Ingrid - tu als ob - Ingrid Bergman
Ingrid - tu als ob - Ingrid Bergman
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Erstm<strong>als</strong> erschienen in USA durch<br />
HarperCollinsPublishers, Inc.<br />
Copyright © Donald Spoto 1997<br />
"Notorious"<br />
ISBN 0 00 638813 2<br />
2009<br />
<strong>als</strong> eBook erschienen im Eigenverlag<br />
RUEGSEGGER PUBLIKATIONEN<br />
Hans Peter Ruegsegger<br />
CH-4103 Bottmingen<br />
3
"...Ich werde aussehen, <strong>als</strong> wäre ich tot.<br />
Aber ich werde es nicht sein..."<br />
(Der kleine Prinz – Antoine de Saint Exupéry)<br />
5
8<br />
I n h a l t s v e r z e i c h n i s<br />
V o r w o r t 11<br />
1 9 1 5 – 1929 17<br />
1 9 2 9 - 1 9 3 6 45<br />
1 9 3 6 - 1 9 3 8 73<br />
1939 105<br />
1940 133<br />
1941 153<br />
1942 179<br />
1943 207<br />
1944 227<br />
1945 261<br />
1 9 4 6 - 1 9 4 7 305<br />
1948 345<br />
1949 377<br />
1950 415<br />
1 9 5 1 - 1 9 5 6 439<br />
1 9 5 7 - 1 9 6 4 475
1 9 6 5 - 1 9 7 0 517<br />
1 9 7 1 - 1 9 7 5 549<br />
1 9 7 6 - 1 9 7 9 573<br />
1 9 8 0 - 1 9 8 2 599<br />
I l l u s t r a t i o n e n 621<br />
F i l m o g r a p h i e 622<br />
9
Vorwort<br />
„Die Mutter hätte mich interessiert“ sagte ich zum<br />
Buchhändler, <strong>als</strong> ich im Sommer 2006 in einer Basler Buchhandlung<br />
das mit "Mein Vater" betitelte Buch von Isabella Rossellini<br />
sah. "Wer ist das?" war die Gegenfrage. Nein, von ihr<br />
gebe es – so der Computer - nichts mehr in deutscher Sprache,<br />
ich solle aber in der englischen Abteilung nachfragen. Dort<br />
bestellte ich dann Donald Spotos grossartige, englischsprachige<br />
Biographie "Notorious" und stiess anschliessend im Internet<br />
neben <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Filmographie und Curriculum vitae<br />
noch auf einige Bilder und Kommentare.<br />
Ein Überblick über die Angebotstische im Buchhandel<br />
zeigte massenhaft Bildbände und Biographien über buchstäblich<br />
Hinz und Kunz in Hollywoods Golden Age, nur über jene<br />
Film-Ikone, die dam<strong>als</strong> nicht nur ganz Amerika in Begeisterung<br />
und frenetische Aufregung versetzte, sondern die ganze Welt<br />
in ihren Bann zog; die zeitweise die bestbezahlte Frau in Hollywood<br />
war; zu gewissen Zeiten bis zu 25'000 Fanzuschriften<br />
pro Woche (!) erhielt; die selbst den kritischsten Pressestimmen<br />
Hymnen, ja: Gebete entlockte; mit der sich auch der<br />
U.S.-Senat auf wenig rühmliche Art beschäftigte... Über die, in<br />
die sich die Welt verliebte und die durch ihr eigenes Publikum<br />
von der Heiligen zur Hetäre degradiert wurde – über sie hat<br />
der Buchhandel nichts mehr in deutscher Sprache anzubieten<br />
(die übrigens ihre Muttersprache war). Als hätte es sie nie gegeben.<br />
*) Und Scherzfrage: Kannte <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> denn<br />
*) Der Verlag MOVIE ICONS ist in jüngerer Zeit mit einem sehr ansprechenden<br />
Bild-Taschenbuch in diese Lücke gesprungen. Einige der darin<br />
enthaltenen Bilder haben mir auch <strong>als</strong> Grundlage zur einen oder andern<br />
Illustration dieses Buches gedient, wofür ich mich beim Verlag TASCHEN<br />
GmbH., Köln, sehr bedanke.<br />
11
keinen Fotographen, der das Zeug gehabt hätte, einen berauschenden<br />
Bildband von ihr zu produzieren und damit noch ein<br />
paar hochwillkommene Dollars zu verdienen? Vielleicht gehen<br />
