Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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294 Michael Neriich<br />
darüber hinaus erkannte, daß dies die Vergangenheit war, der er mit<br />
seinen Betrachtungen eines Unpolitischen selbst einmal vorübergehend<br />
angehört hatte. Er wäre noch mehr erschrocken, hätte er<br />
geahnt, daß er in die intellektuelle Zukunft des westlichen Teils -<br />
Deutschlands schaute.<br />
11. Der geistige Mauerbau<br />
1932 hatte Curtius zur Erneuerung des deutschen Geistes vorgeschlagen,<br />
zum „Frontkämpfer-Geist" von 1914, ja besser noch zum<br />
gebildeten „Junker" als dem Maß aller geistigen Dinge zurückzukehren.<br />
Er schrieb, daß die „nachgelassenen Briefe" „des preußischen<br />
Junkers Bernhard von der Marwitz auch <strong>für</strong> die Heutigen noch ein<br />
Mal der Weihe, der Selbstbesinnung und Selbsterhöhung sein müßten".<br />
Der Selbstbesinnung worauf? Darauf, daß man den „reinen<br />
Geist" verteidigen müsse vor dem Ansturm des Pöbels, vor der Politik:<br />
„Nicht der Krieg, wohl aber Revolution, Fremdherrschaft und<br />
Schuldknechtschaft haben Deutschland politisiert 85 ." Nicht der<br />
Weltkrieg, der Millionen unschuldiger Opfer gefordert hatte, war<br />
Curtius 1932 ein Wort der Warnung wert, aber daß Millionen anderer<br />
nicht erneut zu Opfern werden wollten, erfüllte ihn mit Entsetzen<br />
vor der Politisierung von — „links".<br />
1952, nach Auschwitz, Treblinka und Dachau, nach Warschau, Stalingrad,<br />
Berlin, Dresden, Hamburg, nach Oradour und Lidice, nach<br />
Hiroshima und Nagasaki erhob Curtius — es ist geradezu gespenstisch<br />
— einmal mehr seine Stimme <strong>für</strong> die „ Geistes-Junker-Gesinnung":<br />
„Von seinem märkischen Rittergut aus schreibt Marwitz<br />
1913: .Übrigens habe ich außer französischen Sachen nur Hölderlin,<br />
die Odyssee, einen Band Goethe (Lyrik) und Piatos Phaidros und<br />
Phaidon und Laches und Apologie mitgenommen, aber nichts von<br />
Schröder und Rilke...' Es war ein preußischer Junker", setzt Curtius<br />
1952 militärisch knapp und in kurios-männlicher Schwärmerei<br />
hinzu, „es war ein preußischer Junker, der so schrieb. Wie die Blüte<br />
seiner Generation fiel er dem Krieg zum Opfer. Sein Wort stehe hier<br />
als Zeugnis eines Erlebens, dem die Erfüllung versagt blieb 86 ."<br />
Natürlich hätte man aus den Sätzen des „Junkers" Marwitz lernen<br />
können, daß es nicht reicht, Plato zu lesen und Goethe, Claudel und<br />
Gide, sondern daß man politisch so handeln muß, daß die Voraussetzungen<br />
da<strong>für</strong> geschaffen werden, daß niemand mehr „dem Kriege<br />
zum Opfer" fällt, daß man in Frieden Plato lesen kann, daß es <strong>für</strong><br />
den „Junker" Marwitz und die anderen, freilich meist ungebildeten<br />
und daher <strong>für</strong> Curtius uninteressanten zwei Millionen deutscher Toter<br />
besser gewesen wäre, sie hätten <strong>Das</strong> Kapital studiert, um ihre<br />
Mörder zu kennen und ihnen zuvorzukommen. Mit Curtius aber, mit<br />
dieser Rückkehr zum „geistigen Junkertum", ohne das der Nazi-<br />
Staat in Deutschland nie hätte entstehen können, vollzog sich und<br />
war beendet, was man wohl die spezielle Form der Vergangenheits-<br />
85 Krisis der deutschen Universität, ed. cit., 51 ff.<br />
86 Rückblick 1952, ed. cit., 523.