Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Ansichten einer marktgerechten Germanistik 321<br />
Gegensatz dazu hat sich der Gegenstandsbereich um „nichtdichterische<br />
Texte" erweitert und unterscheidet sich durch die deklarierte<br />
(funktionalistische) „Praxisorientierung" von der an der Erhellung<br />
des „Kunstcharakters" von Literatur interessierten Werkinterpretation.<br />
Die Reduktion des Erkenntnisanspruchs und Verstehens-<br />
Begriffs auf den „Text" als internen, funktionalen Zeichenzusammenhang<br />
aber bedeutet den Verzicht auf ein den Text übergreifendes<br />
geschichtlich-gesellschaftliches Erkenntnisinteresse. Die dergestalt<br />
in ihrem Erkenntnisanspruch reduzierte Textbetrachtung<br />
erklärt sich inkompetent <strong>für</strong> die Beurteilung der Inhalte und der<br />
Handlungsimpulse der von ihr analysierten Texte. „Sie ist . . . überfordert,<br />
wenn über die Erarbeitung einer Interpretationslehre und<br />
die Anleitung zu praktischer Interpretation hinaus bündige Aufschlüsse<br />
von ihr verlangt werden über die Beschaffenheit der Textinhalte<br />
— genauer: der aus dem Text ersichtlichen oder erschlossenen<br />
Materie — also über die Beschaffenheit eines Naturgegenstandes<br />
oder eines historischen Faktums oder über die Begründung eines<br />
Philosophems. So kann die Philologie z. B. allenfalls die Aussageintentionen<br />
aufklären, aufgrund deren in einem Text von Granit,<br />
von Wallensteins Tod, vom Tod überhaupt, von Leibeigenschaft oder<br />
von Auschwitz die Rede ist. Sie kann den Bedeutungsumfang und<br />
das Verhältnis solcher Bezeichnungen unter bestimmten historischen<br />
und sozialen Bedingungen ermitteln. Sie kann jedoch nicht von sich<br />
aus, d. h. mit ihren Mitteln, .Wahrheiten' über die so bezeichneten<br />
Sachverhalte feststellen." 23 Von dem „textwissenschaftlichen" Selbstverständnis<br />
der Literaturwissenschaft ausgehend, ist jetzt also zu<br />
prüfen, welche inhaltliche Füllung die oben zitierten Ausbildungsziele<br />
wie „<strong>kritische</strong>s Verstehen und Beurteilen" etc. tatsächlich<br />
haben — denn erst von diesem Selbstverständnis her lassen sie sich<br />
verstehen. Ich will dies darstellen am Beispiel einer möglichen<br />
Untersuchung von Werbetexten (ein Sujet, das immer wieder <strong>für</strong><br />
den „Praxisbezug" des Literaturunterrichts bemüht wird). Eine<br />
Methode, die die „Absicht" eines Werbetextes deskriptiv aus Beschreibung<br />
und Konstitution des Textgefüges erschließen will 24 ,<br />
kann als die „Absicht" eines Textes nur die aus der Analyse der<br />
Sprachgestalt selbst eruierbare Wirkungsabsicht verstehen. Dem<br />
vermeintlich aufklärerischen Ansatz dieser Methode, von der sich<br />
Germanisten häufig so etwas wie eine „Sprachtheorie der Verführung"<br />
versprechen, liegt die alte idealistische Sprachphilosophie zugrunde,<br />
wonach die „Lüge" (etwa in politischen Reden, aber auch<br />
z. B. in Werbetexten) bei nur genauem „Hinhören" und diffiziler<br />
„Textbefragung" sich in der Sprache selbst entlarve, eine Auseinandersetzung<br />
mit dem „Wort" also notwendig zu einem richtigen Urteil<br />
über die „Sache" führe. Daß hingegen umgekehrt das Vor-Urteil<br />
über die „Sache" der Auseinandersetzung mit dem „Wort" inhärent<br />
ist (wenn auch zumeist unbewußt), läßt sich an den vorliegenden<br />
23 Wissenschaftsrat, Empfehlungen, a.a.O., S. 110.<br />
24 W. Iser, a.a.O., S. 197.