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trifolium 4 - Tertium Comparationis Netzwerk für Komparatistik e.V.

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<strong>trifolium</strong> 4<br />

vermischtes von tertium comparationis<br />

netzwerk <strong>für</strong> komparatistik e.V.<br />

Juni 2005<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005<br />

1


Inhalt<br />

Essays<br />

Harald Bost: Petasos – alter Hut mit neuer Botscha�<br />

Michael Birkner: Eingedenken – in das Widerstrebende<br />

Martin Schmi�: „Stummes, starres Nichts!“<br />

Literatur<br />

Marion Kleer: Geldeintreiber Inc.<br />

Patrik H. Feltes: Mahnwache<br />

Ralf Peter: Klagenfurter Haikus<br />

Tanja Abel: Niemandswelt<br />

Martin Schmi�: Glückliche Jugend<br />

Klar und deutlich<br />

Es ist nicht alles Glanz<br />

Besprechungen<br />

Jasmin Sakulowski: Illusioni<br />

Jasmin Sakulowski: Es dünkte mich, als irrt‘ er sich<br />

Martin Schmi�: Tranchieren heißt zerlegen<br />

Patrik H. Feltes: Von Senf<br />

Patrik H. Feltes: ein buch voll poesie und experiment<br />

Rubriken<br />

Editorial<br />

We�er<br />

Der Ehrgeizlink<br />

Zeitbloms Chronik<br />

Impressum<br />

Titelbild<br />

Konrad Kirsch: Sojus<br />

2<br />

Editorial<br />

Vielleicht sollte man beginnen mit dem Satz, daß<br />

das ursprüngliche Mi�eilungsbla� eine Zeitschri�<br />

mit literarisch-kulturellem Anliegen geworden ist,<br />

bei dem sich die immer schon besonderen Texte<br />

und Bilder nunmehr deutlich verändert präsentieren.<br />

In völlig neuer Aufmachung und – wie wir<br />

meinen – eingängigerer Visualisierung giebt (!) es<br />

<strong>trifolium</strong> 4 zwar verspätet, jetzt aber in angenehmster<br />

Typographie und moderner Apparence in der<br />

Bildsprache.<br />

Neu ist ebenfalls, daß zukün�ig zwei Ausgaben<br />

pro Jahr erscheinen sollen mit der zusätzlichen<br />

Option auf eine weitere Ausgabe, die dann als Themenhe�<br />

vorgesehen ist. <strong>trifolium</strong> ist spätestens jetzt<br />

zu einer Art Pla�form avanciert, die nicht einfach<br />

nur Text- oder Bildbeiträge abdruckt, sondern kritisch-literarisch,<br />

intellektuell-fantasiereich und engagiert<br />

jeder kulturellen Gleichgültigkeit die Zähne<br />

zu zeigen bereit ist.<br />

Gerne möchten wir erfahren, wie die Leserscha�<br />

über <strong>trifolium</strong> und die neuesten Modificationen<br />

denkt. Bi�e senden Sie Ihre Meinung an<br />

info@tertium-comparationis.de oder einfach an die<br />

Redaktionsadresse. Die Redaktion verstehts als<br />

Weiterentwicklung und freut sich über jede noch so<br />

kleine Zuschri�.<br />

Die interessierten Leserinnen und Leser sind außerdem<br />

dringend aufgerufen, ihre Text- oder Bildarbeiten<br />

einzusenden, damit sie nächste Ausgaben<br />

von <strong>trifolium</strong> füllen mögen.<br />

Ich wünsche abschließend Spaß und intellektuelles<br />

Vergnügen bei der Lektüre von <strong>trifolium</strong> 4, der<br />

bisher umfangreichsten und an Professionalität gerei�en<br />

Ausgabe unseres jungen Periodicums.<br />

Patrik H. Feltes<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005


Petasos<br />

Alter Hut mit neuer Botschaft<br />

Rede anläßlich der Vorstellung des Bandes<br />

Dreizehn Aufsätze zur <strong>Komparatistik</strong> von Armand Nivelle<br />

in der Schriftenreihe petasos<br />

von Harald Bost<br />

Viele von Ihnen werden Hermes so kennen, wie ich<br />

ihn gekannt habe, bevor er mir mit Ka� a so ans<br />

Herz gewachsen ist, als gefl ügelten Gö� erboten<br />

mit gefl ügelten Sandalen, gefl ügeltem Heroldstab,<br />

gefl ügeltem Hut und Umhang, als Go� der Händler<br />

und Diebe und als Hermes Psychopompos, den<br />

Führer der Seelen ins Totenreich.<br />

Nicht so bekannt ist er, der Sohn des Zeus und<br />

der Regengö� in Maia, als Windgo� . Weil er als<br />

Wind wie der Wind schnell dahinfl iegt, trägt er am<br />

Hut, petasos, am Botenstab, kerykeion oder caduceus,<br />

und an den Schuhen Flügel, talaria. Die Flügel veranschaulichen<br />

seine Bedeutung als Windgo� . In<br />

dieser Eigenscha� wird er auch zum Führer der<br />

von „jeher lu� artig gedachte[n] Seelen“, die „bei<br />

der Trennung vom Körper in das Reich des Windes<br />

oder der Lu� zurückkehren müssen“ (Roscher 2361).<br />

Und weil auch die Traumbilder sich beim Erwachen<br />

in Lu� aufl ösen ist Hermes zugleich „Seelenführer<br />

und Traum- oder Schlafgo� geworden“ (2361). Der<br />

Wind bringt „die fruchtbaren Regenwolken“ und<br />

gilt dem Hirten und Ackerbauern „als befruchtend<br />

und zeugerisch“.<br />

Launisch und unbeständig wie der Wind, wetterwendisch,<br />

ist auch das Glück, „so ist Hermes als<br />

Windgo� zu einem Go� e des plötzlichen und unerwartet<br />

eintretenden Glücks und Zufalls geworden“<br />

(2361). Wind und We� er ausgesetzt ist auch der<br />

Wanderer. Und so wird Hermes der „Go� der Wege<br />

und Wanderer“. Vor „Sonne und Regen“ schützt<br />

der „Petasos“, „ein Filzhut mit niedrigem Kopf<br />

und breitem Rande“, der deshalb „von Wanderern<br />

und Boten getragen zu werden pfl egte“ (2365). Und<br />

wenn wir schon beim We� er sind, müssen wir auch<br />

an den Hahn denken. Denn „wenn der Hahn kräht<br />

auf dem Mist, ändert sich’s We� er oder´s bleibt<br />

wie’s ist“. Am vierten Tage eines jeden Monats verehren<br />

die Griechen Hermes, „weil an diesem Wind<br />

und We� er wechseln, ferner das Symbol des Hahnes,<br />

eines We� er prophezeienden Tieres“ (2361 f.).<br />

So wird auch der Hahn zum Symbol des Hermes.<br />

In seinen verschiedenen Erscheinungsformen<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005<br />

begegnet uns der Windgo� Hermes auch in der<br />

Literatur. Als Hermes Psychopompos, als der „bleiche<br />

und liebliche Psychagog“, wenn etwa Gustav<br />

Aschenbach der Tod in Venedig ereilt, indem Tadzio<br />

ihm<br />

„Vom Festlande geschieden durch breite Wasser“<br />

als „eine höchst abgesonderte und verbindungslose<br />

Erscheinung, mit fl a� erndem Haar [wie<br />

Flügel] dort draußen im Meer, im Winde, vorm<br />

Nebelha� -Grenzenlosen“ zuwinkt. „Ihm [Gustav<br />

Aschenbach in seinem Lehnstuhl zusammengesunken<br />

und unter den Augenbrauen hervorschauend]<br />

war aber, als ob der bleiche und liebliche Psychagog<br />

dort draußen ihm lächle, ihm winke; als ob er die<br />

Hand aus der Hü� e lösend, hinausdeute ins Verheißungsvoll-Ungeheure.<br />

Und, wie so o� , machte<br />

er sich auf ihm zu folgen. [...] Und noch denselben<br />

Tag empfi ng eine respektvoll erschü� erte Welt die<br />

Nachricht von seinem Tode“ (MK 111, 399).<br />

Aschenbach, der Dichter, machte sich „wie so<br />

o� “ auf, Hermes zu folgen. Im Felix Krull folgt der<br />

Dichter Thomas Mann Hermes bei der Beschreibung<br />

von mehr als nur einer Schicksalswendung<br />

seines Helden, des Hermaphroditen Felix Krull:<br />

„Ganz anders nun aber verhält es sich mit gewissen<br />

abseits wandelnden Herren, Schwärmern, welche<br />

nicht die Frau suchen, aber auch nicht den Mann,<br />

sondern etwas wunderbares dazwischen. Und das<br />

Wunderbare war ich“ (MT 110, 86).<br />

Für Madame Houpfl é, die Dichterin, ist er Hermes,<br />

„der geschmeidige Go� der Diebe“ (139):„Hermes!“<br />

redet sie ihn in ihrer Liebesnacht nach seinem<br />

Geständnis des Diebstahls ihres Schmuckkästchens<br />

an. „Hermes! Er weiß nicht, wer das ist, und ist es<br />

selbst! Hermès, Hermès!“ (141) Bei Diane Houpfl é<br />

bewährt sich der „Zögling und Eingeweihte[n] der<br />

gestrengen Rosza“ (137). Sie, eine Professionelle,<br />

hat ihn zum „Liebesdienste [...] in eine gründliche<br />

Schule“ genommen. Diese „Lehrmeisterin“ Rozsa,<br />

deren „kurze, anfeuernde Zurufe, welche dem Vokabular<br />

von Rozsas frühester Jugend, nämlich dem<br />

Ausdrucksbereich der Circusmanege entstamm-<br />

3


ten“, ist ein ganz seltsames Wesen. Mit ihr zusammen<br />

war er „nicht allein und doch weniger als<br />

zwei“. „Die Vertraute ha� e eine Art, ihr Bein über<br />

meines zu legen, als kreuze sie nur ihre eigenen“.<br />

Was sie sagte war „wie Gedanken der Einsamkeit es<br />

sind“ (90). Er ist demzufolge allein und sie wie ein<br />

Teil seiner selbst, der <strong>für</strong> sich besteht – eine Herme.<br />

In ihrer Form erinnert sie an die Wendemarken der<br />

Pferdegespanne, die falae des römischen Circus, in<br />

ihrer unverkennbaren „Verwandtscha� mit palus,<br />

Pfahl, phallós“. Sie, die Herme, symbolisiert genau<br />

das, wo<strong>für</strong> Hermes vor allem steht, Fruchtbarkeit:<br />

„Nicht bloß die Fruchtbarkeit der Pfl anzen, sondern<br />

auch die der Tiere wurde vom Winde abhängig gedacht“<br />

heißt es zu dieser Funktion des Hermes im<br />

Roscher.<br />

Seltsame Assonanz zwischen Rozsa und Roscher.<br />

Es gibt eine weitere. Mme Houpfl é dichtet auf die<br />

nackt neben ihr liegende Hermesfi gur Krull: „doch<br />

immer wird mein Geist, ihr Ranken, euch umwe-<br />

ben. Du auch, bien aimé, aimé du alterst hin zum Grabe<br />

gar bald“. Das sind ziemlich unsinnige ex tempore<br />

Reime. Weder um ihres ästhetischen Wertes Willen,<br />

noch auch um sich als passablen Reimer auszuweisen,<br />

hat Thomas Mann sie geschmiedet. Neben der<br />

humoristischen Würdigung von Madame Houpfl és<br />

Dichtertalent erfüllen sie eine andere Funktion, wie<br />

im Falle Rozsa-Roscher die der bibliographischen<br />

Anspielung. Grabe heißt auf englisch grave. Aus<br />

Ranke und Grave ergibt sich der Verfassername der<br />

Griechischen Mythologie: Robert von Ranke-Graves.<br />

An den Haaren herbeigezogen? Die Forschung<br />

ist sich einig, daß Wiesengrund im Kretzschmar-Kapitel<br />

des Doktor Faustus (Kap. 8, 51) eine Anspielung<br />

auf Theodor Wiesengrund Adorno, Manns musikalischen<br />

Mentor bei der Komposition des Faustus,<br />

ist. Warum sollte Mann sich dieses literarischen<br />

Kniff s zum Verweis auf seine Quellen nur einmal<br />

bedient haben?<br />

Vom Lande, dem „schafreichen Arkadien“<br />

(Pindar VI. Olymp. Ode) kommend, wo er in einer<br />

Höhle des Berges Kyllene geboren ist, wird Hermes<br />

4<br />

häufi g mit einem Widder abgebildet. Er ist Schutzgo�<br />

der ländlichen Herden. Aus dieser Funktion<br />

stammt das kerykeion oder caduceus. „Als Symbol<br />

seiner Heroldswürde führte Hermes das sogenannte<br />

kerykeion, das ursprünglich gewiß die einfache<br />

Gestalt eines Hirtenstabes oder eines Skeptron hatte,<br />

wie es die homerischen Herolde führen.“<br />

Mit kerykeion/caduceus und petasos wurde Hermes<br />

jetzt zweimal in seiner uns geläufi gen Bedeutung<br />

genannt, der des Boten. Dem liegt seine älteste<br />

Deutung als Go� der Rede zugrunde. Diese Deutung<br />

des Hermes als Go� der Rede gibt uns Sokrates<br />

in Platons Kratylos. Er leitet den Namen Hermes<br />

aus den griechischen Wörtern <strong>für</strong> reden, eirein,<br />

und erfi nden, emesato, ab. „Auf alle Weise muß doch<br />

Hermes etwas von der Rede bedeuten, denn daß er<br />

Dolmetscher ist und Bote, auch hinterlistig und betrügerisch<br />

in Reden und auf dem Markte Verkehr<br />

treibt, dieses ganze Geschä� beruht doch auf der<br />

Kra� der Rede“ (408 a).<br />

Hermes ist also der Erfi nder und der Go� der<br />

Rede. Reden, das ist auch die „natürliche Begabung“<br />

des Hochstaplers Felix Krull, der sich schwät-<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005


zend und schwadronierend, lügend und betrügend<br />

durchs Leben stiehlt.<br />

Seriös erscheint uns Hermes in seiner ägyptischen<br />

Form des Hermes Trismegistos, Hermes der<br />

dreimal Große, als Schri� go� Thot im Portrait of the<br />

Artist von Joyce. Stephens Vision des Mädchens „in<br />

the likeness of a strange and beautiful seabird“, das<br />

ihn vom Meer aus wie Tadzio Aschenbach bedeutungsvoll<br />

anschaut (Portrait 171) wiederholt sich in<br />

der Vision des Schri� go� es Thot. Stephen schaut<br />

nach dem Flug der Vögel, identifi ziert sich mit<br />

seinem Namenspatron Dädalus, dem habichtähnlichen<br />

Mann, und erkennt in Thot, dem ibisköpfi gen<br />

Schri� go� der Ägypter seine Berufung zum Schri� -<br />

steller: „Thoth, the god of writers, writing with a<br />

reed [Rohr, calamus] upon a tablet“, auf ein kleines<br />

Täfelchen und auf seinem schmalen Ibiskopf trägt<br />

er die Mondsichel (Portrait 225): „Seiner Eigenscha�<br />

als Mondgo� verdankt Thot den Kopfschmuck eines<br />

Mondes; dieser wird stets in der üblichen Weise<br />

dargestellt als schmale gelbe Sichel, über der die<br />

rotbraune Scheibe des dunklen Teiles des Mondes<br />

steht“ (Roscher 855).<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005<br />

