Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
212 Bernd Jürgen Warneken funden, die auf die bekannte Passage der Deutschen Ideologie über Raffael vorwegdeuten 80 . Literatur kann „die objektive Realität in dem Umfang und in der Tiefe widerspiegeln, wie es der Grad der Beherrschung der Natur und die Formen des gesellschaftlichen Verkehrs erlauben 20 ®". Freilich kann es einer materialistischen Theorie nicht darum gehen, jeden Schritt einer solchen Materialentwicklung aus einzelnen Einwirkungen der materiellen Basis zu erklären; der Fortgang der Kunst und Literatur ist vielmehr die Resultante einer Wechselwirkung von materieller und ästhetischer Produktionsweise, ungleichen Kräften innerhalb des einen gesellschaftlichen Zusammenhangs, in dem sich • aufgrund von Arbeitsteilung eine relative Selbstbewegung der künstlerischen Produktion herausgebildet hat 21 . Wenn Literatur auch Momente immanenter Fortentwicklung aufgrund von Materialwidersprüchen und überhaupt einen inneren Problemzusammenhang kennt, so folgt sie doch auch dann der gesellschaftlichen Bewegung, die sich in ihren Produktivkräften niedergeschlagen hat: Kunst „entfaltet sich nach ihrem eigenen Gesetz, einem insgeheim gesellschaftlichen, und wiederum nicht nur nach diesem, sondern wird [...] selber durch gesellschaftliche Kraftfelder bewegt [...] 22 ". Als Beispiel einer solchen latenten Koinzidenz sei die Entstehung integralen Gestaltens genannt: „Je einheitlicher die bürgerliche Gesellschaft ökonomisch wird", schreibt Lukâcs über einen Aspekt dieser Entwicklung, „je mehr der Kapitalismus das ganze Leben der Gesellschaft durchdringt, desto einheitlicher wird der Roman. Die alten Romane waren mehr oder weniger lose Bündel von Abenteuern, oft sogar von aneinandergeknüpften novellistischen Begebenheiten, die von der Einheit der Hauptfiguren und von der des Zentralproblems zusammengehalten wurden. Erst wenn die einheitliche Gesetzlichkeit des gesellschaftlichen Seins so klar zutage tritt, daß jeder in den gewöhnlichsten Ereignissen seines Alltagslebens auf sie stoßen muß, entsteht jene dichterische Widerspiegelung, die sich 20 Cf. J. W. Goethe, Literarischer Sansculottismus, a.a.O., S. 340 f., MEW Bd. 3, S. 378 f. 20a Autorenkollektiv, Zum Verhältnis von Ökonomie, Politik und Literatur im Klassenkampf. Berlin 1971, S. 103. 21 „Jede Ideologie", sagt Engels, „entwickelt sich aber, sobald sie einmal vorhanden, im Anschluß an den gegebenen Vorstellungsstoff, bildet ihn weiter aus" (MEW Bd. 21, S. 303). Für die Kunst erwähnte Adorno als einen wesentlichen Grund verhältnismäßiger Eigengesetzlichkeit: „Weil die Kunst als einen Bereich sui generis sich konstituiert, kann sie auf Einheit nicht verzichten, sich der Anstrengung, ihre Gebilde durchzubilden, nicht entziehen" (Th. W. Adorno, Vorlesungen zur Ästhetik im WS 1968/69, unautorisierter Druck nach einer Tonbandaufzeichnung, S. 83). Das korrespondiert Engels' Bemerkung über das Recht, das „nicht nur der allgemeinen ökonomischen Lage entsprechen (muß), ihr Ausdruck sein, sondern auch ein in sich zusammenhängender Ausdruck, der sich nicht durch innere Widersprüche selbst ins Gesicht schlägt" (MEW Bd. 37, S. 491). 22 Th. W. Adorno, Ideen zur Musiksoziologie, in: ders., Klangfiguren, Frankfurt/M. 1959, S. 26.