wir aber gerechterweise davon aus, dass sie selbst dieses Defizit<br />
zu verantworten hat, war ihr doch alles, was der Glorifizierung<br />
ihrer Äusserlichkeiten diente, zutiefst suspekt. Ihre Arbeit<br />
war es, auf deren Akzeptanz durch ihr Publikum sie Wert legte.<br />
Sie wusste, dass sie sich für alles, was ihre Zukunft betraf,<br />
einzig auf die Qualität ihrer Arbeit verlassen konnte. Was sie in<br />
ihren entscheidenden jungen Jahren allerdings noch zu wenig<br />
erkennen konnte, dürfte wohl der Umstand sein, mit welcher<br />
Geschwindigkeit der Filmstil ihrer Zeit durch völlig neue Strömungen<br />
verdrängt würde.<br />
Wie auch immer - für mich persönlich eine Erkenntnis,<br />
die nach Massnahmen rief. Dem wohlbekannten "Rentnerstress"<br />
zum Trotz sprang ich <strong>als</strong>o lustvoll in diese Bresche,<br />
vom Wunsch beseelt, meinem Mass aller weiblichen Dinge aus<br />
meiner Jugendzeit einen späten Gruss aus dem dritten Jahrtausend<br />
nachzusenden. So wandte ich mich nach Fertigstellung<br />
des DVD-Video-Albums "Erinnerungen an eine bezaubernde<br />
Frau“ (bildlich-musikalisches Kaleidoskop über drei sehr verschiedene<br />
Filme) der Übersetzung von Donald Spotos Biographie<br />
"Notorious" zu, wozu hier einige Anmerkungen vorab anzubringen<br />
sind.<br />
Dass ich den Titel "Notorious" ("Berüchtigt") nicht übernehmen<br />
mochte, möge mir Donald Spoto verzeihen. Er wählte<br />
den Titel eines Films, der für <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> besondere Bedeu<strong>tu</strong>ng<br />
hatte. Der deutschen Version dieser grossartigen Lebensgeschichte,<br />
die wir nun mit den Augen (und Sinnen) des<br />
21. Jahrhunderts lesen, möchte ich aber einen Titel geben, der<br />
hintergründig einen direkten, positiven Bezug zu <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s<br />
Persönlichkeit hat. Er soll nicht nur ein Licht auf ihre<br />
gnadenlose Hingabe an ihre Arbeit werfen, sondern auch an<br />
ihre lebenslange Freundschaft zu Alfred Hitchcock und an dessen<br />
oft so treffende wie typische Pr<strong>ob</strong>lemlösungen erinnern.<br />
12<br />
Das Bemühen um historische Realität und die menschli-
che Wärme in der Beurteilung eines wirklich aussergewöhnlichen<br />
Lebenslaufs, in der auch durchaus kritische Aspekte Platz<br />
haben, bestimmen die Ausstrahlung dieses Werks dominant.<br />
Dr. Donald Spoto, seines Zeichens Theologe, Philosoph, Historiker<br />
und weltbekannter Schriftsteller und Biograph, hat sich<br />
mit gigantischem Aufwand und wissenschaftlicher Akribie<br />
durch Abertausende von Dokumenten gekämpft, w<strong>ob</strong>ei er sich<br />
auf die Unterstützung zahlloser Interviewpartner und Informanten<br />
nebst einigen tatkräftigen Helfern rund um den Erdball<br />
abstützen konnte. Sein Dank an sie alle, <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Familie,<br />
Freunde, Bekannte und Insti<strong>tu</strong>tionen aus Wirtschaft, Kul<strong>tu</strong>r<br />
und Politik, zieht sich über acht Seiten der amerikanischen<br />
Originalfassung hin. Im Hinblick auf die zeitliche und geographische<br />
Distanz zu jenen Vorgängen sei mir aber erlaubt, in<br />
der deutschsprachigen Ausgabe auf eine Wiederholung dieser<br />
Aufzählungen zu verzichten.<br />
Spotos zügiger, lebhaft-sachlicher und dennoch farbiger<br />
Erzählstil führt uns ohne unnötige Umschweife, Mutmassungen<br />
