Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Dieter Richter<br />
Ansichten einer marktgerechten Germanistik<br />
Kritik literaturwissenschaftlicher Studienreformmodelle 1<br />
Ich sage nichts gegen realistische Motive beim<br />
Studieren. Ich sage erst recht nichts gegen realistische<br />
Motive beim Politisieren. <strong>Das</strong> Studium soll<br />
Brot verschaffen. Aber dank unseres Produktionssystems<br />
gibt es Arten, sich Brot zu verschaffen<br />
durch Wegschaffung des Brotes anderer. Gibt es<br />
eine Art, Verdienste <strong>für</strong> sich selbst zu erzielen,<br />
welche keine Verdienste um andere sind. (Brecht)*<br />
„Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der<br />
Geschichte 8 ." Dieser Haupt-Satz materialistischer Dialektik beinhaltet,<br />
daß die Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens erst<br />
dann wirklich wissenschaftlich behandelt werden, wenn sie als<br />
geschichtliche behandelt werden; das heißt aber: wenn sie nicht als<br />
naturwüchsig, selbständig und überzeitlich beschrieben werden, sondern<br />
als Elemente des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, als<br />
von Menschen mit spezifischen Bedürfnissen und Interessen hervorgebrachte<br />
und als praktisch veränderbare 4 . Dies enthält nun nicht<br />
nur die Aufforderung an die wissenschaftlich Arbeitenden, die<br />
jeweiligen Gegenstände ihres Fachs als geschichtlich-gesellschaftliche<br />
darzustellen. Es gilt zugleich, wenn von <strong>Theorie</strong>, Geschichte und<br />
1 Überarbeitete Form eines Beitrags in: Literatur in Studium und<br />
Schule, hrsg. v. O. Schwencke, Loccum 1970 (= Loccumer Kolloquien, 1).<br />
Er bezieht sich vor allem auf: W. Iser, Überlegungen zu einem literaturwissenschaftlichen<br />
Studienreformmodell (in: Ansichten einer künftigen<br />
Germanistik, München 1969, S. 193 ff.); Rhedaer Memorandum zur<br />
Rèform des Studiums der Linguistik und der Literaturwissenschaft (Ms.)<br />
[Oktober 1969] ; Entwurf zu einem integrierten Stiudienplan der Literaturwissenschaft,<br />
Universität Konstanz (Ms.); Richtlinien <strong>für</strong> ein künftiges<br />
romanistisches Studienmodell, beschlossen in Salzburg vom Deutschen<br />
Romanistenverband (Ms.) [Oktober 1969]; W. Teschner, 7 Thesen zur<br />
Didaktik und Organisation eines Faches „Sprache und Literatur an einer<br />
gestuften Schule" (Ms.) [November 1969]; Deutscher Büdungsrat: Empfehlungen<br />
der Bildungskommission (30./31. Januar 1969); Wissenschaftsrat:<br />
Empfehlungen zur Struktur und zum Ausbau des Büdungswesens im<br />
Hochschulbereich nach 1970 [Oktober 1970], Bd. 2 (Ausbildung im Fach<br />
Germanistik). Es kam mir darauf an, an diesen Modellen typische Tendenzen<br />
exemplarisch aufzuzeigen.<br />
2 Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 20, Frankfurt 1967, S. 226.<br />
3 MEW 3, 18.<br />
4 Vgl. MEW 3, 37 f.