Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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252 Gerhard Voigt der konservativen Westberliner Tageszeitung „Der Tagesspiegel", die Einheitsfrontpolitik auf das schärfste bekämpfte. Was Lethen aber Harich hauptsächlich vorwirft, ist, er habe nicht begriffen, daß Reger schon im Roman „den Zynismus des Liberalen" (88) offenbart habe. Diese Kritik geht deshalb an Harichs Zielsetzung vorbei, weil hier eine abstrakt richtige Einschätzung der Position Regers gegen die politische Anwendung partieller Einsichten seines Romans innerhalb des Bürgertums ausgespielt wird. Wo Harich durch den gewissen Grad an Information, den Regers Buch hat, eine politisierende Wirkung gerade bei solchen Lesern erzielen wollte, die eine sozialistische Darstellung nicht in die Hand nahmen, geht es Lethen darum, festzuhalten, daß es „desorganisierend" wirke, weil ihm die Parteinahme fürs Proletariat fehlt. Ähnlich wird Erich Kästner kritisiert, der im „Fabian" (1931) u. a. einen Ingenieur auf der Flucht vor der Gesellschaft zeigt, der erkannt hat, „daß in dieser Gesellschaft technische Vernunft tendenziell mit kapitalistischer Ratio identisch ist" (154), und dessen Titelfigur „einzig den Blick darauf gebannt [hat], welche Wunden der Kapitalismus ihm schlägt" (143). „Kästner rettet sich aus der Schere, die Notwendigkeit liberaler Ideen zu behaupten und zugleich den Fortfall einer Öffentlichkeit, in der diese Ideen mächtig werden könnten, konstatieren zu müssen, indem er sich mit dem ,tragischen Bewußtsein' von der Unmöglichkeit moralischen Existierens im Spätkapitalismus salviert. Den Gedanken an die Möglichkeit der Herstellung dieser Öffentlichkeit mit revolutionärer Gewalt versagt er sich" (153). So zutreffend die Beobachtung ist, daß Kästner kein Sozialist war und ist, so wird sie doch so akzentuiert, daß das Zugeständnis, Kästner sei auch kein Apologet des Kapitals, nahezu verschwindet. Die Schärfe, mit der Lethen gegen die „desillusionierte Haltung, die sich als .Aufgeklärtheit' ausgab" (23), vorgeht, erklärt er damit, daß „in der desillusionierten Haltung [die Intellektuellen] glaubten, ... die Selbstmächtigkeit des Subjekts gerettet" (100) zu haben. Das habe zur politischen Folge gehabt, daß „in dem Augenblick, wo es für die bürgerlichen Intellektuellen darauf ankam, eine Allianz zu schließen mit der Produktivkraft Proletariat, sie sich von der .Schönheit' der gefesselten Produktivkraft Technik ablenken" ließen (63). Was Lethen demgegenüber verlangt, ist das „Überlaufen" der avanciertesten Teile der bürgerlichen Intelligenz zur Arbeiterklasse, ihr „Hineingehen in die Masse". Angesichts der Tatsache, daß dies nicht geschah, verschwinden ihm „die Widersprüche im Lager der Bourgeoisie und deren Symptome in der Neuen Sachlichkeit", deren Ignorierung er Lukâcs noch vorwarf (4). Die Enttäuschung darüber, daß die Intellektuellen nicht überliefen, wiewohl diese Enttäuschung selbst Ergebnis der polaren Konstruktion ist, die nur klassenbewußtes Proletariat und zynische bürgerliche Intellektuelle kennt, bestärkt Lethen in dieser Konstruktion. Betont er noch gegen Horkheimer die Notwendigkeit der Liberalen-Agitation (vgl. 101), so schrumpft die bündnispolitische Perspektive, wie aus seiner Inter-