In der Form des Thot, des Hermes Trismegistos,<br />

ist Hermes der Go� der Alchimisten. In der<br />

Literatur sind es die Alchimisten des Wortes, wie<br />

Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé. Sie schreiben<br />

verbergend, geheimnisvoll, kryptisch. Ihr Werk<br />

ist hermetisch, abgeschlossen vor der Menge, unzugänglich.<br />

Kryptisch, verborgen und versteckt<br />

erscheint Hermes, der Dichter in seiner Schri� ,<br />

auch bei Ka� a. „Und hinter dem allen – quelle détresse,<br />

– quel désespoir, quel sacrifi ce. In was <strong>für</strong> einer<br />

Unglückserde graben wir Dichtermaulwürfe doch<br />

herum, nie wissend, wo wir heraufstoßen und wer<br />

uns etwa dort gleich frißt, wo wir die staubige Nase<br />

aus dem Erdreich stecken.“ Das ist noch nicht Kafka,<br />

auch keiner der Franzosen, das ist Rilke im Brief<br />

vom 16. Dezember 1913 aus Paris an die Fürstin von<br />

Thurn und Taxis.<br />

Ist es der Dichtermaulwurf, der dem alten Dor-<br />

fl ehrer in Ka� as Erzählung Der Riesenmaulwurf er-<br />

scheint? In der Nähe eines kleinen Dorfes wird ein<br />

Riesenmaulwurf gesehen. Obwohl eine Sensation,<br />

überläßt man „die einzige schri� liche Behandlung<br />

des Falles dem alten Dorfl ehrer“ (Bd. 5, 166). Über<br />

einen mäßigen Achtungserfolg hinaus fi ndet seine<br />

„kleine Schri� “ keine weitere Anerkennung. Die<br />

gelehrte Welt ignoriert sie, der Gelehrte, zu dem<br />

er geht, erklärt Riesenmaulwürfe <strong>für</strong> nichts Außergewöhnliches<br />

bei dem fruchtbaren Boden der Gegend.<br />

Da will ihm ein städtischer Kaufmann helfen,<br />

und verfaßt eine eigene Schri� , in der er sich zu seinem<br />

„Fürsprecher“ macht (170). „Der Zweck dieser<br />

Schri� ist es, der Schri� des Lehrers zur verdienten<br />

Verbreitung zu helfen.“<br />

Dieser Kaufmann wie alle Kaufmänner in Kafkas<br />

Schri� en ist auch ein Hermes. Es ist der Hermes<br />

als Schüler (173) des „alten Dorfl ehrers“, Hermes<br />

mellephebe. Er verfaßt seine Schri� in voller Verehrung<br />

des Lehrmeisters, auch wenn er die Schri�<br />

des Alten, da sie ihn nur „beirrt“ hä� e, erst nach<br />

der Verfertigung der eigenen gelesen hat. So gut<br />

harmonieren am Ende die beiden Autoren gar nicht<br />

miteinander und als es zum endgültigen Abschied<br />

5


kommen soll, verläßt der alte Lehrer den jungen<br />

Epheben nicht. „Wenn man den kleinen zähen Alten<br />

von rückwärts ansah, wie er an meinem Tische<br />

saß, konnte man glauben, es werde überhaupt nicht<br />

möglich sein, ihn aus dem Zimmer hinauszubefördern“<br />

(179). Sowenig wie Rosza bei Thomas Mann<br />

eine wirkliche Person ist, so wenig ist der alte<br />

Dorfl ehrer mit seiner Frau und den sechs Kindern<br />

etwas anderes als die sechs Bände Georg Friedrich<br />

Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker, Völker<br />

die er mit seiner Frau, der Mythologie, gezeugt hat.<br />

Aus ihm, Bachofen und dem Roscher haben Thomas<br />

Mann und Ka� a ihre Kenntnisse von Hermes und<br />

seiner Bedeutung <strong>für</strong> das literarische Schaff en.<br />

In ihm, Hermes, liegt das Geheimnis des<br />

künstlerischen Schaff ensprozesses verborgen. Es<br />

ist das Geheimnis der Alten. Manchmal „erheben<br />

sich diese alten Leute wie Fremde, haben tiefere,<br />

stärkere Meinungen, entfalten förmlich jetzt erst<br />

ihre Fahne und man liest darauf mit Schrecken den<br />

neuen Spruch. Dieser Schrecken stammt vor allem<br />

daher, weil das, was die Alten jetzt sagen, wirklich<br />

viel berechtigter, sinnvoller, und als ob es eine Steigerung<br />

des Selbstverständlichen gäbe, noch selbstverständlicher<br />

ist. Das unübertreffl ich Lügnerische<br />

daran aber ist, daß sie das, was sie jetzt sagen, im<br />

Grunde immer gesagt haben“ (174).<br />

Die Alten, in diesem Sinne gehört auch Professor<br />

Armand Nivelle zu ihnen, die Alten, das sind<br />

die Klassiker. Unser alter Lehrer Nivelle hat dem<br />

Geheimnis des dichterischen Prozesses sein ganzes<br />

Forschungsleben gewidmet, der Ästhetik der Aufklärung,<br />

der Romantik, Rilkes, Thomas Manns und<br />

Ka� as und all der anderen, die ich hier genannt<br />

habe. Und er hat, wie diese Dreizehn Aufsätze, kleine<br />

Schri� en, zeigen, vor der Erscheinung des Riesenmaulwurfs,<br />

Dichter und Dichtung, die Augen nicht<br />

verschlossen. Deshalb blä� ert im Roscher, Roscher lest<br />

Creu-<br />

zer, zer Bachofen, und den ersten Band der Reihe Petasos,<br />

damit der Boden bereitet wird, <strong>für</strong> den Erfolg in der<br />

Welt, was sage ich, <strong>für</strong> den Welterfolg, <strong>für</strong> den diese<br />

Reihe konzipiert ist.<br />

6<br />

Warum aber schließlich und endlich <strong>für</strong> die<br />

Früchte wissenscha� licher Arbeit nur den Hut des<br />

Hermes als Emblem? Produktivität drückt sich<br />

doch im ganzen Hermes und zwar in seiner frühesten<br />

Gestalt, der Herme, aus. Da sich seriöse Wissenscha�<br />

der Welt aber nicht unter einem erigierten<br />

Phallus präsentieren läßt, haben die Redakteure<br />

und Herausgeber der Reihe, die Mellepheben, ganz<br />

der hermetischen Tradition verpfl ichtet, diejenige<br />

mythologische Chiff re gewählt, unter der sich die<br />

Erzeugnisse des Geistes keusch verborgen mi� eilen<br />

lassen – den Hut.<br />

„Der Hut endlich“ schreibt Bachofen in seiner<br />

Abhandlung Die drei Mysterieneier, Mysterieneier der Hut „ist aus<br />

dem Ei hervorgegangen“. Seine „Aufsetzung“ ist<br />

das „Bild der Rückkehr des Menschen [...] unter<br />

die Herrscha� jenes Naturgesetzes“, welches „der<br />

ganzen [...] Schöpfung stoffl iches Grundrecht bildet“<br />

(Bachofen IV, 230). Der Hut ist wie die Herme<br />

Schöpfungssymbol und Schutz, unter dem die Reihe<br />

Petasos ihre Botscha� in die Welt tragen soll.<br />

Bibliographie:<br />

Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, hg.<br />

v. Wilhelm Heinrich Roscher. Leipzig: o.J.<br />

Johann Jakob Bachofen: Versuch über die Gräbersymbolik der Alten,<br />

in: ders.: Gesammelte Werke, hg. v. Karl Meuli. Basel: Benno Schwabe,<br />

1954, Bd. IV.<br />

James Joyce: A Portrait of the Artist as a Young Man, New York: Viking<br />

Press, 1963.<br />

Franz Ka� a: Gesammelte Werke, hg. v. Brod, Max. Taschenbuchausgabe<br />

in sieben Bänden. Frankfurt a. M.: Fischer, 1976.<br />

Thomas Mann: Tod in Venedig, in: Thomas Mann: Werke. Taschenbuchausgabe<br />

in zwölf Bänden. Frankfurt a. M.: Fischer, 1967. (MK<br />

111)<br />

Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. (MK 110)<br />

Rainer Maria Rilke: Über Dichtung und Kunst. Frankfurt a. M.:<br />

Suhrkamp, 1974.<br />

Bildnachweis:<br />

Hermesbilder aus Roscher a.a.O, Artikel Hermes.<br />

Thot mit Mond aus Adolf Erman: Die Religion der Ägypter. Berlin:<br />

de Gruyter, 2001, Tafel 2 zwischen den S. 56 und 57.<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005


Geldeintreiber-Inc.<br />

von Marion Kleer<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005<br />

„Ja, vielleicht bin ich eine Schlange,<br />

aber sie zählt nicht unbedingt zu den<br />

schlechtesten der Tiere.“<br />

Der Geldeintreiber führt ein einfaches, unkompliziertes<br />

und auf genaueste Genauigkeit ausgerichtetes<br />

Leben. Er kennt nur seine Kunden und die<br />

zu schuldende Summe; es ist davon auszugehen,<br />

beides kennt er ganz genau. Der Kunde ist <strong>für</strong> ihn<br />

kein Mensch, kein Individuum mit den und den Eigenscha�<br />

en oder Nicht-Eigenscha� en. Für ihn ist er<br />

eine Zahl, größer oder kleiner, spielt keine Rolle.<br />

Mancher fragt sich nun, wie ein solcher Geldeintreiber<br />

zu erkennen sei? Einige behaupten, so einer<br />

ist immer mit Schnauzer, andere wiederum meinen,<br />

er trüge Mantel, Stock und Hut; der Mantel habe<br />

viele Taschen, <strong>für</strong> die am Tage einzutreibenden<br />

Noten. Eine erhabene aber doch eher atavistische<br />

Vorstellung. Und wieder andere sehen einen bunt<br />

gekleideten, schmierigen clownesken Kerl, einem<br />

Gebrauchtwagenhändler ähnlich, der sich in die<br />

dicken, schmierigen Fäustchen lacht, bevor er die<br />

geschuldete Summe off enbart.<br />

Man könnte aber auch antworten, genausowenig,<br />

wie es den Menschen oder den Hund gibt, so<br />

wenig gibt es den Geldeintreiber. In früheren Zeiten,<br />

als das Bekriegen in den hiesigen, gemäßigten<br />

Breitengraden noch Mode war, gab es vielleicht so<br />

etwas wie einen Kollektiveintreiber. Man bedenke<br />

nur, wie hoch sich ein Staat verschulden muß, will<br />

er einen Krieg vom Zaun brechen. Man ho� natürlich<br />

immer, daß das feindliche Gegenüber sich<br />

um einiges mehr verschulde als man selbst und<br />

der Krieg damit gewonnen würde; nicht etwa, wie<br />

viele glauben, weil man sich des größeren Waff enpotentials<br />

gewiß ist, sondern indem man nach der<br />

Schlacht den Feind aufgrund seiner prekären pekuniären<br />

Schuldensituation einfach ausbluten läßt.<br />

Diese sind heutzutage, wie die Dinosaurier,<br />

ausgestorben oder haben sich in ein Leichteres,<br />

Flüggeres verwandelt, um zu überleben. Auch ein<br />

Geldeintreiber muß – zu einem verschwindend geringen<br />

Teil – Konzessionen gegenüber seinen Kunden<br />

machen. Heute blühen die Privatgeldeintreiberinstitute,<br />

sie schießen wie Pilze aus dem feuchten<br />

Boden. Und wer in diese Branche hineinstößt, hat<br />

erst mal ausgesorgt, <strong>für</strong> den Rest.<br />

Ein Geldeintreiber, könnte man meinen, ist eine<br />

einsame Seele. Doch hat er seine Mitarbeiter. Ein<br />

übernationales Abkommen <strong>für</strong> Zins-, Schuldschein-<br />

und Bezirksvergabe sieht zwei Helfer und eine Sekretärin<br />

vor. Daß diese Gesetzmäßigkeit unter den<br />

vielfältigen Instituten eingehalten wird gehört zum<br />

Berufsethos und versteht sich von selbst.<br />

Die Sekretärin ist <strong>für</strong> den Verwaltungsapparat<br />

zuständig. Ihr obliegen die Personenstands- und<br />

Ausführungsverordnungen. Neue Namen werden<br />

von ihr aufgenommen, und Entschuldete, mit einem<br />

speziellen Vermerk versehen, aus der Kundenkartei<br />

gestrichen. Daneben ist sie mit der verantwortungsvollen<br />

Aufgabe des schri� lichen Einzugsverfahrens<br />

betraut. Sie bestimmt den nächsten zur Zahlung<br />

aufgeforderten Kunden, wobei das Auswahlverfahren<br />

an sich etwas undurchsichtig wirkt, da die<br />

Höhe der Schuldensumme nichtdas Ausschlaggebende<br />

zu sein scheint. Es gibt Hochverschuldete,<br />

daneben solche, die mit Minimalbeträgen in der<br />

Kreide stehen, und wen es nun von beiden als<br />

ersten tri� , ist nicht voraussagbar. Allerdings sind<br />

falsche Kalkulation oder gar willfähriges Fehlverhalten<br />

nicht bekannt.<br />

Man sieht die Sekretärin nur am Schreibtisch;<br />

nie würde sie selbst in Erscheinung treten, obwohl<br />

es Schuldiger gibt, die nicht von der Meinung abzubringen<br />

sind, ihr Geldeintreiber sei eine Frau; unter<br />

uns gesagt, <strong>für</strong> diese Art von Arbeit wäre eine Frau<br />

doch von zu geringem Format.<br />

Für die praktische Arbeit sind bisweilen hart<br />

zupackende Männerhände von Vorteil, insbesondere<br />

in den Situationen, in denen der zur Zahlung<br />

Aufgeforderte mit allen ihm zur Verfügung stehenden<br />

Mi� eln nicht von seinem Portemonnaie lassen<br />

will. Laut Statut sind da<strong>für</strong> zwei freie Mitarbeiter<br />

7


vorgesehen. Sie greifen dem Geldeintreiber unter<br />

die Arme, wo sie nur können.<br />

Alles in allem ist das Geldeintreiben an sich eine<br />

entspannte und bequeme Arbeit; keineswegs etwas<br />

Schmutziges, wie es die landläufi ge Meinung zu<br />

sein scheint. Sie ist eine geradezu ehrbare Dienstleistung<br />

am Menschen und beinhaltet in gewisser<br />

Hinsicht immer auch einen sublimen Gnadenakt.<br />

Neukunden wuchsen bisher reichlich nach, deshalb<br />

leidet der Geldeintreiber selbst nie Geldnot;<br />

die Geschä� e laufen seit Jahren ununterbrochen<br />

gut; weil fortlaufend geschuldet wird, liegt seine<br />

Besoldung über dem Durchschni� eines Normalsterblichen;<br />

auch ist es keine Seltenheit, daß ehemals<br />

Verschuldete in den Kreislauf wiederaufgenommen<br />

werden. Denn wie leicht gerät man doch, was wohl<br />

jeder von sich bestätigen kann, in diesem äußerst<br />

kostspieligen Leben auf fi nanzielle Durststrecken.<br />

Und was wäre schlußendlich dieses Leben, wenn<br />

es ärmer als jede Kirchenmaus gefristet würde ...<br />

man wäre ja völlig des Gesellscha� lichen beraubt,<br />

mannigfaltige Aktivitäten blieben verschlossen,<br />

Reisen versagt: kurz, was bliebe unterm Strich noch<br />

übrig?<br />

Nun ein neuer Gebrauchtwagen, der vor meiner<br />

Tür steht und den ich mir vor einigen Tagen zugelegt<br />

habe.<br />

8<br />

mahnwache<br />

kastel/saar 02/2005<br />

von Patrik H. Feltes<br />

fl echtengrün übersät<br />

tarnen dreikreuzgruppen<br />

unbeweglich<br />

im glänzenden<br />

schneemeer.<br />

hoch über dem fl uß<br />

am plateau.<br />

die winterarmee dezimiert,<br />

steckt fest in gefechtsreihen,<br />

regelmäßig und kamp� üchtig<br />

die kleinformationen auf sichtabstand.<br />

der mahnende zuruf des höhenwinds<br />

trägt fl üsternde ordre:<br />

der stumme schießbefehl<br />

erinnert an tod vielfach<br />

die kämpfe sinnlos.<br />

was einzig bleibt,<br />

der au� rag:<br />

stete bewachung<br />

des blinden königs<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005


Illusioni ovvero Il cinema inCantato<br />

von Jasmin Sakulowski<br />

Poetica, Pi� ura und Musica streiten sich, wer nun<br />

die Wichtigste ist, wer die größte Wirkung erzielt<br />

– bezaubernd, diese Damen. Au� ri� Magia als<br />

Schlichterin: sie alle sind wichtig in ihrem Zusammenspiel.<br />

Und ganz besonders die Oper braucht<br />

diese gemeinsame Kra� , um ihre Wirkung zu<br />

entfalten, sie braucht besonders das Magische, die<br />

Verzauberung.<br />

Das ist der Prolog einer KinoOper-Inszenierung<br />

des Barock-Ensembles pazzaCaglia. Die Gruppe<br />

entstand 1997 und hat inzwischen schon mehrere<br />

Auff ührungen sehr unterschiedlicher Art veranstaltet,<br />

mit denen sie herausfi nden will, wie die<br />

Barockmusik des 16. und 17. Jahrhunderts geklungen<br />

hat und welche Wirkung sie in Interaktion mit<br />

dem Publikum entfalten kann. PazzaCaglia spielt<br />

und inszeniert italienische Barock-Opern, belässt<br />

es dabei allerdings nicht bei bloßer Reproduktion,<br />

sondern versucht durch innovative und originelle<br />

Gestaltung der Auff ührungen auch jüngere Menschen<br />

anzusprechen, vor allem aber eine alte Musik<br />

wieder neu erfahrbar zu machen.<br />

In dem Stück Illusioni, das Ende März im Kino<br />

Achteinhalb gezeigt wurde, verbinden sich die Medien<br />

Film, Musik und Theater. Auf der Leinwand<br />

läu� ein aus verschiedenen Fragmenten bestehender<br />

Film, in dem kleinen Raum davor spielt<br />

das Orchester bestehend aus Cembalo, Cello und<br />

Chitarrone, und die beiden Sänger, Soprano und<br />

Mezzosopran, steigen von Zeit zu Zeit aus dem<br />

Orchestergraben heraus auf die Bühne und werden<br />

zu Darstellern vor der Kulisse des Filmes. Diese<br />

Grenzüberschreitung vollzieht sich allerdings nicht<br />

nur auf formaler Ebene, sie bestimmt auch ganz<br />

wesentlich die inhaltliche Entwicklung. Einerseits<br />

innerhalb der Geschichte, wobei dies vielleicht<br />

nicht ganz der treff ende Ausdruck ist, denn es<br />

gibt keinen richtigen Plot. Andererseits nimmt sie<br />

starken Einfl uss auf die sinnliche Wahrnehmung<br />

des Zuschauers, der versucht, der Gratwanderung<br />

zwischen Realität und – ja, was eigentlich? – zu<br />

folgen. Da schon nicht so leicht zu erkennen, und,<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005<br />

