Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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30.01.2013 Aufrufe

368 Besprechungen vidualität dysfunktional wäre, zum ausschließlichen Gebrauch des restringierten Codes, zu Normenrigidität, geringer Rollendistanz und Ambivalenztoleranz, autoritärer Erziehungshaltung etc. führen, so heißt Emanzipation nicht Sprachschulung à la Oevermann und Bernstein, sondern grundlegende Veränderung der Stellung der Arbeiter im Produktionsprozeß in Richtung auf Selbstbestimmung, die eine wesentliche Voraussetzung für die Änderung der Sozialbeziehungen und des Erziehungsverhaltens der Arbeiter ist. Denn auch dem Arbeiterkind ist durch kompensatorische Spracherziehung nicht real geholfen, da der restringierte Code nicht nur Resultat der Situation des Arbeiters ist, sondern auch Antwort auf diese, insofern er die nach der Klassenlage des Arbeiters erheischten Problemlösungsstrategien bereitstellt. Schließlich: das Problem schichtenspezifischen Sprachgebrauchs ist nicht das partikulare einer nicht näher definierbaren Schicht, oder gar eines Familienkommunikationssystems, das mit linguistischen und pädagogischen Kategorien und aus den Bedingungen der Schicht un- und angelernter Arbeiter allein zureichend zu erklären wäre, sondern ist als Symptom der Depravation der gesamten Klasse der lohnabhängigen Massen zu begreifen, für die sich grundsätzlich nichts geändert hat, wenn aus dem restringiert sprechenden Hilfsarbeiter einer Napalmfabrik deren elaboriert sprechender geworden ist. Restringierte, d. h. eingeschränkte sprachliche und kognitive Fähigkeiten sind zu begreifen als ein Ausdruck der Lage der Arbeiterklasse im Kapitalismus, und man darf nicht vergessen, daß das Klasseninteresse der Lohnabhängigen nicht in der Emanzipation vom restringierten Code besteht, sondern in der vom Kapitalismus. Dieser Kontext wird bei Niepold bedauerlicherweise nicht analysiert, er sollte jedoch beim Leser präsent sein, wenn er die ansonsten sicher verdienstliche Orientierungshilfe Niepolds benutzt. Diethelm Damm (Wiesbaden) Hartig, Matthias, u. Ursula Kurz: S p r a c h e a l s s o z i a l e K o n - trolle. Neue Ansätze zur Soziolinguistik. Suhrkamp Verlag (es 453), Frankfurt/Main 1971 (245 S., kart., 6,— DM). Die Autoren stellen den Anspruch, einen „integrativen" Ansatz der Soziolinguistik zu begründen. In dem Abschnitt: Was ist Soziolinguistik? heißt es: „Soziolinguistik ist diejenige Wissenschaft, die es der Soziologie ermöglicht, soziales Handeln nicht wie stummes Handeln beschreiben zu müssen, und die der Linguistik die Perspektive der gesellschaftlichen Einbettung der Sprache eröffnet" (26). Die Soziolinguistik steht also als interdisziplinärer Ansatz einer Wissenschaft zwischen Soziologie und Linguistik; das bestimmende Argument ist: man habe bisher noch nicht zur Kenntnis genommen, daß Menschen zugleich handeln und sprechen und daß die Sprache in die Gesellschaft „eingebettet" sei. Nun wäre solche gezielte Ignoranz weit weniger der Naivität bisheriger soziologischer und linguistischer Forschungen anzulasten als vielmehr der wissenschaftstheoretischen

Soziologie 369 Legitimation der Restriktion ihrer jeweiligen Objektbereiche. Gerade das aber entzieht sich der Reflexion der Autoren; im Gegenteil: ihnen geht es darum, die Soziolinguistik vorab als positive Wissenschaft zu etablieren. Dies geschieht einfach dadurch, daß ihr der Theoriebegriff der „Kritischen Rationalisten" (Popper, Albert) zugrunde gelegt wird: „Eine Theorie . . . ist eine deduktive, relationierte Menge von Gesetzen" (28). In diesem Zusammenhang erneuern die Autoren sogar das Diktum der direkten Falsifikation — ein Standpunkt, den heute selbst Positivisten als zu dogmatisch ablehnen. Auf derart gesichertem wissenschaftstheoretischen Fundament werden nun zunächst verschiedene Ansätze zur Soziolinguistik dargestellt und diskutiert. Der Ausgangspunkt ist die These der „Sprachnivellierung in der modernen Gesellschaft" (7 ff.) im Kontrast zur zunehmenden Differenzierung der Sprache in verschiedene Spezialund Sondersprachen. Der Akzent liegt hier auf dem allmählichen Verschwinden umgangssprachlicher Dialekte („Spracheinebnungstendenzen") sowie der Ausdifferenzierung schichtenspezifischer Sprechweisen („Schichtsprachen", „sprachliche Umschichtungsweisen"). Abgezogen davon werden dann der ethnographische Ansatz zur Beschreibung des Sprachgebrauchs (Hymes) und dieSapir-Wworf- Hypothese der linguistischen Relativität extensiv diskutiert. Weitere Abschnitte behandeln dieBernsteinsche Theorie der linguistischen Codes sowie die Problematik der Sprachuniversalien im Verhältnis zu Parsons' Ansatz einer Theorie evolutionärer Universalien der Gesellschaft. Von diesem Problemverständnis her versuchen die Autoren nun, ein eigenes Programm einer integrativen Theorie der Soziolinguistik zu entwickeln. Aus ihrer Diskussion der Anwendbarkeit der Chomsky'schen Begriffe Kompetenz und Performanz für die Analyse von Interaktionsprozessen („Interaktionskompetenz", „Interaktionsperformanz") entwickeln sie ein „kommunikatives Grundmodell" und gelangen schließlich zur Formulierung eines „Vier- Ebenen-Modells der Soziolinguistik" (137 ff.). In diesem Modell sollen Linguistik, Kommunikationstheorie und Soziologie jeweils verschiedene Ebenen der Sprache und des Sprachgebrauchs erfassen und — „integrativ gebunden" — die soziolinguistische „Ebene des sozialen Systems der Sprache (die Sprache als Agentur der sozialen Kontrolle)" vorbereiten (137). Von hier aus werden nun verschiedene Kommunikationstypen konstruiert, die das kommunikative Grundmodell spezifizieren sollen und damit als ein Ansatz zu einer soziolinguistischen Typologie gelten können. Abschließend werden Probleme der Beschreibung bi- und multilingualer Gesellschaften diskutiert. Vor dem Hintergrund solcher inhaltlichen Komplexität ist jedoch die Frage zu stellen, inwieweit der Anspruch einer adäquaten Vermittlung soziologischer und linguistischer Theoreme und Beschreibungsansätze wirklich eingelöst wurde. Dies kann schlicht verneint werden; auch die ständig wiederholte Forderung nach „integrativer Verknüpfung" bietet dazu keinen Ersatz. Oft begnügen sich die Autoren mit einer rein additiven Begriffsbildung (z. B. „Rol-