Sachlichkeit und Industrie 253 pretation neusachlicher Romane schon zu ersehen, schließlich auf den dezisionistischen Sprung des Intellektuellen ins Proletariat. Waren Blochs Erwägungen damit kurz abgewiesen worden, daß er „die .schlummernden Potenzen' der Menschheit in die mittelständischen Massen hineinontologisiert [habe], um mit einem derart konstruierten, illusionären Subjekt ein Bündnis zu schließen" (113), so wird Brechts Technik des „soziologischen Experiments" im „Drei-* groschenprozeß" als „Prozeß mit den Illusionen des Liberalismus" (114), als Prozeß Brechts selbst „mit seinen liberalen Illusionen" (118) dargestellt. „Brecht behandelt die Bourgeoisie [dabei] nicht als einheitlich reaktionäre Masse, sondern er drängt darauf, die Widersprüche im Lager der Bourgeoisie zu verschärfen, die Widersprüche der Praxis der Disziplinierungsorgane des Staates zu den noch nicht restlos aufgehobenen Verfassungsgarantien agitatorisch auszubeuten" (ebd.). Ausgenutzt werden zur „Politisierung der Intelligenz" (ebd.) sollen „die Widersprüche des kapitalistischen Bürgertums auf der Plattform einer staatlichen Institution vor der Öffentlichkeit der Republik" (117). Hinter dieser Methode, die demokratischen Elemente bei bürgerlichen Intellektuellen wenigstens zur Verteidigung der Republik vor dem Faschismus zu mobilisieren, „verbarg sich", wie Lethen an anderer Stelle 27 ausführt, „die Hoffnung auf das Eingreifen einer Instanz . . . . die angesichts der dargestellten Kluft zwischen Verfassungswirklichkeit und republikanischer Verfassung einschreiten müßte" (101). Kann er diese Illusion über den bürgerlichkapitalistischen Staat auch Brecht nicht direkt anlasten, so bezeichnet es Lethen als Brechts Fehleinschätzung, „nicht mit der melancholischen Verfassung linksliberaler Intellektueller gerechnet zu haben" (118). Brecht habe sich nicht vorstellen können, daß der Widerspruch zwischen demokratischen Idealen der Intellektuellen und antidemokratischer Praxis des Staates anders als revolutionär aufgehoben werden könne. „Daß sich die Liquidation faschistisch vollzog . . . , macht auf die Grenzen von Brechts Strategie aufmerksam" (126). Brecht scheine „der Großbourgeoisie einen so .dreckigen' Verrat ihrer klassischen .Idealität' nicht zugetraut zu haben" (126). Seinem Versuch der politischen Mobilisierung des demokratischen Anspruchs bürgerlicher Intellektueller wird Brecht von Lethen entgegenhalten, den Faschismus falsch eingeschätzt und im Prinzip falsch bekämpft zu haben. Das verweist darauf, daß generell in Lethens Buch der Eintritt der Herrschaft des Faschismus in Deutschland als weiterer Beleg dafür fungiert, daß bürgerliche Aufklärung über den Kapitalismus, von bürgerlicher Apologie nur graduell, in ihren politischen Folgen überhaupt nicht unterschieden sei, ja daß diese aufklärerische Haltung gefährlicher als die konservative sei, weil sie das schlechte Gewissen der Intellektuellen salviere, statt sie dem Proletariat oder der offenen Reaktion zuzutreiben. „Die emphatische Bejahung des ,Amerikanismus' begriff sich zwar als Widerspruch, zur obsoleten 27 Bei der Einschätzung von Dokumentarstücken.
