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Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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214 Bernd Jürgen Warneken<br />

Produkte zu verbessern. Audi die Rede von der sinnleeren Bastelei,<br />

dem formalistischen Experiment muß unter diesem Aspekt jeweils<br />

auf ihre Stringenz hin untersucht werden. Zu fragen ist, ob nicht in<br />

einzelnen Fällen spezialistisch borniert Stoffbereiche und Verfahrungsweisen<br />

erobert werden, die später in einen vernünftigen ästhetischen<br />

und gesellschaftlichen Kontext treten können. „[...] allen<br />

großen Synthesen", argumentierte Anna Seghers in ihrem Briefwechsel<br />

mit Lukäcs, „sind sowohl bei dem einzelnen Künstler wie<br />

bei der ganzen Künstlergeneration Bestandsaufnahmen der neuen<br />

Wirklichkeit, Experimente usw. vorangegangen. Selbst der realistischste<br />

Künstler hat gewissermaßen seine .abstrakten Perioden',<br />

und er muß sie haben 26 ".<br />

<strong>Das</strong> bedeutet nun aber keinen Freibrief <strong>für</strong> Verfechter einer „Bewußtseinserweiterung"<br />

ins Blaue hinein, geschehe sie nun durch<br />

psychische Selbstmanipulationen, technizistisch verkürzte Kreativitäts-<br />

und Kognitionsübungen oder Sprachspiele, die der herrschenden<br />

Ideologie lediglich an der Syntax flicken und es dabei oft nur<br />

zur Erfindung neuer Werbeslogans bringen. Wer die mit aller Dringlichkeit<br />

gebotene Reflexion auf die ideologische und praktische<br />

Funktion seiner Kunstprodukte erst einmal mit aller Gewalt ausblendet,<br />

kann sich im Nachhinein schwerlich auf eine List der Vernunft<br />

berufen, welche die richtigen gesellschaftlichen und politischen<br />

Verknüpfungen schon herstellen werde.<br />

Gleichwohl impliziert eine <strong>Theorie</strong>, die von literarischen Produktivkräften<br />

redet, Vorbehalte gegenüber dem Verfahren, bei spätbürgerlichen<br />

Kunstrichtungen schlechthin von Dekadenz zu reden.<br />

Daß die Kunst sich nicht in ideologischen Reflexen erschöpft, die<br />

avantgardistische Kunst also nicht als bloße Folge des Niedergangs<br />

bürgerlicher Ideologie begriffen werden kann 27 , ist z. B. von Brecht,<br />

Bloch und Eisler in der Expressionismusdebatte der 30er Jahre des<br />

öfteren hervorgehoben worden. Sie verweisen dabei nicht nur auf<br />

die wachsende Vergesellschaftung der künstlerischen Produktion<br />

und Distribution und einzelne technische Erfindungen, sondern auch<br />

auf den Ausdruck, den diese Veränderungen in den innerästhetischen<br />

Verfahrungsweisen gefunden haben: „Es ist ohne weiteres zu<br />

erwarten", schreibt Brecht <strong>für</strong> den Bereich des Romans, „daß<br />

Dampfmaschine, Mikroskop, Dynamo und so weiter, öltrust, Rockefeller-<strong>Institut</strong>,<br />

Paramountfilm und so weiter in der literarischen<br />

Technik Entsprechungen haben, die sowenig wie alle diese neuen<br />

Erscheinungen selber einfach mit dem kapitalistischen System zu<br />

beerdigen sind [...]. Die Techniken der Joyce und Döblin sind nicht<br />

lediglich Verfallsprodukte [...]. In diesen Arbeiten sind in gewissem<br />

Umfang auch Produktivkräfte repräsentiert 28 ." Die literaturwissen-<br />

26 Anna Seghers, Brief an G. Lukâcs vom 28. Juni 1938, abgedruckt in:<br />

G. Lukâcs, Essays über Realismus, Neuwied und Berlin 1971, S. 351.<br />

27 Cf. dazu auch die Bemerkungen auf S. 219/220 dieses Aufsatzes.<br />

28 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 19, Frankfurt/M. 1967,<br />

S. 360 f.

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