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Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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292 Michael Neriich<br />

Besitze wurzeln, dann kennt man audi die Aufgabe, die der wissenschaftlich<br />

gebildete Mensch zu erfüllen hat: Duldung und Achtung<br />

üben und erkämpfen <strong>für</strong> jede Art menschlicher Bildung. Jeder soll<br />

die Möglichkeit haben, sich nach eigener Anlage zu bilden: das ist<br />

unser sozialer, demokratischer, christlicher, liberaler und kommunistischer<br />

Wunsch — aber keiner, der die Kraft und den Willen,<br />

kurz den Schwung, nicht hat, in die Höhen und Tiefen zu dringen,<br />

soll sich breitmachen dürfen. <strong>Das</strong> ist unsere aristokratische Forderung<br />

78 ."<br />

Auch Curtius war schon wieder zur Stelle, als die Trümmer noch<br />

rauchten. 1948 präsentiert er der Öffentlichkeit die reife Frucht<br />

seiner „willkommenen Muße"-Stunden: das von der bundesdeutschen<br />

Philologie, nicht zuletzt von der Germanistik mit Begeisterung<br />

begrüßte, berühmte Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter.<br />

Statt der geringsten geistigen Weiterentwicklung, die man angesichts<br />

der Nazi-Barbarei innerhalb und außerhalb Deutschlands<br />

auch bei Curtius hätte erwarten dürfen, hatte sich lediglich der Buchumfang<br />

geändert: er war dicker geworden. Unter dem Einband des<br />

streckenweise „geist"-losen, knochentrockenen magnum opus von<br />

Curtius, das nach Auskunft des Bielefelder Romanisten Harald<br />

Weinrich zu den Werken gehört, auf die „die deutsche Romanistik<br />

stolz ist", steckte die alte und bekannte Ideologie: die romanistische<br />

Begleitmusik zur Restauration der Kräfte, die von Flick bis Krupp<br />

dem deutschen Volk bereits ein drittes Mal zum blutigen Verhängnis<br />

geworden waren, der romanistische Segensspruch zur großindustriellen<br />

„Europa"-Politik Konrad Adenauers.<br />

Freilich hatte auch Curtius sich Sorgen gemacht, als Deutschland<br />

erst die halbe Welt und dann die ganze Welt Deutschland in Schutt<br />

und Asche legten. Allerdings nicht um die 55 Millionen Menschen, die<br />

dabei zum Profit des deutschen Kapitals ihr Leben lassen mußten:<br />

„Mein Buch", so schreibt er, „ist nicht aus rein wissenschaftlichen<br />

Zwecken erwachsen, sondern aus Sorge <strong>für</strong> die Bewahrung der westlichen<br />

Kultur." So steht es im Vorwort zur zweiten Auflage von 1953,<br />

nachdem er sich ein Jahr zuvor bereits als Widerstandskämpfer vorgestellt<br />

hatte. Doch statt mit seinem Buch über das lateinische Mittelalter<br />

und die europäische Literatur Empörung und Entsetzen hervorzurufen,<br />

stieß er auf den hellsten Jubel: „ . . . der größte Feind des<br />

sittlichen und sozialen Fortschritts", so bemerkt er in pedantischüberheblicher<br />

Diktion im ersten Kapitel, das 1946 bereits im Merkur<br />

erschienen war, „ist die Dumpfheit und Enge des Bewußtseins, der<br />

die antisozialen Affekte jeder Art einen ebenso mächtigen Beistand<br />

leisten wie die Denkträgheit, das heißt das Prinzip des kleinsten geistigen<br />

Aufwandes (vis inertiae) 79 ". <strong>Das</strong> philosophische Gerüst dieses<br />

Experten in Sachen Sozialismus sind die Geschichts- und Kulturspekulationen<br />

von Arnold J. Toynbee, dessen Werk er die „größte<br />

78 Ib. 25—26.<br />

79 Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München,<br />

3. Auflage, 1961, 13.

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