Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Romanistik und Anti-Kommunismus 311<br />
le in dem Augenblick gestellt,<br />
als sie von den damaligen<br />
Machthabern zum Schweigen<br />
verurteilt und in die Diaspora<br />
getrieben wurde."<br />
ten formalistischen Schule in<br />
dem Augenblick gestellt, als sie<br />
von den damaligen Machthabern<br />
zum Schweigen verurteilt<br />
und in die Diaspora<br />
getrieben wurde."<br />
Die korrekte Version freilich wäre: Jauß hat sich mit der Entdeckung<br />
der marxistischen Literaturwissenschaft über ihre Verurteilung<br />
durch ihn selbst hinaus verspätet. Was aber läßt sich<br />
daraus lernen? Es läßt sich daraus lernen, daß dem Literaturwissenschaftler<br />
(und nicht etwa nur Jauß!) in der BRD immer noch<br />
billig ist, was Herrn Szeliga vor über hundert Jahren bereits recht<br />
war 134 : der Gegenstand, über den etwas gesagt wird, ist ganz unbedeutend<br />
im Vergleich mit dem, was der Kritiker bzw. Wissenschaftler<br />
glaubt, sagen zu müssen. Jaußens „<strong>kritische</strong> Spekulation"<br />
war die Unterstellung, der Marxismus sei bei seiner Auseinandersetzung<br />
mit dem Formalismus nicht nur an seine eigenen literarästhetischen<br />
Grenzen gelangt, sondern er habe auch gegenüber dem<br />
Formalismus geistig den kürzeren gezogen und diesen endlich nur<br />
mit Brutalität zum Schweigen gebracht 135 . Diese „<strong>kritische</strong> Spekulation"<br />
war die Voraussetzung f ü r Literaturgeschichte als Provokation<br />
der Literaturwissenschaft. Sie war konzipiert und formuliert,<br />
bevor Jauß begann, sich ein wenig ernsthafter mit der marxistischen<br />
Literaturwissenschaft zu befassen. Als er die Auseinandersetzung<br />
nachholte, stand er vor der bangen Frage, ob denn eine Überprüfung<br />
des Sachverhaltes auch das Resultat erbringen würde, das er<br />
vor der Überprüfung bereits hatte in Druck gehen lassen. Anders<br />
formuliert: die nachträgliche Überprüfung mußte das Vor-Urteil<br />
bestätigen, denn hätte sie es nicht getan, hätte Jauß seine Schrift<br />
revozieren müssen.<br />
Und siehe da: das Vor-Urteil wurde (wenn auch — wie aus dem<br />
zitierten Passus der zweiten Version ersichtlich — modifiziert) so<br />
genau bestätigt, daß sogar nach dem Prinzip des schlechten Reimeschmieds<br />
der stilistische Anschluß hergestellt werden konnte. Mit<br />
diesem völlig unwissenschaftlichen Verfahren leistet Jauß einen<br />
weiteren Beitrag zum nachgerade selbstverständlichen Anti-Marxismus<br />
in der BRD, dessen Wurzeln tief in der reichs- und nazi-deutschen,<br />
ja in der wilhelminischen und vorwilhelminischen anti-sozialistischen<br />
und damit anti-wissenschaftlichen Vergangenheit stecken.<br />
134 Die Heilige Familie, MEW Bd. 2, 59—63.<br />
135 Die Tatsache, daß die Geisteswissenschaftler der BRD erst Mitte<br />
der sechziger Jahre den russischen Formalismus <strong>für</strong> sich entdeckten,<br />
erklärt keineswegs, warum dieser auch in den Werken seiner Repräsentanten,<br />
die in der „Diaspora" ja keineswegs verstummten, und darüber<br />
hinaus in allen seinen internationalen Variationen doch so offensichtlich<br />
in eine Sackgasse geriet. Wer hat denn z. B. Jauß gezwungen, sich mit<br />
dem Marxismus anzulegen, wenn nicht die evidente Unzulänglichkeit der<br />
formalistischen Methode: der Marxist braucht im übrigen in der Auseinandersetzung<br />
mit dem Formalismus diesen nicht zu verfälschen!