Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Ansichten einer marktgerechten Germanistik 315<br />
Funktion der Wissenschaften die Rede sein soll. Auch Wissenschaftstheorie<br />
ist wissenschaftlich nur als geschichtliche denkbar, Wissenschaftsgeschichte<br />
nur ein Moment der allgemeinen Geschichte und die<br />
jeweilige Funktion der Wissenschaften nur im Hinblick auf eine<br />
konkrete ökonomische und gesellschaftliche Situation bestimmbar.<br />
Auch <strong>für</strong> die Wissenschaften als Teil des gesellschaftlichen Bewußtseins<br />
gilt: Sie „behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit.<br />
Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung,<br />
sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen<br />
Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit<br />
auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens 5 ."<br />
Damit ist der Gegensatz zur idealistischen Auffassung aufgezeigt,<br />
die die Entwicklung der einzelnen Wissenschaften aus deren immanenter<br />
Selbstbewegung begreifen und damit <strong>Theorie</strong>, Methodenlehre,<br />
Stoffauswahl und gesellschaftliche Praxis der Wissenschaften<br />
aus vermeintlich fachinternen Ansätzen und Notwendigkeiten begründen<br />
zu können glaubt 6 . Von dieser Position aus sind freilich<br />
weder die Geschichte der Germanistik noch die derzeitigen Versuche<br />
der „Neuorientierung" des Fachs zu begreifen. Gerade die seit Jahren<br />
beredete sogenannte „Krise der Germanistik" ist eben primär<br />
nicht eine Krise des internen Selbstverständnisses, der Methodenlehre,<br />
des Gegenstandsbereichs oder der organisatorischen Departmentierung<br />
des Fachs (und also auch primär von daher nicht zu<br />
kurieren), sondern eine Krise seiner gesellschaftlichen Funktionsbestimmung.<br />
Reformversuche, die also z. B. die wissenschaftliche<br />
Forschung aus einem vermeintlich fachinternen Ansatz begründen<br />
zu können glauben 7 , unterstellen damit einen Begriff von „Sachgerechtigkeit",<br />
der sich der Einsicht verschließt, daß eben die „Sache",<br />
d. h. der wissenschaftliche Gegenstand und seine Erforschung, notwendig<br />
von einem spezifischen gesellschaftlichen Interesse bestimmt<br />
wird. Ebenso enthält sich, wer den Praxisbezug der Literaturwissenschaft<br />
durch die pragmatische Orientierung der Lehre an den „Ausbildungsbedürfnisse(n)<br />
der künftigen Lehrer" 8 herstellen will, einer<br />
gesellschaftskritisch fundierten Stellungnahme dazu, ob die „Ausbildungsbedürfnisse"<br />
denn tatsächlich die Bedürfnisse der Auszubildenden<br />
oder eben nur die Bedürfnisse der Ausbilder und ihrer Auftraggeber<br />
sind. Die sogenannte Krise der Germanistik hat ihre Ursache<br />
darin, daß die Germanistik gegenüber der ökonomischen<br />
Entwicklung in der BRD, wie sie sich vor allem seit den Sechziger<br />
Jahren vollzieht, mehr und mehr dysfunktional geworden war. Diese<br />
Entwicklung ist gekennzeichnet vor allem durch den Versuch, die<br />
relative technologische Rückständigkeit der BRD, die während der<br />
Sechziger Jahre deutlich geworden war und die sich als Gefährdung<br />
5 MEW 3, 26 f.<br />
6 Vgl. W. Benjamin, Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft. In:<br />
Angelus Novus, Frankfurt 1966, S. 450.<br />
7 Iser, a.a.O., S. 193.<br />
8 Ebenda.