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252 Gerhard Voigt<br />
der konservativen Westberliner Tageszeitung „Der Tagesspiegel",<br />
die Einheitsfrontpolitik auf das schärfste bekämpfte. Was Lethen<br />
aber Harich hauptsächlich vorwirft, ist, er habe nicht begriffen, daß<br />
Reger schon im Roman „den Zynismus des Liberalen" (88) offenbart<br />
habe. Diese Kritik geht deshalb an Harichs Zielsetzung vorbei, weil<br />
hier eine abstrakt richtige Einschätzung der Position Regers gegen<br />
die politische Anwendung partieller Einsichten seines Romans innerhalb<br />
des Bürgertums ausgespielt wird. Wo Harich durch den gewissen<br />
Grad an Information, den Regers Buch hat, eine politisierende<br />
Wirkung gerade bei solchen Lesern erzielen wollte, die eine sozialistische<br />
Darstellung nicht in die Hand nahmen, geht es Lethen darum,<br />
festzuhalten, daß es „desorganisierend" wirke, weil ihm die Parteinahme<br />
<strong>für</strong>s Proletariat fehlt.<br />
Ähnlich wird Erich Kästner kritisiert, der im „Fabian" (1931) u. a.<br />
einen Ingenieur auf der Flucht vor der Gesellschaft zeigt, der erkannt<br />
hat, „daß in dieser Gesellschaft technische Vernunft tendenziell<br />
mit kapitalistischer Ratio identisch ist" (154), und dessen Titelfigur<br />
„einzig den Blick darauf gebannt [hat], welche Wunden der<br />
Kapitalismus ihm schlägt" (143). „Kästner rettet sich aus der Schere,<br />
die Notwendigkeit liberaler Ideen zu behaupten und zugleich den<br />
Fortfall einer Öffentlichkeit, in der diese Ideen mächtig werden<br />
könnten, konstatieren zu müssen, indem er sich mit dem ,tragischen<br />
Bewußtsein' von der Unmöglichkeit moralischen Existierens im Spätkapitalismus<br />
salviert. Den Gedanken an die Möglichkeit der Herstellung<br />
dieser Öffentlichkeit mit revolutionärer Gewalt versagt er<br />
sich" (153). So zutreffend die Beobachtung ist, daß Kästner kein<br />
Sozialist war und ist, so wird sie doch so akzentuiert, daß das Zugeständnis,<br />
Kästner sei auch kein Apologet des Kapitals, nahezu<br />
verschwindet.<br />
Die Schärfe, mit der Lethen gegen die „desillusionierte Haltung,<br />
die sich als .Aufgeklärtheit' ausgab" (23), vorgeht, erklärt er damit,<br />
daß „in der desillusionierten Haltung [die Intellektuellen] glaubten,<br />
... die Selbstmächtigkeit des Subjekts gerettet" (100) zu haben. <strong>Das</strong><br />
habe zur politischen Folge gehabt, daß „in dem Augenblick, wo es <strong>für</strong><br />
die bürgerlichen Intellektuellen darauf ankam, eine Allianz zu<br />
schließen mit der Produktivkraft Proletariat, sie sich von der .Schönheit'<br />
der gefesselten Produktivkraft Technik ablenken" ließen (63).<br />
Was Lethen demgegenüber verlangt, ist das „Überlaufen" der avanciertesten<br />
Teile der bürgerlichen Intelligenz zur Arbeiterklasse, ihr<br />
„Hineingehen in die Masse". Angesichts der Tatsache, daß dies nicht<br />
geschah, verschwinden ihm „die Widersprüche im Lager der Bourgeoisie<br />
und deren Symptome in der Neuen Sachlichkeit", deren<br />
Ignorierung er Lukâcs noch vorwarf (4). Die Enttäuschung darüber,<br />
daß die Intellektuellen nicht überliefen, wiewohl diese Enttäuschung<br />
selbst Ergebnis der polaren Konstruktion ist, die nur klassenbewußtes<br />
Proletariat und zynische bürgerliche Intellektuelle kennt, bestärkt<br />
Lethen in dieser Konstruktion. Betont er noch gegen Horkheimer<br />
die Notwendigkeit der Liberalen-Agitation (vgl. 101), so<br />
schrumpft die bündnispolitische Perspektive, wie aus seiner Inter-