Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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30.01.2013 Aufrufe

216 Bernd Jürgen Warneken sammenhang gegenüber 33 — eine Erscheinung, die sich in der atomistischen, nicht strukturellen Rezeption wiederholt. Die Einzelinnovationen bleiben hierbei nicht isoliert, quasi neutral stehen, sondern eingebannt in falsches Bewußtsein: Da die künstlerischen Produktivkräfte „nichts für sich [sind]", sondern „ihren Stellenwert einzig im Verhältnis zu ihrem Zweck im Gebilde, schließlich zum Wahrheitsgehalt des Gedichteten, Komponierten, Gemalten" empfangen 34 , kommt eine relative Ideologiefreiheit des Materials nicht dem bestehenden spätbürgerlichen Werk, sondern erst dem Versuch zugute, es sich zu neuen Zwecken anzueignen, der Brechtschen Absicht, statt 'am guten Alten am schlechten Neuen anzuknüpfen. Nun reicht die Gegenüberstellung von technologischer und ideologischer Entwicklung keineswegs aus. Die Frage, ob ein Werk eher Teil des ideologischen Überbaus oder eher durch die Entfaltung der materiellen Produktivkräfte bestimmt ist 35 , verwirrt nur analytisch verschiedene Ebenen. Festzuhalten ist nur, daß die Basis des künstlerischen Überbaus nicht nur die Produktionsverhältnisse, sondern — wie erwähnt — die Gesamtheit der materiellen ökonomischen Verhältnisse, also audi die materiellen Produktivkräfte einschließt. Ideologiehaftigkeit und Fortschritt der geistigen Produktivkräfte trennen sich erst dann, wenn die gesellschaftlichen bereits zu ihren Produktionsverhältnissen in Widerspruch getreten sind und wo gar nicht mehr vçn Ideologie im genauen Sinn, sondern — innerhalb eines weiterbestehenden Rahmens spontan falschen Bewußtseins — von bloßer Apologie und Vernebelung gesprochen werden kann. Doch hat der wegen seines Dekadenzbegriffs allzusehr zum Popanz gemachte Lukäcs selbst darauf hingewiesen, daß es mit den bei ihm oft gebrauchten Formeln von einer „allgemeinen Verfallszeit" auch fürs ideologische Gebiet nicht getan ist. Er spricht z. B. von „widerspruchsvollen Tendenzen der Zeit", in welcher „der Verfaulungsprozeß der imperialistischen Periode und der demokratische Protest der werktätigen Massen" einander gegenüberständen 38 . Problematisch ist allerdings, ob er nicht, wie Brecht und Bloch ihm vorwarfen, Abstieg und Aufstieg allzusehr voneinander trennte. „In Wirklichkeit", sagt etwa Brecht, „zeigen Werke wie die Dos Passos'schen, trotz ihrer Zertrümmerung der realistischen Formen und in ihr, den 33 Hierbei kann sich aber der von Horst Redeker konstatierte Effekt ergeben, daß „die Abstinenz und Sterilität im Moralisch-Gesellschaftlichen den bürgerlichen Avantgardismus zur ständigen Modernisierung der Kunstforrnen und Techniken [zwingt], so daß er wenigstens formale Konsequenzen aus der technisch-produktiven Entwicklung im 20. Jahrhundert zieht, wenn diese auch — innerhalb der bürgerlichen Entfremdung — inhaltlich unbewältigt bleiben muß [...]" (Horst Redeker, Marxistische Ästhetik und empirische Soziologie, in: Dt. Zs. für Philosophie, Jg. 14, 1966, S. 212). 34 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1970, S. 323. 35 Cf. Helga Gallas, a.a.O., S. 176. 36 Georg Lukâcs, Probleme des Realismus III, Neuwied und Berlin 1965, S. 309.

Abriß einer Analyse literarischer Produktion 217 Durchbrach eines neuen Realismus, möglich durch den Aufstieg des Proletariats 87 ", d. h. aber auch: durch die Wendung weiter Kreise der künstlerischen Produzenten zu kapitalismuskritischen, wenn auch seltener dezidiert sozialistischen Positionen. Ästhetisch geht es hierbei um das Problem, wieweit eine relativ bewußtlose Widerspiegelung kapitalistischer Entfremdungserscheinungen doch als ins Bewußtsein — was nicht „Bewußtheit" heißt — gehobener Ausdruck einer Situation der Kritik naher steht als der bloßen Verdoppelung; politisch stellt sich die Frage, wieweit und wodurch sich die konzeptiven Ideologen der bürgerlichen Klasse von den Interessen der aktiven Mitglieder dieser Klasse wegentwickeln können. Dabei ist als eine der wichtigsten Tendenzen zu konstatieren, daß der auf wachsende Ideologiefabrikation angewiesene Kapitalismus die im kulturellen Sektor Beschäftigten zunehmend Arbeitsweisen und Entlohnungsformen unterwirft, welche deren verschiedenen Fraktionen die Erkenntnis gemeinsamer antikapitalistischer Interessen langfristig erleichtern dürften. Die hier getroffenen Differenzierungen ändern nichts daran, daß die herrschenden Produktionsverhältnisse im jetzigen Stadium den Fortschritt der gesellschaftlichen Produktivkräfte hemmen und sich damit auch die von Marx schon für den damaligen Kapitalismus festgestellte Kunstfeindlichkeit gesteigert hat. Abgesehen von der Erschwerung der ästhetischen Aneignung der Wirklichkeit durch die Entfremdung der privaten Warenproduktion und der Lohnarbeit sind literarische Produktion und Konsumtion immer mehr deshalb behindert, weil beide nicht etwa durch einen „Dialog Autor-Leser", sondern primär übers Profitprinzip vermittelt sind, welches das Sichentwickeln neuer ästhetischer Produktionsmethoden und neuer Leserbedürfnisse nur unterstützt, wenn sich damit neue Möglichkeiten der Mehrwertproduktion eröffnen. Neben diese spontane Zensur durch ökonomische Gesetze treten bewußt eingesetzte ideologische Restriktionen. Die Folgen reichen vom Nichtentstehen über die Nichtverbreitung eines Werks, die Verkleisterung der Werkintention durch Form und Ort der Verbreitung, die verfälschende Reproduktion in Theater und elektronischen Medien bis hin zur Unterwerfung der Interpretation einzelner Werke und Autoren unter die herrschende Ideologie oder gar, wozu die Literaturwissenschaft ihr Scherflein beiträgt, zur ideologischen Integration von Interpretationsmethoden überhaupt. Bestimmend fürs Phänomen der verfälschenden Rezeption sind aber schon die Konsequenzen der Universalisierung des Tauschprinzips: dem bürgerlichen Bewußtsein verblaßt audi in der Konsumtionsweise der konkrete Nutzwert eines Gegen- 37 Bertolt Brecht, a~a.O., S. 317. — Freilich schlägt es sich auch in der Literatur nieder, daß dieser Aufstieg sich nicht wie der der bürgerlichen Klasse vollzieht. Anders als die bürgerliche Produktionsweise und damit Kultur kann sich die sozialistische ja nicht vor der politischen Durchsetzung herausbilden.

