Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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30.01.2013 Aufrufe

242 Gunter Giesenfeld Erkenntnis dieser Zusammenhänge könnte nun die Behandlung von einzelnen Gattungen dieser Literatur auf die Behandlung der sie erzeugenden gesellschaftlichen Widersprüche übergeleitet werden, wobei die Auswahl der Gattungen zugleich die Präzisierung der sozialen Situation einer bestimmten Zielgruppe zuläßt. Wenn man bei dieser Auswahl von den realen Lesebedürfnissen, d. h. von den tatsächlich gelesenen Produkten der Trivialliteratur, ausgeht, so läßt sich durch die Behandlung der entsprechenden Literaturgattung der Erkenntnisprozeß der eigenen sozialen Situation und ihrer Widersprüche einleiten.

Gerhard Voigt Sachlichkeit und Industrie Anmerkung zu zwei Büchern über die Neue Sachlichkeit 1 243 Die Beschäftigung mit der Weimarer Republik hat in der BRD bisher überwiegend legitimierenden Charakter gehabt. Gleich, ob man die zwanziger Jahre zum goldenen Jahrzehnt des Jahrhunderts stilisierte 2 oder an Diskussionen dieser Zeit anknüpfte, immer wurde die Kontinuität von Weimar und Bonn — unter strikter Ausklammerung des Faschismus — beschworen. Allerdings ist eine auf den ersten Blick geringfügige Gewichtsverlagerung von den frühen zwanziger Jahren auf die Endphase der Weimarer Republik zu bemerken 3 . Deutlicher wird die Akzentverschiebung, drückt man sie in kunstgeschichtlichen Begriffen aus: an die Stelle des Expressionismus tritt in der allgemeinen Wertschätzung Sa immer deutlicher die Kunst der Neuen Sachlichkeit 4 . Dabei bezeichnet das Etikett der Neuen Sachlichkeit (auch Neorealismus, Neoklassizismus o. ä.) erst einmal alle realistische Kunst der Weimarer Republik. Dem seit etwa 1960 verfolgbaren Interesse an der Neuen Sachlichkeit entspricht ihre inzwischen ganz offensichtlich gewordene Wirkung auf zeitgenössische Kunstströmungen, die mehr schlecht als recht unter dem Titel Neuer Realismus zusammengefaßt werden. Vergegenwärtigt man sich das demokratische Engagement vieler Realisten, deren Arbeit mit der Zeit der Kritik am CDU-Staat, der 1 Schmied, Wieland: Neue Sachlichkeit und Magischer Realismus in Deutschland 1918—1933. Fackelträger Verlag Schmidt-Küster, Hannover 1969 (332 S., Ln., 64— DM). Lethen, Helmut: Neue Sachlichkeit 1924—1932. Studien zur Literatur des „Weißen Sozialismus". J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1970 (214 S., kart., 20,— DM). 2 So zuletzt in einer Fernsehserie und einem Buch: Thilo Koch, Die goldenen zwanziger Jahre, Frankfurt/M. 1970. 3 Vgl. z.B.: Richard M. Gusenberg und Dietmar Meyer (mit einem Essay von Johannes Gross), Die dreißiger Jahre, Frankfurt/M.-Berlin- Wien 1970. 3a Das ist neben einer Reihe von Ausstellungen u. a. an den im Kunsthandel in den letzten Jahren rapide steigenden Preisen für Arbeiten etwa Anton Räderscheidts, Heinrich Maria Davringhauses, Christian Schads oder Alexander Kanoldts zu verfolgen. 4 Wie eine Reihe der Hauptwerke des Expressionismus bereits vor dem 1. Weltkrieg entstanden, so auch Arbeiten der Neuen Sachlichkeit direkt nach dessen Ende. Trotzdem wird die Zeit der Durchsetzung beider Stile zu Recht mit der 1. bzw. 2. Hälfte der zwanziger Jahre verbunden.

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Erkenntnis dieser Zusammenhänge könnte nun die Behandlung von<br />

einzelnen Gattungen dieser Literatur auf die Behandlung der sie<br />

erzeugenden gesellschaftlichen Widersprüche übergeleitet werden,<br />

wobei die Auswahl der Gattungen zugleich die Präzisierung der<br />

sozialen Situation einer bestimmten Zielgruppe zuläßt. Wenn man<br />

bei dieser Auswahl von den realen Lesebedürfnissen, d. h. von den<br />

tatsächlich gelesenen Produkten der Trivialliteratur, ausgeht, so<br />

läßt sich durch die Behandlung der entsprechenden Literaturgattung<br />

der Erkenntnisprozeß der eigenen sozialen Situation und ihrer Widersprüche<br />

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