheit dienen." Hieraus wurde das Rücksichtnahmegebot ursprünglich hergeleitet<br />

(Weyreuther, BauR 1975, 1 ff.). Aus dem Eigentumsrecht ergebe sich der Grundsatz der<br />

Baufreiheit (vgl. auch § 903 BGB). Gleichzeitig ergebe sich aus Art. 14 II GG - der sog.<br />

"Soziallast" - aber auch eine bundesverfassungsrechtlich verankerte Pflicht zur "eigen­<br />

tumsrechtlich-bebauungs-rechtlichen Rücksichtnahme" (Weyreuther, BauR 1975, 1).<br />

Heute leitet man das Gebot nicht mehr unmittelbar aus der Verfassung ab, sondern aus<br />

den einfach-gesetzlichen Konkretisierungen des Eigentumsrechts: "Ein das gesamte<br />

<strong>Baurecht</strong> umfassendes – außergesetzliches – Rücksichtnahmegebot gibt es nicht; ein<br />

derartiges Gebot lässt sich auch nicht aus dem Verfassungsrecht ableiten. Vielmehr sind<br />

(…) die einzelnen Vorschriften daraufhin zu prüfen, ob sie auch die individuellen<br />

Interessen <strong>Dr</strong>itter schützen wollen. Deswegen sind es auch die einfach-rechtlichen<br />

Vorschriften selbst, nicht aber ein außerhalb dieser Vorschriften stehendes,,Gebot der<br />

Rücksichtnahme“, die <strong>Dr</strong>ittschutz vermitteln (…)" (BVerwG, BauR 1987, 70, 73; OVG<br />

Lüneburg, BauR 2011, 1803; vgl. auch: Muckel, Öffentliches <strong>Baurecht</strong> (2010), § 10 Rn. 14;<br />

Hoppe, in: Hoppe/Bönker/Grotefels, Öffentliches <strong>Baurecht</strong>,4. Aufl. (2010), § 7 Rn. 144;<br />

Seibel, BauR 2007, 1831, 1832 f.). Man sieht hier eine öffentlich-rechtliche Ausprägung<br />

des Prinzips von Treu und Glauben im Sinne von § 242 BGB (vgl. etwa: Troidl, BauR<br />

2008, 1829; Stühler, BauR 2009, 1076, 1081).<br />

2. Einzelfälle<br />

Einfach-rechtliche Normen sind alle, die keinen Verfassungsrang haben. Beispiele:<br />

a) § 15 BauNVO


- 43 -<br />

§ 15 BauNVO bestimmt, dass ein in einem bestimmten Gebiet an sich zulässiges<br />

Bauvorhaben im Einzelfall unzulässig sein kann, wenn sie geplanten baulichen Anlagen<br />

nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Eigenart des Baugebiets<br />

widersprechen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt hier<br />

das Gebot der Rücksichtnahme zum Ausdruck: auch derjenige, dessen geplantes<br />

Vorhaben nach dem Wortlaut des Gesetzes an sich regelmäßig oder jedenfalls<br />

ausnahmsweise zulässig ist (vgl. die jeweiligen Absätze 2 und 3 der §§ 2 bis 11 BauNVO),<br />

muss im Einzelfall hinnehmen, dass seinem Bauantrag nicht entsprochen wird, wenn das<br />

Vorhaben auf die speziellen Eigenheiten der Umgebung nicht ausreichend Rücksicht<br />

nimmt (BVerwG, BauR 2007, 1002 ff.). Eine konkrete Folge dieser Art von Rücksicht<br />

nahme ist der spezielle Gebietserhaltungsanspruch (vgl. o. (3)).<br />

b) § 31 II BauGB<br />

Die Behörde kann im Einzelfall einen Bauwilligen von den Fetsetzungen des Bebauungs­<br />

plans befreien (sog. Dispens). Voraussetzung hierfür ist entweder, dass der Bebauungs­<br />

plan selbst solche Befreiungen erlaubt (§ 31 I BauGB), oder dass die Befreiung aus Grün­<br />

den des Gemeinwohls erforderlich ist (§ 31 II Nr. 1 BauGB), die Abweichung städtebaulich<br />

vertretbar ist (§ 31 II Nr. 2 BauGB), oder die Durchführung des Bebauungsplans zu einer<br />

nicht beabsichtigten Härte führen würde (§ 31 II Nr. 3 BauGB). Bei der Erteilung eines Dis­<br />

penses sind immer die nachbarlichen Interessen zu würdigen (§ 31 II BauGB). Auch hier<br />

kommt das Gebot der Rücksichtnahme zum Ausdruck. Man könnte vereinfacht sagen:<br />

