Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
302 Michael Neriich selbst schuld daran, daß er im Gegensatz zu Vossler „seinen Lohn [nicht] in sich selbst trägt": „Vielleicht täte es doch der mächtig voranstrebenden Literatur Soziologie gut, Glied im Glied, Instrument unter anderen zu bleiben?" fragt Niedermayer, sichtlich um Köhler besorgt, und gibt ihn zum Schluß noch eine philosophische Weisheit für den Hausgebrauch mit: „Nur eine Variante wird zur Konstante, nicht aber eine (vorübergehende!) Dominante." 13. Der alltägliche Anti-Kommunismus Wenn auch der Anschluß an die deutsch-nationale Romanistik durch die Werke von Vossler, Curtius u. a. unmittelbar wiederhergestellt wurde, so trifft doch auf eine ganz spezielle Art zu, was H. R. Jauß mit dem besonders von der Germanistik strapazierten Schlagwort der „Entideologisierung" 112 vielleicht hat ausdrücken wollen: die nach wie vor vorhandene Agressivität gegen Sozialismus, Kommunismus, Marxismus ist — faute de combattant direct — seit dem Verbot der KPD im Jahre 1956 in der BRD verbal nicht mehr ganz so manifest wie in der Zeit davor. Sie äußert sich (noch) anders, z. T. subtiler, auf jeden Fall aber genauso wirksam, wobei im übrigen die unmittelbare Intervention keineswegs gescheut wird, falls irgendwo einmal ein Marxist Assistent oder Dozent werden könnte. Grundsätzlich aber wich die aggressive anti-kommunistische oder engagiert reaktionäre Tonart einer unauffälligeren Diktion auch in der romanistischen Diskussion. Zusammen mit der politischen Entmachtung der Arbeiterklasse verflüchtigte sich z. B. (à l'apparence) der Gedanke an die einst so gefürchtete „Masse", vor deren Universitätsbesuch Curtius mehr graute als vor den Faschisten: das Proletariat verschwand ganz einfach aus der Reflexion, und zwar selbst aus der ihm feindlichen über die noch heute vorherrschenden Vorstellungen von der Universität als einer Elite-Schule. Das Resultat ist, daß selbst für progressive junge Forscher das Proletariat nicht mehr ist als eine quantité négligeable, wie z. B. für Konrad Schoell, der bei der Besprechung eines Schauspiels von Armand Gatti feststellt, es handle sich bei der von Gatti in den Mittelpunkt gerückten „unterdrückten Bevölkerungsgruppe" „um eine soziale Minderheit in Europa, in Frankreich, um Proletarier, schlicht gesagt 113 ". Daß der „diskrete" Anti-Kommunismus ausreicht, um in alle Poren zu dringen und jeden Gedanken zu verseuchen, kann ich aus der eigenen Erfahrung bestätigen: noch 1967/68 setzte ich wie selbstverständlich zu „marxistische Analyse" das Adjektiv „beckmessernde", reihte den Marxismus ein unter beliebige „Ideologien", natürlich ohne ihn studiert zu haben, und polemisierte ins Blaue hinein gegen die „Gesetzmäßigkeit schulbuchmäßigen Klassenkampfes, dar- 112 Cf. W. F. Haug, Der-hilflose Antifaschismus, 1. c., 121 ff.; D. Richter, Ansichten einer marktgerechten Germanistik, in diesem Heft. 113 Das französische Drama seit dem Zweiten Weltkrieg, Kleine Vandenhoeck-Reihe, 315—317, 318 S., 2 Bde., Göttingen 1970, II, 104.
