Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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30.01.2013 Aufrufe

320 Dieter Richter Wissenschaft als „Wissenschaft von Zeichen" 20 ) der Gewinnung eines hohen Grades von intellektueller und fachlicher Mobilität für die Berufe der technischen Intelligenz. Entscheidend dabei ist aber, daß diese „Produktionstugenden" sich gerade im Rahmen der funktionalisierten Erkenntnisziele, auch denen einer „Textwissenschaft", inhaltlich und gesamtgesellschaftlich nicht mehr auszuweisen haben. Der künftige Literaturunterricht ist „als Wissenschaft von Texten in erster Linie auf das kritische Verstehen und Beurteilen, aber auch auf das Abfassen von Texten, ferner auf die Sensibilisierung der Wahrnehmung und auf das Wecken der Urteilsfähigkeit der Schüler bedacht 21 ". Hier wird ein Katalog von Ausbildungszielen unter rein formal-funktionalem Gesichtspunkt aufgestellt. Die Forderung nach „kritischem Verstehen und Beurteilen" setzt nämlich eine Vorentscheidung darüber voraus, als was denn ein Stück „Literatur" (im weitesten Sinn) überhaupt zu verstehen ist und nach welchen Kriterien es beurteilt werden soll. Ebenso benötigt, wer nach der „Absicht" eines Werkes fragt, ein Vorverständnis darüber, was denn überhaupt die Absicht von Literatur ist. Die immer wieder geforderte (und z. T. schon praktizierte) Komplettierung der Untersuchungsgegenstände der Literaturwissenschaft um „nichtdichterische Texte" ebenso wie die verstärkte Einbeziehung der vergleichenden Literaturwissenschaft (beides durchaus sinnvolle Verfahren) können eine neue Gegenstandsdefinition und eine neue Praxis der Literaturwissenschaft nicht ersetzen. Bekanntlich wurden auf die Frage „Was ist Literatur?" im Lauf der Wissenschaftsgeschichte die verschiedensten Antworten gegeben. Literatur wurde verstanden als Zeuge der nationalen Entwicklung, als Katalysator und Träger individuellen Erlebens, als Vermittler der großen „Ideen" und „Menschheitsprobleme", als Ausdruck der gesellschaftlichen Widersprüche, als Waffe im Klassenkampf etc. Die jeweils gegebene Antwort, die wissenschaftstheoretisch und -praktisch gesetzte Definition des Gegenstands, bestimmt in jedem Fall als richtungsweisende, methodenbildende Vorentscheidung die Arbeit und auch die Ziele dessen, der mit ihm umgeht. Die hier besprochenen Modelle nun definieren Literaturwissenschaft als „Wissenschaft von Texten" und ordnen ihr als die wichtigsten Verfahrensweisen „Textbeschreibung" und „Textanalyse" zu 22 . Was ist damit gemeint? Der Erkenntnisanspruch der Literaturwissenschaft wird damit weitgehend reduziert auf die sprachlichen und formalen Materialien von Literatur (und zwar „dichterischer" wie „nichtdichterischer Texte"), auf die Erkenntnis des internen Funktionszusammenhangs sprachlicher „Zeichen". Damit steht die „künftige" Literaturwissenschaft übrigens wissenschaftstheoretisch wie methodologisch in der Tradition der Werkinterpretation; im 20 Vgl. H. Weinrich, Überlegungen zu einem Studienmodell der Linguistik. In: Ansichten einer künftigen Germanistik, a.a.O., S. 210. 21 W. Iser, a.a.O., S. 196. 22 W. Iser, a.a.O., S. 195.

Ansichten einer marktgerechten Germanistik 321 Gegensatz dazu hat sich der Gegenstandsbereich um „nichtdichterische Texte" erweitert und unterscheidet sich durch die deklarierte (funktionalistische) „Praxisorientierung" von der an der Erhellung des „Kunstcharakters" von Literatur interessierten Werkinterpretation. Die Reduktion des Erkenntnisanspruchs und Verstehens- Begriffs auf den „Text" als internen, funktionalen Zeichenzusammenhang aber bedeutet den Verzicht auf ein den Text übergreifendes geschichtlich-gesellschaftliches Erkenntnisinteresse. Die dergestalt in ihrem Erkenntnisanspruch reduzierte Textbetrachtung erklärt sich inkompetent für die Beurteilung der Inhalte und der Handlungsimpulse der von ihr analysierten Texte. „Sie ist . . . überfordert, wenn über die Erarbeitung einer Interpretationslehre und die Anleitung zu praktischer Interpretation hinaus bündige Aufschlüsse von ihr verlangt werden über die Beschaffenheit der Textinhalte — genauer: der aus dem Text ersichtlichen oder erschlossenen Materie — also über die Beschaffenheit eines Naturgegenstandes oder eines historischen Faktums oder über die Begründung eines Philosophems. So kann die Philologie z. B. allenfalls die Aussageintentionen aufklären, aufgrund deren in einem Text von Granit, von Wallensteins Tod, vom Tod überhaupt, von Leibeigenschaft oder von Auschwitz die Rede ist. Sie kann den Bedeutungsumfang und das Verhältnis solcher Bezeichnungen unter bestimmten historischen und sozialen Bedingungen ermitteln. Sie kann jedoch nicht von sich aus, d. h. mit ihren Mitteln, .Wahrheiten' über die so bezeichneten Sachverhalte feststellen." 23 Von dem „textwissenschaftlichen" Selbstverständnis der Literaturwissenschaft ausgehend, ist jetzt also zu prüfen, welche inhaltliche Füllung die oben zitierten Ausbildungsziele wie „kritisches Verstehen und Beurteilen" etc. tatsächlich haben — denn erst von diesem Selbstverständnis her lassen sie sich verstehen. Ich will dies darstellen am Beispiel einer möglichen Untersuchung von Werbetexten (ein Sujet, das immer wieder für den „Praxisbezug" des Literaturunterrichts bemüht wird). Eine Methode, die die „Absicht" eines Werbetextes deskriptiv aus Beschreibung und Konstitution des Textgefüges erschließen will 24 , kann als die „Absicht" eines Textes nur die aus der Analyse der Sprachgestalt selbst eruierbare Wirkungsabsicht verstehen. Dem vermeintlich aufklärerischen Ansatz dieser Methode, von der sich Germanisten häufig so etwas wie eine „Sprachtheorie der Verführung" versprechen, liegt die alte idealistische Sprachphilosophie zugrunde, wonach die „Lüge" (etwa in politischen Reden, aber auch z. B. in Werbetexten) bei nur genauem „Hinhören" und diffiziler „Textbefragung" sich in der Sprache selbst entlarve, eine Auseinandersetzung mit dem „Wort" also notwendig zu einem richtigen Urteil über die „Sache" führe. Daß hingegen umgekehrt das Vor-Urteil über die „Sache" der Auseinandersetzung mit dem „Wort" inhärent ist (wenn auch zumeist unbewußt), läßt sich an den vorliegenden 23 Wissenschaftsrat, Empfehlungen, a.a.O., S. 110. 24 W. Iser, a.a.O., S. 197.