"Wenn schon Dispens, dann nur, wenn die nachbarlichen Belange ausreichend gewürdigt<br />

sind."<br />

3. Geschützter Personenkreis<br />

"Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung derer ist, denen die Rücksichtnahme im<br />

gegebenen Zusammenhang zugute kommt, um so mehr kann an Rücksichtnahme ver­<br />

langt werden" (BVerwG, BauR 1977, 244, 246). Räumlich geschützt ist daher die Umge­<br />

bung, es sind die (nicht nur unmittelbaren) Nachbarn, die sich auf eine Verletzung des<br />

Rücksichtnahmegebots berufen können.<br />

Persönlich geschützt sind jedenfalls die jeweiligen Grundstückseigentümer, darüber hin­


- 44 -<br />

aus aber auch Nießbraucher, Erbbauberechtigte und Inhaber von Grunddienstbarkeiten.<br />

Streitig ist, ob auch schuldrechtlich Berechtigte (z.B. Mieter oder Pächter) <strong>Dr</strong>ittschutz ge­<br />

nießen. Das ist wohl zu verneinen (vgl. etwa: Muckel, Öffentliches <strong>Baurecht</strong> (2010), § 10<br />

Rn. 9 ff. m.w.N.).<br />

4. Geschützte Interessen<br />

Da das Rücksichtnahmegebot nicht (mehr) als ein allgemeines Rechtsprinzip verstanden<br />

wird, das sich aus Art. 14 II GG ergibt, ist anhand der einzelnen gesetzlichen Vorschriften,<br />

aus denen es hergeleitet wird, zu prüfen, welche Interessen des <strong>Dr</strong>itten geschützt werden.<br />

Dabei ist der Zweck des Gesetzes zu erfassen. Beispiel: Gemäß § 35 III Nr. 3 BauGB sol­<br />

len nicht privilegierte Bauvorhaben im Außenbereich keinen schädlichen Umweltauswir­<br />

kungen ausgesetzt werden. Zweck des Gesetzes ist eben nicht nur der Schutz der nicht<br />

privilegierten Anlage, sondern auch der Schutz der privilegierten. Auch wenn es keinen all­<br />

gemeinen Anspruch auf Bewahrung des Außenbereichs geben soll ( BVerwG, BauR 1999,<br />

1439): im Einzelfall soll sich der Eigentümer der privilegierten Anlage schützen dürfen.<br />

5. <strong>Dr</strong>ittschutz des Rücksichtnahmegebotes<br />

Das Rücksichtnahmegebot ist grundsätzlich ordnungspolitisch und dient der Gewährleis­<br />

tung einer ordnungsgemäßen (d.h. einfach gesprochen nicht chaotischen) städtebaulichen<br />

Entwicklung. Es kann aber unter bestimmten Voraussetzungen drittschützende Wirkung<br />

entfalten. Die allgemeine Formel hierfür lautet: das Rücksichtnahmegebot ist verletzt,<br />

wenn in<br />

- qualifizierter<br />

- und zugleich individualisierter Weise<br />

- schutzwürdige Interessen <strong>Dr</strong>itter<br />

- nicht berücksichtigt<br />

sind (vgl. etwa: BVerwG, NJW 1978, 62 = BauR 1977, 244 ff.; BVerwG, BauR 1983, 543,<br />

339; Weyreuther, BauR 1975 1, 7 (grundlegend); Konrad, JA 2006, 59; Otto, ZfBR 2012,<br />

15, 18; Stühler, BauR 2011, 1576, 1584). D.h.: der Nachbar muss aufgrund der örtlichen<br />

Begebenheiten tatsächlich (individualisiert) selbst betroffen sein und die Betroffenheit<br />

muss eine gewisse Schwere aufweisen (qualifizierte Betroffenheit). Schutzwürdige<br />

Interessen sind betroffen, wenn der Zweck der Schutznorm, aus der im Einzelfall das


- 45 -<br />

Rücksichtnahmegebot hergeleitet wird, möglicherweise (Prüfung bei der Zulässigkeit der<br />

