Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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250 Gerhard Voigt<br />
Parteinahme gegenüber dem bürgerlichen Klassenstaat oder die<br />
Rückkehr zur Ignorierung und reaktionär verklärenden Übermalung<br />
dieser Realität. Der Versuch, zwischen diesen Polen mehr<br />
oder minder stark pendelnd eine Balance zu halten, charakterisiert<br />
die Stellung der Neuen Sachlichkeit innerhalb realistischer Kunst<br />
und läßt sie geradezu als eine der Politik der Sozialdemokratie<br />
adäquate Kunst erscheinen.<br />
*<br />
In seinen Studien zur Literatur der Neuen Sachlichkeit arbeitet<br />
Helmut Lethen die .„Sachlichkeit' als herrschende Kategorie im<br />
liberalen Selbstverständnis der .modernen Industriegesellschaft'" (8)<br />
heraus. Folgt man seiner Darstellung, aus der seine Wertung kaum<br />
herauszulösen ist, so bezeichnet in der Kulturphilosophie der Zeit<br />
„der Begriff .Sachlichkeit' entweder die bedingungslose Unterwerfung<br />
unter die .herrschende Tendenz' der industriellen Rationalisierung<br />
oder gerade den Abscheu vor dieser Tendenz, der fetischisiert<br />
als das .Schicksal' begriffen wurde, dem nur ein starker Staat Einhalt<br />
gebieten könne" (13); letzteres bezeichnet dabei die Position der konservativen<br />
Kulturkritik, ersteres eine fortgeschrittenere Rezeption M .<br />
Generell gilt Lethens Buch der Analyse des literarischen Niederschlags<br />
dieser fortgeschritteneren Position.<br />
Lethen faßt diesen Fortschritt als die verbesserte Anpassung an<br />
den Entwicklungsstand der Produktivkräfte im Kapitalismus, die<br />
Vertreter der Neuen Sachlichkeit als Be<strong>für</strong>worter eines auf der<br />
Höhe der technischen und organisatorischen Möglichkeiten stehenden,<br />
„gleichzeitigen" Kapitalismus, ihren „Amerikanismus", „Fordismus"<br />
und „Technikkult" als systemimmanente Kritik an den „ungleichzeitigen"<br />
deutschen Verhältnissen. Sachlichkeit beschreibt er<br />
als intellektuelle Moden einer liberalen Intelligenz, die „den direkten<br />
Zugriff kapitalistischer Rationalisierung auf die traditionellen<br />
Reservate der Kultur" <strong>für</strong>chtend dem „weißen Sozialismus" zur<br />
Stabilisierung eines weitest fortgeschrittenen Kapitalismus huldigten<br />
als der „modernsten kulturellen Montur des Kapitalismus" (4). Ihre<br />
gesellschaftliche Basis hätte diese Mode in der „mächtigen Illusion<br />
der Stabilisierungsphase von der sich selbst regulierenden Wirtschaft,<br />
der widerspruchsfreien Technokratie und dem Staat als Garanten<br />
der Verfassungsansprüche" (140).<br />
Die Entsprechung der Neuen Sachlichkeit zum Monopolkapitalismus<br />
in Deutschland ist evident. Neben den von Lethen benannten<br />
Beispielen kann auch auf die direkter zwischen Kunst und Kapitalverwertung<br />
vermittelnde Sphäre der Werbung verwiesen werden.<br />
Hans Domizlaff etwa, einer der ersten Theoretiker wie Praktiker<br />
der Markenartikel-Werbung in Deutschland, stellte zur selben Zeit<br />
die Sachlichkeit der Werbung statt „marktschreierischer Über-<br />
22 Die beiden Positionen sind an der Zitatstelle auf E. R. Curtius und<br />
K. Mannheim bezogen.