Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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316 Dieter Richter<br />
der Wettbewerbsfähigkeit der westdeutschen Wirtschaft auf dem<br />
Weltmarkt auszuwirken drohte, durch „Höherqualifizierung" eines<br />
Teils der Ware Arbeitskraft aufzuholen — wobei den Bereichen<br />
Wissenschaft und Ausbildung erhöhte Bedeutung zukommt 9 . Die<br />
neue Qualifikationsstruktur der Arbeitskraft beinhaltet vor allem<br />
einen hohen Grad an fachlicher Mobilität, operational-instrumentalen<br />
Fähigkeiten und technisch-funktionaler Intelligenz — bei gleichzeitiger<br />
Hintansetzung inhaltlichen Wissens und der Verkümmerung<br />
der Fähigkeit, über die spezialisierte Funktion hinaus das Ganze des<br />
Produktionsprozesses und der Gesellschaft durchschauen und verändern<br />
zu können. Sie zielt auf den technischen Spezialisten, wie er<br />
sich vor allem in den „gehobenen" Rängen der Industriearbeiterschaft<br />
(Steuerfunktion, Kontrollarbeit etc.), in den verschiedenen<br />
Gruppen der white-collar-workers und des administrativen und<br />
industriellen Managements findet. Diese Reform der Ausbildung hat<br />
zugleich selektive Funktion: Sie soll das bis dato weitgehend vernachlässigte<br />
„Reservoir" der in diesem. Sinne Bildbaren „ausschöpfen".<br />
Es geht zu Lasten der großen Masse der Arbeiter, die als unqualifizierte,<br />
billige Arbeitskräfte benötigt werden und dem kleineren<br />
Kreis der technischen Spezialisten gegenüberstehen (Dequalifikation).<br />
Universitäten und Schulen gerieten ins Kreuzfeuer der Kritik, weil<br />
sie in ihrer bisherigen Form dieser Aufgabe nicht gewachsen waren.<br />
Was den Deutsch- (bes. den Literatur-) Unterricht betrifft, so zeigt<br />
sich gerade an ihm der hohe Grad der Dysfunktionalität: Die Pflege<br />
einer nur noch ornamentalen literarischen Feierabend-Kultur muß<br />
nämlich als allenfalls liebenswerter Anachronismus vom Standpunkt<br />
einer Bildungsreform aus erscheinen, deren Ziel es gerade ist, Wissenschaft<br />
und Ausbildung direkter als je zuvor bestimmten ökonomischen<br />
Interessen anzupassen und in den Dienst der unmittelbaren<br />
Steigerung der Produktivität (des Profits) und des qualifizierten Angebots<br />
auf dem Arbeitskräftemarkt zu stellen. Die „Art der Vernunft,<br />
die hier benötigt wird" (Brecht) 9a , ist eine andere. Die germanistischen<br />
Studienreformmodelle zeigen exemplarisch, wie sich der<br />
oben skizzierte Prozeß der ökonomischen Funktionalisierung der<br />
Ausbildung auch in den kulturwissenschaftlichen Disziplinen durchsetzt<br />
(Wenn auch noch nicht so umfassend und total wie in den technisch-naturwissenschaftlichen)<br />
und die einstigen „Geisteswissenschaften"<br />
zu einem Bildungsbegriff hin verändert, der unmittelbar<br />
vom Arbeitsmarkt her definiert wird. Die traditionellen Grenzen<br />
9 Vgl. zum folgenden E. Altvater, Krise und Kritik, Zum Verhältnis<br />
von ökonomischer Entwicklung und Bildungs- und Wissenschaftspolitik<br />
(in: Wider die Untertanenfabrik, hrsg. v. S. Leibfried, Köln 1967, S. 52 ff.);<br />
W. Lefèvre, Reichtum und Knappheit, Studienreform als Zerstörung gesellschaftlichen<br />
Reichtums (in: U. Bergmann u. a.: Rebellion der Studenten<br />
oder Die neue Opposition, Reinbek 1968, S. 94 ff.); G. Koneffke, Integration<br />
und Subversion, Zur Funktion des Bildungswesens in der spätkapitalistischen<br />
Gesellschaft (in: <strong>Das</strong> <strong>Argument</strong> 54, 1969, S. 389 ff.).<br />
9a Brecht, a.a.O., S. 253.