Klage) oder tatsächlich (Prüfung bei der Begründetheit der Klage) nicht ausreichend<br />

berücksichtigt ist.<br />

III. Nicht drittschützende Normen<br />

Die folgende Darstellung ist nicht abschließend. Es handelt sich um Beispiele.<br />

1. Verunstaltungsverbot<br />

Gemäß § 9 BauO LSA dürfen bauliche Anlagen nicht verunstaltend wirken. Diese Rege­<br />

lung besteht nur im Interesse der Allgemeinheit und nicht im Interesse eines einzelnen<br />

<strong>Dr</strong>itten. Ein Widerspruch gegen die Baugenehmigung zu Gunsten eines Nachbarn ist also<br />

regelmäßig unzulässig, wenn er nur mit einem Verstoß gegen das Verunstaltungsverbot<br />

begründet wird (vgl. etwa: Bönker, in: Hoppe/Bönker/Grotefels, Öffentliches <strong>Baurecht</strong>, 4.<br />

Aufl. (2010), § 18 Rn. 64; Schröer, NZBau 2008, 759 ff.; Niebergall, in: Foerster/Gäbel/Lu­<br />

da-Rudel/Niebergall, Bauordnung des Landes Sachsen-Anhalt (2008), § 9 Rn. 20; OVG<br />

Lüneburg, BRS 44 Nr. 118; OVG Saarlouis, BRS 44 Nr. 162; VGH München, Urteil v.<br />

15.7.1999 – 2 B 95.2988 –, juris, Rdnr. 20; VGH Kassel, Beschluss v. 7.7.1987 – 3 TG<br />

1649/87 –, juris, Rdnr. 28; anders OVG Bremen, NVwZ-RR 2002, 488, 489 bei besonderer<br />

Rücksichtslosigkeit und evidenter Störung des nachbarlichen Austauschverhältnisses).<br />

2. Formvorschriften des Baugenehmigungsverfahrens<br />

Nicht drittschützend sind die Vorschriften über das formelle Baugenehmigungsver­<br />

fahren. Beispiel: In einem faktischen reinen Wohngebiet (vgl. § 14 II 2 BauNVO) errichte­<br />

te A eine fernmeldetechnische Nebenanlage. Nachbar N verlangt von der beklagten Be­<br />

hörde eine Beseitigungsanordnung unter anderem deshalb, weil es für die Anlage keine<br />

Baugenehmigung gäbe. Der VGH Bayern hat die Klage abgewiesen. Die Vorschriften über<br />

die Baugenehmigungspflicht bzw. sonstige baurechtliche Zulassungsverfahren seien näm­<br />

lich nicht drittschützend (VGH Bayern, Beschluss vom 20.11.2011 - 2 ZB 11.577) Der<br />

Nachbar kann also die Beseitigung einer baulichen Anlage nicht alleine damit begründen,<br />

dass diese formell illegal ist, weil es keine Baugenehmigung gibt.


- 46 -<br />

3. Festsetzungen in Bebauungsplänen über das Maß der baulichen Nutzung<br />

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind Festsetzungen in Bebau­<br />

ungsplänen über das Maß der baulichen Nutzung nicht drittschützend. "(...) werden die<br />

Planbetroffenen durch die Maßfestsetzungen eines Bebauungsplans nicht in gleicher Wei­<br />

se zu einer [Schicksalsgemeinschaft] verbunden, wie das der Senat für die Festsetzung<br />

der Art der Nutzung angenommen hat. Das gilt vor allem für die Frage, ob der Nachbar­<br />

schutz eine spürbare Beeinträchtigung im jeweiligen Einzelfall voraussetzt. Das hat der<br />

Senat für eine baugebietsfremde Nutzungsart deshalb grundsätzlich verneint, weil durch<br />

das baugebietswidrige Vorhaben, das zwar für sich gesehen noch nicht zu einer tatsäch­<br />

lich spürbaren und nachweisbaren Beeinträchtigung des Nachbarn führen mag, gleichwohl<br />

typischerweise eine [schleichende] Verfremdung des Gebiets eingeleitet wird. Eine solche<br />

später nur schwer korrigierbare Entwicklung soll der Nachbar, der sich seinerseits an die<br />

Art der vorgeschriebenen Nutzung halten muss, rechtzeitig verhindern können.<br />