Romanistik und Anti-Kommunismus 303 gestellt im ,positiven Helden 114 '": von allen meinen Rezensenten, auch den „linken", nahm daran keiner Anstoß. Und wenn Harald Weinrich bemerkt, die Literatursoziologie „braucht zwar nicht unbedingt Sartres marxistische Gesellschaftsanalyse" 115 , dann zeigt sich die unbewußte Infizierung selbst bei ihm, der zu den wenigen Romanisten gehört, die dem gemeinen Anti-Kommunismus auszuweichen wußten. Im übrigen aber gehören die von Wolfgang Fritz Haug in seinem Buch Der hilflose Antifaschismus analysierten antikommunistischen bzw. anti-marxistischen Ideologeme wie z. B. die Gleichsetzung von „links" und „rechts" zur bewußten oder unbewußten, reflektierten oder nicht-reflektierten Praxis der alltäglichen Ideologieproduktion auch in der bundesrepublikanischen Romanistik 116 . 14. Provinz In seinem Essay Deutsche und französische Literatur — inneres Reich und Einbürgerung des Dichters wies Robert Minder nicht nur auf das grundverschiedene Verhältnis von Intellektuellem ganz allgemein und vom Autor im speziellen zur Gesellschaft in Frankreich und Deutschland hin, er bemerkte auch, daß die deutsche Geisteswissenschaft — Germanistik und Geschichte — von den wichtigsten gesellschaftlichen Erkenntnissen der modernen Zeit unberührt geblieben ist: in Paris und London, den damaligen Zentren der industriellen Entwicklung hätten Marx und Engels die „erste Fundamental-Analyse des modernen Gesellschaftsapparates" angefertigt: „Inwiefern diese von hegelianischen Grundeinsichten durchleuchteten Darstellungen auch heute noch Geltung besitzen, ist eine andere Frage. Germanistik und Geschichtsschreibung haben offiziell bis 1945 kaum Notiz von ihr genommen, Außenseiter wie Franz Mehring als Stiefelputzer des niedrigsten Materialismus verhöhnt und sich dabei immer ungehemmter dem Mythos des Germanentums verschrieben 117 ." Ihm widersprach von romanistischer Seite Fritz Schalk erregt: schon lange habe man auch vor 1945 Marx mit Hilfe von M. Weber und H. Oncken studiert, die „Auseinandersetzung mit den Ideen des Marxismus" sei „1933 bis 1945 nur unterbrochen" gewesen und man habe sie „sofort nach dem Zweiten Weltkrieg" wieder aufnehmen dürfen 118 . Sollte Minder die Replik von Schalk gelesen haben, so könnte es sein, daß er sie nicht ohne weiteres begriff. In der Tat 114 Kunst, Politik und Schelmerei, Frankfurt/M./Bonn 1969, 105; 229. 115 Literatur für Leser, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1971, 27. 116 Cf. zum Beispiel F. Schalk, Über fanatique und fanatisme in Exempla romanischer Wortgeschichte, Frankfurt/M. 1966, 60—74, oder meinen eigenen Aufsatz Der Herrenmensch bei Jean-Paul Sartre und Heinrich Mann, Akzente 1969, 460—479, 478. 117 Hier zitiert in Robert Minder, Acht Essays zur Literatur, Frankfurt/M. 1969, 28—58, 49. 118 Arcadia, Band 1, Héft 1, 97—103.
- Seite 48 und 49: 252 Gerhard Voigt der konservativen
- Seite 50 und 51: 254 Gerhard Voigt Kulturkritik und
- Seite 52 und 53: 256 Gerhard Voigt die „Umwälzung
- Seite 54 und 55: 258 Chup Friemert Das Amt „Schön
- Seite 56 und 57: 260 Chup Friemert gabengebiet gehö
- Seite 58 und 59: 262 Chup Friemert organisiert waren
- Seite 60 und 61: 264 Chup Friemert zen, aufrechten u
- Seite 62 und 63: 266 Chup Friemert Der Unzufriedenhe
- Seite 64 und 65: 268 Chup Friemert 1. „Freude am S
- Seite 66 und 67: 270 Chup Friemert blickten auf den
- Seite 68 und 69: 272 Chup Friemert Wandern und Erhol
- Seite 70 und 71: 274 Chup Friemert wurden. Deshalb w
- Seite 72 und 73: 276 Michael Neriich Romanistik und
- Seite 74 und 75: 278 Michael Neriich gen" des Nation
- Seite 76 und 77: 280 Michael Neriich nicht unwichtig
- Seite 78 und 79: 282 Michael Neriich erweitert haben
- Seite 80 und 81: 284 Michael Neriich Vom „wahren N
- Seite 82 und 83: 286 Michael Neriich von linken Jude
- Seite 84 und 85: 288 Michael Neriich und das Christe
- Seite 86 und 87: 290 Michael Neriich den meines dama
- Seite 88 und 89: 292 Michael Neriich Besitze wurzeln
- Seite 90 und 91: 294 Michael Neriich darüber hinaus
- Seite 92 und 93: 296 Michael Neriich Denn: „Obwohl
- Seite 94 und 95: 298 Michael Neriich Karl Marx den B
- Seite 96 und 97: 300 Michael Neriich Werkes bedeutun
- Seite 100 und 101: 304 Michael Neriich aber hat Schalk
- Seite 102 und 103: 306 Michael Neriich hältnis von Li
- Seite 104 und 105: 308 Michael Neriich sehen Partei si
- Seite 106 und 107: 310 Michael Neriich „wenn sie ana
- Seite 108 und 109: 312 Michael Neriich Der Beitrag von
