Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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30.01.2013 Aufrufe

234 Gunter Giesenfeld nungsform, sowohl was die äußere Aufmachung angeht als auch in bezug auf Fragen des Stils und der inhaltlichen Gliederung, bestimmt durch die angesprochene Zielgruppe und ihr Bedürfnis. Diese objektiv festzustellenden und untersuchbaren Zusammenhänge verdrängt nun Kreuzer, indem er sie aus seinem Erkenntnisinteresse ausschließt, denn davon bliebe „ihre ästhetische Beurteilbarkeit . . . unberührt". Dies kann er nur dadurch begründen, daß er sie als „Vorgänge im Innern des Autors" mißversteht und als „Bewußtsein der Anpassung an ein Publikum" abwertet, als ob dieses Bewußtsein nicht auch jede andere Literaturproduktion positiv oder negativ bestimmte. So kann er, unter Hinweis auf die Diskussion um Wechselwirkung von Autor und Publikum seit Schiller, die neuen Ansätze zur Bestimmung der Funktion der Literatur als langhin bekannte Banalitäten erscheinen lassen und ihre Diskussion mit dem Hinweis ablehnen, ihr ließe „sich nicht unmittelbar ein Kriterium für den ästhetischen Rang eines Werkes abgewinnen" (a 181). Nun ist allerdings die Abhängigkeit des Autors von den Bedürfnissen des Lesers seit langem unwidersprochene Begleitbemerkung bei der Diskussion der gelegentlich interessanten Übernahme von Stoffen und Motiven aus dem „trivialen" Bereich durch renommierte Schriftsteller oder auch des meist überraschenden Erfolges eines bestimmten Werkes oder einer Gattung. Der auf die Entwicklung der „hohen" Literatur gerichtete und beschränkte Blick hat jedoch kaum je die Ursachen bestimmter Bedürfnisse, die gesellschaftlichen Gründe für literarische Publikumserfolge zu erfassen versucht. Dies ist, in bezug auf einen eklatanten Fall, jetzt versucht worden von Klaus Scherpe 3 . „Werther" artikulierte aus den Zwängen der bürgerlichen Gesellschaft direkt abzuleitende Frustrationen, das Bedürfnis nach „Werther" und Wertheriaden ist das Bedürfnis bestimmter Schichten nach Artikulation und Identifikation mit der Artikulation dieser Frustrationen in der Literatur. Die dem Werther mitgegebene Lösung (Selbstmord) wurde dabei in vielen Fällen auch mitvollzogen. Dieser Fall wirft — auch nach Scherpes Buch — die Fragen der Funktion von Literatur vielfältig auf. Da, wo in der Forschung diese Frage doch aufgegriffen wird, wirkt sich die strenge Fächerteilung des herrschenden Wissenschaftsbetriebes fatal auf die solchen Analysen wurmfortsatzhaft angefügten entsprechenden Kapitel aus. Exemplarisch können Charakter und Funktion der immer noch gängigen Methode an diesen Versuchen dargestellt werden. Es soll hier im wesentlichen am Beispiel des Buches von Dorothee Bayer und ihrem Kapitel „Soziologische und psychologische Kriterien" geschehen. Dieses Kapitel besteht zu einem großen Teil aus Zitaten, die ohne eigene Standpunktnahme nebeneinander gestellt werden, und gibt einen lehrreichen Einblick in die theoretische Unsicherheit der bürgerlichen Germanistik und die tatsächliche Funktion ihrer Forschungen. 3 Werther und Wertherwirkung. Zum Syndrom bürgerlicher Gesellschaftsordnung im 18. Jahrhundert. Bad Homburg 1970.

Zum Stand der Trivialliteratur-Forschung 235 Unter dem Oberbegriffspaar „Wunschträume und Ersatzbefriedigung" führt Dorothee Bayer den Erfolg der Trivialliteratur auf die Sehnsucht der Leser zurück, der Alltagswelt zu entrinnen und in eine idealisierte Traumwelt entrückt zu werden. „Seit Beginn des Industrie- und Massenzeitalters" sei „für viele Menschen der Alltag und das Leben schlechthin langweilig, leer, unbefriedigend und somit für ihr Empfinden elend und trist geworden" (b 168). Die Zusätze „für viele Menschen" und „für ihr Empfinden" sollen suggerieren, daß diese Frustrationen in Wirklichkeit nicht existieren, daß sie nur fälschlich von bestimmten Leuten empfunden werden. Die Darstellung der in der Trivialliteratur gebotenen „Wunschwelt" ist in ähnlicher Weise ständig kontrapunktiert von der Weigerung, über die Widersprüche der Existenz zu reflektieren und daraus die eigentlichen Kriterien für die Beurteilung der Funktion dieser Literatur zu gewinnen. Es wird richtig erkannt, daß der Trivialroman ein konservatives Weltbild vermittelt, daß seine Klischees unwirklich, verfälschend wirken, daß seine Abenteuer ein „sentimentales Genießen des andauernden Ausnahmezustandes" erlauben, daß sie die Flucht in die Geborgenheit der vorindustriellen Idylle vor dem „täglichen Leben mit seinem hastenden Arbeitsrhythmus, der Vermassung, der Mechanisierung" erlauben (b 168). Es wird von der Weltfremdheit des dort gebotenen Ersatzlebens gesprochen, das einen Ausgleich biete zum „elenden" wirklichen Leben der Leser. Der Trivialroman setze ein „stimmiges" Ideal dem eigenen unstimmigen Leben des Lesers entgegen. Dieser verbinde dann mit der „Kraft des Prälogisch-Assoziativen im Volksmenschen" die angebotenen Klischees mit anderen von der Kulturindustrie vorgeformten Schablonen zu einer „positiven Bestätigung" der bestehenden Ordnung (b 169). Nach dieser positiven Bestätigung im irrealen Bereich der literarischen Fiktion kann in der Tat um so eher ein Bedürfnis installiert werden, je weniger die Realität eine positive Haltung zur eigenen Situation möglich macht, d. h. je mehr Unterdrückung durch Zwänge der Klassengesellschaft Selbstverwirklichung verhindert. Bayer betont dabei immer wieder die „Realitätsferne" dieser Ideale und Wunschträume, ohne die Beziehungen, die diese mit der Realität des Lesers haben müssen, zum Untersuchungsgegenstand zu machen. Gerade dies aber wäre Grundlage einer Theorie der Massenkultur in der Gesellschaft. Der kommerzielle Erfolg dieser Erzeugnisse könnte nicht zustande kommen, wenn die in dieser Literatur vorkommenden Vorstellungen nicht auf Bedürfnisse antworteten, deren Befriedigung zur Harmonisierung von Zwängen einer bestimmten Entwicklungsstufe der Klassengesellschaft beiträgt. Denn die dazu angebotenen Ideale müssen, so sehr sie sich von der Realität entfernen, doch wenigstens tendenziell zur Überwindung ihrer Widersprüche taugen, wenn sie „Lebenshilfe" sein sollen. Die Ideale sind solche einer Vergangenheit, in der die Ausrichtung der Verhaltensweisen und Wertvorstellungen nach ihnen noch förderlich für die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung war. Jetzt, in der Restaurationsphase, wird die Propagierung dieser Ideale in der Fik-