Mit dieser Situation sind Abweichungen von den Festsetzungen über das Maß der bauli­<br />

chen Nutzung nicht vergleichbar. Sie lassen in aller Regel den Gebietscharakter unberührt<br />

und haben nur Auswirkungen auf das Baugrundstück und die unmittelbar anschließenden<br />

Nachbargrundstücke. Zum Schutz der Nachbarn ist daher das drittschützende Rücksicht­<br />

nahmegebot des § 31 Abs. 2 BauGB (vgl. Urteil vom 19. 9. 1986 3– 4 C 8.84 –, Buchholz<br />

406.19 Nachbarschutz Nr. 71; vgl. auch Urteil vom 6. 10. 1989 4– 4 C 14.87 –, BVerwGE<br />

82, 343 = Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 93 bei Verstoß gegen nicht nachbarschüt­<br />

zende Vorschriften eines Bebauungsplans) ausreichend, das eine Abwägung der nachbar­<br />

lichen Interessen ermöglicht und den Nachbarn vor unzumutbaren Beeinträchtigungen<br />

schützt. Ein darüber hinausgehender, von einer realen Beeinträchtigung unabhängiger An­<br />

spruch des Nachbarn auf Einhaltung der Festsetzungen über das Maß der baulichen Nut­<br />

zung kann dagegen dem Bundesrecht nicht entnommen werden." (BVerwG, BauR 1995,<br />

823 f.).<br />

4. § 34 I BauGB<br />

Im nicht beplanten Innenbereich wirkt § 34 I BauGB grundsätzlich nicht drittschützend,<br />

sondern dient (nur) einer objektiv ordnungsgemäßen städtebaulichen Entwicklung (Mu­<br />

ckel, Öffentliches <strong>Baurecht</strong> (2010), § 10 Rn. 32). Aus dem Rechtsbegriff "Einfügen in die


- 47 -<br />

Umgebung" ergibt sich aber ein Anspruch der Nachbarn auf Rücksichtnahme auf die Ei­<br />

genarten der Umgebung ihrer Grundstücke (BVerwG, BauR 2011, 91 f.; Muckel, Öffentli­<br />

ches <strong>Baurecht</strong> (2010), § 10 Rn. 16).<br />

5. § 35 BauGB<br />

§ 35 BauGB ist unmittelbar nicht drittschützend. Das Gebot der Rücksichtnahme führt<br />

aber dazu, dass einzelne Bestimmungen der Norm drittschützenden Charakter erhalten.<br />

a) Es gibt keinen Anspruch auf Erhaltung des Außenbereichs. "Der Inhaber eines im Au­<br />

ßenbereich gemäß § 35 Abs. 1 BauGB privilegiert ansässigen Betriebs hat weder einen -<br />

allgemeinen - Abwehranspruch gegen im Außenbereich unzulässige Nachbarvorhaben<br />

noch einen Anspruch auf Bewahrung der Außenbereichsqualität seines Betriebsgrund­<br />

stücks." (BVerwG, BauR 1999, 1439).<br />

b) Der Eigentümer einer privilegierten baulichen Anlage ist aber soweit geschützt, als<br />

durch die Erteilung einer Baugenehmigung für ein ebenfalls privilegiertes Bauvorhaben zu­<br />

gunsten eines <strong>Dr</strong>itten seine eigene Privilegierung in Frage gestellt oder erheblich beein­<br />

trächtigt wird (Muckel, Öffentliches <strong>Baurecht</strong> (2010), Rn. 38). Allerdings soll sich das nicht<br />

unmittelbar aus § 35 I BauGB ergeben, sondern aus dem Gebot der Rücksichtnahme.<br />

c) Nach der Rechtsprechung soll auch § 35 II BauGB keine unmittelbar drittschützende<br />

Wirkung entfalten. Das wird vor allem dann relevant, wenn sich Landwirte gegen eine her­<br />

anrückende Wohnbebauung wehren wollen, die dazu führen kann, dass sich die "neuen"<br />

Nachbarn irgendwann gegen die vom landwirtschaftlichen Betrieb ausgehenden Immissio­<br />

nen wehren werden. Hier soll § 35 III 1 Nr. 3 BauGB helfen (BVerwG, BauR 1999, 1439):<br />

hiernach sind nicht privilegierte Bauvorhaben auch nicht ausnahmsweise (§ 35 II BauGB)<br />

im Außenbereich zulässig, wenn sie schädlichen Umwelteinwirkungen ausgesetzt wer­<br />

den. Hier ist das Gebot der Rücksichtnahme für einen konkreten Konfliktfall (Interessen<br />

der Wohnungsnutzer gegen Interessen des Landwirts auf Ausübung seines Gewerbes)<br />

konkret gesetzlich ausgeprägt. Deswegen können sich Landwirte regelmäßig mit Erfolg<br />

dagegen wehren, dass in dem Außenbereich, in dem sie ihr Gewerbe ausüben, nicht privi­<br />

legierte Bauvorhaben genehmigt werden.