320 Dieter Richter<br />

Wissenschaft als „Wissenschaft von Zeichen" 20 ) der Gewinnung eines<br />

hohen Grades von intellektueller und fachlicher Mobilität <strong>für</strong> die<br />

Berufe der technischen Intelligenz. Entscheidend dabei ist aber, daß<br />

diese „Produktionstugenden" sich gerade im Rahmen der funktionalisierten<br />

Erkenntnisziele, auch denen einer „Textwissenschaft",<br />

inhaltlich und gesamtgesellschaftlich nicht mehr auszuweisen haben.<br />

Der künftige Literaturunterricht ist „als Wissenschaft von Texten<br />

in erster Linie auf das <strong>kritische</strong> Verstehen und Beurteilen, aber auch<br />

auf das Abfassen von Texten, ferner auf die Sensibilisierung der<br />

Wahrnehmung und auf das Wecken der Urteilsfähigkeit der Schüler<br />

bedacht 21 ". Hier wird ein Katalog von Ausbildungszielen unter rein<br />

formal-funktionalem Gesichtspunkt aufgestellt. Die Forderung nach<br />

„<strong>kritische</strong>m Verstehen und Beurteilen" setzt nämlich eine Vorentscheidung<br />

darüber voraus, als was denn ein Stück „Literatur" (im<br />

weitesten Sinn) überhaupt zu verstehen ist und nach welchen Kriterien<br />

es beurteilt werden soll. Ebenso benötigt, wer nach der „Absicht"<br />

eines Werkes fragt, ein Vorverständnis darüber, was denn<br />

überhaupt die Absicht von Literatur ist. Die immer wieder geforderte<br />

(und z. T. schon praktizierte) Komplettierung der Untersuchungsgegenstände<br />

der Literaturwissenschaft um „nichtdichterische<br />

Texte" ebenso wie die verstärkte Einbeziehung der vergleichenden<br />

Literaturwissenschaft (beides durchaus sinnvolle Verfahren)<br />

können eine neue Gegenstandsdefinition und eine neue Praxis<br />

der Literaturwissenschaft nicht ersetzen. Bekanntlich wurden auf<br />

die Frage „Was ist Literatur?" im Lauf der Wissenschaftsgeschichte<br />

die verschiedensten Antworten gegeben. Literatur wurde verstanden<br />

als Zeuge der nationalen Entwicklung, als Katalysator und Träger<br />

individuellen Erlebens, als Vermittler der großen „Ideen" und<br />

„Menschheitsprobleme", als Ausdruck der gesellschaftlichen Widersprüche,<br />

als Waffe im Klassenkampf etc. Die jeweils gegebene Antwort,<br />

die wissenschaftstheoretisch und -praktisch gesetzte Definition<br />

des Gegenstands, bestimmt in jedem Fall als richtungsweisende,<br />

methodenbildende Vorentscheidung die Arbeit und auch die Ziele<br />

dessen, der mit ihm umgeht.<br />

Die hier besprochenen Modelle nun definieren Literaturwissenschaft<br />

als „Wissenschaft von Texten" und ordnen ihr als die wichtigsten<br />

Verfahrensweisen „Textbeschreibung" und „Textanalyse"<br />

zu 22 . Was ist damit gemeint? Der Erkenntnisanspruch der Literaturwissenschaft<br />

wird damit weitgehend reduziert auf die sprachlichen<br />

und formalen Materialien von Literatur (und zwar „dichterischer"<br />

wie „nichtdichterischer Texte"), auf die Erkenntnis des internen<br />

Funktionszusammenhangs sprachlicher „Zeichen". Damit steht die<br />

„künftige" Literaturwissenschaft übrigens wissenschaftstheoretisch<br />

wie methodologisch in der Tradition der Werkinterpretation; im<br />

20 Vgl. H. Weinrich, Überlegungen zu einem Studienmodell der Linguistik.<br />

In: Ansichten einer künftigen Germanistik, a.a.O., S. 210.<br />

21 W. Iser, a.a.O., S. 196.<br />

22 W. Iser, a.a.O., S. 195.

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