Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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304 Michael Neriich<br />
aber hat Schalk aus seiner Sicht recht: sowenig wie Curtius kann er<br />
sich ein Studium der Werke von Engels oder Marx überhaupt nur<br />
vorstellen. Allein der Gedanke an ein Studium der „Ideen des<br />
Marxismus" ist möglich, wobei selbstverständlich ist und gar nicht<br />
in Zweifel gezogen wird, daß die „Ideen des Marxismus" falsch sind.<br />
Man studiert sie daher am besten gleich in der Kritik durch Marxologen<br />
wie M. Weber und H. Oncken. Minder wird also insofern von<br />
Schalk mißverstanden, als er gar nicht erkennt, daß Minder meint,<br />
man müsse, bevor man sich mit gesellschaftlichen Problemen auseinanderzusetzen<br />
sucht — und zu diesen gehört <strong>für</strong> Minder auch die<br />
Literatur —, Marx und Engels selbst gelesen haben. Schalk, der sich<br />
unter einem Marx-Studium nur ein Anti-Marx-Studium (notwendigerweise<br />
aus zweiter Hand) vorstellen kann, hat daher aus seiner<br />
Sicht recht: das Anti-Marx-Studium war — wie M. Weber und H.<br />
Oncken bezeugen — bereits vor 1945 betrieben worden. Unrecht hingegen<br />
hat er, wenn er behauptet, diese spezielle „Auseinandersetzung<br />
mit den Ideen des Marxismus" sei von „1933 bis 1945 unterbrochen"<br />
gewesen, denn diese Tradition der „Auseinandersetzung<br />
mit den Ideen des Marxismus", genauer: die weitgehend un<strong>kritische</strong><br />
Ablehnung des Marxismus durch die deutsche Universität, speziell<br />
die Geisteswissenschaften war durch den Faschismus nicht etwa<br />
unterbrochen worden, sondern hatte in ihm nachgerade ihren Höhepunkt<br />
und ihre Erfüllung erlebt. An diese Tradition konnte im westlichen<br />
Teil Deutschlands in der Tat sofort wieder angeknüpft werden.<br />
Der von Schalk kritisierte Minder meint freilich gerade diese<br />
Art von „Auseinandersetzung mit den Ideen des Marxismus" nicht,<br />
sondern ein Studium von Engels und Marx und die Aneignung zumindest<br />
einiger grundsätzlicher Ideen des historischen Materialismus,<br />
ohne die man heute seriös wohl keine Wissenschaft mehr betreiben<br />
kann und international auch nicht mehr betreibt.<br />
Wie nun Minder zu der zumindest suggerierten Behauptung gelangt,<br />
nach 1945 habe der historische Materialismus Einzug in die<br />
Germanistik und Geschichtswissenschaft an der deutschen Universität,<br />
worunter doch wohl in diesem Kontext die bundesrepublikanische<br />
zu verstehen wäre, halten können, weiß ich nicht: in der Romanistik<br />
ist dies auf keinen Fall geschehen. Im Gegenteil: im Verlauf<br />
der oben beschriebenen„Entideologisierung" war sogar die Negation<br />
des historischen Materialismus aus der Lehre und Forschung verschwunden<br />
und durch nichts ersetzt worden. Gewiß wäre es eine<br />
eigene Untersuchung wert, warum nicht einmal eine Rückkehr zu<br />
vormarxistischer Wissenschaftstheorie möglich gewesen ist, Tatsache<br />
ist jedenfalls, daß nach und nach überhaupt jede philosophische<br />
und wissenschaftstheoretische Reflexion aus der bundesrepublikanischen<br />
Romanistik verschwand. Die Folge war, daß nicht nur die<br />
Studenten und zukünftigen Lehrer nicht mehr im eigentlichen Sinn<br />
wissenschaftlich ausgebildet wurden, sondern daß auch die nachwachsenden<br />
Hochschullehrer bar jeder philosophischen, wissenschaftstheoretischen<br />
und methodologischen Kenntnis blieben, und<br />
als die Studenten in den Jahren seit 1966 begannen, Forderungen