Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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236 Gunter Giesenfeld<br />
tion wichtig, weil die Realität nicht mehr nach ihnen organisiert ist.<br />
Da aber die eigentlich daraus zu ziehende Konsequenz der Veränderung<br />
der gesellschaftlichen Ordnung von den Herrschenden nicht<br />
geduldet wird, darf die Massenkultur die aus diesem Widerspruch zu<br />
erklärende Realitätsflucht zwar-ausnutzen, aber nur in einer Weise,<br />
die ihn harmonisiert, die Ideale bestätigt. Nur so ist sie zu der<br />
Lebenshilfe bedeutenden Kompensation geeignet.<br />
Bayer sagt dazu, der Leser sei „auf der Suche nach einem Sinn <strong>für</strong><br />
das Leben, das er führt". <strong>Das</strong> heißt doch nichts anderes, als daß er<br />
diesen Sinn offenbar in seinem Leben selbst nicht mehr finden kann.<br />
Daraus ergäbe sich eigentlich die Notwendigkeit, eben zu untersuchen,<br />
warum dieser Sinn verlorengegangen ist. Bayer jedoch<br />
kritisiert zwar, daß in den Romanen ein reaktionäres, feudalistisches<br />
Weltbild vorherrscht, meint aber offensichtlich, daß diese Gesellschaftsordnung<br />
immer noch im Grunde die richtige sei: „Man hält<br />
sich zwischendurch einmal gern vor Augen, wie das Leben eigentlich<br />
sein müßte, wie es ,stimmen' würde" (b 169). Daß dies tatsächlich<br />
dem durch die Sozialisation und den Einfluß der ideologischen Massenkultur<br />
produzierten Bewußtsein der Leser entspricht — über das<br />
Bayer eben nicht hinauskommt —, zeigt eine Antwort, die auf einem<br />
Fragebogen auf die Frage „Warum lesen Sie Heftromane?" gegeben<br />
wurde und die lautete: „Um zu sehen, wie's im Leben zugeht."<br />
Bayer sieht aber die Wirkung dieser dauernden Realitätsflucht nicht<br />
nur negativ: „Daraus muß sich nicht nur eine Unzufriedënheit mit<br />
dem eigenen Los ergeben, der Genuß solcher Lektüre ist nicht nur<br />
lähmend und destruktiv, sondern er kann auch positiv wirken, indem<br />
er neuen Auftrieb gibt und den Entschluß fördert, wieder aktiv<br />
das eigene Leben in die Hand zu nehmen, um es selbst seiner<br />
.Stimmigkeit' zuzuführen oder doch nur anzunähern" (b 169).<br />
Diese naive Hoffnung wird nicht in Erfüllung gehen, da der Heftromankonsum<br />
allemal leichter ist. Außerdem würde sich bei einem<br />
Versuch des Lesers, sein Leben mit den Wertvorstellungen der Romane<br />
in Einklang zu bringen, sehr bald die Unmöglichkeit dieses<br />
Versuchs herausstellen, <strong>Das</strong> in diesem Satz sich manifestierende<br />
zwiespältige Verhältnis zur Trivialliteratur aber ist als typisch anzusehen.<br />
In solchen Beurteilungen von Apologeten des herrschenden<br />
Gesellschaftssystems drückt sich genau die nützliche und nachteilige<br />
Funktion der Trivialliteratur <strong>für</strong> die Aufrechterhaltung des Systems<br />
aus. Einerseits wird „das Weltbild des Lesers langsam verfälscht"<br />
(b 1<strong>72</strong>), so daß er „diese andere Welt <strong>für</strong> die richtige hält" (b 1<strong>72</strong>),<br />
andererseits ist die Lektüre heilsam, denn sie kann dazu beitragen,<br />
daß dem Leser sein reales Leben nidit mehr „schal und ärmlich"<br />
erscheint (b 1<strong>72</strong>) und er dort „Gefühlswärme und überhaupt gefühlsmäßiges<br />
Erleben" findet, die „heute oft vermißt" (b 168) werden.<br />
Sorgfältig wird bei allen diesen sprachlichen Wendungen darauf<br />
geachtet, die negativen Aussagen über „das Leben" als subjektive<br />
Urteile der •— so als unwissend diffamierten — Leser erscheinen zu<br />
lassen.