und Spekulationen durch dieses hochinteressante Leben. Wenn<br />
an einigen Stellen sehr detaillierte Schilderungen zu gewissen<br />
Längen führen, ist dies der besonderen Bedeu<strong>tu</strong>ng zuzuschreiben,<br />
die der betreffende Vorgang oder Lebensabschnitt für<br />
<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> gehabt hat. Einzelne Abschnitte sind für filmhistorisch<br />
interessierte Leser von besonderem Interesse. Dann<br />
und wann sagen ein umgangssprachlicher oder herzhafter<br />
Slang-Ausdruck zwischen den Zeilen mehr <strong>als</strong> 100 Worte. Dieses<br />
sprachliche Ambiente habe ich versucht, in möglichst äquivalenter<br />
Form herüberzubringen. Dagegen habe ich einige Originalzitate<br />
und <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s rührendes Gedicht für Kay<br />
Brown in der Originalfassung belassen, sei es, weil sie in der<br />
Origin<strong>als</strong>prache filmhistorische Bedeu<strong>tu</strong>ng erlangt haben oder<br />
weil deren Übersetzung in jedem Fall zu einer erheblichen Verfälschung<br />
der ursprünglichen Ausdruckskraft der Texte geführt<br />
hätte. Ausserdem finden Sie die Bonmots und Zitate von Literaten<br />
und Prominenten jeder Couleur, die Donald Spoto dem<br />
Buch und jedem seiner Kapitel symbolhaft vorangestellt hat,<br />
hier ersetzt durch Zitate von <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> selbst oder durch<br />
13
Fremdzitate über sie, die in irgendeinem Zusammenhang mit<br />
ihrem weiteren Lebensverlauf im folgenden Kapitel stehen.<br />
Den Leserinnen und Lesern, die in der vorliegenden<br />
eBook-Ausgabe etwas nachschlagen oder nachlesen möchten,<br />
sei die Benutzung der Suchroutine (bei Ad<strong>ob</strong>e Acr<strong>ob</strong>at Reader:<br />
>Bearbeiten >Suchen resp. Eingabefeld in Werkzeugleiste<br />
<strong>ob</strong>en rechts) empfohlen, mittels welcher Sie durch Eingabe<br />
eines x-beliebigen Suchbegriffs in Sekundenschnelle an irgendeine<br />
Stelle dieser ungewöhnlichen Lebensgeschichte gelangen.<br />
Dieser Komfort ersetzt auch das umfassendste Stichwortverzeichnis.<br />
À propos: Mag man sich schliesslich fragen, was denn<br />
diese Lebensgeschichte so ungewöhnlich mache. Bestimmt all<br />
das, was <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> an extremen Höhen und Tiefen,<br />
Freude und Entsagung, an Glück und Elend, jugendlichem Eifer<br />
und reifer Vernunft am Ende ihres Lebens klaglos und ohne<br />
Bitterkeit <strong>als</strong> das verstanden und akzeptiert hat, was es war:<br />
ein hochinteressanter, gelegentlich auch dramatischer Lebensweg<br />
- das reiche, leidenschaftliche Leben einer bezaubernden<br />
Frau, die die Welt bewegen konnte.<br />
Weihnacht 2008 Hans Peter Ruegsegger<br />
14
Courtesy MOVIE ICONS -Verlag<br />
15
"Ich wusste nicht, wie ich weiterleben sollte;<br />
klar, ich lebte - wir alle überleben."<br />
1915 – 1929<br />
(<strong>Ingrid</strong> über ihre Lebenssi<strong>tu</strong>ation <strong>als</strong> 13-Jährige)<br />
ES WAR EIN HELLER, WOLKENLOSER SOMMERTAG in<br />
Stockholm. Die Sonne warf ihre langen, leuchtenden Abendstrahlen<br />
über Nybroviken, eine Bucht des Stockholmer Hafens,<br />
und die behäbigen 19.-Jahrhundert-Fassaden der Wohnhäuserreihen,<br />
welche die Küste säumten, strahlten im schräg einfallenden<br />
Abendlicht um die Wette. Die Turmglocke der Kirche im<br />