einen Schri� weiter, festzulegen ist, was überhaupt<br />

Wirklichkeit ist, und <strong>für</strong> wen sie gilt, was ist dann<br />

die andere Seite, das Gegenteil? Wo hört die Realität<br />

auf und fängt die Fiktion an?<br />

Es gibt die fi lmische Realität, die Welt, die uns<br />

der Film präsentiert. Doch selbst hier ist die Unterscheidung<br />

zwischen Wirklichkeit und Traum<br />

undeutlich, sogar ungrei� ar. Man sieht zwei Schlafende,<br />

einen Mann und eine Frau. Anscheinend<br />

kennen sie sich, das lässt sich aus anderen Bildern<br />

erahnen. Oder träumen sie einander nur? Zwei<br />

Liebende, wenigstens das scheint sicher. Manchmal<br />

sind sie auch wach, aber nie gleichzeitig, zumindest<br />

nicht am selben Ort. Schließlich bleibt off en, ob alles<br />

nur ein Traum war, ob es die Realität, so wie wir sie<br />

annehmen, überhaupt gibt.<br />

Daneben gibt es die Realität des Zuschauerraums,<br />

das Konzert, die Musik. Live und fassbar, ich<br />

könnte nach vorn gehen und eines der Instrumente<br />

berühren. Wenn ich meine Hand auf die Saiten lege,<br />

klingt es nicht mehr, eine reale Auswirkung. Berühre<br />

ich aber einen der beiden Sänger, gerate ich in ein<br />

Dilemma, denn es gibt sie sowohl hier als auch im<br />

Film und dazwischen, als Schauspiele vor dem Film<br />

sowohl als auch mit dem Film interagierend. Wenn<br />

auf der Leinwand die gezeichnete Kulisse eines alten<br />

Barocktheaters zu sehen ist, werden sie zu Göttern<br />

der Antike: Amor, Venus, Apollo und anderen.<br />

Sie streiten und sinnieren über die Menschen, betrachten<br />

das Geschehen auf der Erde, die Geschicke<br />

der Menschen aus ihren gö� lichen Höhen, gucken<br />

sich das Filmchen an, wie dessen Macher und<br />

Regisseur. Mit welcher Wirklichkeit identifi ziert<br />

sich also der Zuschauer? Der der Gö� er, denn auf<br />

deren Ebene befi nden wir uns räumlich? Oder der<br />

der Menschen, als die wir uns selber sehen, deren<br />

Wirklichkeit jedoch so unscharf ist?<br />

Diese Unklarheit über das Gesehene wird<br />

zusätzlich unterstützt durch unscharfe Bilder,<br />

in denen kein Gegenstand klar zu erkennen ist.<br />

Fast quälend langsame Überblendungen lassen<br />

den Betrachter unsicher werden, wie lange oder<br />

9


ob er nicht sogar ewig in diesem schwebenden<br />

Zwischenzustand verbringen muss. Bis sich einer<br />

der Schlafenden endlich deutlich abzeichnet, der<br />

verschneite Wald, der langsam immer mehr Raum<br />

im Bild ergrei� , seine kahlen Baumstämme Autorität<br />

erlangen lässt und alles andere verdrängt. Ein<br />

Fenster entpuppt sich als Hausfl ur. Manches klärt<br />

sich, anderes nicht, bleibt schemenha� .<br />

Illusionen, wie der Titel schon sagt, Träume<br />

und Trugbilder werden evoziert. Die Bilder sind<br />

trügerisch, weil die Realität, die sie vorgaukeln,<br />

immer wieder durch die Mi� el des Mediums selbst<br />

gebrochen wird. Überblendungen und Unschärfe<br />

verfremden die Gegenstände, entlarven das Bild<br />

als fi ktives Kunstprodukt. In einem der Fragmente<br />

wird eine Amsel gezeigt: Sie sitzt auf einer Mauer,<br />

schna� ert, Wind fährt ihr durchs Gefi eder, sie wackelt<br />

ein wenig mit dem Kopf, wir beobachten eine<br />

Amsel beim Nichtstun. Dann scheint dieser helle<br />

Ausschni� nach hinten zu fahren, wird kleiner und<br />

langsam erscheint aus dem ihn umgebenden Dunkel<br />

ein neues Bild, wieder die Amsel, genau wie am<br />

Anfang. Das kleine Bild verblasst, wir betrachten<br />

10<br />

denselben Film, nur etwas zeitverzögert. Dann<br />

fl iegt die Amsel fort.<br />

Träume und Filme sind Illusionen, aber wie<br />

leicht lässt man sich hinreißen, ihre Bilder als<br />

Realität zu akzeptieren, Fiktion und Wirklichkeit<br />

gleichwertig zu machen. Illusioni spielt damit, vermeidet<br />

klare Abgrenzungen um dem Gefühl der<br />

Verzauberung und der transzendentalen Möglichkeiten<br />

Raum zu lassen. Die Handlung tri� dabei in<br />

den Hintergrund und so verliert es auch zu einem<br />

Teil an Bedeutung, ob der insgesamt dür� ige auf<br />

die Leinwand projizierte Text, nicht doch etwas<br />

umfangreicher hä� e ausfallen können. Es werden<br />

nur wenige Zeilen der italienischen Gesänge übersetzt,<br />

manchmal sprechen dabei die Bilder <strong>für</strong> sich,<br />

manchmal hä� e der Text das Verständnis sicher<br />

bereichert.<br />

Was aus Träumen werden kann, wenn man sie<br />

zulässt, sie verwirklicht, indem man ihnen Wirklichkeit<br />

verleiht, hat pazzaCaglia mit der Auff ührung<br />

Illusioni sehr stimmungsvoll gezeigt.<br />

Weitere Informationen zur dem Ensemble und<br />

seiner Arbeit gibt es unter www.pazzacaglia.de<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005


Eingedenken – in das Widerstrebende.<br />

Zu Adornos und Horkheimers<br />

Begriff der Vernunft<br />

von Michael Birkner<br />

Adornos und Horkheimers Dialektik der Au� lärung 1<br />

ist in einem doppelten Sinn ein Buch des Widerspruchs.<br />

Zum einen versuchen die Autoren zu belegen,<br />

dass die Au� lärung nicht realisiert, was sie<br />

zu verwirklichen verspricht – objektive Versöhnung<br />

von Geist und Natur auf dem Wege autonomer Entfaltung<br />

des vernün� igen Subjekts –, sondern das<br />

genaue Gegenteil – Selbstzerstörung des Subjekts<br />

durch rationale Herrscha� über die Natur; insofern<br />

zielt ihr Widerspruch auf eine Verabschiedung<br />

des Projekts der Au� lärung. Zum anderen ist das<br />

Buch Ausdruck des au� lärerischen Gewissens der<br />

Autoren, die Au� lärung über sich selbst au� lären<br />

zu müssen, um sie zu re� en; hier führt ihr Widerspruch<br />

letztlich zur paradoxen Konstruktion einer<br />

totalen Vernun� kritik innerhalb des Mediums der<br />

Au� lärung – d.i. die vernün� ige, Geltung beanspruchende<br />

Argumentation – und zur Kritik begriffl<br />

ichen Denkens durch begriffl iches Denken.<br />

„Auf dem Weg von der Mythologie zur Logistik hat<br />

Denken das Element der Refl exion auf sich selbst verloren,<br />

und die Maschinerie verstümmelt die Menschen<br />

heute, selbst wenn sie sie ernährt.“ (DdA 44) Dieser<br />

Satz führt – implizit – die wichtigsten strukturgebenden<br />

Elemente von Adornos und Horkheimers<br />

Dialektik der Au� lärung zusammen: den Zeitbezug<br />

zum „heute“ als Ausgangspunkt ihrer Diagnose<br />

und Kritik der Au� lärung; den dialektisch als<br />

Selbsterhaltung durch Selbstverstümmelung zu<br />

denkenden Mechanismus im mythischen und aufgeklärten<br />

Denken („... verstümmelt ... ernährt“); die<br />

negativ-geschichtsphilosophische Deutung dieser<br />

Dialektik als Tiefenstruktur des Zivilisationsprozesses,<br />

d.h. die Darstellung einer verhängnisvollen<br />

Entwicklungslinie vom mythischen Zeitalter zum<br />

wissenscha� lichen, kulminierend in der Vernichtungsmaschinerie<br />

des faschistischen Staates („Mythologie<br />

zur Logistik ... Maschinerie ...“); schließlich<br />

das auf das Postulat „Eingedenken der Natur im<br />

Subjekt“ (DdA 47) hinauslaufende Verdikt notwendig<br />

kritischer Selbstrefl exivität der Au� lärung („...<br />

Refl exion auf sich selbst ...“).<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005<br />

Die in den frühen vierziger Jahren des 20.<br />

Jahrhunderts entstandene Dialektik der Au� lärung<br />

vollzieht eine radikale Kritik des abendländischen<br />

Zivilisationsprozesses aus einer zeitgeschichtlichen<br />

und geistigen Krise heraus. Adorno und<br />

Horkheimer war es angesichts des Faschismus<br />

und Stalinismus nicht mehr möglich, das totale<br />

Umschlagen der bürgerlichen Au� lärung in die<br />

faschistische Barbarei von einem nicht-refl exiven<br />

souveränen Vernun� -Standpunkt aus zu erklären,<br />

wie ihn die emanzipatorische Gesellscha� s- und<br />

Ideologiekritik noch besaß. Mit marxistischer Terminologie<br />

zum Beispiel war weder das Au� ommen<br />

des Faschismus zu begreifen, noch konnten<br />

Adorno und Horkheimer emanzipatorische Krä� e<br />

innerhalb des Zivilisationsprozesses länger benennen.<br />

2 Die Erfahrung des Leidens des entmündigten<br />

und verdinglichten Subjekts einerseits und dessen<br />

pathologische Ausformung als Subjekt brutaler<br />

Herrscha� mi� els identifi zierender (ausgrenzender<br />

/ planender) Vernun� andererseits ließen die geschichtsphilosophischen<br />

Dogmen Marxens <strong>für</strong> eine<br />

Erklärung des Faschismus ungenügend erscheinen:<br />

dass nämlich zum einen Arbeit als Wesenskern der<br />

Geschichte aufzufassen sei (und die jeweiligen historischen<br />

Produktionsverhältnisse die gesellscha� -<br />

lichen Herrscha� sverhältnisse spiegelten), und<br />

dass zum anderen in Gestalt der Produktivkrä� e<br />

die Möglichkeit einer Selbstbefreiung und daraus<br />

folgenden objektiven Veränderung der Gesellscha�<br />

zum Guten verkörpert sei. 3<br />

Für Theodor Wiesengrund Adorno und Max<br />

Horkheimer liegt der Grund da<strong>für</strong>, dass aus der<br />

bürgerlichen Au� lärung der Faschismus entstehen<br />

konnte, in einem gewaltsamen Moment<br />

innerhalb der Vernun� selbst, das sich seit dem<br />

Beginn des Zivilisationsprozesses entwickelt. Sie<br />

denken das Subjekt der Au� lärung als den <strong>für</strong><br />

immer gezeichneten Schauplatz einer Dialektik der<br />

Vernun� , durch welche das Subjekt die Züge eines<br />

herrschenden und zugleich beherrschten erhält.<br />

Unvorstellbar <strong>für</strong> Adorno und Horkheimer daher,<br />

11


das Subjekt der Au� lärung noch länger als Agens<br />

gesellscha� licher Versöhnung zu denken.<br />

Die selbstrefl exive Wendung der philosophischen<br />

Kritik zu einer die Grundlagen der Au� lärung<br />

infragestellenden Vernun� kritik ist damit<br />

inauguriert. Von einer Analyse der dem Faschismus<br />

verfallenen Gegenwart ausgehend, welche die Vernun�<br />

dialektik zutrage treten lässt, deuten die Autoren<br />

diese – retrospektiv – als Tiefenstruktur des<br />

Zivilisationsprozesses und führen die Genese des<br />

Faschismus bis in die „Urgeschichte der Subjektivität“<br />

(DdA 62) zurück. Der Selbstzerstörungsprozess<br />

der Au� lärung beginnt <strong>für</strong> Adorno und Horkheimer<br />

nämlich bereits in ihrem Ursprung. Die<br />

zentrale These ihres Buches führt dies auf die nie<br />

gelingende Emanzipation des Subjekts vom Bann<br />

der mythischen Ursprungsmächte zurück: „Wie<br />

die Mythen schon Au� lärung vollziehen, so verstrickt<br />

Au� lärung mit jedem Schri� e tiefer sich in Mythologie“<br />

(DdA 18). In ihrer Kernthese verfl echten Adorno<br />

und Horkheimer die Au� lärung und den Mythos<br />

in einer unüberwindbaren, schicksalha� en Dialektik<br />

ineinander. Während der – nach traditioneller<br />

Denkungsart irrationale – Mythos bereits au� lärerisches<br />

Potential enthält, da er erzählend-interpretierend<br />

die Ursprungsmächte in ihrer Gewalt<br />

zu bremsen, sie zu kontrollieren versucht, ist die<br />

Au� lärung bestrebt, deren Bann durch Vernun� -<br />

herrscha� zu zerstören, bleibt aber durch einen<br />

zugleich selbstzerstörerischen Vernun� gebrauch in<br />

ihm befangen. Der hohe Preis <strong>für</strong> die Emanzipation<br />

von den Ur-Mächten in der Urgeschichte der Subjektivität<br />

ist nämlich nach Adorno und Horkheimer<br />

die Aufopferung der lebendigen Substanz des<br />

scheinbar autonom gewordenen Subjekts. Gleich<br />

Odysseus 4 , der sich den Genuss des Sirenengesangs<br />

nur durch die List, seinen Körper an einen Mast<br />

anbinden zu lassen, zu verschaff en vermag, muss<br />

das Subjekt der Au� lärung die Herrscha� über die<br />

äußere Natur durch Unterdrückung der inneren<br />

Natur, durch strenge Entsagung bezahlen. Mit dem<br />

Selbstgewinn geht der Selbstverlust einher, mit<br />

12<br />

dem Gewinn an Autonomie wird ein neuer Zwang<br />

errichtet, der sich – freudianisch ausgedrückt<br />

– nicht gegen das Ich, sondern gegen das Es richtet,<br />

durch dessen Unterdrückung das Ich sich als starre<br />

Einheit konstituiert, dadurch aber die Fähigkeit zur<br />

Versöhnung mit der Natur – d.i. die Versöhnungshoff<br />

nung der Au� lärung – verliert: „Die Herrscha�<br />

des Menschen über sich selbst, die sein Selbst begründet,<br />

ist virtuell allemal die Vernichtung des Subjekts, in dessen<br />

Dienst sie geschieht.“ (DdA 62) Die Herkun� des<br />

Geistes aus der Natur, welche das herrscha� liche<br />

Subjekt schon im Ursprung der rationalistischen<br />

Au� lärung zu leugnen beginnt, ist nach Adorno<br />

und Horkheimer ihr Verhängnis. Die unterdrückte<br />

Natur bricht nämlich immer wieder hervor, und<br />

zwar desto gewaltsamer, je stärker die Repression<br />

ist, die gegen sie ausgeübt wird. Rationalität schlägt<br />

in Irrationalität um, weil in ihrem Zentrum jene<br />

rohe Gewalt des Mythos steckt, gegen welche das<br />

Subjekt der Au� lärung sich ursprünglich konstituiert<br />

hat. Das Umschlagen geschieht im Rausch, im<br />

Wahnsinn, schließlich in der rational organisierten<br />

barbarischen Menschenvernichtung.<br />

Aber warum stellt nach Adorno und Horkheimer<br />

das Subjekt die Vernun� von Anbeginn an in<br />

den Dienst von Herrscha� ? – Die Autoren führen<br />

die starre Einheit des Ich und das begriffl iche<br />

Denken, welche dem Subjekt die Emanzipation<br />

von und die Herrscha� über die Natur ermöglicht<br />

haben, auf einen schicksalha� en, weil irrationalen<br />

Selbsterhaltungstrieb zurück, in dem der Stachel<br />

der Angst vor der Vernichtung durch die übermächtigen<br />

Naturgewalten steckt, der Tod des Ich<br />

durch das Einswerden mit der Natur, von dem sich<br />

Odysseus durch den Sirenengesang bedroht weiß.<br />

Durch diesen übersteigerten Selbsterhaltungstrieb<br />

erhält die Vernun� einen gewaltsamen Charakter.<br />

Adornos und Horkheimers Vernun� kritik<br />

ist auf die Kritik des begriffl ichen Denkens, das<br />

in der Urgeschichte der Subjektivität bereits als<br />

Herrscha� sinstrument dient und in der naturwissenscha�<br />

lich-mathematischen Denkform der<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005


