Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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288 Michael Neriich<br />
und das Christentum aufgibt", bangt er, „wird es bald dahin kommen,<br />
weder Eckhart noch Luther, weder Goethe noch Mozart noch<br />
George mehr zu verstehen 67 ." Und Curtius, der einst zu Vosslers<br />
größter Freude festgestellt hatte, daß der Nationalismus eines Maurice<br />
Barrés zu „ungefähr Dreiviertel" 68 deutsch war, wendet sich<br />
nun (wahrscheinlich zur Erhaltung des „Humanismus") Charles<br />
Maurras und der Action française zu, die er der „rechtsrevolutionären<br />
Jugend" in Deutschland als nationalistische Möglichkeit vor<br />
Augen führt 8 9 . Aber Curtius ist moralisch bereits so weit gediehen,<br />
daß er auch vor der letzten Konsequenz nicht mehr zurückschreckt:<br />
er, der mit soviel hohlem Pathos die Ankunft eines neuen Europa<br />
aus seinem deutsch-französischen Geist angekündigt, der sich als<br />
Vermittler zwischen beiden Nationen aufgespielt hatte, er ist nun<br />
bereit, den Faschisten (oder wem sonst?) zuliebe auch auf ganz<br />
Frankreich zu verzichten: „Sollte mit dem Westen", gegen dessen<br />
„Dekadenz" dië Nazis polemisieren, „Frankreich und nur [!] dieses gemeint<br />
sein, so wäre die Abkehr allenfalls noch zu verstehen . . . Heute<br />
gibt es in Frankreich keine fruchtbare Bewegung, die uns mitreißen<br />
könnte. Für das Ensemble von Formqualitäten aber, die Frankreich<br />
heute repräsentiert, können gerade die jungen Deutschen unserer Zeit<br />
nicht eben empfänglich sein. Man mag das bedauern, aber man muß<br />
es feststellen und nötigenfalls [!] verschmerzen 60 ."<br />
Es sei daran erinnert, daß Ernst Robert Curtius den Verrat an der<br />
Idee der Völkerversöhnung zwanzig Jahre später als Widerstand<br />
gegen die deutschen Faschisten ausgeben sollte! Bevor diese überhaupt<br />
an der Macht waren, rief er bereits zur Kollaboration mit dem<br />
Mussolini-Faschismus auf, damit sein Ideal vom griechisch-römischabendländischen<br />
Ursprung der deutschen, genauer: seiner Kultur<br />
bewahrt blieb: „Seit dem Siege des Faschismus hat die Romidee eine<br />
Renaissance erlebt...", schreibt er: „Je mehr Trennendes sich zwischen<br />
Deutschland und Frankreich auftürmt, um so mehr Verbindendes<br />
taucht zwischen Deutschland und Italien auf ... 6 1 ." Die Verbindung<br />
mit dem italienischen Faschismus ist dem Bonner Romanisten<br />
wichtig als Bollwerk gegen all das, was er von ganzem Herzen<br />
<strong>für</strong>chtet und haßt — den Sozialismus: er nennt ihn Barbarei: „ . . . in<br />
der heutigen Schicksalsstunde Europas bedeutet Barbarei nur die<br />
Vorstufe zum Bolschewismus. Eine Bewegung, die alles preisgibt,<br />
muß von dem Materialismus verschlungen werden... 6 2 ." Und erst<br />
auf diesem Hintergrund gewinnt der großspurige Spruch des Geisteswissenschaftlers<br />
Curtius sein volles Profil: „Wer die Verantwortung<br />
<strong>für</strong> deutsche Zukunft auf sich nimmt, muß das Nationale und das<br />
Soziale mit eisernem Willen zusammenbiegen 63 ."<br />
57 Nation oder Revolution?, ed. cit., 47.<br />
58 K. Vossler, Die romanischen Kulturen und der deutsche Geist, ecLcit., 65.<br />
59 Nation oder Revolution?, ed. cit., 43.<br />
60 Ib. 47.<br />
61 Ib. 49—50.<br />
62 Ib. 50.<br />
63 Ib. 37.