Abriß einer Analyse literarischer Produktion 213 in der streng konzentrierten einheitlichen Handlung des Romans künstlerisch äußert 28 ." Der Idee des durchkonstruierten Werks folgend, verlangte Lessing, der Dichter solle „aus [...] wenigen Gliedern [...] ein Ganzes machen, das völlig sich rundet, wo eines aus dem andern sich völlig erkläret, wo keine Schwierigkeit aufstößt, deretwegen wir die Befriedigung nicht in seinem Plane finden, sondern sie außer ihm [•..] suchen müssen [...] 24 ". Das in der literarischen Technik auftauchende Prinzip der kausalen Erklärung und Verknüpfung, der Zerlegung und Synthese — der Entwicklung des Ganzen aus einem Einzelelement heraus ebenso wie die einheitliche Organisation aller Parameter eines Werks — ist unschwer als Ausdruck der Rationalisierung zu dechiffrieren, welche in der bürgerlichen Gesellschaft zunehmend den Produktionsprozeß, aber auch die Arbeitsweise in anderen Praxisbereichen durchdringt. Daß Literatur aber auch dem zuwiderlaufende, irrationale Methoden und vor allem Gehalte aufweist, zeigt an, daß sie eben nicht materielle Arbeitsprozesse, sondern Erscheinungen der kapitalistischen Produktionsweise als Ganzer wiedergibt, von der nun einmal gilt, daß „die steigende Organisation der Produktion [...] im einzelnen Produktionsetablissement" die aus der privaten Aneignung der Produkte resultierende „Anarchie in der gesellschaftlichen Produktion [steigerte] 26 ". Wo sich demnach heute Rationalisierung in der Literatur über bloß äußerliche oder sonst partikulare Stimmigkeit hinaus durchsetzt, bedeutet dies objektiv einen — wenn auch an der Realität und ihren Möglichkeiten entsprungenen — Widerstand gegen das Chaos einer sich quasi naturgesetzlich vollziehenden Gesamtbewegung. Spricht man, wie hier, der Literatur eine Bedeutung in der Entwicklung intellektueller wie psychischer Fähigkeiten der Wirklichkeitserfahrung und -gestaltung zu, wirkt sich dies auf die Diskussion möglicher Spannungen zwischen der Kommunikationsfunktion der Literatur und ihrer um prompte Verständlichkeit relativ unbekümmerten Fortentwicklung aus, die in der anarchischen und körperliche streng von geistiger Arbeit trennenden bürgerlichen Gesellschaft entstehen müssen. Avantgardistische Werke sind unter diesen Bedingungen nicht vorschnell der selbstgenügsamen Esoterik zu bezichtigen. Die Unterwerfung der Literaturproduktion unter die gesellschaftliche Arbeitsteilung, wie immer diese Teilung bisher die Male der Klassenspaltung trug, war die Bedingung ihrer Entfaltung, ähnlich wie diese Art der Arbeitsteilung in der materiellen Produktion notwendig war, um — wenn auch in keineswegs linearer Weise — die verschiedenen Fertigkeiten der Produzenten und damit die 23 Georg Lukâcs, Deutsche Literatur in zwei Jahrhunderten, Neuwied und Berlin 1964, S. 376. 24 G. E. Lessing, Werke Bd. 5, ed. J. Petersen und W. v. Olshausen, Wien/Stuttgart 1925, S. 329. 25 Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEW Bd. 19, S. 216.
- Seite 2 und 3: DAS ARGUMENT Zeitschrift für Philo
- Seite 4 und 5: 208 Bernd Jürgen Warneken ist viel
- Seite 6 und 7: 210 Bernd Jürgen Warneken auch auf
- Seite 10 und 11: 214 Bernd Jürgen Warneken Produkte
- Seite 12 und 13: 216 Bernd Jürgen Warneken sammenha
- Seite 14 und 15: 218 Bernd Jürgen Warneken stands z
- Seite 16 und 17: 220 Bernd Jürgen Warneken Der Begr
- Seite 18 und 19: 222 Bernd Jürgen Warneken wie es i
- Seite 20 und 21: 224 Bernd Jürgen Warneken und Weis
- Seite 22 und 23: 226 Bernd Jürgen Warneken sehen Au
- Seite 24 und 25: 228 Bernd Jürgen Warneken tion z.
