Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

30.01.2013 Aufrufe

310 Michael Neriich „wenn sie analog zu seiner Erklärung über die Sprachwissenschaft nun audi für die Literatur die Unabhängigkeit des Überbaus von der ökonomischen Basis postulierten 1S1 ." 1970 — in der zweiten Version seiner Schrift — gibt Jauß die allzu naiven Formulierungen einer anscheinend vertieften Problemstellung entsprechend auf. Getrieben wahrscheinlich von der freien Entscheidung zu größerer Wissenschaftlichkeit, nämlich aus Einsicht in die Notwendigkeit, wendet er sich entschlossen dem vorher nur verurteilten Marxismus zu, um ihn zu studieren. Wunderbarerweise bestätigt aber sein nachgeholtes Studium lediglich das drei Jahre zuvor gefällte Urteil: es bleibt bei der ursprünglich formulierten Verurteilung, die er — natürlich 1SS — mit einer Kritik an der „orthodoxen Widerspiegelungstheorie" rechtfertigt 1SS . Nacheinander und ohne Rangunterschiede stellte er auf knappen zehn Seiten in folgender Reihenfolge Marx, Lukâcs, Plechanow, Engels, wieder Lukâcs und Lucien Goldmann vor, um ihre Ansichten entweder partiell oder total zu verwerfen, wobei er allerdings keineswegs aus ausreichenden eigenen Marx-, Engels- oder Lenin-Studien schöpft. Sein Hauptzeuge ist Karel Kosik mit der Dialektik des Konkreten, und so wie Jauß sich zuvor die Urteile von Demetz und Erlich zu eigen gemacht und als die seinen ausgegeben hatte, macht er sich nun die von Kosik zu eigen, womit er zweierlei schafft: erstens den Eindruck zu erwecken, als könne er sich selbst kompetent zur komplizierten Problematik der marxistischen Widerspiegelungstheorie und der Beziehung von Basis und Überbau ganz allgemein äußern, und zweitens den nahtlosen Anschluß an die erste Version seiner Schrift, die die Verurteilung der Marxisten voraussetzte. Dazu bedarf es nur noch leichter Retuschen: 1. Version Konstanz, 20—21 „Das so formulierte Problem der Literaturgeschichte ist indes keine Entdeckung der marxistischenLiteraturwissenschaft. Es hat sich schon vor 40 Jahren der von ihr bekämpften formalistischen Schu- 2. Version Frankfurt, 164 „Das so formulierte Problem der Geschichtlichkeit künstlerischer Formen ist eine verspätete Entdeckung der marxistischen Literaturwissenschaft. Denn es hat sich schon vor 40 Jahren der von ihr bekämpf- 79—101, 87): „Le postulat méthodologique selon lequel la création ou la fin des formes littéraires, voire tout changement dans l'histoire d'un genre, trouve une correspondance dans la situation historique d'une société ou reçoit du moins une impulsion de celle-ci, n'est plus maintenu par la théorie marxiste et la sociologie de la littérature avec la naïveté de la théorie classique de la Widerspiegelung (littérature comme reflet de la société)." 131 Konstanz 20. 132 1970 ist in den Romanischen Forschungen (Heft 3, 417) bereits die Rede von einem „Widerspiegelungskomplex", von dem die Literatursoziologie „befreit" werden müßte! 133 Frankfurt 157.

Romanistik und Anti-Kommunismus 311 le in dem Augenblick gestellt, als sie von den damaligen Machthabern zum Schweigen verurteilt und in die Diaspora getrieben wurde." ten formalistischen Schule in dem Augenblick gestellt, als sie von den damaligen Machthabern zum Schweigen verurteilt und in die Diaspora getrieben wurde." Die korrekte Version freilich wäre: Jauß hat sich mit der Entdeckung der marxistischen Literaturwissenschaft über ihre Verurteilung durch ihn selbst hinaus verspätet. Was aber läßt sich daraus lernen? Es läßt sich daraus lernen, daß dem Literaturwissenschaftler (und nicht etwa nur Jauß!) in der BRD immer noch billig ist, was Herrn Szeliga vor über hundert Jahren bereits recht war 134 : der Gegenstand, über den etwas gesagt wird, ist ganz unbedeutend im Vergleich mit dem, was der Kritiker bzw. Wissenschaftler glaubt, sagen zu müssen. Jaußens „kritische Spekulation" war die Unterstellung, der Marxismus sei bei seiner Auseinandersetzung mit dem Formalismus nicht nur an seine eigenen literarästhetischen Grenzen gelangt, sondern er habe auch gegenüber dem Formalismus geistig den kürzeren gezogen und diesen endlich nur mit Brutalität zum Schweigen gebracht 135 . Diese „kritische Spekulation" war die Voraussetzung f ü r Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. Sie war konzipiert und formuliert, bevor Jauß begann, sich ein wenig ernsthafter mit der marxistischen Literaturwissenschaft zu befassen. Als er die Auseinandersetzung nachholte, stand er vor der bangen Frage, ob denn eine Überprüfung des Sachverhaltes auch das Resultat erbringen würde, das er vor der Überprüfung bereits hatte in Druck gehen lassen. Anders formuliert: die nachträgliche Überprüfung mußte das Vor-Urteil bestätigen, denn hätte sie es nicht getan, hätte Jauß seine Schrift revozieren müssen. Und siehe da: das Vor-Urteil wurde (wenn auch — wie aus dem zitierten Passus der zweiten Version ersichtlich — modifiziert) so genau bestätigt, daß sogar nach dem Prinzip des schlechten Reimeschmieds der stilistische Anschluß hergestellt werden konnte. Mit diesem völlig unwissenschaftlichen Verfahren leistet Jauß einen weiteren Beitrag zum nachgerade selbstverständlichen Anti-Marxismus in der BRD, dessen Wurzeln tief in der reichs- und nazi-deutschen, ja in der wilhelminischen und vorwilhelminischen anti-sozialistischen und damit anti-wissenschaftlichen Vergangenheit stecken. 134 Die Heilige Familie, MEW Bd. 2, 59—63. 135 Die Tatsache, daß die Geisteswissenschaftler der BRD erst Mitte der sechziger Jahre den russischen Formalismus für sich entdeckten, erklärt keineswegs, warum dieser auch in den Werken seiner Repräsentanten, die in der „Diaspora" ja keineswegs verstummten, und darüber hinaus in allen seinen internationalen Variationen doch so offensichtlich in eine Sackgasse geriet. Wer hat denn z. B. Jauß gezwungen, sich mit dem Marxismus anzulegen, wenn nicht die evidente Unzulänglichkeit der formalistischen Methode: der Marxist braucht im übrigen in der Auseinandersetzung mit dem Formalismus diesen nicht zu verfälschen!

