Zwischenzustände und Metamorphosen - Brennpunkt
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Galerien<br />
Kurt Wyss<br />
»Begegnungen«<br />
Kurt Wyss, ein w<strong>und</strong>erbarer Fotograf<br />
Von den Einwohnern der Stadt Basel<br />
habe ich eine ganz bestimmte Meinung:<br />
nämlich dass sie ganz erstaunliche<br />
Menschen sind. Zwar soll man sich<br />
vor zu schnellen Verallgemeinerungen<br />
hüten, aber trotzdem muss ich sagen,<br />
dass alle Basler, die ich gekannt habe<br />
(<strong>und</strong> das waren nicht wenige), erstaunliche<br />
Menschen waren – <strong>und</strong> Kurt Wyss<br />
gehört auch dazu.<br />
Was seine physische Erscheinung<br />
angeht, so würde ich ihn als schlank<br />
bezeichnen, als einen Menschen mit<br />
raschen Bewegungen <strong>und</strong> einem in<br />
hohem Maße Ehrlichkeit ausstrahlenden<br />
Gesichtsausdruck. Was diese Ausstrahlung<br />
angeht, so würde ich sagen,<br />
dass man sie – zumindest außerhalb<br />
Basels – doch recht selten antrifft, <strong>und</strong><br />
was die Ehrlichkeit <strong>und</strong> die Suche nach<br />
Wahrheit als Charaktereigenschaften<br />
bei Künstlern angeht, so würde ich im<br />
Gegensatz zu dem, was man hin <strong>und</strong><br />
wieder hört, sagen, dass diese Eigenschaften<br />
absolut kennzeichnend für<br />
die gesamte Persönlichkeit sind. Wirkliche<br />
Kunstwerke können nur dort entstehen,<br />
wo das künstlerische Schaffen<br />
von Wahrheit durchdrungen ist. Und<br />
alle, die nicht von vornherein davon<br />
überzeugt sind, haben von wirklichem<br />
künstlerischem Schaffen nur eine<br />
geringe, <strong>und</strong> klar herausgesagt, falsche<br />
Vorstellung.<br />
Was man an Kurt Wyss zuerst wahrnimmt,<br />
ist sein schlanker Körper, dessen<br />
Glieder sich raumumfassend zu verlängern<br />
<strong>und</strong> wie mit Suchern ausgerüstet<br />
scheinen, die er mit den Händen formt<br />
<strong>und</strong> knetet <strong>und</strong> dann ganz unvermittelt<br />
zum Auge führt. Bei anderen Fotografen<br />
beobachtet man bestimmte Handgriffe,<br />
die in einer bestimmten Reihenfolge<br />
ablaufen, Berechnung der Entfernung,<br />
Einschätzung der Lichtverhältnisse <strong>und</strong><br />
Objektiveinstellung – nichts von alledem<br />
sieht man jedoch bei ihm.<br />
Die Kamera <strong>und</strong> sein Auge verschmelzen<br />
zu einem Ganzen, zu einer einzi-<br />
26 brennpunkt 1/2012<br />
© Kurt Wyss, »Jean Dubuffet«, 1974<br />
© Kurt Wyss, »Andy Warhol«, Zürich 1978<br />
gen Handlung, die sich nicht in einzelne<br />
Vorgänge gliedert. Ganz plötzlich klettert<br />
er auf einen gerade verfügbaren<br />
Gegenstand, stellt einen Tisch auf eine<br />
Kiste, einen Stuhl auf den Tisch, stützt<br />
sich mit dem Fuß am Fenster ab, <strong>und</strong><br />
schon steht er da, den Hals nach vorn<br />
gestreckt, den Kopf nach unten gebeugt,<br />
das Auge am Sucher <strong>und</strong> drückt fünf,<br />
zehn, nein zwanzig Mal hintereinander<br />
auf den Auslöser, greift geschickt nach<br />
einer anderen Kamera, dreht sich wie<br />
ein Kreisel um die eigene Achse <strong>und</strong><br />
hat schon wieder zwanzig Mal ausgelöst.<br />
Er springt auf die andere Seite <strong>und</strong><br />
beginnt von Neuem.<br />
Der Beobachter kann nicht umhin,<br />
an die Kosten für das Filmmaterial zu<br />
denken, aber darüber macht sich Kurt<br />
Wyss scheinbar gar keine Sorgen. Er ist<br />
völlig in Trance, ist nicht mehr Fotograf,<br />
sondern ganz Bild, losgelöst von allen<br />
Ketten, auf der Jagd in freier Wildbahn.<br />
Und was geschieht dann? Ganze Nächte,<br />
stelle ich mir vor, verbringt er mit dem<br />
Entwickeln der Filme, der Prüfung der<br />
Negative, der Herstellung verschiedenster<br />
Abzüge – ein Spiel mit Kontrasten<br />
– auf unterschiedlichem Papier.<br />
Eine gewaltige Arbeit, stelle ich mir vor,<br />
deren Ergebnis sich in einer ungeahnten<br />
Vielfalt verblüffender, bew<strong>und</strong>ernswert<br />
genialer, aus unerwartetem Blickwinkel<br />
aufgenommener Fotos von erstaunlicher<br />
technischer Perfektion widerspiegelt,<br />
die er in Alben zusammenfasst. In<br />
diesen Alben verschmelzen einige flüchtige<br />
Augenblicke, denen niemand außer<br />
ihm Beachtung geschenkt hätte, die er<br />
jedoch mit überraschender Schnelligkeit<br />
wahrzunehmen <strong>und</strong> einzufangen<br />
wusste, zu einem eindrucksvollen dramatisch<br />
wirklichkeitsnahen Gesamtbild.<br />
Jean Dubuffet<br />
bis 14. Januar 2012<br />
Johanna Breede<br />
PHOTOKUNST<br />
Fasanenstraße 69<br />
10719 Berlin-Charlottenburg<br />
Di – Fr 11 – 18 Uhr<br />
Sa 11 – 16 Uhr