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vidualität dysfunktional wäre, zum ausschließlichen Gebrauch des<br />

restringierten Codes, zu Normenrigidität, geringer Rollendistanz und<br />

Ambivalenztoleranz, autoritärer Erziehungshaltung etc. führen, so<br />

heißt Emanzipation nicht Sprachschulung à la Oevermann und Bernstein,<br />

sondern grundlegende Veränderung der Stellung der Arbeiter<br />

im Produktionsprozeß in Richtung auf Selbstbestimmung, die eine<br />

wesentliche Voraussetzung <strong>für</strong> die Änderung der Sozialbeziehungen<br />

und des Erziehungsverhaltens der Arbeiter ist. Denn auch dem Arbeiterkind<br />

ist durch kompensatorische Spracherziehung nicht real geholfen,<br />

da der restringierte Code nicht nur Resultat der Situation des<br />

Arbeiters ist, sondern auch Antwort auf diese, insofern er die nach der<br />

Klassenlage des Arbeiters erheischten Problemlösungsstrategien bereitstellt.<br />

Schließlich: das Problem schichtenspezifischen Sprachgebrauchs ist<br />

nicht das partikulare einer nicht näher definierbaren Schicht, oder<br />

gar eines Familienkommunikationssystems, das mit linguistischen<br />

und pädagogischen Kategorien und aus den Bedingungen der Schicht<br />

un- und angelernter Arbeiter allein zureichend zu erklären wäre,<br />

sondern ist als Symptom der Depravation der gesamten Klasse der<br />

lohnabhängigen Massen zu begreifen, <strong>für</strong> die sich grundsätzlich nichts<br />

geändert hat, wenn aus dem restringiert sprechenden Hilfsarbeiter<br />

einer Napalmfabrik deren elaboriert sprechender geworden ist. Restringierte,<br />

d. h. eingeschränkte sprachliche und kognitive Fähigkeiten<br />

sind zu begreifen als ein Ausdruck der Lage der Arbeiterklasse<br />

im Kapitalismus, und man darf nicht vergessen, daß das Klasseninteresse<br />

der Lohnabhängigen nicht in der Emanzipation vom<br />

restringierten Code besteht, sondern in der vom Kapitalismus. Dieser<br />

Kontext wird bei Niepold bedauerlicherweise nicht analysiert, er<br />

sollte jedoch beim Leser präsent sein, wenn er die ansonsten sicher<br />

verdienstliche Orientierungshilfe Niepolds benutzt.<br />

Diethelm Damm (Wiesbaden)<br />

Hartig, Matthias, u. Ursula Kurz: S p r a c h e a l s s o z i a l e K o n -<br />

trolle. Neue Ansätze zur Soziolinguistik. Suhrkamp Verlag (es<br />

453), Frankfurt/Main 1971 (245 S., kart., 6,— DM).<br />

Die Autoren stellen den Anspruch, einen „integrativen" Ansatz der<br />

Soziolinguistik zu begründen. In dem Abschnitt: Was ist Soziolinguistik?<br />

heißt es: „Soziolinguistik ist diejenige Wissenschaft, die<br />

es der Soziologie ermöglicht, soziales Handeln nicht wie stummes<br />

Handeln beschreiben zu müssen, und die der Linguistik die Perspektive<br />

der gesellschaftlichen Einbettung der Sprache eröffnet" (26).<br />

Die Soziolinguistik steht also als interdisziplinärer Ansatz einer Wissenschaft<br />

zwischen Soziologie und Linguistik; das bestimmende <strong>Argument</strong><br />

ist: man habe bisher noch nicht zur Kenntnis genommen, daß<br />

Menschen zugleich handeln und sprechen und daß die Sprache in die<br />

Gesellschaft „eingebettet" sei. Nun wäre solche gezielte Ignoranz<br />

weit weniger der Naivität bisheriger soziologischer und linguistischer<br />

Forschungen anzulasten als vielmehr der wissenschaftstheoretischen

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