Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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30.01.2013 Aufrufe

224 Bernd Jürgen Warneken und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muß 69 ". Gewiß vollzieht sich all dies nicht in einem Ich-höre-und-gehorche; notwendig ist eben, um den objektiven Anforderungen genügen zu können, die entschiedenste individuelle Spontaneität. Der Tatbestand, daß der literarische Arbeitsprozeß äußerst komplexe Tätigkeiten auch auf nichtbewußten Ebenen einschließt, ist aber deutlich von der daran anknüpfenden Ideologie der Intuition zu trennen. In Wirklichkeit ist, was als spontaner Einfall erscheint, nur das ins Bewußtsein tretende Ergebnis einer Verknüpfung momentan z. T. unbewußter und vorbewußter Lebenserfahrungen und Vorarbeiten mit den innervierten Materialgehalten zu bestimmten Lösungen. Die zu dieser Verknüpfung erforderte Phantasie als die „psychische Fähigkeit, aufbewahrte Sinneserfahrungen zu neuartigen Vorstellungen zu kombinieren 60 ", ist der objektbezogenen Arbeit nicht entgegengesetzt, sondern „auch, und wesentlich, die uneingeschränkte Verfügung über die Möglichkeiten der Lösung, die innerhalb eines Kunstwerks sich kristallisieren 61 ". Wahre Originalität ist keine creatio ex nihilo, kein vermittlungsloses Erfinden, sondern, wie Hegel sagte, „identisch mit der wahren Objektivität" 62 : der Autor muß sich, anders gesagt, dem Stand der literarischen Produktivkräfte seiner Epoche gewachsen zeigen. „Mit einem Worte", schreibt Gottfried Keller, „es gibt keine individuelle souveräne Originalität und Neuheit im Sinne des Willkürgenies und eingebildeten Subjektivistén [...]. Neu in einem guten Sinne ist nur, was aus der Dialektik der Kulturbewegung hervorgeht 88 ." Beim heutigen Stand der Rationalisierung und teilweisen Planung sowie im Zuge der notwendigen Mobilisierung von „Begabungsreserven" werden Genie- und Inspirationstheorien skeptischer beurteilt und wenn nicht abgeschafft, so doch zumindest modifiziert; angesichts der Produktionsmethoden in der Kulturindustrie, etwa auf dem Sektor der „Trivialliteratur", muß für die Masse der Autoren auf allzu irrationale Schaffensvorstellungen verzichtet werden — wenn das auch nicht hindert, die Theorien vom „Einfall" und der „individuellen Geistesleistung" für die sog. Ernste Literatur weitergelten zu lassen 84 . Aber auch wo die ursprünglich aufklärerische Idee der Machbarkeit Eingang findet, ist sie meist instrumentalistisch reduziert und damit um den entscheidenden gesellschaftlichen Effekt gebracht. Die Vorstellung von Genie als einem Rezeptiven hatte immerhin eine Ahnung davon enthalten, daß zu wirklich umwälzenden, originalen Leistungen objektive Bedingungen vorhanden 59 Marx, Das Kapital Bd. I, a.a.O., S. 193. 60 So das Kulturpolitische Wörterbuch, Berlin/DDR 1970, S. 422. 61 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 259. 62 G. W. F. Hegel, Ästhetik, a.a.O., S. 288. 63 Brief an H. Hettner vom 26. Juni 1854. 64 Cf. etwa Walter Nutz, Der Trivialroman, Köln und Opladen 1962, S. 74.

Abriß einer Analyse literarischer Produktion 225 sein müssen, die durch Didaktik und Know how nicht ersetzt werden können. Die komplementäre Beschränkung bürgerlicher Literaturproduktion ist die der Reflexion auf die gesellschaftlichen Zwecke des Produkts; die sich ausbreitende, vordergründig eingegrenzte Wirkungsforschung ist davon nur die Parodie. Emphatische Beherrschung der literarischen Produktivkräfte schließt das Prüfen der langfristigen Ziele, die Literatur mitbefördern soll, ebenso ein wie die Kenntnis dessen, welchen Part Literatur in der Bewegung auf diese Ziele zu spielt und spielen könnte. Daß die Arbeit zweckmäßige, bewußte Tätigkeit auch im weiteren Sinn, nämlich innerhalb eines gesellschaftlichen Gesamtplans werde, wird unter kapitalistischen Verhältnissen verhindert; daß die Produzenten auch nur weiterreichende gesellschaftliche Folgen ihrer Produktion innerhalb dieser Verhältnisse in die Konstitution ihres Arbeitszwecks aufnehmen könnten, wird dort gehemmt, wo ihnen die Verfügung über die Produktionsmittel und damit über die Produkte entzogen ist. Zu diesen Schranken kommt, vor allem in den geistigen Produktionszweigen, der ideologische Effekt der kapitalistischen Arbeitsteilung, welche die Tätigkeiten der einzelnen Gesellschaftsmitglieder und damit die Gesellschaftsbereiche an der Oberfläche voneinander isoliert und den Schein der Autonomie und selbstmächtigen Wirkung insbesondere auch literarischer Äußerung hervorbringt. Diese Einbildung zu zerstören bedeutet aber, das Sonderinteresse, das dieser Organisation der sozialen Beziehungen zugrunde liegt, hinter sich gelassen zu haben; wieweit dies gelingt, hängt von der Entwicklung der sozialen Widersprüche und ihrer am ehesten durch die eigne Klassenlage vermittelten Erfahrbarkeit ab. Allerdings ist es in begrenztem Umfang möglich, daß sich ein bestimmter gesellschaftlicher Gehalt des Werks auch gegen das falsche Bewußtsein des Autors durchsetzt. Positiv wie negativ zählt nur, was sich im Produkt objektiviert hat; und die Absicht, etwa eine solipsistische Weltanschauung in einer literarischen Handlung zu vergegenständlichen, wird schwerlich zu verwirklichen sein, ohne daß der Solipsismus dabei ad absurdum geführt wird. Wie die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer ökonomischen Tätigkeit, ihre eignen Ziele verfolgend, damit ungewollte Zwecke erreichen — nämlich außer ökonomischen Krisen letztlich die Möglichkeit der Aufhebung der ihren Zielen zugrunde liegenden Gesellschaftsverfassung überhaupt —, so wenig kann ein Autor es hindern, daß sein Produkt ihm zuwiderlaufende Bedeutungen offenbart. Er gleicht dann dem Arzt, der es abstritt, krank zu sein, aber, schon umnachtet, seinen eignen Puls fühlte und konstatierte: „Der Kranke liegt im Sterben, ich habe hier nichts mehr zu tun." Ein solcher „Sieg des Realismus" über die Ideologie des Autors wird nicht bloß von der Eigendynamik der literarischen Arbeitsmittel bewirkt; er kann sich meist auf Widersprüche in der Arbeitskraft des Autors selber stützen: man denke an Divergenzen zwischen bewußter Weltanschauung, psychologischer Prädisposition und Stand der praktisch-künstleri-

