Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Romanistik und Anti-Kommunismus 277<br />
Vergessens wachsen ließ, das allgemein unter der Bezeichnung „Bewältigung<br />
der Vergangenheit" in der BRD geschätzt wird. Den jüdischen<br />
Gelehrten, die im Nazi-Reich blieben, ging es noch schlechter<br />
als den verjagten: Victor Klemperer mußte als rechtloser Hilfsarbeiter<br />
in die Fabrik, wurde geschlagen und gedemütigt und entkam<br />
den Henkern wie durch ein Wunder, und Elise Richter, die<br />
Wiener Romanistin, die es zwar zu Weltruhm, als Frau und Jüdin<br />
jedoch nie bis zur „Lehrkanzel" hatte bringen dürfen, wurde in<br />
Theresienstadt ermordet 8 .<br />
Daß diese Vertreter der reichsdeutschen Romanistik sich, mit den<br />
Nationalsozialisten nicht verbrüderten, ist selbstverständlich; daß die<br />
bundesrepublikanischen Vertreter des Faches die Integrität ihrer<br />
jüdischen Kollegen post festum als Pauschalverdienst der deutschen<br />
Romanistik ganz allgemein verbuchten, ist es eigentlich — bei näherer<br />
Kenntnis dieser bundesrepublikanischen Gelehrten — auch. In<br />
Wahrheit allerdings haben sich die „arischen" Vertreter der reichsdeutschen<br />
Romanistik mit der einen Ausnahme des Privatdozenten<br />
(!) Werner Krauss, der von den Nazis wegen aktiven Widerstandes<br />
gegen das Hitlerregime zum Tode verurteilt wurde, der gerettet werden<br />
konnte und dessen Verhalten jedem jungen bundesrepublikanischen<br />
Romanisten Verpflichtung und Ansporn sein müßte (und vielleicht<br />
auch wäre, würde Werner Krauss nicht auf alle möglichen<br />
subtilen und nicht subtilen Arten und Weisen, die eine eigene Untersuchung<br />
lohnten, verunglimpft) 4 nicht besser verhalten als die Vertreter<br />
anderer Wissenschaften auch. Wenn auch einige Romanisten<br />
sich „a-politisch" verhielten, so ließen es sich andere, übrigens auch<br />
namhafte, nicht nehmen, sich anzupassen, „gleichzuschalten" und sogar<br />
in Wort und Tat enragierte und engagierte Nazis zu sein, von<br />
Montaignes „jüdischem" und Barrés' „germanischem Geist" zu salbadern<br />
und in die Emigration gejagte Kollegen, um deren Forschungsleistungen<br />
sie sich nicht herummogeln konnten, ausschließlich mit<br />
dem Epitheton „jüdisch" zu zitieren. Der eine oder der andere dieser<br />
nationalsozialistischen Romanisten (nicht etwa alle) wurde im westlichen<br />
Teil Deutschlands nach dem Krieg (wenn es sich gar nicht vermeiden<br />
ließ und möglichst nur vorübergehend) amtsenthoben, und<br />
<strong>für</strong> die Stumpfsinnigsten unter ihnen war immer noch ein Plätzchen<br />
frei in Spanien oder in Südamerika.<br />
<strong>Das</strong> Alibi der Romanistik erweist sich bei näherer Betrachtung als<br />
außerordentlich fragwürdig, zumal mit ihm insgeheim zu verstehen<br />
gegeben wird, daß es in der Sache, der Romanistik selbst liegt, daß<br />
die, die sich mit ihr beschäftigen, gegen die berühmten „Versuchun-<br />
3 Daß sich heute in Wien nicht nur die Studenten nicht einmal des<br />
Namens von Elise Richter mehr entsinnen, hat nichts Überraschendes:<br />
eine Gedenktafel mit ihrem Namen wurde aus „Diskretion" erst gar nicht<br />
in der Universität angebracht.<br />
4 Cf. zu Werner Krauss: K. Barck/M. Naumann/W. Schröder, Literatur<br />
und Gesellschaft. Zur literaturwissenschaftlichen Position von Werner<br />
Krauss, in: Positionen. Beiträge zur marxistischen Literaturwissenschaft in<br />
der DDR, Bibliothek Reclam, Bd. 482, Leipzig 1969, 555—605; 667—688.