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Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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Michael Neriich<br />

Romanistik und Anti-Kommunismus<br />

1. Anpassung, Vertreibung, Widerstand<br />

Es ist merkwürdig, wie wenig in den piskussionen über das, was<br />

ehedem „Geisteswissenschaften" genannt wurde, im Gegensatz zur<br />

Germanistik von Anglistik und Romanistik die Rede ist, obwohl immer<br />

mehr Lehrer in diesen Fächern, die man seit langem bereits<br />

unter die sogenannten Massenfächer rechnet, benötigt und mehr<br />

schlecht als recht ausgebildet werden, und obwohl nur antiquierte<br />

Vorurteile von einer größeren Bedeutung der Germanistik sprechen<br />

lassen könnten 1 . Schuld an diesem Schweigen über Anglistik und<br />

Romanistik, von der hier die Rede sein soll, ist vor allem die Vergangenheit<br />

der Germanistik. Die Romanistik besonders hat es sich im<br />

Vergangenheits-Windschatten der Germanistik bequem gemacht,<br />

und die Vertreter dieses Faches pochen bei Bedarf darauf, daß es<br />

von der berüchtigten „Nazi-Pest" so gut wie nicht befallen worden<br />

sei 2 . Diese <strong>Argument</strong>ation hat länger standgehalten, als sie <strong>kritische</strong>r<br />

Überlegung hätte standhalten dürfen.<br />

Die Romanistik hatte das „Glück", daß eine Reihe ihrer bedeutendsten<br />

Vertreter (u. a. Auerbach, Ulrich Leo, H. Hatzfeld, Leo<br />

Spitzer) Juden waren, die von den Nazis vertrieben wurden und dadurch<br />

Platz machen mußten <strong>für</strong> nazi-genehmes Mittelmaß und Unbedeutendes,<br />

über das man nach dem Krieg schnell das Gras des<br />

1 Wie derartige Vorurteile sich audi noch in der (allerdings sehr müden)<br />

Selbstkritik der Germanistik tradieren (cf. vor allem Germanistik —<br />

eine deutsche Wissenschaft. Beiträge von E. Lämmert, W. Killy. K. O.<br />

Conrady, P. von Polenz, edition suhrkamp, Bd. 204, Frankfurt/M. 1967),<br />

analysiert W. F. Haug in Der hilflose Antifaschismus, edition suhrkamp,<br />

Bd. 236, Frankfurt/M. 21968 (cf. auch P.-G. Völker, Die inhumane Praxis<br />

einer bürgerlichen Wissenschaft. Zur Methodengeschichte der Germanistik,<br />

<strong>Das</strong> <strong>Argument</strong>, Heft 49, 1968, 431—454). Daß sich, läßt man die Fach-<br />

Apologeten der Germanistik beiseite, irrationale Vorurteile noch an den<br />

unerwartetsten Stellen finden, sollte im Interesse einer gründlichen Diskussion<br />

nicht verschwiegen werden. So liest man in dem sonst sehr<br />

bedenkenswerten Aufsatz von Kaspar Maase Germanistik — völkisch oder<br />

<strong>für</strong> das Volk? (kürbiskern 1970, Heft 2, 270—289, 271) „... sicher ist die<br />

.Sensibilität' <strong>für</strong> die im Imperialismus alltägliche Verletzung humaner<br />

Werte bei den Studenten der deutschen Literatur überdurchschnittlich<br />

entwickelt". Eine derartige Behauptung gehört eindeutig in den Marcuseinspirierten<br />

Bereich neuer „Mythen"-Bildung: mit ihr enthebt man sich<br />

der Mühe exakter Analysen von Klasseninteressen. Steigert die Lektüre<br />

Rükes etwa die Sensibüität mehr als die Lektüre Aragons?<br />

2 Cf. z. B. H. R. Jauß, Paradigmawechsel in der Literaturwissenschaft,<br />

Linguistische Berichte, 1969, Heft 3, 44—56, 51.

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