- 48 -<br />

d) Wer Eigentümer einer nicht privilegierten baulichen Anlage im Außenbereich ist,<br />

kann aus § 35 II BauGB keinen <strong>Dr</strong>ittschutz herleiten. Er kann aber (wie oben) im Einzelfall<br />

geltend machen, dass er durch ein beantragtes nicht privilegiertes (!) Bauvorhaben z.B.<br />

schädlichen Umweltwirkungen ausgesetzt wird.<br />

e) Wehrt sich der Eigentümer einer nicht privilegierten Anlage im Außenbereich gegen die<br />

Genehmigung eines privilegierten Bauvorhabens, so kann auch er grundsätzlich geltend<br />

machen, dass durch die Baugenehmigung auf seine Belange nicht ausreichend Rück­<br />

sicht genommen wird (Beispiel: „optisch bedrängende“ Wirkungen einer Windkraftanlage,<br />

BVerwG, BauR 2007, 674, 675). Aber: Bei der Abwägung der Interessen ist zu berücksich­<br />

tigen, dass privilegierte Anlagen im Außenbereich einen höheren Schutz gegenüber<br />

nicht privilegierten Anlagen genießen.<br />

6. § 85 BauO LSA<br />

§ 85 BauO LSA bestimmt: "Die Gemeinden können örtliche Bauvorschriften erlassen,<br />

wenn dies für die Weiterentwicklung einer schon vorhandenen und besonders gestalteten<br />

Ortslage erforderlich ist und die Gemeinde diese Vorgaben bei der Gestaltung im öffentli­<br />

chen Verkehrsraum berücksichtigt (...)". Diese Regelung ist nicht unmittelbar nachbar­<br />

schützend, weil sie lediglich eine Ermächtigungsnorm ist (Gäbel, in: Foerster/Gäbel/Luda-<br />

Rudel/Niebergall, Bauordnung des Landes Sachsen-Anhalt (2008), § 85 Rn. 55). Sie er­<br />

laubt der Gemeinde nur, örtliche Bauvorschriften aufzustellen. Die örtlichen Bauvorschrif­<br />

ten sind nicht generell nachbarschützend (Gäbel, in: Foerster/Gäbel/Luda-Rudel/Nieber­<br />

gall, Bauordnung des Landes Sachsen-Anhalt (2008), § 85 Rn. 56). Es es ist auf den je­<br />

weiligen materiellen Gehalt abzustellen.<br />

§ 8 Rechtsschutz<br />

Rechtsschutz wird durch Rechtsbehelfe gewährt. Rechtsbehelf ist jedes von der Rechts­<br />

ordnung zugelassene Mittel, mit dem gegen Entscheidungen der Staatsgewalten (z.B. ge­<br />

gen belastende Verwaltungsakte oder Gerichtsentscheidungen) oder gegen jeden anderen<br />

vom einzelnen nicht hingenommenen Zustand vorgegangen werden kann (damit also


- 49 -<br />

auch gegen Personen des Privatrechts). Im öffentlichen <strong>Baurecht</strong> spielen - sofern Einzel­<br />

fallentscheidungen betroffen sind - drei Rechtsbehelfe eine Rolle: Anfechtungs- und Ver­<br />

pflichtungsklage und als Vorverfahren der Widerspruch.<br />

I. Widerspruch<br />

Regelmäßig muss vor Erhebung der Anfechtungsklage ein sogenanntes Vorverfahren ge­<br />

mäß §§ 68 ff. VwGO durchgeführt werden. Der Widerspruch ist innerhalb eines Monats<br />

bei der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, schriftlich einzulegen (§ 70 I<br />

VwGO). Über den Widerspruch entscheidet die nächsthöhere Behörde (§ 73 I 2 Nr. 1<br />

VwGO), in Bausachen also die obere Bauaufsichtsbehörde (in Sachsen-Anhalt: das<br />