Moderne seine größte Macht über die Natur erlangt<br />

hat, zentriert. Für Adorno und Horkheimer liegt in<br />

einem grundsätzlichen Sinne in der Allgemeinheit<br />

des Begriff s bereits ein Gewaltsames gegenüber<br />

den einzelnen Phänomenen, denn sie wird durch<br />

ein Überwältigen, Zuschneiden des Besonderen,<br />

Nicht-Identischen hervorgebracht. Im Wesen des<br />

begriffl ichen Denkens liegt die Einheit von formaler<br />

und instrumenteller Rationalität begründet:<br />

formale Rationalität ist die Rationalitätsform der<br />

Naturwissenscha� en, welche die Wirklichkeit reduziert<br />

auf die physikalisch beschreibbaren, folglich<br />

gesetzmäßig-kausal verlaufenden Vorgänge.<br />

Als wirklich gilt nur, was experimentell beweisbar,<br />

quantitativ erfassbar und funktional bestimmbar<br />

ist. Die besondere Qualität eines Phänomens<br />

zählt <strong>für</strong> sie nicht. Die Erkenntnis, welche die<br />

formale Rationalität hervorbringt, ist verwertbar<br />

zur Manipulation von Natur und Mensch; sie ist<br />

pure Macht über die Wirklichkeit, die sie auf ihre<br />

eigene Erkenntnisstruktur reduziert. 5 Da sich das<br />

instrumentelle Denken im Laufe des Zivilisationsprozesses<br />

in allen Bereichen des gesellscha� lichen<br />

Lebens durchgesetzt hat, wird die Natur wie der<br />

Mensch zum bloßen Stoff , zu einem manipulierten<br />

Ding innerhalb des gesellscha� lichen Funktionszusammenhangs<br />

– im Faschismus schließlich gar zum<br />

bloßen Brennstoff der Kriegsmaschinerie.<br />

Adorno und Horkheimer sehen aus dem Desaster,<br />

in das die bürgerliche Au� lärung in den<br />

dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts geführt hat,<br />

nur den Ausweg einer permanenten Selbstkritik<br />

der Vernun� , eines vollständigen Verzichts auf<br />

Theorie als integrierendes philosophisches System<br />

und eines nicht in Positivität überführbaren Verweisens<br />

auf Wahrheit: auf eine „wahre“ Sprache<br />

im Sinne einer nicht begriffl ich-zuschneidenden,<br />

eine „wahre“ Vernun� im Sinne einer ungeteilten,<br />

nicht-zweckrationalen, wie auf ein wahrha�<br />

emanzipiertes, mit der Natur versöhntes Subjekt.<br />

Nachdem die traditionelle Theorie kritisch gegen<br />

sich selbst gewendet ist, kann Denken letztlich<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005<br />

nurmehr unter negativistischem Vorzeichen seinen<br />

Anspruch erfüllen, den herrschenden Verhältnissen<br />

nicht zu verfallen. Adornos Formeln hier<strong>für</strong> sind:<br />

„über den Begriff durch den Begriff hinausgehen“ und<br />

„bestimmte Negation“. 6 Dass diese philosophischprogrammatischen<br />

Ansätze – in der Dialektik der<br />

Au� lärung angelegt, in Adornos dunklem Spätwerk<br />

Negative Dialektik entwickelt – nur im Rahmen einer<br />

Logik der Negation bestimmter gesellscha� licher<br />

Verhältnisse explizierbar sind, zeigt, dass Adornos<br />

und Horkheimers Kritik der Au� lärung sie von<br />

der Möglichkeit einer Fortführung der Au� lärung<br />

weitgehend abgeschni� en hat. Der konsequente<br />

Verweischarakter ihrer Texte wird zwar ihrer Intention<br />

gerecht, die Ideen der Au� lärung weiterhin<br />

einzuklagen, dies geschieht aber – aus ihrer Sicht –<br />

im kontrafaktischen Sinne, negativ eben, und – wie<br />

ihnen immer wieder zu Recht vorgeworfen wurde<br />

– aus einem puristischen Verständnis von Vernun�<br />

heraus, das sie in der Aporie einer schicksalha� sich<br />

selbst zerstörenden Au� lärung gefangen hält.<br />

Geschuldet ist dies der Konsequenz, die Möglichkeit<br />

einer in ihrem Wesen nicht rein zweckrationalen<br />

Vernun� gar nicht mehr zu erwägen, um<br />

mit ganzer Schärfe das nicht durch begriffl iche<br />

Identität und Logik zu fassende Nicht-Identische<br />

einzuklagen. Dass dieses jedem Akt begriffl icher<br />

Identifi zierung und Verdinglichung sich entziehende<br />

Widerstandspotential seit jeher in der Kunst<br />

einen Schutzraum gefunden hat, hat Adorno dazu<br />

veranlasst, das kritische Potential von Philosophie<br />

nur noch im Verbund mit der Kunst <strong>für</strong> realisierbar<br />

zu halten. „Kunst komple� iert Erkenntnis um das von<br />

ihr Ausgeschlossene und beeinträchtigt dadurch wiederum<br />

den Erkenntnischarakter, ihre Eindeutigkeit.“ 7<br />

Ein weiterer in der Rezeption der Dialektik der<br />

Au� lärung zentraler Einwand richtet sich gegen<br />

Adornos und Horkheimers eigene Eindeutigkeit,<br />

gegen ihr die Vernun� , das Subjekt, die Geschichte<br />

selbst begriffl ich-zuschneidendes Denken. So hat<br />

Albrecht Wellmer darauf hingewiesen, dass Adorno<br />

und Horkheimer in ihrer Subjektkritik dem intenti-<br />

13


onalistischen Modell des sinnkonstitutiven Subjekts<br />

und damit der Entgegensetzung von Subjekt<br />

und Objekt verha� et bleiben, eines Subjekts also,<br />

das die Objekte überwältigt (die äußere wie innere<br />

Natur), um sich selbst zu erhalten. 8 Dabei übersähen<br />

sie, dass z.B. Selbsterhaltung nicht notwendig<br />

an Naturbeherrschung gebunden ist, sondern nur<br />

unter bestimmten Bedingungen, etwa innerhalb einer<br />

die natürlichen Triebe stark reglementierenden<br />

oder unter Verbot stellenden Gesellscha� . Herbert<br />

Schnädelbach stellt demgegenüber den mythischnarrativen<br />

Rahmen der Dialektik der Au� lärung<br />

kritisch aus, indem er deren inhärente Geschichte<br />

der Rationalität als Sozialmythos charakterisiert<br />

und entlarvt. Dadurch nämlich, dass die Autoren<br />

eine Tiefenstruktur der Zivilisation zu erfassen<br />

versuchten, ließen sie alles mit ihrer Darstellung<br />

nicht Übereinstimmende der faktischen Geschichte<br />

aus und bezögen sich mit ihrer Geschichte von der<br />

schicksalha� en Dialektik der Vernun� singulär auf<br />

die gesamte Geschichte. Zum Sozialmythos werde<br />

ihre Erzählung, da sie behaupten, die wahre Geschichte<br />

über die Geschichte zu erzählen. 9<br />

Adornos und Horkheimers Selbstkritik der<br />

Au� lärung wird zudem durch ein puristisches<br />

Verständnis von Vernun� verfälscht, denn nur<br />

weil sie an einer einheitlich gedachten „wahren“<br />

– im Sinne von nicht-instrumenteller – Vernun�<br />

festhalten, können sie eine grundfalsche in der Geschichte<br />

fi nden. Dieser Purismus verwehrt es ihnen<br />

auch, einen praxistauglichen Begriff von Vernun�<br />

zu entwickeln, der notwendig wäre, um zu einem<br />

ausbaufähigen, off eneren und mithin positiven<br />

philosophischen Ansatz zu fi nden. Einen Schri� in<br />

diese Richtung hat Albrecht Wellmer getan, indem<br />

er Adorno und Horkheimers Kritik der instrumentellen<br />

Vernun� sprachphilosophisch-metakritisch<br />

hinterfragt. Im Rekurs auf den späten Wi� genstein<br />

zeigt er auf, dass die Allgemeinheit von Begriff en<br />

nicht notwendig Gewalt gegenüber dem einzelnen<br />

Phänomen bedeute, da die Bedeutungen sprachlicher<br />

Zeichen keineswegs festgelegt sind, sondern in<br />

14<br />

einer Vielzahl diff erenter Sprachspiele, die auf unterschiedliche<br />

Lebensformen zurückführbar sind,<br />

kommunikativ erzeugt werden. Wellmer fordert<br />

daher ein „Eingedenken der Sprache im Subjekt“,<br />

das eine kommunikative Praxis erkennbar werden<br />

lässt, welche „Welt“ sprachlich immer wieder neu<br />

auslegt und gegenüber welcher der instrumentell<br />

zuschneidende Gebrauch von Begriff en / Bedeutungen<br />

sekundär ist. 10 Damit ist im Grund des<br />

Subjekts wieder jene Off enheit, Vielstimmigkeit<br />

und Pluralität sichtbar, welche den Anspruch der<br />

Au� lärung an sich selbst theoretisch bewahren<br />

kann und praktisch behaupten muss, auch wenn<br />

strategisches Denken die Kommunikation immer<br />

wieder beherrscht und gesellscha� lich gefordert<br />

ist, wenngleich es „moralisch“ gern ins Zwielichtige<br />

gestellt wird.<br />

Dass die Existenz pluraler Sprachspiele, die<br />

sich mehr oder weniger indiff erent, tolerant oder<br />

befruchtend zueinander verhalten können, Anlass<br />

zu einer optimistischeren Sicht der Möglichkeiten<br />

von Au� lärung bieten kann als dies Adorno und<br />

Horkheimer wahrhaben wollten, bringt deren in<br />

Negativität mündende Analyse der Rationalität<br />

nicht um ihren Wert. Denn gerade durch ihre entschiedene<br />

Insistenz auf das Nicht-Identische und<br />

die Gefahr sich zur letzten Instanz erklärender<br />

(Meta-)Sprachspiele aktualisiert sich ihre Kritik<br />

stets von neuem, wenn auch eher selten innerhalb<br />

der gegenwärtigen philosophischen Diskurse.<br />

Indem Adorno und Horkheimer ihr Sprachspiel<br />

selbst verabsolutieren in ihrer Überzeugung, dass<br />

Übertreibung einzig wahr sei, betreten sie vielmehr<br />

das Gebiet der Kunst, um von dort aus auf<br />

die Deba� en der Zeit punktuell impulsgebend<br />

zu wirken. Ihr radikaler Widerspruch hat sich so<br />

lebendig erhalten und – wie etwa die Suche nach<br />

Erklärungshilfen bei der Frankfurter Schule nach<br />

dem 11. September gezeigt hat – scheint immer<br />

wieder virulent zu werden. Auch in globalisierten<br />

Zeiten, in denen ehemals klare Oppositionen und<br />

Feindbilder sich aufgelöst haben und neu formieren<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005


(wann ist Gewalt Terror, wann Anti-Terror und wer<br />

defi niert dies mit welchen Absichten von welchem<br />

Standpunkt aus?) könnte eine Philosophie des begriff<br />

skritischen und negativistischen Sprachspiels<br />

wieder von Aktualität sein, da sie zum einen dem<br />

Gedanken die „Signatur des Widerspruchs“ 11 gegen<br />

die Gefahr der Selbst-Totalisierung aufprägt und<br />

zum anderen das denkende, fühlende und handelnde<br />

Subjekt dazu nötigt, die Erfahrung unstrukturierter,<br />

komplexer und nicht begriffl ich fassbarer<br />

Wirklichkeit auszuhalten. Mit Adorno, wie jüngst<br />

Carl Hegemann argumentierte, lasse sich Ambiguitätstoleranz<br />

– d.i. die Fähigkeit, mehrdeutige<br />

und unklare Situationen zu ertragen – einüben,<br />

was angesichts des vermehrt totalitären Zuschni� s<br />

gegenwärtiger Realitätskonstrukte, in denen die<br />

Sehnsucht nach eindeutigen Kategorisierungen<br />

durch die gewaltsame und selbstwidersprüchliche<br />

Behauptung kultureller Wertmaßstäbe (selbst-)zerstörerisch<br />

wird, eine „Lust am Schwindel“ 12 erfordere.<br />

Diese Lust am Off enen, Ungedeckten und<br />

Nicht-Einwandfreien sieht Adorno in der Kunst<br />

am Werk, in der sich, wie Hegemann anmerkt, auch<br />

zuweilen die Sehnsucht nach der Entgrenzung ins<br />

Bodenlose und Faschistoide ein – im Kunstrahmen<br />

„ungefährliches“ und refl ektierbares – Ventil verschaff<br />

e. Ein Denken, das sich nicht dem Schwindel,<br />

den das Nicht-Identische erzeugt, aussetzt und<br />

an die Phänomene verschwendet, bleibt dagegen<br />

un- oder wird kontraproduktiv. „Befriedigt schiebt<br />

begriffl iche Ordnung sich vor das, was Denken begreifen<br />

will“. 13 Damit nehmen die Verhängnisse immer<br />

auch wieder ihren Lauf.<br />

1 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Au� lärung.<br />

Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1988. Im folgenden abgekürzt<br />

„DdA“.<br />

2 Zu Horkheimers/Adornos Marx-Kritik s. Gunzelin Schmid<br />

Noerr: Unterirdische Geschichte und Gegenwart in der Dialektik der<br />

Au� lärung, in: Harry Kunnemann, Hent de Vries (Hrsg.): Die<br />

Aktualität der ‚Dialektik der Au� lärung‘. Zwischen Moderne und Postmoderne,<br />