Abriß einer Analyse literarischer Produktion 217<br />

Durchbrach eines neuen Realismus, möglich durch den Aufstieg des<br />

Proletariats 87 ", d. h. aber auch: durch die Wendung weiter Kreise der<br />

künstlerischen Produzenten zu kapitalismus<strong>kritische</strong>n, wenn auch<br />

seltener dezidiert sozialistischen Positionen. Ästhetisch geht es hierbei<br />

um das Problem, wieweit eine relativ bewußtlose Widerspiegelung<br />

kapitalistischer Entfremdungserscheinungen doch als ins Bewußtsein<br />

— was nicht „Bewußtheit" heißt — gehobener Ausdruck<br />

einer Situation der Kritik naher steht als der bloßen Verdoppelung;<br />

politisch stellt sich die Frage, wieweit und wodurch sich die konzeptiven<br />

Ideologen der bürgerlichen Klasse von den Interessen der aktiven<br />

Mitglieder dieser Klasse wegentwickeln können. Dabei ist als<br />

eine der wichtigsten Tendenzen zu konstatieren, daß der auf wachsende<br />

Ideologiefabrikation angewiesene Kapitalismus die im kulturellen<br />

Sektor Beschäftigten zunehmend Arbeitsweisen und Entlohnungsformen<br />

unterwirft, welche deren verschiedenen Fraktionen<br />

die Erkenntnis gemeinsamer antikapitalistischer Interessen langfristig<br />

erleichtern dürften.<br />

Die hier getroffenen Differenzierungen ändern nichts daran, daß<br />

die herrschenden Produktionsverhältnisse im jetzigen Stadium den<br />

Fortschritt der gesellschaftlichen Produktivkräfte hemmen und sich<br />

damit auch die von Marx schon <strong>für</strong> den damaligen Kapitalismus festgestellte<br />

Kunstfeindlichkeit gesteigert hat. Abgesehen von der Erschwerung<br />

der ästhetischen Aneignung der Wirklichkeit durch die<br />

Entfremdung der privaten Warenproduktion und der Lohnarbeit<br />

sind literarische Produktion und Konsumtion immer mehr deshalb<br />

behindert, weil beide nicht etwa durch einen „Dialog Autor-Leser",<br />

sondern primär übers Profitprinzip vermittelt sind, welches das<br />

Sichentwickeln neuer ästhetischer Produktionsmethoden und neuer<br />

Leserbedürfnisse nur unterstützt, wenn sich damit neue Möglichkeiten<br />

der Mehrwertproduktion eröffnen. Neben diese spontane Zensur<br />

durch ökonomische Gesetze treten bewußt eingesetzte ideologische<br />

Restriktionen. Die Folgen reichen vom Nichtentstehen über die<br />

Nichtverbreitung eines Werks, die Verkleisterung der Werkintention<br />

durch Form und Ort der Verbreitung, die verfälschende Reproduktion<br />

in Theater und elektronischen Medien bis hin zur Unterwerfung<br />

der Interpretation einzelner Werke und Autoren unter die herrschende<br />

Ideologie oder gar, wozu die Literaturwissenschaft ihr<br />

Scherflein beiträgt, zur ideologischen Integration von Interpretationsmethoden<br />

überhaupt. Bestimmend <strong>für</strong>s Phänomen der verfälschenden<br />

Rezeption sind aber schon die Konsequenzen der Universalisierung<br />

des Tauschprinzips: dem bürgerlichen Bewußtsein verblaßt<br />

audi in der Konsumtionsweise der konkrete Nutzwert eines Gegen-<br />

37 Bertolt Brecht, a~a.O., S. 317. — Freilich schlägt es sich auch in der<br />

Literatur nieder, daß dieser Aufstieg sich nicht wie der der bürgerlichen<br />

Klasse vollzieht. Anders als die bürgerliche Produktionsweise und damit<br />

Kultur kann sich die sozialistische ja nicht vor der politischen Durchsetzung<br />

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