310 Michael Neriich<br />

„wenn sie analog zu seiner Erklärung über die Sprachwissenschaft<br />

nun audi <strong>für</strong> die Literatur die Unabhängigkeit des Überbaus von<br />

der ökonomischen Basis postulierten 1S1 ."<br />

1970 — in der zweiten Version seiner Schrift — gibt Jauß die allzu<br />

naiven Formulierungen einer anscheinend vertieften Problemstellung<br />

entsprechend auf. Getrieben wahrscheinlich von der freien Entscheidung<br />

zu größerer Wissenschaftlichkeit, nämlich aus Einsicht in<br />

die Notwendigkeit, wendet er sich entschlossen dem vorher nur verurteilten<br />

Marxismus zu, um ihn zu studieren. Wunderbarerweise<br />

bestätigt aber sein nachgeholtes Studium lediglich das drei Jahre<br />

zuvor gefällte Urteil: es bleibt bei der ursprünglich formulierten<br />

Verurteilung, die er — natürlich 1SS — mit einer Kritik an der „orthodoxen<br />

Widerspiegelungstheorie" rechtfertigt 1SS . Nacheinander und<br />

ohne Rangunterschiede stellte er auf knappen zehn Seiten in folgender<br />

Reihenfolge Marx, Lukâcs, Plechanow, Engels, wieder Lukâcs<br />

und Lucien Goldmann vor, um ihre Ansichten entweder partiell<br />

oder total zu verwerfen, wobei er allerdings keineswegs aus ausreichenden<br />

eigenen Marx-, Engels- oder Lenin-Studien schöpft. Sein<br />

Hauptzeuge ist Karel Kosik mit der Dialektik des Konkreten, und<br />

so wie Jauß sich zuvor die Urteile von Demetz und Erlich zu eigen<br />

gemacht und als die seinen ausgegeben hatte, macht er sich nun die<br />

von Kosik zu eigen, womit er zweierlei schafft: erstens den Eindruck<br />

zu erwecken, als könne er sich selbst kompetent zur komplizierten<br />

Problematik der marxistischen Widerspiegelungstheorie und der<br />

Beziehung von Basis und Überbau ganz allgemein äußern, und zweitens<br />

den nahtlosen Anschluß an die erste Version seiner Schrift, die<br />

die Verurteilung der Marxisten voraussetzte. Dazu bedarf es nur noch<br />

leichter Retuschen:<br />

1. Version Konstanz, 20—21<br />

„<strong>Das</strong> so formulierte Problem<br />

der Literaturgeschichte ist indes<br />

keine Entdeckung der marxistischenLiteraturwissenschaft.<br />

Es hat sich schon vor<br />

40 Jahren der von ihr bekämpften<br />

formalistischen Schu-<br />

2. Version Frankfurt, 164<br />

„<strong>Das</strong> so formulierte Problem<br />

der Geschichtlichkeit künstlerischer<br />

Formen ist eine verspätete<br />

Entdeckung der marxistischen<br />

Literaturwissenschaft.<br />

Denn es hat sich schon vor 40<br />

Jahren der von ihr bekämpf-<br />

79—101, 87): „Le postulat méthodologique selon lequel la création ou la<br />

fin des formes littéraires, voire tout changement dans l'histoire d'un genre,<br />

trouve une correspondance dans la situation historique d'une société ou<br />

reçoit du moins une impulsion de celle-ci, n'est plus maintenu par la<br />

théorie marxiste et la sociologie de la littérature avec la naïveté de la<br />

théorie classique de la Widerspiegelung (littérature comme reflet de la<br />

société)."<br />

131 Konstanz 20.<br />

132 1970 ist in den Romanischen Forschungen (Heft 3, 417) bereits die<br />

Rede von einem „Widerspiegelungskomplex", von dem die Literatursoziologie<br />

„befreit" werden müßte!<br />

133 Frankfurt 157.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!