Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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30.01.2013 Aufrufe

244 Gerhard Voigt Studentenbewegung und dem Beginn der Kenntnisnahme der gesellschaftlichen Realität der DDR zusammenfällt, so liegt es nahe, das Interesse an der Neuen Sachlichkeit als Ausdruck des Wandels der BRD vom CDUrStaat zu dem der Sozialdemokratie zu interpretieren. War zu Zeiten Adenauers noch die idealistisch-unpolitische „Oh- Mensch"-Begeisterung das kulturelle Pendant der Politik, so scheint jetzt die „sachliche" Kenntnisnahme der Realität angemessen. Aber auch ein Gemeinsames ist schnell aufzufinden: Schon in der Phrase von den goldenen zwanziger Jahren ist in der BRD die Lage und Entwicklung der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen, besonders der KPD, in der Weimarer Republik verschwiegen worden. Die Kenntnisnahme der Neuen Sachlichkeit als einer realistischen Kunst, die in der DDR von Beginn an in die Tradition des Sozialistischen Realismus würdigend eingereiht wurde, wirft die Frage nach dem Zusammenhang von Realismus und Sozialismus und damit auch nach der Arbeiterbewegung selbst erneut auf. In der BRD, wo der Expressionismus und die gegenstandslose Kunst als Fortschritt gegen den veralteten Realismus gefeiert wurde, verfälscht oder unterschlägt man nach wie vor beides. Die Absicht Wieland Schmieds®, der hier stellvertretend für die überwiegende Mehrzahl der mit der Neuen Sachlichkeit befaßten Wissenschaftler behandelt wird, ist es offensichtlich aus diesem Grund nicht, die Neue Sachlichkeit aus der Vergessenheit, in der sie in der BRD war, nachdrücklich zu befreien. Die Neue Sachlichkeit, verstanden als „der neue Realismus, [der] sich Anfang der zwanziger Jahre allgemein durchsetzte" (5), konstatiert er, „steht heute wieder zur Diskussion" (ebd.), und da Schmied nicht ableugnen kann, daß dazu auch Kunstäußerungen gehören, die für die Arbeiterklasse Partei nehmen, liegt ihm vor allem daran, daß die Neue Sachlichkeit nicht „überbewertet wird" (ebd.). Seine Arbeit ist von der Mühe geprägt, Interpretationswege zu bahnen, die ihre politisch unschädliche Rezeption ermöglichen. Die Arbeit Helmut Lethens liegt auf einer anderen Ebene. Sie ist einmal um die Durchsetzung und genauere Bestimmung des Begriffs der Neuen Sachlichkeit in der Literaturwissenschaft bemüht, weiter aber ist ihre Argumentation schon als Reaktion auf Darstellungen Schmiedscher Provenienz zu verstehen 8 . Lethen geht bereits von einem sehr viel spezifischeren Begriff der Neuen Sachlichkeit aus, die er als Ausdruck des „liberalen Selbstverständnisses der Industriegesellschaft" (7) faßt. Mit der Herausarbeitung dieses Zusammenhangs ist für Lethen auch das vernichtende Urteil über die Neue Sachlichkeit gesprochen. » • 5 Schmied ist Leiter der Kestner-Gesellschaft, Hannover, und einer der einflußreichsten Kunst-Verwalter in der BRD. 6 Lethen geht dazu vor allem auf die Arbeiten Horst Denklers ein; vgl. Lethen, S. 2, Fn. 7.

Sachlichkeit und Industrie 245 „Es liegt mir daran, repräsentative Werke derjenigen Künstler zu vereinigen, die in den letzten zehn Jahren weder impressionistisch aufgelöst noch expressionistisch abstrakt, weder rein sinnenhaft äußerlich noch rein konstruktiv innerlich gewesen sind. Diejenigen Künstler möchte ich zeigen, die der positiven greifbaren Wirklichkeit mit einem bekennerischem Zuge treu geblieben oder wieder treu geworden sind 7 ." Mit diesen Worten umriß 1923 G. F. Hartlaub das Programm einer in der Kunsthalle Mannheim geplanten Ausstellung, der er 1925 den Titel „Neue Sachlichkeit" gab. Sehr viel präziser kann auch Schmied das Gemeinsame dieser Künstler nicht benennen. Die Gliederung in die zwei Flügel Verismus und Klassizismus scheint ihm ebenso ungenügend wie die, die sein Titel angibt: Neue Sachlichkeit und Magischer Realismus 8 . Er schlägt dagegen eine Gliederung in fünf Gruppen vor (Verismus, politisch engagierter Realismus, Konstruktivismus, Klassizismus, poetischer Realismus; vgl. 31) und versucht diese Gruppen durch fünf charakteristische Momente zusammenzuhalten: Nüchternheit des Blicks, Richtung auf das Alltägliche, statischer Bildaufbau, Austilgung der Spuren des Malprozesses und „eine neue geistige Auseinandersetzung mit der Dingwelt" (vgl. 26). Im übrigen handele es sich um einen „Zeitstil" (12), doch erscheint die Epoche, mit deren Geist die Malerei der Neuen Sachlichkeit unlösbar verknüpft sei, im Text lediglich als beziehungslose Ansammlung merkwürdiger Ereignisse, wovon fünf Zeilen „Inflation, Arbeitslosigkeit und gesellschaftlichem Unrecht" gewidmet sind (vgl. 11 f.), zehn Seiten sich mit der europäischen und nordamerikanischen Kunstentwicklung befassen (vgl. 15—24). Dieser Zeitstil wird als einer beschrieben, dessen Themen „in radikalem Maße der modernen Zivilisationsumwelt, dem alltäglichen Lebensbereich entnommen" (25) seien und der den „Traum einer von allen Kämpfen der Klassen,... Verzweiflung der Menschen, Untergängen des Abendlandes unberührten und unberührbaren Natur" (12) träume. Fügt man noch Beschreibungen hinzu wie „Faszination von der Realität" (11), „Gehalt an Wirklichkeit bis zum äußersten Grad an Sättigung" (ebd.), „nüchterne Grundhaltung" (26), „kühler Feststellungswille" (ebd.), so sind zwar die üblichen Reizwörter gefallen, aber es kann von nicht sehr viel mehr Gemeinsamem der Maler der Neuen Sachlichkeit ausgegangen werden, als daß ihre Bilder auf irgendeine Weise die reale Umwelt ihrer Zeit wiederzugeben versuchen. Das Festhalten am Gegenstand ist nicht gering zu schätzen. Die bürgerliche Ideologie „feiert die Abkehr vom Vorbild der Natur als den Gipfel einer geschichtlichen Entwicklung, innerhalb derer die Kunst sich aus allen fremden Beimischungen zu ästhetischer Rein- 7 Zit nach Schmied, S. 7. 8 Dieser Titel kombiniert einfach die Formulierung Hartlaubs mit der Franz Rohs (Nach-Expressionismus. Magischer Realismus. Probleme der neuesten europäischen Malerei, Leipzig 1925).