Frankfurt a.M./New York 1989, S. 67ff .<br />

3 Vgl. ebd.<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005<br />

4 In der Figur des homerischen Helden sieht Adorno das Urbild<br />

bürgerlichen Autonomiestrebens, das sich in der Dialektik von<br />

Selbstbehauptung und Selbstunterdrückung unausweichlich verfängt.<br />

S. Adornos Exkurs in der DdA S. 50 ff .<br />

5 Über den Zusammenhang von formaler und instrumenteller<br />

Rationalität s. Albrecht Wellmer: Adorno – Anwalt des Nicht-Identischen,<br />

in: Ders.: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernun�<br />

kritik nach Adorno, Frankfurt/M. 1985, S. 141 ff .<br />

6 S. Adorno: Negative Negative Negative Dialektik, Dialektik, Dialektik Frankfurt/M. 1973, S. 27. – Adorno<br />

hat in Negative Dialektik die philosophische Kritik zu einem letzten<br />

Hort der Freiheit erklärt, dies aber um den Preis der Möglichkeit<br />

einer Realisation von Freiheit und Vernun� innerhalb der sozialen<br />

und geschichtlichen Realitäten. Um das Nicht-Identische<br />

– Adornos Begriff <strong>für</strong> das durch den Verblendungscharakter der<br />

Gesellscha� systeme nicht zu assimilierende Individuelle – zu<br />

re� en, kann es nur in der Negation identifi zierender Begriff e eingeklagt<br />

werden. Die auf Wahrheit und Versöhnung verweisende<br />

Negation muss nach Adorno „bestimmt“ und damit konkret auf<br />

gesellscha� liche Widersprüche bezogen sein, damit sie sich nicht<br />

zur bloßen Geste oder Maske verhärtet und selbst zur Ideologie<br />

erstarrt.<br />

7 Th. W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1970, S. 87.<br />

8 S. Albrecht Wellmer: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne,<br />

in: Ders. a.a.O., S. 77.<br />

9 S. Herbert Schnädelbach: Die Aktualität der Dialektik der Au� lärung,<br />

in: Harry Kunnemann, Hent de Vries (Hrsg.): Die Aktualität<br />

der Dialektik der Au� lärung. Zwischen Moderne und Postmoderne,<br />

Frankfurt a.M./New York 1989, S. 15ff .<br />

10 S. Albrecht Wellmer: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne,<br />

in: Ders.: a.a.O., S. 85ff .<br />

11 Th. W. Adorno: Negative Dialektik, Dialektik a.a.O., S. 17.<br />

12 S. Carl Hegemanns Aufsatz Das Schwindelerregende, in:<br />

www.volksbuehne-berlin.de (Kapitalismus und Regression); vgl.<br />

a. C. Hegemann (Hrsg.): Das Schwindelerregende, Berlin 2004.<br />

13 Vgl. Th. W. Adorno: Negative Negative Negative Dialektik, Dialektik, Dialektik<br />

a.a.O.<br />

15


Wetter<br />

von Joseph von Eichendorff<br />

Ich warf mich zuletzt ganz verzweifelt vor einem<br />

schönen großen Hause hin, vor dem ein Balkon mit<br />

Säulen breiten Scha� en warf, und betrachtete bald<br />

die stille Stadt, die in der plötzlichen Einsamkeit bei<br />

heller Mi� agstunde ordentlich schauerlich aussah,<br />

bald wieder den tie� lauen, ganz wolkenlosen<br />

Himmel, bis ich endlich vor großer Ermüdung gar<br />

einschlummerte. Da träumte mir, ich läge bei meinem<br />

Dorfe auf einer einsamen, grünen Wiese, ein<br />

warmer Sommerregen sprühte und glänzte in der<br />

Sonne, die soeben hinter den Bergen unterging, und<br />

wie die Regentropfen auf den Rasen fi elen, waren<br />

es lauter schöne, bunte Blumen, so daß ich davon<br />

ganz überschü� et war.<br />

16<br />

Unvermeidlich?<br />

von Steffen Gresch<br />

Im Elfenbeinturme wartet vergebens<br />

Der Elfenbeinprinz auf den Wurf seines Lebens<br />

Zu späterer Stunde schloss er ihn auf<br />

Kam heiterer Dinge die Stufen herauf<br />

Hinauf ins Unendliche, so einsam das All<br />

Harret hier nächtens dem nahenden Knall<br />

Lauscht einer ewigen Sinfonie<br />

Verloren längst – seine Melodie<br />

Als Leuch� urm war jenes Relikt einst gedacht<br />

Nun hat ihn der Alltag zum Tempel gemacht<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005


Der Ehrgeizlink<br />

von Jörg Theis<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005<br />

„Meine Karriere geht an,<br />

die Glückspforte öff net sich“<br />

Johann Nepomuk Nestroy<br />

Allen Karrieristinnen und Karrieristen, die mit<br />

ganzem Herzen avancieren möchten, sei die neu<br />

gegründete germanistische Mailingliste www.hgermanistik.de<br />

empfohlen. Endlich werden Tagungsankündigungen,<br />

Calls for papers etc. nicht<br />

mehr in abgelegenen Fachzeitschri� en versteckt<br />

und bleiben Teil institutionellen Insiderwissens,<br />

sondern sind der sogenannten scientifi c community<br />

zugänglich. Vielleicht bewegt sich ja in den Geisteswissenscha�<br />

en doch noch etwas …<br />

Folgende Rubriken werden regelmäßig angeboten:<br />

Calls for papers, Tagungsankündigungen, Aktuelle<br />

Inhalte von Fachzeitschri� en, Stellen- und<br />

Praktikumsangebote, Stipendienausschreibungen,<br />

Verteiler von Vortragsreihen und Veranstaltungen,<br />

Tagungsberichte Vorstellen von Forschungsprojekten<br />

(SFBs, Graduiertenkollegs, Forschungscolloquien<br />

etc.), Rezensionen Forum <strong>für</strong> Diskussionen<br />

/ Diskussionsliste<br />

Zeitbloms Chronik<br />

auch von Jörg Theis<br />

Der heiteren Indiff erenz all jener, die einen Rückzug<br />

ins Private präferieren und sich dort an ihren<br />

viel zu monumentalen und geschnitzten Eichenbuff<br />

ets erfreuen, setzte unsere werte literarische<br />

Gesellscha� Aufschwünge, Erleuchtungen und<br />

Veranstaltungen entgegen. Den Au� akt bildete ein<br />

Vortrag von Walter Burnikel zu Goethes und Martials<br />

Venezianischen Epigrammen, der ersten Kooperation<br />

mit den Freunden der Antike.<br />

Enthobenheit und Entfesselung, ganz ohne<br />

gelehrt-antiquarische Neigung, sondern in vollster<br />

dionysischer Behaglichkeit, prägte danach den Bal<br />

masqué am 4. Februar 2005. Besondere Verfeinerung<br />

und ästhetischen Genuß bescherte dem erlauchten<br />

Publikum der Au� ri� des Barockopern-Ensembles<br />

pazzaCaglia. Nach diesen karnevalistischen Ausschweifungen<br />

brach sich wieder die ernsteste<br />

Wissenscha� lichkeit und das ausgeprägteste historische<br />

Bewußtsein mühevolle Bahn: Am 20. April<br />

wurde der erste Band der petasos-Schri� enreihe<br />

Armand Nivelle: Dreizehn Aufsätze zur <strong>Komparatistik</strong><br />

einer breiten Öff entlichkeit vorgestellt. Im Anschluß<br />

führte uns Reiner Marx mit seinem Vortrag<br />

„Ach, alles, was keinen Namen hat ist glücklich.“– Zur<br />

Ambivalenz des Subjekts bei Arno Schmi� in das Unterweltreich<br />

der Dichter.<br />

Das sonnenkrosse Laub am Ellenbogen werden<br />

wir die heißen Sommertage der Vorbereitung eines<br />

interdisziplinären Kolloquiums zu Claudio Monteverdi,<br />

welches am 11. und 12. November 2005<br />

sta� haben wird, widmen. Der Aufruf zu gelehrten<br />

Beiträgen wird demnächst erfolgen. Verlaßt Eure<br />

zu monumentalen und geschnitzten Eichenschränke,<br />

heraus aus Euren Kuhmulden und stürzt Euch<br />

in die weiteren kulturellen Aktivitäten unserer Gesellscha�<br />

trotz der allgemein verbreiteten geistigen<br />

Abdankung! Ich muß es gut damit sein lassen.<br />

17


„Stummes, starres Nichts! Kalte, ewige<br />

Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall!“<br />

Gott, Zeit, Mensch in Stanley Kubricks 2001 – A Space S Odyssee<br />

und Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab,<br />

dass kein Gott sei<br />

von Martin Schmitt<br />

18<br />

I.<br />

Die Spuren des Menschen durch die Zeiten sind<br />

Grenzen zwischen seiner Ga� ungs- und seiner Individualentwicklung.<br />

Er stellt Fragen nach seinem<br />

Kommen und seinem Gehen. Die sogenannten<br />

letzten Fragen – die also nach dem Woher-Kommen<br />

und dem Wohin-Gehen des Menschen – entwinden<br />

sich jedoch dem Angebot der positiven Wissenscha�<br />

en, den Weltzusammenhang zu systematisieren<br />

und zu explizieren. Nur im Spiel der Kunst<br />

kann dem Menschen eine spekulative Annäherung<br />

gelingen.<br />

II.<br />

Als die NASA im Jahr 1969 den Besuch des Erdtrabanten<br />

als eine technische Großtat feierte, waren science-fi<br />

ction-Autoren schon wesentlich weiter. Man<br />

besuchte fremde Welten und Vertreter aus der intergalaktischen<br />

Ferne fanden den Weg zum blauen<br />

Planeten. Die Technik bot alle erdenkliche Einrichtungen,<br />

die das Leben zu erleichtern schienen und<br />

im einen oder anderen Fall gab es sogar Fortschri� e<br />

in Ethik und Moral des zukün� igen Menschen zu<br />

bestaunen. Im Gegensatz zu diesen Autoren bzw.<br />

Regisseuren refl ektiert Stanley Kubrick in 2001 – A<br />

Space Odysee er das Hinausschreiten des Menschen<br />

aus seiner anthropozentrischen Gravität.<br />

Kubricks Kühnheit und seine Vision vom Medium<br />

Film verbinden sich in diesem opus magnum<br />

zu einem revolutionären Meilenstein der Kinogeschichte.<br />

Nicht zuletzt durch die Verbindung von<br />

innovativer Tricktechnik (hierin liegt ein direkter<br />

Konnex zur Technik-Diskussion in der Erzählebene)<br />

und der Brechung narrativer Konventionen,<br />

kreiert der Regisseur ein zeitloses Kunstwerk.<br />

Der technische Fortschri� , der im Genre o� das<br />

Sujet selbst war, wird hier das Mi� el zum Zweck<br />

durch eine Realitätsnähe, die die Plausibilität nie<br />

untergräbt. Technische Errungenscha� en werden<br />

gezeigt, um den Blick in die Vergangenheit und in<br />

die Zukun� des Menschen zu lenken. Er plaziert<br />

die Figuren und Konstellationen in einem Spielfeld,<br />

das er über die Zeitgrenzen ausweitet. Die Variabilität<br />

der Spielzüge ist nahezu unbegrenzt; ganz so<br />

wie in Kubricks liebstem Spiel, dem Schach. Es ist<br />

nicht verwunderlich, daß der Regisseur während<br />

der Dreharbeiten dieser Leidenscha� nachkam.<br />

Wie auf dem Spielfeld werden die Figuren in Konstellationen<br />

gerückt, die nie von Dauer sind, aber<br />

immer abhängig von dem Davor wie auch dem<br />

Danach sind.<br />

Spiel wie auch Film werden zu einem Tableau,<br />

auf dem sich die Bewegungen nach den Regeln gewisser<br />

Taxinomien vollziehen. Das Verweilen in einer<br />

Position ist nur von kurzer Dauer. Die einzelnen<br />

Ereignisse wechseln sich in rascher Folge ab. Doch<br />

vergleicht man die einzelnen „Züge“ des Films und<br />

die eines Schachspiels, erkennt man die Relativität<br />

des Zeitbegriff s.<br />

III.<br />

Der frühe Mensch in Kubricks Film 1 , eigentlich<br />

mehr Aff e als Mensch, weist zwei Charakteristika<br />

auf, die dem Menschen jeder Epoche und jeden<br />

Ortes ureigen sind: Kreativität und Aggression.<br />

Kubricks Urmensch besetzt sein Territorium und<br />

versucht es mit primitiven Instrumenten zu verteidigen.<br />

Tut er ersteres bereits, bevor der berühmte<br />

Monolith au� aucht, gewinnt er die zweite Fähigkeit,<br />

nachdem das Artefakt von ihm entdeckt<br />

wurde. So erscheint der Monolith als epiphanisches<br />

Symbol eines vernün� igen Go� es, dessen<br />

Rationalität lesbar wird in der Logik der exakten<br />

Formen des schwarzen Gebildes. Es wirkt wie die<br />

antizipierte absolute Perfektion des Gö� lichen. Von<br />

dieser perzepiert, werden sich die zukün� igen Generationen<br />

realisieren. Die Perfektion des Artefakts<br />

ist das zweckrationale Versprechen, über die Natur<br />

zu herrschen mi� els einer Technik, deren Telos<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005


