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Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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280 Michael Neriich<br />

nicht unwichtigen Beitrag zur ideologischen Vorbereitung des Dritten<br />

Reiches geleistet hat, wurde zwar von Victor Klemperer bereits<br />

eindrucksvoll dargestellt, in der BRD jedoch mit Schweigen übergangen<br />

1S .<br />

Die platteste Form der „Geister"-Kunde war die, die den „französischen<br />

Geist" auf einen Nenner brachte: Rationalität, Klarheit,<br />

Seichtigkeit des Gemüts und Mangel an Phantasie. Deutsch war das<br />

Gegenteil. Die Forschung aber, deren Ziel es war, „eben Gesamtkenntnis<br />

vom Wesen des Nachbarvolkes [zu] übermitteln" 14 , versteifte<br />

sich in Ermangelung eines wissenschaftlich nachprüfbaren<br />

Bezugssystems auf die stereotype Wiederholung der Klischees und<br />

schlug, da die Franzosen auf den Versuch, doch endlich selbst zu Germanen<br />

zu werden, absolut nicht eingehen wollten, in ihr ursprünglich<br />

fremde Ziele, ja, in ihr Gegenteil um. Statt Ausgleich suchte man<br />

nun die Abgrenzung, von der Eduard Wechßlers Prachtschinken<br />

Esprit und Geist. Versuch einer Wesenskunde des Deutschen und des<br />

Franzosen (Bielefeld/Leipzig 1927) das eindrucksvollste und naivste<br />

Zeugnis ablegt. Wechßler hatte den welschen Charakter des Franzosen<br />

durchschaut: der <strong>Berliner</strong> Ordinarius stellte ihm den deutschen<br />

gegenüber. Um den Wert dieses Unternehmens einzuschätzen, genügt<br />

es, die Kapitelüberschriften zu studieren: „Le besoin d'émotions<br />

et de sensations: l'impressionisme national — Die deutsche Einfühlung<br />

// L'ordre et le style — Deutsches Naturgefühl II L'horreur de<br />

l'infini — Unser Drang ins Unendliche II La vie sociale et sociable:<br />

le courtisan et le bourgeois — <strong>Das</strong> deutsche Eigendasein und Eigenrecht:<br />

Grundherr und Bauer II La joie de vivre et la sérénité —<br />

Ernsthaftigkeit des Deutschen II La curiosité pour les nouveautés;<br />

et l'ennui — Unsere Treue zum Alten // [usw., usf.]."<br />

3. Der europäische Geist<br />

„Wer das wahre, das lebende, das neue Frankreich erkennen will",<br />

spottete Victor Klemperer bereits 1925, „der muß auf seine großen<br />

neuromantischen Dichter, die Verlaine und Rimbaud, die Claudel<br />

und Duhamel und Romains hören und ihnen ablauschen, wie sich das<br />

statische Wesen in ein dynamisches, das plastische in ein musikalisches,<br />

ja beinahe das französische in ein deutsches verwandelt hat 15 ".<br />

Der Hauptvertreter dieser Forschungsrichtung, die im französischen<br />

Nachbarn den deutschen Michel erkennen wollte, mit dem man<br />

sich dann leicht hätte verbrüdern können, war Ernst Robert Curtius,<br />

gegen den sich wohl auch Klemperers Spott richtete. Curtius freilich<br />

gab vor, der deutschen und französischen Nachkriegsjugend etwas<br />

ganz Neues zu bieten: statt des „nationalen Geistes", der soviel Unheil<br />

angerichtet hatte, sollte es nun der „europäische Geist" sein, den<br />

er mit viel Pathos in seinem Buch Die literarischen Wegbereiter des<br />

14 V. Klemperer, Die neueste französische Literatur und die deutsche<br />

Schule, in: Die moderne französische Literatur und die deutsche Schule,<br />

Leipzig/Berlin 1925, 61—97, 91.<br />

15 Ib. 65.

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