Sachlichkeit und Industrie 245<br />

„Es liegt mir daran, repräsentative Werke derjenigen Künstler zu<br />

vereinigen, die in den letzten zehn Jahren weder impressionistisch<br />

aufgelöst noch expressionistisch abstrakt, weder rein sinnenhaft<br />

äußerlich noch rein konstruktiv innerlich gewesen sind. Diejenigen<br />

Künstler möchte ich zeigen, die der positiven greifbaren Wirklichkeit<br />

mit einem bekennerischem Zuge treu geblieben oder wieder treu<br />

geworden sind 7 ." Mit diesen Worten umriß 1923 G. F. Hartlaub das<br />

Programm einer in der Kunsthalle Mannheim geplanten Ausstellung,<br />

der er 1925 den Titel „Neue Sachlichkeit" gab. Sehr viel präziser<br />

kann auch Schmied das Gemeinsame dieser Künstler nicht benennen.<br />

Die Gliederung in die zwei Flügel Verismus und Klassizismus scheint<br />

ihm ebenso ungenügend wie die, die sein Titel angibt: Neue Sachlichkeit<br />

und Magischer Realismus 8 . Er schlägt dagegen eine Gliederung<br />

in fünf Gruppen vor (Verismus, politisch engagierter Realismus,<br />

Konstruktivismus, Klassizismus, poetischer Realismus; vgl. 31)<br />

und versucht diese Gruppen durch fünf charakteristische Momente<br />

zusammenzuhalten: Nüchternheit des Blicks, Richtung auf das Alltägliche,<br />

statischer Bildaufbau, Austilgung der Spuren des Malprozesses<br />

und „eine neue geistige Auseinandersetzung mit der Dingwelt"<br />

(vgl. 26). Im übrigen handele es sich um einen „Zeitstil" (12),<br />

doch erscheint die Epoche, mit deren Geist die Malerei der Neuen<br />

Sachlichkeit unlösbar verknüpft sei, im Text lediglich als beziehungslose<br />

Ansammlung merkwürdiger Ereignisse, wovon fünf Zeilen<br />

„Inflation, Arbeitslosigkeit und gesellschaftlichem Unrecht" gewidmet<br />

sind (vgl. 11 f.), zehn Seiten sich mit der europäischen und<br />

nordamerikanischen Kunstentwicklung befassen (vgl. 15—24). Dieser<br />

Zeitstil wird als einer beschrieben, dessen Themen „in radikalem<br />

Maße der modernen Zivilisationsumwelt, dem alltäglichen Lebensbereich<br />

entnommen" (25) seien und der den „Traum einer von allen<br />

Kämpfen der Klassen,... Verzweiflung der Menschen, Untergängen<br />

des Abendlandes unberührten und unberührbaren Natur" (12)<br />

träume. Fügt man noch Beschreibungen hinzu wie „Faszination von<br />

der Realität" (11), „Gehalt an Wirklichkeit bis zum äußersten Grad<br />

an Sättigung" (ebd.), „nüchterne Grundhaltung" (26), „kühler Feststellungswille"<br />

(ebd.), so sind zwar die üblichen Reizwörter gefallen,<br />

aber es kann von nicht sehr viel mehr Gemeinsamem der Maler der<br />

Neuen Sachlichkeit ausgegangen werden, als daß ihre Bilder auf<br />

irgendeine Weise die reale Umwelt ihrer Zeit wiederzugeben versuchen.<br />

<strong>Das</strong> Festhalten am Gegenstand ist nicht gering zu schätzen. Die<br />

bürgerliche Ideologie „feiert die Abkehr vom Vorbild der Natur als<br />

den Gipfel einer geschichtlichen Entwicklung, innerhalb derer die<br />

Kunst sich aus allen fremden Beimischungen zu ästhetischer Rein-<br />

7 Zit nach Schmied, S. 7.<br />

8 Dieser Titel kombiniert einfach die Formulierung Hartlaubs mit der<br />

Franz Rohs (Nach-Expressionismus. Magischer Realismus. Probleme der<br />

neuesten europäischen Malerei, Leipzig 1925).

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