Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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318 Dieter Richter<br />
einen ideologisch verkürzten Geschichts- und Gesellschaftsbegriff<br />
(des alten Deutschunterrichts) und b) gegen die weitgehende Eliminierung<br />
jeder geschichtlich-gesellschaftlichen Erkenntnisfunktion (der<br />
technokratisch reformierten Germanistik) sich als sozialkundliches<br />
Fach profilieren kann, in dem Literatur und Sprache zu Gegenständen<br />
der Erfahrung geschichtlich-gesellschaftlicher Praxis werden.<br />
Wie nun kommt in den Studienreformmodellen die „neue Stander<br />
t best immung" des Deutschunterichts und -studiums zum Ausdruck:<br />
Da ist zunächst die weitgehende Trennung von Sprach- und<br />
Literaturunterricht in der Schule und — dem entsprechend — der<br />
Aufbau getrennter Studiengänge <strong>für</strong> Sprachwissenschaftler und Literaturwissenschaftler<br />
an den Universitäten. Beide geben ihre alte<br />
nationale bzw. nationalhistorische Orientierung auf; sie verstehen<br />
sich nicht mehr als Wissenschaft von deutscher Sprache und Literatur,<br />
sondern definieren sich im Kontext der Linguistik und der Allgemeinen<br />
bzw. Vergleichenden Literaturwissenschaft. Dies hat bereits<br />
Konsequenzen <strong>für</strong> die Neugliederung der Schulfächer (etwa in<br />
den Gesamtschulprojekten) wie <strong>für</strong> die Neugliederung der Fachbereiche<br />
an den Universitäten. Nun wäre nichts verkehrter, als diese<br />
Entwicklung mit der Beschwörung der „Einheit von Sprache und<br />
Literatur" abzulehnen. Im Gegenteil: Die weitgehend institutionalisierte<br />
Trennung der beiden Fächer kann durchaus sinnvoll sein. Entscheidend<br />
ist dabei nur: Was ist damit intendiert? Und: Wie kann der<br />
jeweilige Sprach- und Literaturunterricht inhaltlich aussehen? Dies<br />
läßt sich nicht vom scheinbar autonomen Standpunkt der beiden<br />
Fachwissenschaften aus beantworten. Es genügt also z. B. nicht der bekannte<br />
Hinweis der Sprachwissenschaftler, mit der derzeitigen Hinwendung<br />
der Linguistik zur strukturalen Methode vollziehe die<br />
Sprachwissenschaft in der BRD eben ihre längst überfällige Angleichung<br />
an den internationalen wissenschaftlichen Standard. Zu<br />
fragen wäre darüber hinaus nach dem Verwertungsinteresse an der<br />
strukturalen Linguistik. Es scheint vor allem der hohe Grad der<br />
Operationalität und Instrumentalität zu sein, den eine formalisierte<br />
Technik der Sprachbetrachtung zu vermitteln verspricht; die Fähigkeit,<br />
sich funktionaler Zeichensysteme zu bedienen — Fähigkeiten, die<br />
auf die Qualifikationsstruktur einer spezialisierten technischen Elite<br />
zielen. Dabei besteht die Gefahr, daß dort, wo Kommunikation nur<br />
im System eines geschlossenen Reglerkreises beschrieben wird, die<br />
Inhalte der Kommunikation irrelevant, daß Handlungsimpulse durch<br />
ihre Formalisierung neutralisiert werden 14 .<br />
14 Wie man dies in der Schule einüben kann, zeigen die von Helmut<br />
Lethen aus der Praxis mitgeteilten Aufsatzthemen „fortschrittlicher"<br />
Deutsch-Lehrer: Bestimmen Sie die Textformanten im Schlußplädoyer<br />
von Langhans im sogenannten Brandstifter-Prozeß! Wie verwendet Brecht<br />
das intransitive Verb in seiner Schrift „Fünf Schwierigkeiten beim<br />
Schreiben der Wahrheit"? Die syntaktische Armut in Frieds Anti-Vietnam-Gedichten.<br />
Oder (dem fingierten Thema) : Bestimmen Sie die Mängel<br />
in der syntaktischen Konstrtiktion im Flugblatt der Klasse 12 b <strong>für</strong> die<br />
sogenannte demokratische Mitbestimmung! H. Lethen, Zur Funktion der