- Seite 110 und 111: 314 Dieter Richter Ansichten einer
- Seite 112 und 113: 316 Dieter Richter der Wettbewerbsf
- Seite 114 und 115: 318 Dieter Richter einen ideologisc
- Seite 116 und 117: 320 Dieter Richter Wissenschaft als
- Seite 118 und 119: 322 Dieter Richter Sprachanalysen d
- Seite 120 und 121: 324 Dieter Richter zieren. Insofern
- Seite 122 und 123: 326 Zur Diskussion gestellt: Peter
- Seite 124 und 125: 328 Peter Eisenberg und Hartmut Hab
- Seite 126 und 127: 330 Peter Eisenberg und Hartmut Hab
- Seite 128 und 129: 332 Peter Eisenberg und Hartmut Hab
- Seite 130 und 131: 334 Peter Eisenberg und Hartmut Hab
- Seite 132 und 133: 336 Peter Eisenberg und Hartmut Hab
- Seite 134 und 135: 338 Peter Eisenberg und Hartmut Hab
- Seite 136 und 137: 340 Peter Eisenberg und Hartmut Hab
- Seite 138 und 139: 342 Peter Eisenberg und Hartmut Hab
- Seite 140 und 141: 344 Peter Eisenberg und Hartmut Hab
- Seite 142 und 143: 346 Peter Eisenberg und Hartmut Hab
- Seite 144 und 145: 348 Peter Eisenberg und Hartmut Hab
- Seite 146 und 147: 350 Besprechungen Philosophie Herma
302 Michael Neriich<br />
selbst schuld daran, daß er im Gegensatz zu Vossler „seinen Lohn<br />
[nicht] in sich selbst trägt": „Vielleicht täte es doch der mächtig<br />
voranstrebenden Literatur Soziologie gut, Glied im Glied, Instrument<br />
unter anderen zu bleiben?" fragt Niedermayer, sichtlich um Köhler<br />
besorgt, und gibt ihn zum Schluß noch eine philosophische Weisheit<br />
<strong>für</strong> den Hausgebrauch mit: „Nur eine Variante wird zur Konstante,<br />
nicht aber eine (vorübergehende!) Dominante."<br />
13. Der alltägliche Anti-Kommunismus<br />
Wenn auch der Anschluß an die deutsch-nationale Romanistik<br />
durch die Werke von Vossler, Curtius u. a. unmittelbar wiederhergestellt<br />
wurde, so trifft doch auf eine ganz spezielle Art zu, was H. R.<br />
Jauß mit dem besonders von der Germanistik strapazierten Schlagwort<br />
der „Entideologisierung" 112 vielleicht hat ausdrücken wollen:<br />
die nach wie vor vorhandene Agressivität gegen Sozialismus, Kommunismus,<br />
Marxismus ist — faute de combattant direct — seit dem<br />
Verbot der KPD im Jahre 1956 in der BRD verbal nicht mehr ganz<br />
so manifest wie in der Zeit davor. Sie äußert sich (noch) anders, z. T.<br />
subtiler, auf jeden Fall aber genauso wirksam, wobei im übrigen die<br />
unmittelbare Intervention keineswegs gescheut wird, falls irgendwo<br />
einmal ein Marxist Assistent oder Dozent werden könnte. Grundsätzlich<br />
aber wich die aggressive anti-kommunistische oder engagiert<br />
reaktionäre Tonart einer unauffälligeren Diktion auch in der romanistischen<br />
Diskussion. Zusammen mit der politischen Entmachtung<br />
der Arbeiterklasse verflüchtigte sich z. B. (à l'apparence) der Gedanke<br />
an die einst so ge<strong>für</strong>chtete „Masse", vor deren Universitätsbesuch<br />
Curtius mehr graute als vor den Faschisten: das Proletariat<br />
verschwand ganz einfach aus der Reflexion, und zwar selbst aus der<br />
ihm feindlichen über die noch heute vorherrschenden Vorstellungen<br />
von der Universität als einer Elite-Schule. <strong>Das</strong> Resultat ist, daß<br />
selbst <strong>für</strong> progressive junge Forscher das Proletariat nicht mehr ist<br />
als eine quantité négligeable, wie z. B. <strong>für</strong> Konrad Schoell, der bei<br />
der Besprechung eines Schauspiels von Armand Gatti feststellt, es<br />
handle sich bei der von Gatti in den Mittelpunkt gerückten „unterdrückten<br />
Bevölkerungsgruppe" „um eine soziale Minderheit in Europa,<br />
in Frankreich, um Proletarier, schlicht gesagt 113 ".<br />
Daß der „diskrete" Anti-Kommunismus ausreicht, um in alle Poren<br />
zu dringen und jeden Gedanken zu verseuchen, kann ich aus<br />
der eigenen Erfahrung bestätigen: noch 1967/68 setzte ich wie selbstverständlich<br />
zu „marxistische Analyse" das Adjektiv „beckmessernde",<br />
reihte den Marxismus ein unter beliebige „Ideologien", natürlich<br />
ohne ihn studiert zu haben, und polemisierte ins Blaue hinein<br />
gegen die „Gesetzmäßigkeit schulbuchmäßigen Klassenkampfes, dar-<br />
112 Cf. W. F. Haug, Der-hilflose Antifaschismus, 1. c., 121 ff.; D. Richter,<br />
Ansichten einer marktgerechten Germanistik, in diesem Heft.<br />
113 <strong>Das</strong> französische Drama seit dem Zweiten Weltkrieg, Kleine<br />
Vandenhoeck-Reihe, 315—317, 318 S., 2 Bde., Göttingen 1970, II, 104.