- Seite 26 und 27: 230 Bernd Jürgen Warneken Da die g
- Seite 28 und 29: 232 Bernd Jürgen Warneken Empirism
- Seite 30 und 31: 234 Gunter Giesenfeld nungsform, so
- Seite 32 und 33: 236 Gunter Giesenfeld tion wichtig,
- Seite 34 und 35: 238 Gunter Giesenfeld Wenn also auc
- Seite 36 und 37: 240 Gunter Giesenfeld gesetzte, von
- Seite 38 und 39: 242 Gunter Giesenfeld Erkenntnis di
- Seite 40 und 41: 244 Gerhard Voigt Studentenbewegung
- Seite 42 und 43: 246 Gerhard Voigt heit emporarbeite
- Seite 44 und 45: 248 Gerhard Voigt Erfahrungsbereich
- Seite 46 und 47: 250 Gerhard Voigt Parteinahme gegen
- Seite 48 und 49: 252 Gerhard Voigt der konservativen
- Seite 50 und 51: 254 Gerhard Voigt Kulturkritik und
- Seite 52 und 53: 256 Gerhard Voigt die „Umwälzung
- Seite 54 und 55: 258 Chup Friemert Das Amt „Schön
- Seite 56 und 57: 260 Chup Friemert gabengebiet gehö
212 Bernd Jürgen Warneken<br />
funden, die auf die bekannte Passage der Deutschen Ideologie über<br />
Raffael vorwegdeuten 80 .<br />
Literatur kann „die objektive Realität in dem Umfang und in der<br />
Tiefe widerspiegeln, wie es der Grad der Beherrschung der Natur<br />
und die Formen des gesellschaftlichen Verkehrs erlauben 20 ®". Freilich<br />
kann es einer materialistischen <strong>Theorie</strong> nicht darum gehen, jeden<br />
Schritt einer solchen Materialentwicklung aus einzelnen Einwirkungen<br />
der materiellen Basis zu erklären; der Fortgang der Kunst und<br />
Literatur ist vielmehr die Resultante einer Wechselwirkung von<br />
materieller und ästhetischer Produktionsweise, ungleichen Kräften<br />
innerhalb des einen gesellschaftlichen Zusammenhangs, in dem sich<br />
• aufgrund von Arbeitsteilung eine relative Selbstbewegung der künstlerischen<br />
Produktion herausgebildet hat 21 . Wenn Literatur auch<br />
Momente immanenter Fortentwicklung aufgrund von Materialwidersprüchen<br />
und überhaupt einen inneren Problemzusammenhang<br />
kennt, so folgt sie doch auch dann der gesellschaftlichen Bewegung,<br />
die sich in ihren Produktivkräften niedergeschlagen hat: Kunst „entfaltet<br />
sich nach ihrem eigenen Gesetz, einem insgeheim gesellschaftlichen,<br />
und wiederum nicht nur nach diesem, sondern wird [...]<br />
selber durch gesellschaftliche Kraftfelder bewegt [...] 22 ".<br />
Als Beispiel einer solchen latenten Koinzidenz sei die Entstehung<br />
integralen Gestaltens genannt: „Je einheitlicher die bürgerliche<br />
Gesellschaft ökonomisch wird", schreibt Lukâcs über einen Aspekt<br />
dieser Entwicklung, „je mehr der Kapitalismus das ganze Leben der<br />
Gesellschaft durchdringt, desto einheitlicher wird der Roman. Die<br />
alten Romane waren mehr oder weniger lose Bündel von Abenteuern,<br />
oft sogar von aneinandergeknüpften novellistischen Begebenheiten,<br />
die von der Einheit der Hauptfiguren und von der des<br />
Zentralproblems zusammengehalten wurden. Erst wenn die einheitliche<br />
Gesetzlichkeit des gesellschaftlichen Seins so klar zutage tritt,<br />
daß jeder in den gewöhnlichsten Ereignissen seines Alltagslebens auf<br />
sie stoßen muß, entsteht jene dichterische Widerspiegelung, die sich<br />
20 Cf. J. W. Goethe, Literarischer Sansculottismus, a.a.O., S. 340 f.,<br />
MEW Bd. 3, S. 378 f.<br />
20a Autorenkollektiv, Zum Verhältnis von Ökonomie, Politik und<br />
Literatur im Klassenkampf. Berlin 1971, S. 103.<br />
21 „Jede Ideologie", sagt Engels, „entwickelt sich aber, sobald sie<br />
einmal vorhanden, im Anschluß an den gegebenen Vorstellungsstoff, bildet<br />
ihn weiter aus" (MEW Bd. 21, S. 303). Für die Kunst erwähnte Adorno<br />
als einen wesentlichen Grund verhältnismäßiger Eigengesetzlichkeit: „Weil<br />
die Kunst als einen Bereich sui generis sich konstituiert, kann sie auf Einheit<br />
nicht verzichten, sich der Anstrengung, ihre Gebilde durchzubilden,<br />
nicht entziehen" (Th. W. Adorno, Vorlesungen zur Ästhetik im WS 1968/69,<br />
unautorisierter Druck nach einer Tonbandaufzeichnung, S. 83). <strong>Das</strong> korrespondiert<br />
Engels' Bemerkung über das Recht, das „nicht nur der allgemeinen<br />
ökonomischen Lage entsprechen (muß), ihr Ausdruck sein, sondern<br />
auch ein in sich zusammenhängender Ausdruck, der sich nicht durch<br />
innere Widersprüche selbst ins Gesicht schlägt" (MEW Bd. 37, S. 491).<br />
22 Th. W. Adorno, Ideen zur Musiksoziologie, in: ders., Klangfiguren,<br />
Frankfurt/M. 1959, S. 26.