letztlich die Selbstzerstörung ist. Der Bruchteil der<br />

Sekunde, der in die Filmgeschichte eingehen sollte,<br />

in dem sich der Knochen zu einem futuristischen<br />

Flugobjekt wandelt, ist nicht nur Kunstgriff des Regisseurs,<br />

sondern refl ektiert den immer genau jetzt<br />

gegenwärtigen Bruchteil der Sekunde, in dem sich<br />

der Mensch zu jedem Zeitpunkt seiner Existenz<br />

befi ndet. Das Schicksal des Menschen, ungeachtet<br />

ob nun in Gang gesetzt von gö� lichem Eff ekt oder<br />

einer nichtigen und evolutionären Zufälligkeit, ist<br />

untrennbar verbunden mit ständigem Schaff en und<br />

Auslöschen. Die vermeintliche zivilisatorische Weiterentwicklung<br />

in der linearen historischen Zeit ist<br />

lediglich die Weiterentwicklung der Instrumente.<br />

Das große Defi zit des Monolithen-Go� es im<br />

Film manifestiert sich im völligen Fehlen von Sinnsti�<br />

ung und deren Off enbarung. Botscha� en und<br />

Heilsmi� eilungen bleiben versagt oder verstummen<br />

in einem gestörten Verhältnis. Wie der schwarze<br />

Stein das Symbol des schöpferischen Go� es ist,<br />

müssen die Go� esvorstellung des Monotheismus<br />

selbst als Chiff re eines universalen Mißverstehens<br />

gelten. Es ist das ursprüngliche Unverständnis<br />

zwischen Natur und Mensch, das die fundamentale<br />

Negation des menschlichen Daseins mit Hilfe des<br />

Bildes zu überwinden versucht.<br />

Die Diskussion um Go� und die Zeit wird von<br />

Kubrick in eine abstrakte Form gelotst, die sich<br />

trotz der chronologischen Linearität des Mediums<br />

Film aufl öst und zu einem Verschmelzen des Ontogenetischen<br />

wie auch des Phylogenetischen im<br />

Kosmos ansetzt. Die Zeit ist nur noch sich selbst<br />

Zeit, Go� nur noch sich selbst Go� , und der Mensch<br />

ist nur sich selbst Mensch in einem Bruchteil einer<br />

Sekunde.<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005<br />

IV.<br />

Fast 200 Jahre liegen zwischen Kubricks viel diskutiertem<br />

Film und Jean Pauls seinerzeit nicht minder<br />

beachtetem Text Rede des toten Christus vom Weltge-<br />

bäude herab, dass kein Go� sei. 2 Und doch sind einige<br />

Topoi in ähnlicher Form diskutiert worden.<br />

Jean Pauls Text, der seinen Verfasser in den<br />

Ruch des Atheisten stellte, wird 1796 im Roman<br />

Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod<br />

und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im<br />

Reichsmarktfl ecken Kuhschnappel als Erstes Blumen-<br />

stück veröff entlicht. Doch die Arbeit an diesem mas-<br />

siven Text beginnt er schon im Jahr 1789, dem Jahr<br />

der Französischen Revolution, zu deren Anhängern<br />

Jean Paul ja bekanntlich gehörte. Ursprünglich war<br />

der erste Entwurf überschrieben mit Schilderung des<br />

Atheismus. Er predigt, es ist kein Go� . Später nennt es<br />

der Dichter Des todten Shakespeare’s Klage unter todten<br />

Zuhörern in der Kirche, dass kein Go� sei. Da es auch<br />

nach mehreren Versuchen nicht gelingt, die Klage<br />

zu publizieren, fi ndet sie Eingang in einen größeren<br />

Zusammenhang, nämlich in den oben genannten<br />

Roman. In der Genese des Textes ist eine Konzentration<br />

auf die Sprecherposition ablesbar. Ist es in<br />

der frühen Fassung noch der Atheismus selbst, dem<br />

das Wort erteilt wird, ist es in der darauff olgenden<br />

Shakespeare als Prototyp des neuzeitlichen Menschen,<br />

dem die Tragik der dämmernden Moderne<br />

bewußt ist und der das Menschliche mit all seinen<br />

neuen und alten Fragestellungen kennt. Der letztliche<br />

Entschluß, Christus selbst zum Apologeten des<br />

Atheismus in Form einer ebenso poetischen, formal<br />

hoch artifi ziellen wie auch apokalyptischen Sprach-<br />

Vision zu erheben, erhebt Jean Paul nicht nur in<br />

seiner Epoche zu einem der kühnsten Geister und<br />

Schri� steller des deutschsprachigen Raumes.<br />

V.<br />

Kühnheit, Opulenz und Mut zum Personalstil charakterisieren<br />

sowohl Jean Pauls als auch Stanley<br />

Kubricks Werk. Doch begegnen sich die Werke<br />

beider nicht nur in diesen A� ributen; auch ihr unermüdlicher<br />

Drang, (Spiel-) Tableaus zu erschaff en,<br />

deren Inhalte philosophische Fragen sind, macht<br />

19


sie zu Verwandten. Ihre Denk-Projekte, durch fast<br />

zwei Jahrhunderte getrennt, fi nden sich in dem<br />

Bruchteil einer Sekunde, in dem die Geschichte des<br />

Geistes kulminiert, wieder.<br />

20<br />

VI.<br />

Der „Go� esacker“ des Jean Paulschen Träumers<br />

wie auch die Wüste, in der die Urhorde Kubricks<br />

eingeboren ist, sind die archaischen Landscha� en,<br />

in denen sich das Sein in reiner, von der Zeit nicht<br />

affi ziertem Zustand widerspiegelt. Es sind Un-Orte,<br />

Orte deren Unwirtlichkeit das Bedürfnis des zivilisierten<br />

Menschen, länger zu verweilen, gar nicht<br />

erst au� ommen lassen.<br />

Der Bruchteil der Sekunde, der den Schni�<br />

vom geschleuderten Knochen auf ein schwebendes<br />

Raumschiff in Kubricks Film zeigt, ist das Äquivalent<br />

zum Au� ören der Zeit in des toten Christi Rede:<br />

Nachdem das Zeit-Motiv schon zu Beginn sprachlich<br />

eindrucksvoll, aber auch sehr realistisch eingeführt<br />

wird – „Die abrollenden Räder der Turmuhr,<br />

die eilf Uhr schlug, ha� en mich geweckt“ – hebt<br />

sich die Zeit selbst auf: „Oben am Kirchengewölbe<br />

stand das Ziff erbla� der Ewigkeit, auf dem keine<br />

Zahl erschien und das sein eigener Zeiger war; nur<br />

der schwarze Finger zeigte darauf, und die Toten<br />

wollten die Zeit darauf sehen.“ Die Zeit entwindet<br />

sich in genau diesem Moment dem zivilisationssicheren<br />

Drängen des Zweckrationalismus. Sie folgt<br />

ihrer natürlichen Bestimmung und fi ndet zu ihrer<br />

wahren Seinsform, die dem Menschen verschlossen<br />

bleiben muß.<br />

Das Instrument der Zeit, der Messung und damit<br />

der Beherrschung der Zeit wird in eine absurde<br />

Bildwelt gelenkt. Jean Paul zerstört die Uhr und<br />

konstruiert aus den Bruchstücken des vielleicht<br />

rationalsten aller technischen Utensilien ein Symbol<br />

der Außerzeitlichkeit. 3 Auch Kubrick orientiert<br />

sich in seiner Art der Destruktion an der Kreisform<br />

der Uhr. Im gesamten Film lassen sich eine Vielzahl<br />

von Kreisen und vor allem Kreisbewegungen beobachten:<br />

Die rotierende Raumstation, die Gänge<br />

der Raumschiff e, die Raumkapseln und das alles<br />

erspähende Auge des Computers HAL. Letzteres<br />

ist vielleicht eine Allegorie <strong>für</strong> die Omnipräsenz<br />

der Zeit: Ein nie endender Akt der Anwesenheit<br />

und ununterbrochene Teilnahme an allem was geschieht<br />

4 . Alle anderen runden Objekte weisen eine<br />

Besonderheit auf: Sie bewegen sich alle gegen den<br />

Uhrzeigersinn. Auch HAL der Computer ist ein<br />

vom Menschen entwickeltes Instrument. In diesem<br />

Moment liegt auch seine Insuffi zienz. Denn er kann<br />

nur in den Beschränkungen des menschlichen Bewußtseins,<br />

dem er als Maschine nachempfunden<br />

ist – und den er in der Erzählebene des Films natürlich<br />

auch karikiert – agieren. Dem Natürlichen<br />

und damit dem natürlichen Verlauf der Zeit, gilt er<br />

als ebenso entfremdet wie seine Erschaff er. Seine<br />

Fehlleistungen sind die des Menschen. Und wenn<br />

er abgeschaltet wird, fi ndet ein infantiler Regreß<br />

sta� , wie man ihn von Demenzkranken kennt: Die<br />

Erfahrungen der Individuation erlöschen bis hin<br />

zur fi nalen Selbstaufl ösung. Es scheint, als ob die<br />

Zeit rückwärts – gegen den Uhrzeigersinn – liefe.<br />

Die Zeit ist ihre eigene Existenzform. Sie benötigt<br />

keinen Menschen und keinen Go� . Die Existenz<br />

der Zeit liegt außerhalb der Wahrnehmungsmöglichkeiten<br />

des Menschen. Die philosophischen<br />

Überlegungen die Zeit betreff end verlaufen parallel<br />

zu den theologischen Fragen nach der Existenz Gottes.<br />

Sie verschließen sich den rationalen Diskursen,<br />

indem sie eine quintessenzielle Antwort verweigern.<br />

In der wahren Zeit, der Zeit also die nicht von<br />

den Meßinstrumenten des Menschen erfaßt werden<br />

kann, geht alles Vorhandene wieder ein in ein natürliches<br />

Ganzes, dessen Dimension und dessen<br />

Ordnung der Mensch nur erahnen kann.<br />

In der Rede heißt es: „die Ewigkeit lag auf dem<br />

Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich.“<br />

Jean Paul gebraucht den Begriff der Ewigkeit in<br />

apodiktischer Form. Ewigkeit wird damit als gegeben<br />

in die Argumentation aufgenommen. Dage-<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005


gen wird Go� als Element der Welt geleugnet. Als<br />

Ursprung der Welt wird also nicht ein schöpfender<br />

Go� erkannt, sondern eine ewig währende Zeitlosigkeit,<br />

in der Nichts und Alles und Chaos und Kosmos<br />

koinzidieren. Das immer und immer wieder<br />

Erfahrbare, – das Leben des Menschen gefangen im<br />

wahren Dasein der Zeit als ein ständiges Wiederholen<br />

einer unendlichen Bewegung des Schaff ens und<br />

des Aufl ösens – fi ndet in beiden Werken als eine<br />

Absage an konventionelle Go� esbilder seinen Ausdruck:<br />

Bei Jean Paul der tote Christus, selbst kein<br />

Go� , sondern nur Mensch. Er wird zum Menschen<br />

im Bewußtsein des Todes; ein Merkmal das ihn von<br />

allen anderen Lebewesen unterscheidet. Bei Kubrick<br />

ein blanker schwarzer Quader-Monolith, rein,<br />

perfekt und von eben solcher semiotischer Abstraktion<br />

wie die Vorstellungen hinter theologischen<br />

Go� esbegriff en.<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005<br />

VII.<br />

„Stummes, starres Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit!<br />

Wahnsinniger Zufall!“, der Ausruf des toten<br />

Christus artikuliert eine Leere, die sich im kollektiven<br />

Unterbewußtsein des menschlichen Denkens<br />

darangemacht hat, Substitutionen zu entwickeln.<br />

Auf diese Weise wird das Überleben der Ga� ung<br />

gesichert. Dessen Sinn kann jedoch in keiner Weise<br />

sanktioniert werden. Nur der Trick der – neutral<br />

ausgedrückt – Transzendenz macht das intuitive<br />

Wissen von der Nichtigkeit der eigenen und aller<br />

Existenz überhaupt erträglich. Der ewige Tod und<br />

die Sorge vor ihm schaff en mit Aggression und Kreativität<br />

Dispositive des Lebendigen, die sich produzieren<br />

und immer wieder reproduzieren. Hier<strong>für</strong><br />

wählt Jean Paul das Bild der sich wiederkäuenden<br />

Ewigkeit. Das Chaotische, das bereit ist, sich allem<br />

hinzugeben, entwir� und verwir� alle Konzepte in<br />

Bruchteilen von Sekunden. Gleichgültig wer oder<br />

was als Go� interpretiert wird, die wahre Theodizee<br />

fi ndet in der vollkommen bejahenden Annahme<br />

einer radikalen Sinnlosigkeit sta� . Sie ist das einzige<br />

Ergebnis jener Kausalität intelligibler Aporien.<br />

VIII.<br />

Wird die Frage des lebendigen schöpferischen Gottes<br />

in Kubricks Diskurs mit Agnostizismus, in Jean<br />

Pauls mit Atheismus beantwortet, nimmt die Zeit,<br />

die wahre Zeit, die sich nicht in die meßbaren Einheiten<br />

fügt, ein – wie gesehen – zentrales Thema in<br />

beider Werk ein. Aber auch der Natur des Menschen<br />

selbst kommt eine höchst eigene Interpretation zu.<br />

Kubricks wie auch Jean Pauls Menschen- bzw.<br />

Menschheitsbild entsprechen dem Geschichtsdefäitismus.<br />

Die Geworfenheit des Menschen wird zur<br />

conditio humana. Denn er ist nicht mehr in der Lage,<br />

seine sich selbst konstituierte Subjektivität gegenüber<br />

einem Außen zu behaupten – seien dies natürliche<br />

Krä� e, soziale und historische Ereignisse oder<br />

ganz persönliche Erfahrungen. Seine Vorausschau<br />

ist immer schon eine Refl exion seiner eigenen Unzulänglichkeit,<br />

die ihm mehr oder weniger bewußt<br />

ist durch die ihm eigene Auseinandersetzung mit<br />

(seiner) Vergangenheit und (seiner) Gegenwart, die<br />

sich schließlich im Ort der Zukun� , dem Tod, erfüllen<br />

wird. Kubricks Mensch lebt in den Räumen,<br />

die er durch seine Kulturstrategien bewohnbar<br />

macht. Sehen diese im Laufe der Jahrtausende auch<br />

anders aus, ändert sich nicht der anthropologische<br />

Habitus: Der prähistorische Mensch, unberührt<br />

von chronologischen Mechanismen, bedient sich<br />

des Handwerkzeugs, um sich in der fraktalen<br />

Landscha� einen Platz zu erschaff en, der seinen Bedürfnissen<br />

angemessen ist. Die Funktionalität des<br />

Instruments, das seiner Kreativität zu verdanken<br />

ist, ist gleichzeitig immer schon ein Ausblick und<br />

ein Rückblick auf seine Seinsgeschichte. Der himmelstürmende<br />

Techno-Mensch fi ndet sich wieder<br />

in einem barocken Raum, – sein Fraktal, das durch<br />

Kultur- und Zivilisationsmechanismen generiert<br />

wurde – in dem sein Instrument, die Raumkapsel,<br />

21


steht. Hier fi ndet auch er seine Geschichte, in der<br />

die drei Zeitmomente koinzidieren: Der erwachsene<br />

Mann, der sterbende Greis und der ungeborene<br />

Fötus. Der Mensch ist dem, was wahre Zeit ist,<br />

restlos ausgeliefert. Die Aufzählung der Jahre, der<br />

Monate, der Stunden und Sekunden spielt keine<br />

Rolle im Diskurs der Diff erenz oder Indiff erenz<br />

des Kulturellen und des Natürlichen. So wird Jean<br />

Pauls Satz aus der Rede zu einem Programm, das<br />

– die Überheblichkeit des Menschen erkennend<br />

– seine Limitation im Spiel von Nichts, Wahnsinn<br />

und Zufall deutlich macht: „Ach, wenn jedes Ich<br />

sein eigner Vater und Schöpfer ist, warum kann es<br />

nicht auch sein eigener Würgengel sein...?“<br />

1 Kubrick nennt den Prolog des Films The Dawn of Man.<br />

2 Es wird als Textgrundlage die Ausgabe des Hanser Verlags<br />

herangezogen: Jean Paul: Sämtliche Werke, Abteilung 1, Band 2:<br />

Siebenkäs. Flegeljahre, hrsg. v. Norbert Miller, Wien, 1959. Der Text<br />

befi ndet sich auf den Seiten 270 bis 276 dieser Ausgabe.<br />

3 Die erste Fassung der Rede entsteht im Jahr der Französischen<br />

Revolution 1789. Jean Pauls anfängliche Sympathie <strong>für</strong> die Revolutionäre<br />

ist weitgehend bekannt. Hierin liegt vielleicht eine Verbindung<br />

zwischen seiner apokalyptischen Fiktion und den historischen<br />

Begebenheiten im Nachbarland. So werden „Geschichten“<br />

erzählt, daß die Revolutionäre Schießübungen auf Kirchenuhren<br />

machen, um so den historischen Augenblick zu konservieren. In<br />

ähnlicher Weise kann man auch Robespierres Einführung einer<br />

Uhr, die nach dem Dezimalsystem funktioniert, also nur zehn Ziffern<br />

führt, interpretieren. Die alte Zeit wird einfach durch die neue<br />

ersetzt. Ein Sinnbild da<strong>für</strong>, wie einfach es ist, einen anthropologisierten<br />

und damit instrumentalisierten Zeitbegriff zu produzieren<br />

und gleichzeitig die natürliche Zeit so zu destruieren.<br />

4 Der Computer selbst ist die virtuelle Variation des menschlichen<br />

Geistes ebenso wie die Uhr die virtuelle anthropozentrische Variation<br />

der wahren Zeit ist. In der Betrachtung der Seinsgeschichte<br />

liegt die Entwicklung der beiden Maschinen lediglich den Bruchteil<br />

einer Sekunde voneinander entfernt<br />

22<br />

Anzeige<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005


Klagenfurter Haikus<br />

von Ralf Peter<br />

Greifenburg Bahnsteig<br />

Blutfl ecken im Taschentuch<br />

auf nach Klagenfurt<br />

Narzissengrüße<br />

ab Spi� al Intercity<br />

Ingeborg Bachmann<br />

in dir komm ich und<br />

zu dir kommen wir beide<br />

zu sich du und ich<br />

der lacht vom Plakat<br />

am windigen Wörthersee<br />

schreib ihm ins Gesicht<br />

die Bremsen ächzen<br />

dein verlassener Boden<br />

unter den Tri� en<br />

Maschinengewehr<br />

vor der Landesregierung<br />

die Blindenampel<br />

C&A im Blick<br />

Maria Theresia<br />

im bronzenen Ornat<br />

ein leerer Sockel<br />

dem Lindwurm fehlt der Töter<br />

weit steht sein Rachen<br />

Bahnhof bis Friedhof<br />

Lumpazivagabundus<br />

fährt mir dazwischen<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005<br />

