Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Philosophie 353<br />
sind. Man darf von dem Beitrag nicht mehr erwarten, als der Titel<br />
verspricht. Dort, wo es erst einmal Vorurteile aufzubrechen gilt,<br />
kann er sich durchaus als nützlich erweisen.<br />
P. G. Völkers Aufsatz über „Die inhumane Praxis einer bürgerlichen<br />
Wissenschaft. Zur Methodengeschichte der Germanistik", der<br />
zuerst in der Nr. 49 dieser Zeitschrift erschien, bildet — unverändert<br />
neu abgedruckt — den zweiten Beitrag dieses Bandes. Sicher sind<br />
zentrale Kategorien dieser Arbeit wie „Entfremdung" und „Humanität"<br />
lediglich moralisch gefaßt, sicher sind, um nur einige Beispiele<br />
zu nennen, die Aussagen über den angeblich unpolitischen Charakter<br />
des Nationalbegriffs von J. Grimm unrichtig, sicher wird die Stellung<br />
der Klassik im Werk von Gervinus mißverstanden, weil sein<br />
Geschichtsmodell unverstanden bleibt — sogar die falsche Titelangabe<br />
von Gervinus' Literaturgeschichte ist im Neuabdruck nicht<br />
verbessert worden —, trotzdem, mehr als das historische Zeugnis<br />
einer wirklich <strong>kritische</strong>n Position in der Diskussion über Nationalismus<br />
in Germanistik und Dichtung im Anschluß an den Deutschen<br />
Germanistentag 1966, wie Völker ihn heute verstanden haben will,<br />
ist der Aufsatz immer noch. Die neueren Arbeiten zur Methodengeschichte<br />
der Germanistik fallen ausnahmslos hinter ihn zurück.<br />
Bescheidenheit hätte Völker besser bei der Benennung seines<br />
zweiten, in diesen Sammelband aufgenommenen Aufsatz seiner<br />
„Skizze einer marxistischen Literaturwissenschaft" walten lassen<br />
sollen. Aufgabe des Beitrags soll die „Aufdeckung des Scheins einer<br />
unabhängigen Kunst" sein, den die gegenwärtige Germanistik immer<br />
noch zum methodischen Postulat erhebt. Diesen Schein erkennt Völker<br />
als bedingt durch die gesellschaftliche Teilung der Arbeit. Eine<br />
solche Ableitung der Theoreme bürgerlicher Literaturwissenschaft<br />
aus den ihr zugrunde liegenden Produktionsverhältnissen gelingt<br />
ihm in seiner Kritik der postulierten Werturteilsabstinenz der Germanistik<br />
schon nicht mehr. Die Parteilichkeit <strong>für</strong> die „mit der Entfaltung<br />
der Produktivkräfte gegebenen Verwirklichungsmöglichkeiten<br />
des gesellschaftlichen Individuums" (99), die er dieser scheinbaren<br />
Werturteilsfreiheit entgegenstellt, bleibt vage.<br />
Völker geht bei seinem Entwurf einer marxistischen Literaturwissenschaft<br />
ebenso wie Marx in den ökonomisch-philosophischen<br />
Manuskripten von 1844 vom gesellschaftlichen Individuum, dessen<br />
Tätigkeit und dessen Bedürfnissen aus. Daß Marx diesen Standpunkt<br />
schon bei der Verfassung der „Deutschen Ideologie" aufgegeben hat,<br />
weil er erkannte, daß aus der geschichtlichen Veränderung der<br />
Praxis des einzelnen Individuums das Ganze der gesellschaftlichen<br />
Entwicklung nicht abgeleitet werden kann, fällt aus Völkers Skizze<br />
heraus. <strong>Das</strong> gesellschaftliche Individuum steht im Zentrum seiner<br />
Marxismus-Rezeption und im Zentrum seiner Literaturtheorie, im<br />
Blick auf die Thèmatisierung dieses Individuums in der bürgerlichen<br />
Literatur will er auch die methodischen Ansätze der Literaturwissenschaft<br />
gewinnen. Zwar sieht Völker noch richtig, daß diese Thematisierung<br />
des Individuums in der bürgerlichen Literatur die Ablösung<br />
feudaler Abhängigkeitsverhältnisse durch sachliche, also den Tausch-