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Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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322 Dieter Richter<br />

Sprachanalysen dieser Art unschwer nachweisen. <strong>Das</strong> „<strong>kritische</strong><br />

Verstehen und Beurteilen" läuft nach dem „textwissenschaftlichen"<br />

Ansatz auf das Verstehen und Beurteilen der Korrelation zwischen<br />

der in besagtem Werbetext intendierten Absicht und den sprachlichen<br />

Mechanismen ihrer Realisierung hinaus. <strong>Das</strong> geforderte „Qualitätsurteil"<br />

das der Einsicht in die Beschaffenheit der Texte folgen<br />

soll, dürfte positiv ausfallen, wenn die intendierte Absicht nur<br />

„geschickt" über die sprachlichen Mechanismen vermittelt wurde.<br />

„Kritik" wird sich im Aufdecken von Diskrepanzen zwischen Absicht<br />

und sprachlicher Gestaltung oder in Kritik an der sprachlichen Gestaltung<br />

selbst erschöpfen. Solange also auf dem Boden dieser Wissenschaftstheorie<br />

Literaturwissenschaft technisch-funktional als<br />

„Wissenschaft von Texten" definiert wird, bleiben „Wahrnehmung",<br />

„Erkenntnis", „Einsicht" und „Kritik" (so die genannten Zielvorstellungen)<br />

— ungeachtet der Einbeziehung bestimmter Hilfswissenschaften<br />

(hier z. B. der Werbepsychologie) — auf den Text als Funktionszusammenhang<br />

sprachlicher Elemente begrenzt; er erscheint<br />

dann als letzter Bezugspunkt „wissenschaftlicher" Arbeit. Sie wird<br />

den Schüler befähigen, später am Arbeitsplatz die vorgegebenen<br />

Funktionszusammenhänge des Produktionsprozesses, seiner eigenen<br />

Tätigkeit und der gesellschaftlichen „Ordnung" „wahrzunehmen",<br />

„einzusehen" und zu „kritisieren" — letzteres freilich nur im Hinblick<br />

auf ihre gegebenenfalls mangelhafte und zu verbessernde<br />

Funktionalität. Wie Texte wird er sie aber als vorgegebene, in ihrem<br />

Vorhandensein selbst nicht kritisierbare, akzeptieren. Den Umgang<br />

mit ihnen hat er (auch) im Umgang mit dem Funktionszusammenhang<br />

„Text" gelernt: die bescheidene Einsicht^ daß er mit seinen<br />

begrenzten Mitteln Wahrheiten über die so und so bezeichneten<br />

(chiffrierten, verdinglichten) Sachverhalte ja ohnehin nicht feststellen<br />

kann. Er ist auch in seiner gesellschaftlichen Tätigkeit:<br />

Exeget. Er legt Texte aus, die er nicht gemacht hat und deren Inhalte<br />

er nicht verantworten muß. Am Schaltpult kontrolliert und<br />

steuert er eine Produktion, die er nicht versteht. Er bedient Maschinen,<br />

die ihm nicht gehören. Er interpretiert die bestehende „Ordnung"<br />

auch gegen seine eigenen Bedürfnisse. Er kennt keine Alternativen.<br />

Er ist fungibles Glied eines Produktionsprozesses, den er als<br />

Ganzes nicht durchschaut. Die Ansichten fragt er: Was meint ihr?<br />

Er fragt sie nicht: Wem nützt ihr?<br />

Die neue Subsumption der Kulturwissenschaften unter den ökonomischen<br />

Verwertungsprozeß schließt Elemente eines überkommenen,<br />

individualistischen Bildungsbegriffs nicht aus. Sie sind freilich nicht<br />

bloße Anachronismen, sondern erhalten ihren Stellenwert dadurch,<br />

daß potentiell herrschaftsgefährdendes Bewußtsein durch Individualisierung<br />

neutralisiert wird. <strong>Das</strong> geschieht etwa, wenn diese Wissenschaft<br />

von sich behauptet, Bildung immunisiere das Individuum<br />

gegen gesellschaftliche Zwänge. „Angesichts des unentwegten Appellierens<br />

von Texten bedeutet Durchschaubarmachen das Gewinnen<br />

25 W. Iser, a.a.O., S. 199.

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