wir halten sie an<br />

die Lu� im Theater ist<br />

in aller Munde<br />

der Lindwurmtöter<br />

überm Pausenpublikum<br />

knackiger Hintern<br />

alle <strong>für</strong> einen<br />

Danke steht auf dem Plakat<br />

nein <strong>für</strong> allemal<br />

ab Kärntner Landhaus<br />

bis Friedhof Annabichl<br />

schöne Endstation<br />

einer <strong>für</strong> alle<br />

vorm Portal liegt er im Gras<br />

da juckts mir im Fuß<br />

Katz Katz Katz im Baum<br />

dort oben singt die Amsel<br />

die Totenklage<br />

da steht es Achtung<br />

Behinderten-WC da<br />

auf deinem Friedhof<br />

rot grüßt die Sonne<br />

springt von Pfütze zu Pfütze<br />

kein Mensch kennt dein Grab<br />

23


Es dünkte mich, als irrt’ er sich<br />

von Jasmin Sakulowski<br />

Diese Ahnung befi el mich bezüglich meines geschätzten<br />

Nachbarn, welcher sich jüngst mit der Frage an mich<br />

wandte, ob es denn möglich sey, sich im sogenannten<br />

Internet wohl auch in zugegebenermaßen über einen<br />

tieferen Sinngehalt verfügenden Tätigkeiten zu ergehen,<br />

die dem Geiste noch dazu lehrreich und ersprießlich<br />

dienend zur Verfügung stünden. Nun äußerte er dies<br />

begleitet von einer höchst ungläubigen und den Zweifel<br />

kaum verbergen zu vermögenden Miene und ließ auch<br />

ein gewisses Maß an Ironie dabei nicht missen, was mich<br />

schließlich dazu bewog, ihm hierin entschieden widersprechen<br />

zu wollen. Ich machte mich also daran, jenes<br />

abstrakte Büchlein an beliebiger Stelle aufzuschlagen,<br />

mich der Materie zu nähern, um nach dem Auffi nden<br />

treffl icher und meinem Zwecke entsprechender Seiten<br />

mich tunlichst zu bemühen. Und in der Tat, ich wurde<br />

fündig. Es ist wie das Buch der unendlichen Geschichte,<br />

ich tauche hinein, Seiten werden zu Räumen, die ich<br />

durchschreite und siehe da: Ein goldener Reif gleißenden<br />

Lichtes erschien und senkte sich hernieder und es öff nete<br />

sich mir die Welt des 21. Jahrhunderts!<br />

Ich stolperte gleich mit der Tür ins Haus und<br />

geradewegs und nichts ahnend in Zarathustras<br />

miese Kaschemme (www.kaschemme.de). Es schien<br />

ein ziemlich schräger Laden zu sein, und das war<br />

er dann tatsächlich auch. Bier gab es keins, da<strong>für</strong><br />

jede Menge Texte, deren Lektüre die Vermutung<br />

nahe legen, dass die Autoren selbst in keinerlei<br />

Abstinenz leben, gleich welcher. Besoff en wurde<br />

ich trotzdem.<br />

Durch eine weitere Tür im hinteren Teil gelangte<br />

ich zu den Loopisten, wo ich bei dem Versuch<br />

herauszufi nden, worum es sich bei den Loopisten,<br />

Loops und Loopismus denn nun schlussendlich<br />

handelt, sehr schnell selbst in eine Endlosschleife<br />

geriet. Daher ein gewisses Gefühl von Trunkenheit,<br />

alles drehte sich. Eines wurde mir dabei klar: Wer<br />

Reichtum will, muss suchen. Und wer Perlen vor<br />

die Säue werfen will, muss erstmal welche haben.<br />

Ich empfehle, sich mal bei den Perlentauchern<br />

(www.perlentaucher.de) zu erkundigen, da wurde<br />

schon so mancher fündig und ging um einiges Wis-<br />

24<br />

sen (denn schließlich ist des Geistes Reichtum der<br />

einzig wahre) bereichert in die weite Welt hinaus.<br />

Und dumme Schweine gibt es da draußen schließlich<br />

genug.<br />

Ich gehe lieber nach arcadien (www.dichterwald.de),<br />

um zu erfahren, „warum das nichts<br />

nicht nichts ist“ und ergehe mich dort in philosophischen,<br />

literarischen und kunstvoll gestalteten<br />

Rezensionen, Reden und anderen Texten. Schon im<br />

Manifest, das mich in den Sog arcadiens hineinzieht<br />

und zu einer wortgewandten Reise zu entführen<br />

trachtet, begegnen mir derartige Formulierungen:<br />

„wir wissen um das ec(h)o der intertextualität! wir<br />

bekennen uns zum leben im zitat! wir wissen um<br />

die ohnmacht der kunst!“ Selbstbekenntnis mit ausdrücklichem<br />

und gänzlich freiwilligem Ziel: „wir<br />

sind keine missionare – alles ist ebenbürtig – sondern<br />

laden ein zu einem gemeinsamen spaziergang,<br />

heraus aus der enge individueller grenzen . . . nach<br />

arcadien.“ Ja, ich bin willig, ich gehe mit… nach arcadien!<br />

„allein: alles, was du darin fi ndest, ist wahr.<br />

in deinem universum.“<br />

Falls ich mich dort verlieren sollte, oder aus<br />

anderen Gründen nicht mehr zu mir selbst fi nden,<br />

und so lange ich es nicht verlegt habe, verspricht<br />

das Hanebüchlein „Literatur und [das ist wichtig]<br />

Lebenshilfe“ (www.hanebuechlein.de). Geschichten,<br />

Gedichte, Reiseberichte und natürlich, wer<br />

kennt sie nicht, das unglaubliche Frl. Friedel Famosa<br />

bringen den verlorenen Leser wieder auf den<br />

Pfad, nun, nicht gerade der Tugend, aber doch der<br />

ehrlichen und ungehemmten Meinungsäußerung.<br />

Hier werden Liebesschwüre sowie Räuberpistolen,<br />

Interviews und Rezensionen zum Besten gegeben.<br />

Zum Besten gehalten wird, wer in dieser schonungslos<br />

hirnwaschenden Kritik das wachsame<br />

Holzauge schließt und sein nötiges Quentchen<br />

Skepsis missen lässt, welches ihn davor bewahrt in<br />

der Flut von Eindrücken, die er in einer mehrstündigen<br />

Kreuzfahrt auf den Inseln der hohen Kunst<br />

durchschi� , das Boot nicht kentern zu lassen.<br />

Ratsam wäre im Fall au� retender Erschöpfung<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005


ein kurzer Zwischenstop im hinter-net, der „kulturellen<br />

Fri� enbude am Rande der Datenautobahn“<br />

(www.hinternet.de). Denn Pommes sind ja nicht<br />

einfach nur roher Wodka: „Unsere Ketschup-und-<br />

Majo-Abteilung. Kunterbunt. Alles was nicht unter<br />

Musik, Literatur oder Comic fällt. Film, Fernsehen,<br />

Computer, Politik und höherer Blödsinn“. Soviel zu<br />

den Themen dieser Seite. Sehr schön auch der historische<br />

Kalender: an meinem Geburtstag 1854 haben<br />

zum Beispiel Franzl und Sissi geheiratet, 1923 veröff<br />

entlichte Freud sein Buch Das Ich und das Es (die<br />

Scha� en der Vergangenheit lasten nur zu deutlich<br />

auf mir) und `74 wurde Günter Guillaume verhaftet.<br />

Kleiner Rückblick. Fast-food geht leicht rein,<br />

aber dieses hier schmeckt sogar, und letztendlich<br />

hat man davon mehr als bloß fe� ige Finger.<br />

Gestärkt und etwas ausgeruht betrete ich ein<br />

neues, weitläufi ges Literatur-Portal, der Eingangsbereich<br />

von literature.de (www.literature.de). In diesen<br />

Räumlichkeiten kann jeder zum Autor werden<br />

und Rezensionen seiner Lieblingsbücher, Biographien<br />

seiner Lieblingsautoren, Artikel und Essays<br />

zu kulturellen und literarischen Themen verfassen.<br />

Hat man schon ein ganzes Buch geschrieben, kann<br />

man es hier bewerben und vermarkten. Für Leser<br />

gibt es ein gut sortiertes Angebot, sich über Bücher<br />

allgemein, das Buch des Monats sowie den Verriss<br />

des Monats spartengerecht zu informieren. Außerdem<br />

bietet das Haus Lese- und Hörbuchproben,<br />

Interviews und Portraits, Unterstützung bei der<br />

Literatur-Recherche, zum Beispiel nach Stilmi� eln,<br />

und auch einen Shop mit Direktverbindung zu gängigen<br />

virtuellen Buchgroßhändlern.<br />

Ähnlich gewichtig und seriös erscheint der<br />

Nachbarbau literaturkritik.de (www.literaturkritik.d<br />

e). Darf ich vorstellen: „literaturkritik.de ist die erste<br />

Internet-Zeitschri� <strong>für</strong> Literaturkritik. Sie bespricht<br />

Neuerscheinungen aus der Belletristik sowie den<br />

Literatur- und Kulturwissenscha� en. Das Angebot<br />

wendet sich an alle literarisch interessierten<br />

Leserinnen und Leser, vor allem an Lehrende und<br />

Studierende der Literaturwissenscha� , Kritiker<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005<br />

und Journalisten, Buchhändler, Verlagsmitarbeiter<br />

und Bibliothekare.“ Besser hä� e ich es selbst nicht<br />

formulieren können. Interessant und informativ,<br />

gut lesbar auch <strong>für</strong> nicht-Abonnenten.<br />

Grell präsentiert sich hingegen das u-lit Magazin<br />

(www.u-lit.de). So sieht also das 21. Jahrhundert<br />

aus, na prost Mahlzeit. Die Farben des neuen<br />

Jahrtausend blenden jeden Ungeübten, der trüben<br />

Auges auf den Bildschirm starrend der Signalfarbe<br />

ROT plötzlich eine ganz neue Bedeutung zuschreiben<br />

kann. „Literatur abseits des Mainstream“ <strong>für</strong><br />

all jene, die dem klassischen Kanon der weltbedeutenden<br />

Werke noch ein paar persönliche Neuentdeckungen<br />

hinzufügen möchten.<br />

Ordnung im Chaos (www.sicetnon.cogito.de/<br />

ordnung.htm) – vor jemandem, dem es gelingt, das<br />

welt-weit-vernetzte Gewirr virtueller Off enbahrung<br />

zu strukturieren, ziehe ich den Hut. Wer wie ich andächtigen<br />

Auges und mit der glitzernden Freudenträne<br />

kindlicher Rührung über all den schönen Dingen<br />

im Winkel desselben auf einmal seines gleichen<br />

begegnet, umrahmt mit dem Sicherheit vermi� elndem<br />

Schri� zug „Ordnung im Chaos“, bleibt stehen.<br />

Schaut und staunt. Hier geht es um mehr als Kleingeist<br />

und Genie, es geht um die Komplexität ethischer<br />

und ästhetischer Einblicke in die Gesellscha� ,<br />

wohin auch immer das führen mag. Umfangreich<br />

und ergiebig, Re-lektüren, Diskussion, Dialog, Zeichen<br />

– hier fi nden sich noch einmal Schlüsselbegriff<br />

e meiner Wanderscha� , meiner Bildungsreise.<br />

Sic et non, Forum <strong>für</strong> Philosophie und Kultur. Was<br />

braucht man mehr zum Leben?<br />

Letzte eingestreute Hinweise zur weiterführenden<br />

Recherche: der Metafi nder (www.metafi nder.de),<br />

man klicke den Bouton Kultur, nächste Seite Litera-<br />

tur, tur wo sich links und rechts dem fi delen Entdecker<br />

noch einmal viele interessante Couloirs öff nen.<br />

Schließlich sei festgehalten, dass es mir dabei<br />

mehr um Ein- als Überblick ankam. Ein Hintertürchen<br />

habe ich mir damit off en gelassen, durch das<br />

ich mich nun schleiche.<br />

Carpe diem! (www.carpe.com).<br />

25


Tranchieren heißt zerlegen<br />

Ror Wolf schließt mit Raoul Tranchirers Bemerkungen über die Stille<br />

die Enzyklopädie <strong>für</strong> unerschrockene Leser ab<br />

von Martin Schmitt<br />

Seit Monaten gemahnt das deutschsprachige Feuilleton<br />

an den sich zum 200. Male jährenden Todestag<br />

des großen National-Dichters Friedrich Schiller.<br />

Ganz in seinem Sinne warnen Sprachwächter mit<br />

erhobenem Finger davor, die deutsche Sprache, den<br />

Spiegel der Gesellscha� , verrohen oder verfl achen<br />

zu lassen. Andere wiederum preisen mediengerecht<br />

eine der „gerade erschienenen“ Biographien<br />

an, wobei eine jede neue Einblicke in des Dichters<br />

Leben und Werk zu geben vermag. Schließlich meldet<br />

sich auch noch der oberste Volkswirt zu Wort<br />

und maßregelt das von Politik und öff entlicher<br />

Hand ohnehin gegängelte Sprechtheater, indem er<br />

es auff ordert, die Inszenierungen klassischer Dramen<br />

werkgetreuer zu gestalten.<br />

Keine Rede mehr davon, wie sehr Schiller darauf<br />

bedacht war, die Kunst als das Fundament einer<br />

freien demokratischen Gesellscha� zu etablieren:<br />

Dadurch daß sie den Spieltrieb des Menschen nutzt,<br />

ist sie in der Lage, Geist und Herzen zu bilden.<br />

Eine solche Bildung jedoch ist die Grundvoraussetzung<br />

dessen, was Schiller <strong>für</strong> ein freies<br />

Bürgertum hielt. Dieses döst zurzeit – abgeschla�<br />

durch eine mi� lere bis große Identitätskrise – off ensichtlich<br />

in der Warteschleife eines Gruppentherapeuten,<br />

dessen 0180-Nummer nebst polyphonem<br />

Klingelton in einem der bunten Programme am<br />

Ende eines Zapping-Durchlaufs subluminal injiziert<br />

wurde. Die von der Au� lärung postulierten<br />

Werte scheinen immer mehr als Atavismen einer<br />

hehren Epoche idealisiert zu werden, ohne daß ihre<br />

Bedeutung geprü� und aktualisiert wird.<br />

Wie schön, daß sich in solchen Zeiten verschiedene<br />

Autoren und Künstler an ihren Au� rag erinnern.<br />

Einer von ihnen ist Ror Wolf. Jener in Mainz lebende<br />

Schri� steller, von dem einmal behauptet<br />

wurde, er sei der bekannteste unbekannte Autor<br />

Deutschlands. Dabei ist er einer der vielseitigsten,<br />

interessantesten und auch immer wieder verblüffenden<br />

Experimental-Dichter des deutschsprachigen<br />

Raumes. Der Kenner schätzt seit den frühen<br />

26<br />

60iger Jahren Wolf als virtuosen Sprachtü� ler, der<br />

sich in fast allen Ga� ungen tummelt. So schreibt er<br />

längere, kurze und kürzeste Prosa, Lyrik, Hörspiele<br />

und eine Vielzahl von Fußball-Texten, wegen derer<br />

er immer noch einen gewissen Bekanntheitsgrad im<br />

Umfeld von Kicker-Lesern genießt.<br />

Neben all diesen künstlerischen Aktivitäten<br />

sieht sich Wolf seit 1983 aber auch berufen, zur Bildung<br />

und geistigen Weiterentwicklung des Menschengeschlechts<br />

seinen Beitrag zu leisten. Unter<br />

dem Pseudonym Raoul Tranchirer veröff entlicht er<br />

Raoul Tranchirers vielseitiger grosser Ratschläger <strong>für</strong><br />

alle Fälle der Welt. In diesem Band wird die in der<br />

Au� lärung wurzelnde Tradition der Enzyklopädien,<br />

Lexika, Wörterbücher und der Traktatliteratur<br />

aufgenommen und der Grundstein zu einem der<br />

komischsten Langzeitprojekte der Gegenwartsliteratur<br />

gelegt.<br />

Denn in einem Spiel, – Schiller wäre durchaus<br />

entzückt – in dem sich Realität und Fiktionalität<br />

in einem bedeutungsschwangeren sprachlichen<br />

Duktus treff en und in dem sich die Unendlichkeit<br />

der Wahrheit, wie sie nur von der Kunst transportiert<br />

werden kann, erfahrbar wird, gibt Tranchirer<br />

Auskun� über alle, wirklich alle Belange, die die<br />

menschliche Lebenswelt tangieren. Darüber hinaus<br />

kann der Leser in Forschungsberichten erfahren,<br />

mit welchen schwerwiegenden Widrigkeiten ein<br />

Gelehrter zu kämpfen hat, hauptsächlich jedoch mit<br />

Neidern und wissenscha� lichen Gegnern. Tranchirer,<br />

der Philanthrop, kennt sich eben aus.<br />

Im Bewußtsein der au� lärerischen Tradition<br />

und mit dem starken Willen, das gesammelte<br />

Wissen der Welt an den Wirklichkeitsliebenden<br />

weiter zu reichen, setzt der Universalgelehrte und<br />

Streiter <strong>für</strong> die Wahrheit das Projekt Diderots, der<br />

Grimms, des Freiherrn von Knigge und all der anderen<br />

klugen Leute fort. Glasklare Beschreibungen<br />

von Phänomenen der Biologie, der Astronomie,<br />

der Geographie, der Soziologie, der menschlichen<br />

und tierischen Anatomie, des Ingenieurwesens des<br />

Wassers, des Landes und der Lu� und nicht zuletzt<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005


