Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Ansichten einer marktgerechten Germanistik 317<br />
zwischen Produktions- und Herrschaftswissenschaften werden damit<br />
fließend.<br />
Es scheint, als sei diese Tendenz auch vielen <strong>kritische</strong>n Literaturwissenschaftlern,<br />
Studenten und Deutschlehrern noch nicht bewußt<br />
geworden. Ihre Polemiken richten sich noch fast ausschließlich gegen<br />
die alte Ideologiebildner-Funktion und die irrationalistische Konzeption<br />
des Faches Deutsch, wie sie in der geisteswissenschaftlichen Richtung<br />
und einer existentialistisch versäuerten Werkimmanenz zum<br />
Tragen kamen. Diese längst überfälligen <strong>kritische</strong>n Analysen sind<br />
teilweise insofern noch berechtigt, als die Orientierung auf die abgestandenen<br />
Werte der Innerlichkeit 10 noch heute die Literaturdidaktik<br />
an den Schulen weithin bestimmt (wie z. B. Christa Bürger<br />
in ihrer Analyse der Zeitschrift „Der Deutschunterricht" nachweist<br />
11 ). Nur: Hier hinkt die Literaturdidaktik der Schule den zur<br />
Zeit diskutierten Entwürfen der Bildungsplaner nach! Denn diese<br />
wenden sich ebenfalls, geleitet freilich von ganz anderen Interessen<br />
und Zielvorstellungen, gegen diesen verstaubten ideologisch-irrationalistischen<br />
„Bildungsauftrag" des Deutschunterrichts. Auch sie erheben<br />
die Forderung nach „Rationalität" — zu fragen ist nur, was<br />
damit gemeint ist. Und wenn Robert Ulshöfer, einer der Anwälte<br />
des irrationalistischen „Bildungsauftrags", einen so konzipierten<br />
schulischen Deutschunterricht „zu einer Art ,Mittelpunktfach'"<br />
(1965) 12 erklärt, dann ruft dies bei den Herren von Wissenschaftsrat,<br />
Bildungsrat und sonstigen -raten heute allenfalls ein müdes Lächeln<br />
hervor. Dieser Deutschunterricht wird schon bald unter die wahlfreien<br />
„ästhetischen Beifächer" gehören; mag an ihm teilnehmen,<br />
wer die entsprechenden musischen Neigungen oder Gott-und-die-<br />
Welt-Pubertätsprobleme in sich verspürt. „Die Funktionen des<br />
Faches Deutsch" — so die Empfehlungen des Bildungsrats (1969) —<br />
„sind . . . im wesentlichen Sprachbildung und methodisch bewußtes<br />
Verstehen. Demgegenüber treten die literatur-historischen Funktionen<br />
zurück; sie werden stärker eine Sache individueller Wahl und<br />
des speziellen Interesses 18 ." Es kann selbstverständlich nicht darum<br />
gehen, die alte irrationalistische Konzeption des Fachs als Freiraum<br />
<strong>für</strong> individuelle Bildungswünsche erhalten zu wollen. Es geht aber<br />
auch nicht an, daß diese Konzeption des Fachs und der berechtigte<br />
Horror vor dem traditionellen bildungsbürgerlichen Deutschunterricht<br />
von den staatlichen Bildungsplanern als Alibi <strong>für</strong> die Umwandlung<br />
des Fachs in eine technische Disziplin benutzt werden, womit<br />
sich das Fach nur veränderten Verwertungsbedingungen anpaßt. Es<br />
wäre zukünftig deutlich zu machen, wie das Fach Deutsch a) gegen<br />
10 Siehe R. Ulshöfer, Der Deutschunterricht im Zeitalter der Demokratie.<br />
In: Der Deutschunterricht 17 (1965), H. 3, S. 30. (Zitiert nach<br />
Chr. Bürger, a.a.O., S. 12.)<br />
11 Chr. Bürger: Deutschunterricht — Ideologie oder Aufklärung,<br />
Frankfurt 1970.<br />
12 Zitiert nach Chr. Bürger, a.a.O., S. 12.<br />
13 Empfehlungen der Bildungskommission, a.a.O., S. <strong>72</strong>.