Landesverwaltungsamt, nicht zu verwechseln mit der „obersten Bauaufsichtsbehörde".<br />

Das ist das Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr).<br />

§ 68 VwGO lautet: „(1) Vor Erhebung der Anfechtungsklage sind Rechtmäßigkeit und<br />

Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts in einem Vorverfahren nachzuprüfen. (...)<br />

(2) Für die Verpflichtungsklage gilt Absatz 1 entsprechend, wenn der Antrag auf Vor­<br />

nahme des Verwaltungsakts abgelehnt worden ist.“ Abs. 2 gilt also dann, wenn der Antrag<br />

auf Erteilung einer Baugenehmigung oder auf Verfügung einer bauaufsichtlichen<br />

Maßnahme gegen einen <strong>Dr</strong>itte abgelehnt wurde. Ein Vorverfahren ist hingegen nicht<br />

erforderlich, wenn ein Verwaltungsakt schlicht unterlassen wird<br />

Manche Bundesländer haben das Widerspruchsverfahren abgeschafft (z.B. Nordrhein-<br />

Westfalen). In Sachsen-Anhalt besteht es im Regelfall fort. Jedenfalls bei Baugenehmi­<br />

gungen ist vor Erhebung der Klage beim Verwaltungsgericht das Vorverfahren durchzufüh­<br />

ren (vgl. § 8a AusführungsG zur VwGO LSA).<br />

II. Anfechtungsklage<br />

§ 42 I VwGO lautet: „Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts (Anfech­<br />

tungsklage) sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Ver­<br />

waltungsakts (Verpflichtungsklage) begehrt werden.“ § 113 I 1 VwGO lautet: "Soweit der<br />

Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt<br />

das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf." Die


angefochtene Verfügung muss also<br />

- 50 -<br />

1. objektiv rechtswidrig sein. Das ist erstens dann der Fall, wenn die handelnde Behörde<br />

den gesetzlichen Tatbestand, auf den sie ihre Entscheidung gestützt hat, falsch ange­<br />

wandt hat. Beispiel: Die Behörde ordnet die Einstellung von Bauarbeiten an weil die bauli­<br />

che Anlage nicht genehmigt sei. Tatsächlich ist das Vorhaben aber gemäß § 61 II BauO<br />

LSA genehmigungsfrei gestellt. Zweitens ist eine Maßnahme objektiv rechtswidrig, wenn<br />

Ermessensfehler vorliegen. Beispiel: Nutzungsuntersagung, obwohl die betroffene Nut­<br />

zung vom baurechtlichen Bestandsschutz umfasst ist (OVG Sachsen, BauR 2011, 1699,<br />

1700).<br />

2. muss der angefochtene Verwaltungsakt den Kläger subjektiv in seinen Rechten verlet­<br />

zen. Die Klage ist nur zulässig, wenn eine solche Rechtsverletzung überhaupt möglich er­<br />

scheint. Das ist unproblematisch, wenn sich der Kläger gegen eine gegen ihn gerichtete<br />

bauaufsichtliche Maßnahme wendet. Denn dann besteht immer die Möglichkeit, dass er in<br />

eigenen Rechten verletzt ist. Anders ist es, wenn gegen eine Baugenehmigung geklagt<br />

wird, die einem <strong>Dr</strong>itten erteilt worden ist. Hier muss der Kläger geltend machen können, in<br />

eigenen Rechten verletzt zu sein. Das erscheint von vornherein nur möglich, wenn er sich<br />

auf eine drittschützende Norm berufen kann (vgl. oben § 7) .<br />

1. Anfechtung bauaufsichtlicher Maßnahmen<br />

Mit der Anfechtungsklage kann der Betroffene bauaufsichtliche Maßnahmen anfechten,<br />

z.B. Klage gegen die Nutzungsuntersagung oder die Beseitigungsanordnung.<br />

Gemäß § 113 I VwGO hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Wider­<br />

spruchsbescheid auf, soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in<br />

seinen Rechten verletzt ist. Die Klage gegen einen Verwaltungsakt ist daher nur zuläs­<br />

sig, wenn eine Rechtsverletzung überhaupt in Betracht kommt. Das ist der Fall, wenn mit<br />

einer Verfügung in Rechtspositionen des Einzelnen eingegriffen wird. Einstellungsanord­<br />

nung, Beseitigungsverfügung und Nutzungsuntersagung belasten den Betroffenen<br />

immer. Sein Widerspruch und seine Anfechtungsklage sind daher immer zulässig.<br />