234 Gunter Giesenfeld<br />

nungsform, sowohl was die äußere Aufmachung angeht als auch in<br />

bezug auf Fragen des Stils und der inhaltlichen Gliederung, bestimmt<br />

durch die angesprochene Zielgruppe und ihr Bedürfnis. Diese objektiv<br />

festzustellenden und untersuchbaren Zusammenhänge verdrängt<br />

nun Kreuzer, indem er sie aus seinem Erkenntnisinteresse ausschließt,<br />

denn davon bliebe „ihre ästhetische Beurteilbarkeit . . . unberührt".<br />

Dies kann er nur dadurch begründen, daß er sie als „Vorgänge<br />

im Innern des Autors" mißversteht und als „Bewußtsein der<br />

Anpassung an ein Publikum" abwertet, als ob dieses Bewußtsein<br />

nicht auch jede andere Literaturproduktion positiv oder negativ<br />

bestimmte. So kann er, unter Hinweis auf die Diskussion um Wechselwirkung<br />

von Autor und Publikum seit Schiller, die neuen Ansätze<br />

zur Bestimmung der Funktion der Literatur als langhin bekannte<br />

Banalitäten erscheinen lassen und ihre Diskussion mit dem Hinweis<br />

ablehnen, ihr ließe „sich nicht unmittelbar ein Kriterium <strong>für</strong> den<br />

ästhetischen Rang eines Werkes abgewinnen" (a 181).<br />

Nun ist allerdings die Abhängigkeit des Autors von den Bedürfnissen<br />

des Lesers seit langem unwidersprochene Begleitbemerkung<br />

bei der Diskussion der gelegentlich interessanten Übernahme von<br />

Stoffen und Motiven aus dem „trivialen" Bereich durch renommierte<br />

Schriftsteller oder auch des meist überraschenden Erfolges eines<br />

bestimmten Werkes oder einer Gattung. Der auf die Entwicklung der<br />

„hohen" Literatur gerichtete und beschränkte Blick hat jedoch kaum<br />

je die Ursachen bestimmter Bedürfnisse, die gesellschaftlichen<br />

Gründe <strong>für</strong> literarische Publikumserfolge zu erfassen versucht. Dies<br />

ist, in bezug auf einen eklatanten Fall, jetzt versucht worden von<br />

Klaus Scherpe 3 . „Werther" artikulierte aus den Zwängen der bürgerlichen<br />

Gesellschaft direkt abzuleitende Frustrationen, das Bedürfnis<br />

nach „Werther" und Wertheriaden ist das Bedürfnis bestimmter<br />

Schichten nach Artikulation und Identifikation mit der<br />

Artikulation dieser Frustrationen in der Literatur. Die dem Werther<br />

mitgegebene Lösung (Selbstmord) wurde dabei in vielen Fällen auch<br />

mitvollzogen. Dieser Fall wirft — auch nach Scherpes Buch — die<br />

Fragen der Funktion von Literatur vielfältig auf. Da, wo in der Forschung<br />

diese Frage doch aufgegriffen wird, wirkt sich die strenge<br />

Fächerteilung des herrschenden Wissenschaftsbetriebes fatal auf die<br />

solchen Analysen wurmfortsatzhaft angefügten entsprechenden Kapitel<br />

aus. Exemplarisch können Charakter und Funktion der immer<br />

noch gängigen Methode an diesen Versuchen dargestellt werden.<br />

Es soll hier im wesentlichen am Beispiel des Buches von Dorothee<br />

Bayer und ihrem Kapitel „Soziologische und psychologische Kriterien"<br />

geschehen. Dieses Kapitel besteht zu einem großen Teil aus<br />

Zitaten, die ohne eigene Standpunktnahme nebeneinander gestellt<br />

werden, und gibt einen lehrreichen Einblick in die theoretische Unsicherheit<br />

der bürgerlichen Germanistik und die tatsächliche Funktion<br />

ihrer Forschungen.<br />

3 Werther und Wertherwirkung. Zum Syndrom bürgerlicher Gesellschaftsordnung<br />

im 18. Jahrhundert. Bad Homburg 1970.

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