Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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324 Dieter Richter zieren. Insofern hatte und hat gerade die sogenannte „Vergangenheitsbewältigung" der Germanistik — von ihrer Halbherzigkeit ganz zu schweigen — weniger eine kritische als eine legitimatorische Qualität. Wenn in einem Studienreformmodell z. B. gesagt wird: „Literaturwissenschaft . . . ist eine Wissenschaft von Texten und nicht von Nationen" 81 , wird damit unterstellt, das ideologische nationalhistorische Beschreibungsmodell des 19. Jahrhunderts sei das einzige Kategoriensystem einer geschichtlich-gesellschaftlich fundierten Literaturwissenschaft — und die einzige Alternative zur formal-deskriptiv verfahrenden „Textwissenschaft". Dem Ideologieverdacht setzt sich jedoch gerade die Wissenschaftstheorie und -praxis aus, die die Regression des Bewußtseins auf den bloß funktionalen Pragmatismus zur Folge hat. „Das Training einer formalen, von sozialen Inhalten gereinigten Abstraktionsfähigkeit . . . dient nicht dazu, die bestehende Unmündigkeit in der Erkenntnis von Gesellschaft zu destruieren, also den ideologischen Schein zu durchstoßen, durch den vor allem der ökonomische Bereich verhüllt wird. Vielmehr besteht hier unzweideutig die Gefahr, daß die formale Erziehung zu einer solchen Fähigkeit sich direkt zu einem Herrschaftsinstrument pervertiert 32 ." Mit der beschriebenen Verkümmerung des Erkenntnisanspruchs erreicht die Literaturwissenschaft einen Grad von Isolierung, der für die Situation der Wissenschaften im Spätkapitalismus typisch ist. Einer zunehmenden methodologischen und technisch-organisatorischen Kooperation entspricht eine zunehmende Parzellierung in bezug auf die spezifischen Erkenntnisziele. Hier gilt noch immer Lukäcs' Kritik: „Es entstehen .isolierte' Tatsachen, isolierte Tatsachenkomplexe, eigengesetzliche Teilgebiete (Ökonomie, Recht usw.), die schon in ihren unmittelbaren Erscheinungsformen für eine solche wissenschaftliche Erforschung weitgehendst vorgearbeitet zu sein scheinen . . . Die Unwissenschaftlichkeit dieser scheinbar so wissenschaftlichen Methode liegt also darin, daß sie den geschichtlichen Charakter der ihr zugrunde liegenden Tatsachen übersieht oder vernachlässigt 33 ." Den geschichtlichen Charakter der Tatsachen zum Ausdruck zu bringen heißt aber, diese als Elemente der konkreten Totalität erfahrbar zu machen — dies nicht allein deskriptiv, sondern zugleich praktisch. Die Germanistik in Abwehr ihres einstigen ideologischen Selbstverständnisses (wonach die Lehre von deutscher Sprache und Literatur so etwas wie ein nationales Integrationsfach, eine Grundwissenschaft sein sollte) „entideologisieren", „verwissenschaftlichen" zu wollen, kann daher gerade nicht bedeuten, ihren Erkenntnisanspruch auf „Texte" und „sprachliche Zeichen" zu verkürzen und die Rolle einer Grundwissenschaft anderen Diszipli- 31 W. Iser, a.a.O., S. 195. 32 K. Ehlich u. a., a.a.O., S. 55. 33 G. Lukâcs, Geschichte und Klassenbewußtsein, Studien über marxistische Dialektik, Berlin 1923, S. 19.

Ansichten einer marktgerechten Germanistik 325 nen (etwa der Soziologie oder der Politologie 34 ) zuzuweisen. Entideologisierung bedeutet auch für die Germanistik, ihre Gegenstände, Verfahren und ihre Praxis als geschichtliche zu begreifen, läßt doch „fast die ganze Ideologie sich entweder auf eine verdrehte Auffas- sung dieser Geschichte oder auf eine gänzliche Abstraktion von ihr" reduzieren. Geschichtliche Erkenntnishaltung und geschichtliche Praxis sind dabei primär nicht mehr aus subjektiver Rationalität oder hermeneutischen und didaktischen Entscheidungen zu gewinnen, sondern aus der geschichtlichen Realbewegung, den Bedürfnissen und dem „tätigen Lebensprozeß" (Marx) 36 der konkreten geschichtlichen Subjekte. 34 So Lämmert, Das Ende der Germanistik und ihre Zukunft. In: Ansichten einer künftigen Germanistik, a.a.O., S. 93. 35 K. Marx, MEW 3, S. 18. 36 Ebenda, S. 27. 3 5

Ansichten einer marktgerechten Germanistik 325<br />

nen (etwa der Soziologie oder der Politologie 34 ) zuzuweisen. Entideologisierung<br />

bedeutet auch <strong>für</strong> die Germanistik, ihre Gegenstände,<br />

Verfahren und ihre Praxis als geschichtliche zu begreifen, läßt doch<br />

„fast die ganze Ideologie sich entweder auf eine verdrehte Auffas-<br />

sung dieser Geschichte oder auf eine gänzliche Abstraktion von ihr"<br />

reduzieren. Geschichtliche Erkenntnishaltung und geschichtliche<br />

Praxis sind dabei primär nicht mehr aus subjektiver Rationalität<br />

oder hermeneutischen und didaktischen Entscheidungen zu gewinnen,<br />

sondern aus der geschichtlichen Realbewegung, den Bedürfnissen<br />

und dem „tätigen Lebensprozeß" (Marx) 36 der konkreten geschichtlichen<br />

Subjekte.<br />

34 So Lämmert, <strong>Das</strong> Ende der Germanistik und ihre Zukunft. In: Ansichten<br />

einer künftigen Germanistik, a.a.O., S. 93.<br />

35 K. Marx, MEW 3, S. 18.<br />

36 Ebenda, S. 27.<br />

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