Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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308 Michael Neriich sehen Partei sind — weder in Konstanz noch in Frankfurt — als Entlastungszeugen in eigener Sache zugelassen. Dabei hätte Jauß, wenn er sich schon scheuen sollte, die „orthodoxen" Marxisten zu verhören, zumindest in der zweiten Ausgabe Leo Trotzkijs Aufsatz Die formalistische Schule der Dichtkunst und der Marxismus 127 zitieren können, zumal er bei Trotzkij selbst die Forderung nach Analyse des „Erwartungshorizontes" hätte finden können: „Die erzeugnisse des künstlerischen schaffens müssen in erster linie nach ihren eigenen gesetzen, d. h., nach den gesetzen der kunst beurteilt werden. Aber nur der marxismus ist fähig zu erklären, warum und woher in einer gegebenen epoche eine bestimmte richtung in der kunst entstanden ist, d. h. wer und warum das verlangen nach solchem und nach anderen künstlerischen formen geäußert hat 128 ." Wenn auch in diesen Sätzen Trotzkijs das ganze Programm der Schrift von Jauß (immerhin rund fünfzig Jahre früher) enthalten ist, obschon mit dem grundsätzlichen Unterschied, daß für Trotzkij die Unmöglichkeit einer anderen als marxistischen wissenschaftlichen Erklärung der ihn und ein halbes Jahrhundert später Jauß interessierenden Probleme evident ist, wäre es doch einem Wissenschaftler wie Jauß angemessener gewesen, statt der vergleichsweise oberflächlichen Bemerkungen von Trotzkij (die er immerhin auch nicht zur Kenntnis nimmt) die tatsächlich kompetenten Autoren von Marx bis Brecht zu studieren. Daß er die Arbeiten von Walter Benjamin nicht berücksichtigt, ist um so erstaunlicher, als H. Weinrich bereits 1967 in seinem Aufsatz Für eine Literaturgeschichte des Lesers (damals Merkur, inzwischen in Weinrichs Literatur für Leser) auf das Baudelaire-Fragment hingewiesen hatte. Vielleicht liegt es daran, daß Benjamins Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft erst ein Jahr vor Druck der Arbeit von Jauß in ihrer ersten Ausgabe leicht zugänglich wurde (Angelus Novus, Frankfurt/M. 1966, 450—456), daß Jauß aber auch in der zweiten Ausgabe, abgesehen von seiner einfachen Erwähnung, kein weiteres Wort über diesen Aufsatz verliert, stimmt nachdenklich. Immerhin gibt es gewisse Parallelen zwischen Benjamins Ausführung und denen von Jauß, und obendrein verfügt Benjamin, der wie Jauß mit einer Würdigung von Gervinus beginnt, zweifellos über nuanciertere Kenntnisse der Literaturgeschichte, die Jauß für die zweite Ausgabe seiner Schrift ebenso hätte berücksichtigen können wie Benjamins Forderung nach einer „Soziologie des Publikums". Vollends unverständlich ist jedoch, warum Jauß sich mit Sartres Qu'est-ce que la littérature? nicht auseinandersetzt, obwohl als völlig sicher gelten kann, daß er diesen Essay kennt. Angesichts dieser Lücken und verschiedener Nachträge in den Fußnoten der zweiten Edition, die sich leicht noch vermehren ließen, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als habe Jauß zunächst einmal ins 127 In: L. Trotzkij, Literatur und Revolution, Berlin 1968, 138—157. 128 Ib. 152: der syntaktische Fehler stammt zweifellos vom Übersetzer; es genügt, im letzten Halbsatz „und" zwischen „wer" und „warum" zu streichen.
Romanistik und Anti-Kommunismus 309 Blaue hinein entdeckt, um hinterher zu entdecken, daß vieles bereits entdeckt war. Dasselbe gilt — und zwar in verstärktem Maße — für die Korrektur, die Jauß am Marxismus vornimmt. Dabei ist beachtlich — und der Vergleich der beiden Editionen läßt die Vermutung zur Gewißheit werden —, daß Jauß in der ersten Edition seiner Schrift seine Kenntnisse des Marxismus im allgemeinen und des Streits zwischen Marxisten und Formalisten im besonderen (um mit Werner Krauss zu sprechen) aus alten „Bettelküchen" (wenn auch nicht der „trübsten", so doch immerhin noch reichlich) „trüber" „Gerüchteagenturen" bezieht, nämlich aus Peter Demetz, Marx, Engels und die Dichter. Ein Kapitel deutscher Literaturgeschichte, und Victor Erlich, Russischer Formalismus. Die Urteile von Demetz und Erlich reichen Jauß, Um sie zu seinen eigenen zu machen und mit ihnen nun seinerseits das alles entscheidende Urteil zu sprechen. Dies ist in der Tat das auffallendste Merkmal der Schrift in ihrer ersten Version und Edition: die augenscheinlich weitgehende Unkenntnis ihres Verfassers im Hinblick auf den Marxismus, den er doch dort fortzuführen und zu überwinden vorgibt, wo dieser (nach Auskunft von Jauß) an seine eigenen literar-ästhetischen Grenzen gelangt war. Daß sich bei dem von Jauß in Angriff genommenen Problem ein erster, grundsätzlicher Rekurs auf Marx angeboten hätte, liegt auf der Hand. Um so anerkennenswerter, daß Jauß in der zweiten Edition seiner Schrift nachzuholen sucht, was die Voraussetzung für die erste hätte sein müssen. Und dies ist das auffälligste Merkmal der zweiten, erweiterten Ausgabe von Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, daß