Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Soziologie 369<br />
Legitimation der Restriktion ihrer jeweiligen Objektbereiche. Gerade<br />
das aber entzieht sich der Reflexion der Autoren; im Gegenteil:<br />
ihnen geht es darum, die Soziolinguistik vorab als positive Wissenschaft<br />
zu etablieren. Dies geschieht einfach dadurch, daß ihr der<br />
<strong>Theorie</strong>begriff der „Kritischen Rationalisten" (Popper, Albert) zugrunde<br />
gelegt wird: „Eine <strong>Theorie</strong> . . . ist eine deduktive, relationierte<br />
Menge von Gesetzen" (28). In diesem Zusammenhang erneuern die<br />
Autoren sogar das Diktum der direkten Falsifikation — ein Standpunkt,<br />
den heute selbst Positivisten als zu dogmatisch ablehnen.<br />
Auf derart gesichertem wissenschaftstheoretischen Fundament<br />
werden nun zunächst verschiedene Ansätze zur Soziolinguistik dargestellt<br />
und diskutiert. Der Ausgangspunkt ist die These der „Sprachnivellierung<br />
in der modernen Gesellschaft" (7 ff.) im Kontrast zur<br />
zunehmenden Differenzierung der Sprache in verschiedene Spezialund<br />
Sondersprachen. Der Akzent liegt hier auf dem allmählichen<br />
Verschwinden umgangssprachlicher Dialekte („Spracheinebnungstendenzen")<br />
sowie der Ausdifferenzierung schichtenspezifischer<br />
Sprechweisen („Schichtsprachen", „sprachliche Umschichtungsweisen").<br />
Abgezogen davon werden dann der ethnographische Ansatz<br />
zur Beschreibung des Sprachgebrauchs (Hymes) und dieSapir-Wworf-<br />
Hypothese der linguistischen Relativität extensiv diskutiert. Weitere<br />
Abschnitte behandeln dieBernsteinsche <strong>Theorie</strong> der linguistischen Codes<br />
sowie die Problematik der Sprachuniversalien im Verhältnis zu<br />
Parsons' Ansatz einer <strong>Theorie</strong> evolutionärer Universalien der Gesellschaft.<br />
Von diesem Problemverständnis her versuchen die Autoren<br />
nun, ein eigenes Programm einer integrativen <strong>Theorie</strong> der Soziolinguistik<br />
zu entwickeln. Aus ihrer Diskussion der Anwendbarkeit<br />
der Chomsky'schen Begriffe Kompetenz und Performanz <strong>für</strong> die<br />
Analyse von Interaktionsprozessen („Interaktionskompetenz", „Interaktionsperformanz")<br />
entwickeln sie ein „kommunikatives Grundmodell"<br />
und gelangen schließlich zur Formulierung eines „Vier-<br />
Ebenen-Modells der Soziolinguistik" (137 ff.). In diesem Modell sollen<br />
Linguistik, Kommunikationstheorie und Soziologie jeweils verschiedene<br />
Ebenen der Sprache und des Sprachgebrauchs erfassen und —<br />
„integrativ gebunden" — die soziolinguistische „Ebene des sozialen<br />
Systems der Sprache (die Sprache als Agentur der sozialen Kontrolle)"<br />
vorbereiten (137). Von hier aus werden nun verschiedene<br />
Kommunikationstypen konstruiert, die das kommunikative Grundmodell<br />
spezifizieren sollen und damit als ein Ansatz zu einer soziolinguistischen<br />
Typologie gelten können. Abschließend werden Probleme<br />
der Beschreibung bi- und multilingualer Gesellschaften diskutiert.<br />
Vor dem Hintergrund solcher inhaltlichen Komplexität ist jedoch<br />
die Frage zu stellen, inwieweit der Anspruch einer adäquaten Vermittlung<br />
soziologischer und linguistischer Theoreme und Beschreibungsansätze<br />
wirklich eingelöst wurde. Dies kann schlicht verneint werden;<br />
auch die ständig wiederholte Forderung nach „integrativer<br />
Verknüpfung" bietet dazu keinen Ersatz. Oft begnügen sich die<br />
Autoren mit einer rein additiven Begriffsbildung (z. B. „Rol-