Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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30.01.2013 Aufrufe

352 Besprechungen Student zu Hermands Buch greifen. Eine ergänzende Lektüre 1 ist aber unerläßlich, um dem Studenten wenigstens einige Hauptzusammenhänge zwischen Literaturwissenschaft und Gesellschaft in den Blick zu bringen. Marie-Luise Gansberg und Paul-Gerhard Völker (München) 1 G. Lukäcs, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin-Neuwied 1962; W. Krauß, Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag, in: W. K., Studien und Aufsätze, Berlin 1959; R. Weimann, New Criticism und die Entwicklung bürgerlicher Literaturwissenschaft, Halle 1962. Vgl. auch Das Argument 49 (10. Jhg. 1968, Heft 6) „Kritik der bürgerlichen Germanistik". Gansberg, Marie Luise, u. Paul Gerhard Völker: M e t h o d e n - kritik d e r G e r m a n i s t i k . J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 1970 (150 S., brosch., 7,— DM). Wer von dem Buch eine einheitliche, systematische Methodenkritik der Germanistik erwartet, erwartet zuviel. Die drei gesammelten Aufsätze sind thematisch recht unterschiedlich ausgerichtet, trotzdem stapelt der Titel nicht hoch: Die Methoden der Germanistik werden, wenn auch unter verschiedenen Gesichtspunkten und auf verschiedene Weise, in allen Aufsätzen analysiert und kritisiert. Marie Luise Gansberg hat für ihren Beitrag „Zu einigen populären Vorurteilen gegen materialistische Literaturwissenschaft" deshalb die Form der Vorurteilskritik gewählt, weil „die etablierte Germanistik und damit die Mehrheit der Studenten" (9) der materialistischen Literaturwissenschaft ablehnend gegenüberstehen. Sie thematisiert und widerlegt das Vorurteil, materialistische Literaturwissenschaft reduziere die Kunst auf Ökonomie und nähme ihr die eigentlich ästhetische Qualität, sie wendet sich gegen die Ansicht, daß die bürgerliche Literatursoziologie materialistische Literaturwissenschaft überflüssig mache ebenso wie gegen Versuche, dieser einen bescheidenen Platz im breiten Spektrum des Methodenpluralismus zuzuweisen, schließlich verteidigt sie auch die Parteilichkeit als unveräußerlichen Bestandteil materialistischer Lteraturwissenschaft. Die Vorurteilskritik verliert allerdings selbst bisweilen den materialistischen Boden unter den Füßen. So kann M. L. Gansbergs Definition der Literatur kaum als materialistisch bezeichnet werden, so kann man auch nicht materialistisch von der gegenwärtigen historischen Epoche als vom „Zeitalter der Technik und der Massen" (37) sprechen. Der ^.ufsatz hat — am eigenen Anspruch gemessen — viele solcher Fehler, aber angesichts des Mangels an Einführungen in die marxistische Literaturtheorie sollte man ihn nicht zu schnell beiseite schieben, denn einer seiner wichtigsten Vorzüge besteht darin, für Leser ohne Kenntnisse der marxistischen Theorie verständlich zu sein, ein Vorzug, der nicht unterschätzt werden sollte und dem glücklicherweise auch vereinzelte Anleihen bei der Adornoschen Terminologie (ein Beispiel: Literatur- und Sozialgeschichte sei durch einen „Schuldzusammenhang" verklammert, 19) nicht abträglich

Philosophie 353 sind. Man darf von dem Beitrag nicht mehr erwarten, als der Titel verspricht. Dort, wo es erst einmal Vorurteile aufzubrechen gilt, kann er sich durchaus als nützlich erweisen. P. G. Völkers Aufsatz über „Die inhumane Praxis einer bürgerlichen Wissenschaft. Zur Methodengeschichte der Germanistik", der zuerst in der Nr. 49 dieser Zeitschrift erschien, bildet — unverändert neu abgedruckt — den zweiten Beitrag dieses Bandes. Sicher sind zentrale Kategorien dieser Arbeit wie „Entfremdung" und „Humanität" lediglich moralisch gefaßt, sicher sind, um nur einige Beispiele zu nennen, die Aussagen über den angeblich unpolitischen Charakter des Nationalbegriffs von J. Grimm unrichtig, sicher wird die Stellung der Klassik im Werk von Gervinus mißverstanden, weil sein Geschichtsmodell unverstanden bleibt — sogar die falsche Titelangabe von Gervinus' Literaturgeschichte ist im Neuabdruck nicht verbessert worden —, trotzdem, mehr als das historische Zeugnis einer wirklich kritischen Position in der Diskussion über Nationalismus in Germanistik und Dichtung im Anschluß an den Deutschen Germanistentag 1966, wie Völker ihn heute verstanden haben will, ist der Aufsatz immer noch. Die neueren Arbeiten zur Methodengeschichte der Germanistik fallen ausnahmslos hinter ihn zurück. Bescheidenheit hätte Völker besser bei der Benennung seines zweiten, in diesen Sammelband aufgenommenen Aufsatz seiner „Skizze einer marxistischen Literaturwissenschaft" walten lassen sollen. Aufgabe des Beitrags soll die „Aufdeckung des Scheins einer unabhängigen Kunst" sein, den die gegenwärtige Germanistik immer noch zum methodischen Postulat erhebt. Diesen Schein erkennt Völker als bedingt durch die gesellschaftliche Teilung der Arbeit. Eine solche Ableitung der Theoreme bürgerlicher Literaturwissenschaft aus den ihr zugrunde liegenden Produktionsverhältnissen gelingt ihm in seiner Kritik der postulierten Werturteilsabstinenz der Germanistik schon nicht mehr. Die Parteilichkeit für die „mit der Entfaltung der Produktivkräfte gegebenen Verwirklichungsmöglichkeiten des gesellschaftlichen Individuums" (99), die er dieser scheinbaren Werturteilsfreiheit entgegenstellt, bleibt vage. Völker geht bei seinem Entwurf einer marxistischen Literaturwissenschaft ebenso wie Marx in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 vom gesellschaftlichen Individuum, dessen Tätigkeit und dessen Bedürfnissen aus. Daß Marx diesen Standpunkt schon bei der Verfassung der „Deutschen Ideologie" aufgegeben hat, weil er erkannte, daß aus der geschichtlichen Veränderung der Praxis des einzelnen Individuums das Ganze der gesellschaftlichen Entwicklung nicht abgeleitet werden kann, fällt aus Völkers Skizze heraus. Das gesellschaftliche Individuum steht im Zentrum seiner Marxismus-Rezeption und im Zentrum seiner Literaturtheorie, im Blick auf die Thèmatisierung dieses Individuums in der bürgerlichen Literatur will er auch die methodischen Ansätze der Literaturwissenschaft gewinnen. Zwar sieht Völker noch richtig, daß diese Thematisierung des Individuums in der bürgerlichen Literatur die Ablösung feudaler Abhängigkeitsverhältnisse durch sachliche, also den Tausch-