der Welt des Genusses bestehend aus Getränken,<br />

Speisen und Zigarren werden neben skalpellscharfe<br />

Analysen dem unvoreingenommenen Leser<br />

dargeboten.<br />

Tranchirer ist auch ein exzellenter Beherrscher<br />

der Medien und setzt nicht bloß auf das geschriebene<br />

Wort. Ganz im Sinne des iconic-turn verfährt<br />

er nach der Methode, nach der jedes Bild mehr sagt<br />

als tausend Worte und illustriert sein Nachschlagewerk<br />

mit vielen eigens hierzu geschaff enen Bildern<br />

und Illustrationen.<br />

Der Herausgeber verfolgt seit Beginn der Enzyklopädie<br />

ein ehrgeiziges Projekt, das nun, über<br />

zwanzig Jahre nach dem Erscheinen des ersten<br />

Bandes, seinen Abschluß gefunden hat: Nach Raoul<br />

Tranchirers vielseitiger grosser Ratschläger <strong>für</strong> alle<br />

Fälle der Welt (1983), Raoul Tranchirers Mi� eilungen<br />

an Ratlose (1988) und Raoul Tranchirers Welt- und<br />

Wirklichkeitslehre aus dem Reich des Fleisches, der Erde,<br />

der Lu� , des Wassers und der Gefühle (1990) erscheinen<br />

jetzt endlich Raoul Tranchirers Bemerkungen<br />

über die Stille (Schöffl ing & Co., Frankfurt am Main<br />

2005). Doch gegenüber den o� übermütigen, ja gar<br />

aberwitzigen Ausführungen der vorangehenden<br />

drei Bände, ändert sich der immer noch humorige<br />

Ton des abschließenden Bändchens erheblich. Zwei<br />

Beispiele. In Raoul Tranchirers Mi� eilungen an Ratlose<br />

von 1988 heißt es über den Aal:<br />

„Aal. Der Aal lebt in Flüssen. Man tötet ihn durch<br />

einen Schlag auf den Kopf, legt ihn in eine Brühe<br />

und kann ihm die Haut abziehen. Warum, das weiß<br />

keiner. Und so soll es auch bleiben.“ 1<br />

2005 bemerkt Tranchirer über die Stille:<br />

„Stille. Es gibt eine Zeit <strong>für</strong> Geräusche und eine Zeit<br />

<strong>für</strong> die Stille. Ich bin der Ansicht, daß es sich hier,<br />

auf der Seite 125, um die Stille handelt, um etwas,<br />

das doppelt so lange ist, wie ich be<strong>für</strong>chtet, erwartet<br />

oder vermutet habe, um die Stille, die Ruhe, die<br />

Lautlosigkeit, die Geräuschlosigkeit. Ich werde<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005<br />

nicht mehr hinaussehen, es nützt ohnehin nichts,<br />

obwohl, ich befi nde mich hier in einer vorteilha� en<br />

Position. Das ist eine hervorragende Stelle, um den<br />

wirklichen, den tatsächlichen Vorgang der Stille beobachten<br />

zu können. Zum Beispiel auf der anderen<br />

Straßenseite, hinter den geschlossenen Fenstern,<br />

sitzen die Leute mit ihren abgeschni� enen Köpfen<br />

und starren in den Regen, der alles wegätzt....“ 2<br />

Ist das ältere Beispiel in seiner anarchischen Abschweifungstaktik<br />

ganz typisch <strong>für</strong> die Prosa Wolfs,<br />

so entdeckt man im aktuellen Text eine Haltung,<br />

die zwar die Sprachakrobatik ebenso wie den grotesken<br />

Humor, der Wolfs Texten so eigen ist, beibehält,<br />

aber auch eine Ernstha� igkeit verfolgt, die in<br />

anderen Passagen in off ene Melancholie umschlägt.<br />

Eine Tendenz, die sich schon in dem 2003 bei der<br />

Frankfurter Verlagsanstalt erschienen Prosa-Band<br />

Zwei oder drei Jahre später angedeutet hat.<br />

War es in den früheren Texten das wollüstige<br />

Verwirrspiel mit der Sprache, das Valenzen schuf<br />

und die Eindeutigkeit der Begriff e zerschni� , verschob<br />

und immer wieder in neuen Kombinationen<br />

zusammenzog, konzentriert sich der Text hier auf<br />

etwas signifi kantes, etwas, das sich hinter den<br />

vielen Worten verbirgt. Es ist die Antwort auf die<br />

Frage, in der sich der Wirklichkeitsforscher Tranchirer<br />

und der Wirklichkeitsautor Wolf treff en: die<br />

Frage nach dem Sinn der wahren Wirklichkeit. Und<br />

so hoch philosophisch diese Frage ist, so einfach ist<br />

die Antwort: Es gibt keine! In der stimmungsvollen<br />

– vielleicht auch dem Alter des Autors Wolf gemäßen<br />

– Melancholie drückt sich die Resignation aus,<br />

nach jahrzehntelangem „Forschen“ keine befriedigende<br />

Antwort gefunden zu haben. Mit dieser<br />

Erkenntnis muß das Schreiben von Enzyklopädien<br />

beendet werden.<br />

Doch ist es weiterhin ein großer Genuß, die<br />

Texte Wolfs zu lesen. Seine wohlüberlegte, refl ektierte<br />

und o� spitzbübisch eingesetzte Sprache,<br />

die die Vorbilder Ka� a und Walser nie zu scheuen<br />

braucht, seine empfi ndsame und behutsame Leich-<br />

27


tigkeit, mit der er auch die trockensten Sujets und<br />

die langweiligsten Personen zum Erblühen bringen<br />

kann und immer wieder sein bestechender, in<br />

Deutschland sicherlich einmaliger, feiner Humor,<br />

lassen auf immer wieder Neues aus Mainz hoff en.<br />

Ror Wolf, ein anspruchsvoller Humorist mit<br />

Erkenntnisgarantie. Jeder sollte seine Enzyklopädie<br />

– zu seinem eigenen Besten – immer in Griff weite<br />

haben.<br />

1 Ror Wolf: Raoul Tranchirers Mi� eilungen an Ratlose, Anabas, Frankfurt<br />

am Main 1997, S. 9.<br />

2 Ror Wolf: Raoul Tranchirers Bemerkungen über die Stille, Schöffl ing<br />

& Co., Frankfurt am Main 2005, S. 125.<br />

28<br />

ter tium com pa ra tio nis<br />

im<br />

konrad kirsch verlag<br />

Armand Nivelle<br />

DREIZEHN AUFSÄTZE ZUR KOMPARATISTIK<br />

Ausgewählt und herausgegeben von<br />

P. Feltes, K. Kirsch, M. Kleer, A. Neuschl,<br />

T. Philippi, J. Theis und C. Winterhalter<br />

262 Seiten, 24 Euro<br />

ISBN 3-929844-17-6<br />

Jörg Theis<br />

METONYMISCHES ERZÄHLEN:<br />

HENRY JAMES’ THE FIGURE IN THE CARPET<br />

11 Seiten, EUR 3,–<br />

ISBN 3-929844-14-1<br />

Klaus Bonn<br />

UM SAURE LUNGE MIT SPIEGELEI –<br />

ZU GYULA KRÚDYS ROMAN MEINERZEIT<br />

MENÜ IN ZWÖLF GÄNGEN<br />

15 Seiten, EUR 3,–<br />

ISBN 3-929844-15-X<br />

Konrad Kirsch<br />

AUF DER HIMMELSLEITER:<br />

ROBERT WALSERS JAKOB VON GUNTEN<br />

49 Seiten, EUR 10,–<br />

ISBN 3-929844-19-2<br />

Martin Schmitt<br />

NICHTS ALS DIE WAHRHEIT<br />

SPRACHE UND WELT IN ROR WOLFS PROSA<br />

16 Seiten, EUR 3,–<br />

ISBN 3-929844-18-4<br />

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<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005


Von Senf<br />

– und denjenigen,<br />

die ihren neuerdings<br />

dazugeben<br />

von Patrik H. Feltes<br />

Wie die kurze, aber strahlend bunte Blüte schillernder<br />

Sommerblumen pfl egen zarte Pfl änzchen neuer<br />

Zeitschri� en leider o� mals nur ein kurzes Dasein<br />

zufristen. Sie werden pompös geboren und mit dem<br />

Herzblut meist einer ganzen Gruppe von eifrigst<br />

creativ arbeitenden Geburtshelfern angefertigt, was<br />

schlimmstenfalls doch nicht verhindern kann, daß<br />

auch bestens gemachten Zeitschri� enprojecten o� -<br />

mals mangels Finanzierung die Lu� ausgeht.<br />

Für eine neue saarländische Zeitschri� ist dies<br />

nicht zu wünschen. Erschienen im April 2005 ist<br />

Senf, Senf eine durchgehend vierfarbig und abwechs-<br />

lungsreich gestaltete Nummereins dieses neuen<br />

Periodicums. Dem Thema Hausputz wurden visuelle<br />

Feuerwerke und mannigfaltige Texte herausgesogen,<br />

bei denen – laut Redaction – „aus Zufall und<br />

Neu-Gier“ Ernst wird, „aus 1001 Ideen ein Thema“<br />

und „aus Chaos bedrucktes Papier“. Unter Beteiligung<br />

von Studierenden, Ehemaligen oder in sonstiger<br />

Verbindung zur HBKsaar (= Hochschule der Bildenden<br />

Künste Saar) stehenden Personen wurden<br />

von der Redaktion (Maja Hollinger, Patricia Lato,<br />

Felix Peter, Henry Hilge und Sandra Mithöfer)<br />

gekonnt Bild- und Textbeiträge kombiniert, die sich<br />

den Höhen und Tiefen des Hausputz-Themas in<br />

drastischer, ö� er auch skurriler Manier, stets jedoch<br />

gekonnt und ideenreich auf hohem gestalterischen<br />

Niveau nähern. Da werden u.a. durchaus ernst<br />

daherkommende Haushaltstipps von Felix Peter<br />

<strong>für</strong> eine lupenreine WG zum bösartigen Todesartenprojekt<br />

<strong>für</strong> Vergi� ung, Dornröschenschlaf im<br />

Scherbenhaufen und einem nicht ganz unblutigen<br />

Abhängen in der Dusche. Anregend Maja Hollingers<br />

digitale Text-Bild-Übermalung mit der Frage: „wer<br />

räumt sie weg? gespräche bleiben im raum stehn...<br />

es ist voll davon“ oder die immer wieder anklingenden<br />

Versuche, sich dem Begriff Säuberung auf<br />

unterschiedliche Weise zu nähern. Im angenehmen<br />

Format von 18x21 cm ist Senf mit 72 Seiten erstklassisch<br />

in die Vollen gegangen. Zum Preis von nur<br />

sechs Euro erhält man ein inhaltlich wie gestalterisch<br />

herausragendes He� , das jetzt schon neugie-<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005<br />

rig auf weitere Ausgaben macht. Schade, daß die<br />

Texte eher in Minderzahl sind, was der hohen Qualität<br />

aber keinen Abbruch tut. Bleibt abschließend<br />

nur zu hoff en, daß das Licht des anfangs erwähnten<br />

scheinbaren Gangs allen Zeitschri� enlebens nicht<br />

schon vor weiteren Ausgaben ausgeblasen wird.<br />

Senf ist das, was man zu etwas gibt und ein Beispiel<strong>für</strong><br />

ein interessantes wie waghalsiges Zeitschri� enproject,<br />

wie es die kulturell immer ärmer werdende<br />

saarländische Ödnis dringend braucht.<br />

Redaktion Senf HBKsaar Keplerstraße 3-5 66117 Saarbrücken<br />

ISBN 3-9807878-7-7 Preis: 6 Euro<br />

29


ein buch voll poesie und experiment<br />

eugen gomringers stundenbuch in kanji und code<br />

von Patrik H. Feltes<br />

vielleicht ist eugen gomringer ja wirklich begründer<br />

der konkreten poesie, und manieristische bildgedichte<br />

des 16. jahrhunderts oder barocke wortkaskaden<br />

sind nichts anderes als zu frühe gehversuche<br />

auf unsicherem terrain einer zukün� igen bildtextga�<br />

ung. tatsache ist: gomringer wird achtzig und<br />

der österreichische verlag bibliothek der provinz hat<br />

ein außergewöhnliches buch gedruckt das – von<br />

der kunstuniversität linz herausgebracht – gedichte<br />

in deutsch, gleichzeitig auf japanisch in kanji und in<br />

form von strichcode abbildet, was nicht nur ganz<br />

außergewöhnlich ist, sondern dazu ansti� et, es<br />

wieder und wieder zu lesen und zu betrachten.<br />

der text der gedichte ist bereits 1980 erschienen,<br />

anders sind bei der neuausgabe der paralleldruck<br />

der japanischen übersetzung mit japanischen<br />

schri� zeichen und die umsetzung in strichcode,<br />

dem wir sonst in lebensmi� elläden begegnen oder<br />

wenn wir lästige au� leber von neu erstandenen<br />

dvds entfernen wollen und dies nicht rückstandsfrei<br />

zu bewerkstelligen ist. versehen mit einem<br />

vorwort von wilhelm gössmann und einem – neu<br />

verfaßten – nachwort des jubilars gomringer blättert<br />

man fasziniert in einem buch voller zeichen,<br />

die – so gomringer – als indizien <strong>für</strong> den versuch<br />

anzusehen sind, eine „kultur nach der schri� “ zu<br />

thematisieren. augenfällig die übertitelung stundenbuch,<br />

die uns auf die fährte spätmi� elalterlicher,<br />

meist kostbar ausgesta� eter und illuminierter<br />

bücher setzen will und trotz der bedenken des vorwortenden<br />

zumindest reminiszenzen zuläßt. ob litanei<br />

oder responsorialformel wirklich reminsiziert<br />

werden, bleibt off en. die kombinatorik der possesiva<br />

mein und dein mit den z.b. bereits zu anfang<br />

eingeführten worten wie geist, wort, frage, antwort,<br />

lied, gedicht oder leib, blick, kra� , freude, trauer,<br />

schweigen werden in wechselnden kombinationen<br />

abgearbeitet. dabei orientieren sich drei der gedichtzyklen<br />

mit ihren 24 strophen durchaus an den<br />

tagesstunden, was nicht nur auf den buchtitel bezug<br />

nehmen mag. die asyndetisch wirkenden verse<br />

sind statements, die in ihrer maßlosen verkürzung<br />

30<br />

an liturgische anrufungsformeln gemahnen. verkürzung<br />

ist auch bei der umsetzung ins japanische<br />

kanji vater des gedankens und wird schließlich auf<br />

der buchdoppelseite zur zeichenkonkordanz in drei<br />

spalten. die wiedergabe der japanischen fassung in<br />

kanji (eigentlich die bezeichnung <strong>für</strong> die anteile chinesischer<br />

schri� zeichen innerhalb der japanischen<br />

schri� ) ist dabei übergang und ideogrammatischer<br />

zwischenschri� hin zur darstellung der textzeilen<br />

in code. gomringer erwähnt in seinem nachwort,<br />

daß der ausführende josef linschinger <strong>für</strong> die strichcodierung<br />

die norm des code 39 gewählt hat. die<br />

färbige absetzung der vokale innerhalb der codeumsetzungen<br />

ist zugleich gliederungselement und<br />

lesehilfe, die <strong>für</strong> gomringer dadurch gar „adäquate<br />

und universelle gestalt“ erhält.<br />

das stundenbuch in kanji und code ist ein fazinierendes<br />

experiment <strong>für</strong> ein modernes lobpreisungsbuch<br />

und lesens- und betrachtenswertes geschenk<br />

zu gomringers achtziger, wie obiges beispiel illustriert.<br />

Gomringer, Eugen / Linschinger, Josef: Das Stundenbuch. In Kanji<br />

und Code, Nachwort von Eugen Gomringer, Vorwort von Wilhelm<br />

Gössmann. Bibliothek der Provinz, Verlag <strong>für</strong> Literatur, Kunst und Musikalien,<br />

Weitra 2005. 144 S., 21x15 cm, geb., ISBN 3-85252-627-2,<br />

18 Euro.<br />

<strong>trifolium</strong> 4 – Juni 2005

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