Jauß nun das mit einbezogen hat, was er in der ersten nur verurteilte und was er für „den" Marxismus und „die" marxistische Literaturwissenschaft hält. Dabei hatte seine Marxismus-Kompetenz bereits in der ersten Edition ausgereicht, um den gesamten Marxismus einer radikalen Kritik zu unterziehen, wobei er nicht zögerte, die Axt an die Wurzel einer der grundsätzlichsten Erkenntnisse des historischen Materialismus zu legen, daß nicht das Bewußtsein des Menschen Sein, sondern das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein des Menschen bestimmt. Jauß weiß, daß das nicht stimmen kann und fordert daher die Marxisten auf, doch endlich „das Dogma der Überbau-Basis-Determination" (sie) aufzugeben 129 . Er forderte das mit um so ruhigerem Gewissen, als er weiß, daß die neueste (und damit gewiß „modernste") Marxismus-Richtung sich davon getrennt hat: „Ihre Verfechter konnten sich zunächst auf keine geringere Autorität als die Stalins berufen", schreibt der bürgerliche Philologe Jauß, von dem man gerne erführe, auf welche Autoritäten sich die „Verfechter" des neuen Marxismus sodann berufen konnten und wer diese Verfechter eigentlich sind 180 , 129 Paradigmawechsel in der Literaturwissenschaft, 1. c., 53. 130 Die Naivität von Jauß besteht darin, zu glauben, was er über die Naivität der Marxisten — und zwar meist im Ton des Propheten — schreibt (Littérature médiévale et théorie des genres, Poétique, 1970, 1,
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Blaue hinein entdeckt, um hinterher zu entdecken, daß vieles bereits<br />
entdeckt war.<br />
<strong>Das</strong>selbe gilt — und zwar in verstärktem Maße — <strong>für</strong> die Korrektur,<br />
die Jauß am Marxismus vornimmt. Dabei ist beachtlich — und<br />
der Vergleich der beiden Editionen läßt die Vermutung zur Gewißheit<br />
werden —, daß Jauß in der ersten Edition seiner Schrift seine<br />
Kenntnisse des Marxismus im allgemeinen und des Streits zwischen<br />
Marxisten und Formalisten im besonderen (um mit Werner Krauss<br />
zu sprechen) aus alten „Bettelküchen" (wenn auch nicht der „trübsten",<br />
so doch immerhin noch reichlich) „trüber" „Gerüchteagenturen"<br />
bezieht, nämlich aus Peter Demetz, Marx, Engels und die<br />
Dichter. Ein Kapitel deutscher Literaturgeschichte, und Victor Erlich,<br />
Russischer Formalismus. Die Urteile von Demetz und Erlich reichen<br />
Jauß, Um sie zu seinen eigenen zu machen und mit ihnen nun seinerseits<br />
das alles entscheidende Urteil zu sprechen. Dies ist in der Tat<br />
das auffallendste Merkmal der Schrift in ihrer ersten Version und<br />
Edition: die augenscheinlich weitgehende Unkenntnis ihres Verfassers<br />
im Hinblick auf den Marxismus, den er doch dort fortzuführen<br />
und zu überwinden vorgibt, wo dieser (nach Auskunft von Jauß) an<br />
seine eigenen literar-ästhetischen Grenzen gelangt war.<br />
Daß sich bei dem von Jauß in Angriff genommenen Problem ein<br />
erster, grundsätzlicher Rekurs auf Marx angeboten hätte, liegt auf<br />
der Hand. Um so anerkennenswerter, daß Jauß in der zweiten Edition<br />
seiner Schrift nachzuholen sucht, was die Voraussetzung <strong>für</strong> die<br />
erste hätte sein müssen. Und dies ist das auffälligste Merkmal der<br />
zweiten, erweiterten Ausgabe von Literaturgeschichte als Provokation<br />
der Literaturwissenschaft, daß Jauß nun das mit einbezogen<br />
hat, was er in der ersten nur verurteilte und was er <strong>für</strong> „den" Marxismus<br />
und „die" marxistische Literaturwissenschaft hält. Dabei<br />
hatte seine Marxismus-Kompetenz bereits in der ersten Edition<br />
ausgereicht, um den gesamten Marxismus einer radikalen Kritik zu<br />
unterziehen, wobei er nicht zögerte, die Axt an die Wurzel einer der<br />
grundsätzlichsten Erkenntnisse des historischen Materialismus zu<br />
legen, daß nicht das Bewußtsein des Menschen Sein, sondern das<br />
gesellschaftliche Sein das Bewußtsein des Menschen bestimmt. Jauß<br />
weiß, daß das nicht stimmen kann und fordert daher die Marxisten<br />
auf, doch endlich „das Dogma der Überbau-Basis-Determination"<br />
(sie) aufzugeben 129 . Er forderte das mit um so ruhigerem Gewissen,<br />
als er weiß, daß die neueste (und damit gewiß „modernste") Marxismus-Richtung<br />
sich davon getrennt hat: „Ihre Verfechter konnten sich<br />
zunächst auf keine geringere Autorität als die Stalins berufen",<br />
schreibt der bürgerliche Philologe Jauß, von dem man gerne erführe,<br />
auf welche Autoritäten sich die „Verfechter" des neuen Marxismus<br />
sodann berufen konnten und wer diese Verfechter eigentlich sind 180 ,<br />
129 Paradigmawechsel in der Literaturwissenschaft, 1. c., 53.<br />
130 Die Naivität von Jauß besteht darin, zu glauben, was er über die<br />
Naivität der Marxisten — und zwar meist im Ton des Propheten —<br />
schreibt (Littérature médiévale et théorie des genres, Poétique, 1970, 1,