2. Nachbarklage


- 51 -<br />

Ein Grundstückseigentümer kann gegen die seinem Nachbarn erteilte Baugenehmigung<br />

klagen. Voraussetzung für einen Klageerfolg ist, dass durch die Baugenehmigung eine<br />

drittschützende Norm verletzt wird, wobei der Kläger persönlich in den Schutz dieser Norm<br />

einbezogen sein muss (vgl. oben § 7).<br />

3. Nebenbestimmungen<br />

Manchmal werden Baugenehmigungen nur unter Auflagen erteilt.<br />

Beispiel: Genehmigung einer Werkstatt nur mit der Auflage, bestimmte Lärmschutzmaß­<br />

nahmen einzurichten.<br />

Solche Nebenbestimmungen können mit der Anfechtungsklage selbstständig angegriffen<br />

werden (BVerwGE 27 36, 145, 154; BVerwGE 41, 178, 180).<br />

4. Aufschiebende Wirkung<br />

Widerspruch und Anfechtungsklage haben grundsätzlich aufschiebende Wirkung (§ 80 I 1<br />

VwGO). D.h.: Solange hierüber nicht entschieden ist, darf die Verwaltung den Bescheid<br />

nicht vollstrecken.<br />

III. Verpflichtungsklage<br />

Nochmals § 42 I VwGO: „Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts<br />

(Anfechtungsklage) sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder<br />

unterlassenen Verwaltungsakts (Verpflichtungsklage) begehrt werden.“<br />

Wenn also der Antrag auf Erteilung einer Baugenehmigung abgelehnt wurde, so kann der<br />

Antragsteller die Verpflichtungsklage erheben. Er muss dann geltend machen, dass die<br />

Behörde zur Erteilung der Baugenehmigung verpflichtet sei.<br />

Bei Ermessensentscheidungen besteht ein Anspruch auf behördliches Tätigwerden nur,<br />

27 Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (Band/Seite).


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wenn das Ermessen auf Null reduziert ist. Das wird relevant bei der Nachbarklage: der<br />

Kläger will die Behörde durch gerichtliches Urteil verpflichten, gegen seinen Nachbarn vor­<br />

zugehen. Bauaufsichtliche Maßnahmen sind aber sämtlich Ermessensentscheidungen.<br />

Ein Anspruch besteht deswegen nur, wenn (ausnahmsweise) kein Ermessen mehr be­<br />

steht. "Das setzt voraus, dass nur noch eine Entscheidung ermessensfehlerfrei und alle<br />

anderen Entscheidungen ermessensfehlerhaft wären." (OVG Nordrhein-Westfalen, BauR<br />

2011, 652, 654). Vgl. hierzu oben, § 5 I 1.<br />

IV. Normenkontrollverfahren<br />

Gemäß § 47 I Nr. 1 VwGO besteht die Möglichkeit, abstrakte und generelle Reglungen,<br />

also insbesondere Bauleitpläne gerichtlich anzugreifen. Die Vorschrift lautet: "Das<br />

Oberverwaltungsgericht entscheidet im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit auf Antrag über die<br />

Gültigkeit<br />

1. von Satzungen, die nach den Vorschriften des Baugesetzbuchs erlassen worden sind,<br />

sowie von Rechtsverordnungen auf Grund des § 246 Abs. 2 des Baugesetzbuchs (...)."<br />

D.h.: Es kann Klage erhoben werden gegen die Gültigkeit von Flächennutzungs- und Be­<br />

bauungsplänen. Allerdings ist eine Verletzung von Verfahrens- und Formvorschriften des<br />

BauGB für die Rechtswirksamkeit des Flächennutzungsplans und der Satzungen nach<br />

diesem Gesetzbuch nur in besonderen Fällen beachtlich (vgl. § 214 BauGB). Zudem wer­<br />

den selbst die in § 213 BauGB genannten Gründe unbeachtlich, wenn sie nicht innerhalb<br />

eines Jahres seit Bekanntmachung des Flächennutzungsplans oder der Satzung schriftlich<br />

gegenüber der Gemeinde unter Darlegung des die Verletzung begründenden Sachverhalts<br />

geltend gemacht worden sind (§ 215 BauGB).

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