224 Bernd Jürgen Warneken<br />

und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen<br />

unterordnen muß 69 ".<br />

Gewiß vollzieht sich all dies nicht in einem Ich-höre-und-gehorche;<br />

notwendig ist eben, um den objektiven Anforderungen genügen zu<br />

können, die entschiedenste individuelle Spontaneität. Der Tatbestand,<br />

daß der literarische Arbeitsprozeß äußerst komplexe Tätigkeiten<br />

auch auf nichtbewußten Ebenen einschließt, ist aber deutlich von der<br />

daran anknüpfenden Ideologie der Intuition zu trennen. In Wirklichkeit<br />

ist, was als spontaner Einfall erscheint, nur das ins Bewußtsein<br />

tretende Ergebnis einer Verknüpfung momentan z. T. unbewußter<br />

und vorbewußter Lebenserfahrungen und Vorarbeiten mit<br />

den innervierten Materialgehalten zu bestimmten Lösungen. Die zu<br />

dieser Verknüpfung erforderte Phantasie als die „psychische Fähigkeit,<br />

aufbewahrte Sinneserfahrungen zu neuartigen Vorstellungen zu<br />

kombinieren 60 ", ist der objektbezogenen Arbeit nicht entgegengesetzt,<br />

sondern „auch, und wesentlich, die uneingeschränkte Verfügung<br />

über die Möglichkeiten der Lösung, die innerhalb eines<br />

Kunstwerks sich kristallisieren 61 ".<br />

Wahre Originalität ist keine creatio ex nihilo, kein vermittlungsloses<br />

Erfinden, sondern, wie Hegel sagte, „identisch mit der wahren<br />

Objektivität" 62 : der Autor muß sich, anders gesagt, dem Stand der<br />

literarischen Produktivkräfte seiner Epoche gewachsen zeigen. „Mit<br />

einem Worte", schreibt Gottfried Keller, „es gibt keine individuelle<br />

souveräne Originalität und Neuheit im Sinne des Willkürgenies und<br />

eingebildeten Subjektivistén [...]. Neu in einem guten Sinne ist nur,<br />

was aus der Dialektik der Kulturbewegung hervorgeht 88 ."<br />

Beim heutigen Stand der Rationalisierung und teilweisen Planung<br />

sowie im Zuge der notwendigen Mobilisierung von „Begabungsreserven"<br />

werden Genie- und Inspirationstheorien skeptischer beurteilt<br />

und wenn nicht abgeschafft, so doch zumindest modifiziert;<br />

angesichts der Produktionsmethoden in der Kulturindustrie, etwa<br />

auf dem Sektor der „Trivialliteratur", muß <strong>für</strong> die Masse der Autoren<br />

auf allzu irrationale Schaffensvorstellungen verzichtet werden —<br />

wenn das auch nicht hindert, die <strong>Theorie</strong>n vom „Einfall" und der<br />

„individuellen Geistesleistung" <strong>für</strong> die sog. Ernste Literatur weitergelten<br />

zu lassen 84 . Aber auch wo die ursprünglich aufklärerische<br />

Idee der Machbarkeit Eingang findet, ist sie meist instrumentalistisch<br />

reduziert und damit um den entscheidenden gesellschaftlichen<br />

Effekt gebracht. Die Vorstellung von Genie als einem Rezeptiven<br />

hatte immerhin eine Ahnung davon enthalten, daß zu wirklich umwälzenden,<br />

originalen Leistungen objektive Bedingungen vorhanden<br />

59 Marx, <strong>Das</strong> Kapital Bd. I, a.a.O., S. 193.<br />

60 So das Kulturpolitische Wörterbuch, Berlin/DDR 1970, S. 422.<br />

61 Th. W. Adorno, Ästhetische <strong>Theorie</strong>, a.a.O., S. 259.<br />

62 G. W. F. Hegel, Ästhetik, a.a.O., S. 288.<br />

63 Brief an H. Hettner vom 26. Juni 1854.<br />

64 Cf. etwa Walter Nutz, Der Trivialroman, Köln und Opladen 1962,<br />

S. 74.

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