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Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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226 Bernd Jürgen Warneken<br />

sehen Ausbildung. Überdies mag das gesellschaftliche Bewußtsein<br />

selber uneinheitlich sein, wie das vor allem <strong>für</strong> die Ideologie der<br />

kleinbürgerlichen Intelligenz gilt, die sozial zwischen Bürgertum<br />

und Arbeiterschaft, in ihren gesellschafts<strong>kritische</strong>n Äußerungen<br />

zwischen reaktionärem und wissenschaftlich fundiertem Antikapitalismus<br />

steht. Daß es zu umfassendem Realismus im Sinne Brechts,<br />

zu einer Schreibweise, die den „gesellschaftlichen Kausalkomplex" 65<br />

aufdeckt, eines parteilichen, nicht mehr ideologiebefangenen Autors<br />

bedarf, wird von dem Hinweis auf Wahrheiten, die in und trotz<br />

falscher Weltanschauung aufleuchten können, nicht heruntergespielt.<br />

Daß es manchmal besser sei, wenn der Autor weniger bewußt<br />

arbeite, gilt — sieht man einmal von einigen Phasen des Erarbeitens<br />

ästhetischer Erkenntnismittel ab — höchstens insofern, als es bei<br />

Autoren, die einer überlebten herrschenden Klasse angehören, dem<br />

Werk schaden muß, wenn sie sich planmäßig an deren Interesse<br />

orientieren; nicht umsonst geriet z. B. Lyrik im späten Bürgertum<br />

oft besser als Gattungen, die mehr zu offen politischen Sujets neigten.<br />

<strong>Das</strong> hier Gesagte bedeutet nun natürlich nicht, daß es nur auf<br />

die gesellschaftlich richtige Intention ankäme. Manifestiert sich die<br />

geschichtliche Unwahrheit eines Werks in innerästhetischen Fehlern,<br />

so gilt umgekehrt, daß „die Tendenz einer Dichtung politisch nur<br />

stimmen kann, wenn sie auch literarisch stimmt 66 ": der politisch<br />

fortgeschrittene Zweck muß sich ästhetisch angemessen vergegenständlichen<br />

67 .<br />

3. Ungleichmäßigkeit in der literarischen Produktion<br />

und zwischen dieser und der materiellen Produktion<br />

Von der bisherigen Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte<br />

heißt es in der Deutschen Ideologie: „Da diese Entwicklung<br />

naturwüchsig vor sich geht, das heißt nicht einem Gesamtplan frei<br />

vereinigter Individuen subordiniert ist, so geht sie von verschiedenen<br />

Lokalitäten, Stämmen, Nationen, Arbeitszweigen etc. aus, deren<br />

Jede anfangs sich unabhängig von den anderen entwickelt [...] 68 ."<br />

Für die Musik stellt Adorno — wie oft in offensichtlicher Anspielung<br />

auf Marx und Engels — fest: „Die verschiedenen Dimensionen der<br />

tonalen [...] Musik — Melodik, Harmonik, Kontrapunkt, Form und<br />

Instrumentation — haben historisch weithin unabhängig voneinander<br />

sich entwickelt, planlos und insofern ,naturwüchsig' 69 ." In Wer-<br />

65 Bertolt Brecht, Volkstümlichkeit und Realismus, Werke Bd. 19, S. 326. .<br />

66 Walter Benjamin, Der Autor als Produzent, in: ders., Versuche über<br />

Brecht, Frankfurt/M. 1966, S. 96.<br />

67 Vor einer zu starren Koppelung muß man sich selbstverständlich<br />

hüten. Zur Agitation in eingegrenzten Situationen verfertigte Gebrauchskunst<br />

darf nicht danach beurteilt werden, daß ihre progressive Absicht<br />

sich vielleicht in Formen äußert, die hinter dem entwickeltesten Stand der<br />

Literaturtechnik zurückbleiben.<br />

68 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, a.a.O., S. <strong>72</strong>.<br />

69 Th. W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, a.a.O., S. 54.

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