352 Besprechungen<br />

Student zu Hermands Buch greifen. Eine ergänzende Lektüre 1 ist<br />

aber unerläßlich, um dem Studenten wenigstens einige Hauptzusammenhänge<br />

zwischen Literaturwissenschaft und Gesellschaft in<br />

den Blick zu bringen.<br />

Marie-Luise Gansberg und Paul-Gerhard Völker (München)<br />

1 G. Lukäcs, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin-Neuwied 1962;<br />

W. Krauß, Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag, in: W. K., Studien<br />

und Aufsätze, Berlin 1959; R. Weimann, New Criticism und die Entwicklung<br />

bürgerlicher Literaturwissenschaft, Halle 1962. Vgl. auch <strong>Das</strong><br />

<strong>Argument</strong> 49 (10. Jhg. 1968, Heft 6) „Kritik der bürgerlichen Germanistik".<br />

Gansberg, Marie Luise, u. Paul Gerhard Völker: M e t h o d e n -<br />

kritik d e r G e r m a n i s t i k . J. B. Metzler Verlag, Stuttgart<br />

1970 (150 S., brosch., 7,— DM).<br />

Wer von dem Buch eine einheitliche, systematische Methodenkritik<br />

der Germanistik erwartet, erwartet zuviel. Die drei gesammelten<br />

Aufsätze sind thematisch recht unterschiedlich ausgerichtet,<br />

trotzdem stapelt der Titel nicht hoch: Die Methoden der Germanistik<br />

werden, wenn auch unter verschiedenen Gesichtspunkten und auf<br />

verschiedene Weise, in allen Aufsätzen analysiert und kritisiert.<br />

Marie Luise Gansberg hat <strong>für</strong> ihren Beitrag „Zu einigen populären<br />

Vorurteilen gegen materialistische Literaturwissenschaft" deshalb<br />

die Form der Vorurteilskritik gewählt, weil „die etablierte Germanistik<br />

und damit die Mehrheit der Studenten" (9) der materialistischen<br />

Literaturwissenschaft ablehnend gegenüberstehen. Sie thematisiert<br />

und widerlegt das Vorurteil, materialistische Literaturwissenschaft<br />

reduziere die Kunst auf Ökonomie und nähme ihr die eigentlich<br />

ästhetische Qualität, sie wendet sich gegen die Ansicht, daß die<br />

bürgerliche Literatursoziologie materialistische Literaturwissenschaft<br />

überflüssig mache ebenso wie gegen Versuche, dieser einen bescheidenen<br />

Platz im breiten Spektrum des Methodenpluralismus zuzuweisen,<br />

schließlich verteidigt sie auch die Parteilichkeit als unveräußerlichen<br />

Bestandteil materialistischer Lteraturwissenschaft. Die<br />

Vorurteilskritik verliert allerdings selbst bisweilen den materialistischen<br />

Boden unter den Füßen. So kann M. L. Gansbergs Definition<br />

der Literatur kaum als materialistisch bezeichnet werden, so kann<br />

man auch nicht materialistisch von der gegenwärtigen historischen<br />

Epoche als vom „Zeitalter der Technik und der Massen" (37) sprechen.<br />

Der ^.ufsatz hat — am eigenen Anspruch gemessen — viele<br />

solcher Fehler, aber angesichts des Mangels an Einführungen in die<br />

marxistische Literaturtheorie sollte man ihn nicht zu schnell beiseite<br />

schieben, denn einer seiner wichtigsten Vorzüge besteht darin, <strong>für</strong><br />

Leser ohne Kenntnisse der marxistischen <strong>Theorie</strong> verständlich zu<br />

sein, ein Vorzug, der nicht unterschätzt werden sollte und dem<br />

glücklicherweise auch vereinzelte Anleihen bei der Adornoschen Terminologie<br />

(ein Beispiel: Literatur- und Sozialgeschichte sei durch<br />

einen „Schuldzusammenhang" verklammert, 19) nicht abträglich

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