Quartier schlug eben viertelnachsechs Uhr abends am Sonntag,<br />
29. August 1915, <strong>als</strong> im <strong>ob</strong>ersten Stockwerk am Strandvägen<br />
3 eine Hebamme ins Wohnzimmer eilte, wo ein besorgter<br />
Mann durch die Fenster des 6. Stocks auf die ruhige Bucht<br />
starrte. Mutter und Kind seien wohlauf, sagte sie, und es gebe<br />
keinerlei Grund zu irgendwelcher Besorgnis. Eine halbe S<strong>tu</strong>nde<br />
später durfte der neugebackene Vater seine Frau und sein<br />
Töchterchen sehen. Jus<strong>tu</strong>s <strong>Bergman</strong> (44) und seine Frau Frieda<br />
Adler <strong>Bergman</strong> (30) beschlossen spontan, ihr Mädchen zu<br />
Ehren der zweijährigen schwedischen Prinzessin <strong>Ingrid</strong> zu nennen.<br />
Dem Kai entlang brachten Fähren Familien von ihrem<br />
Tagesausflug nach Stockholm zurück, denn die Schweden besuchen<br />
gerne ihre dänischen, norwegischen und finnischen<br />
Nachbarn. Der Weltkrieg, der im übrigen Europa herrschte,<br />
17
unterband derweil den üblichen Zustrom von deutschen Touristen.<br />
In den nahegelegenen Parks um die Königliche Oper und<br />
das Königliche Schauspielhaus wurden die jungen Damen von<br />
ihren Kavalieren zu einem Glas Sommerwein oder einer Tasse<br />
Schokolade ausgeführt und Nachbarn trafen sich zu einem<br />
Schwatz. Elegante Kaffeeorchester und einfache Strassenmusikanten<br />
spielten Walzer und volkstümliche Landmusik. Dem<br />
ganzen dreigeteilten Strandvägen entlang – einem Boulevard<br />
mit exquisiten Läden und stattlichen Apartmenthäusern – war<br />
formell-höfliche Unterhal<strong>tu</strong>ng, das Rauschen von Seidenr<strong>ob</strong>en<br />
und das Klacken von feinen Lederschuhen zu hören. Spaziergänger<br />
schlenderten tagsüber durch die Galerien und schicken<br />
Läden und bevölkerten abends die trendigen Tea-Rooms und<br />
Grill-Restaurants. Es war eben die Hochsommer-Ferienzeit und<br />
ganz Stockholm mit seinen 400'000 Einwohnern – in einem<br />
Land von 5,5 Mio. – schien es zu geniessen.<br />
Mit seiner festlichen Hochstimmung machte das Land<br />
diesen Sommer in Europa eine Ausnahme, denn die Schweden<br />
haben während des Kriegs zwar ihre politische, nicht aber ihre<br />
wirtschaftliche Neutralität bewahrt. Deutschland lieferte Kohle<br />
für schwedischen Stahl, Papier und Kugellager, ein Vorgang,<br />
der die Alliierten derart verärgerte, dass ihre gelegentlichen<br />
Blockaden zu Nahrungsmittel-Engpässen führten, die Schwedens<br />
Arme in Not brachten. Namentlich auch dieses Pr<strong>ob</strong>lem –<br />
unter andern – führte später zur Bildung einer sozialistischen<br />
Regierung.<br />
Ungeachtet des politischen Lärms, den gewisse den<br />
kriegführenden Ländern zugewandte Politiker vollführten, wurde<br />
der unprätentiöse, disziplinierte Alltag der Bevölkerung<br />
durch König Gustav V., den machtlosen, vom Volk aber verehrten<br />
und geliebten Monarchen und Prinzessin <strong>Ingrid</strong>s Vater bestimmt.<br />
Er und seine Familie liebten Oper und Theater, deren<br />
seit 1788 zur laufenden Praxis gehörende Vorführungen sie<br />
regelmässig besuchten. Schweden unterhielt die ehrwürdige<br />
Tradition der staatlich geförderten Kul<strong>tu</strong>r, die Wandertheater,<br />
Konzerte und Ausstellungen in Dörfern wie auch in Stockholm<br />
und Göteborg förderte. Weil die Pressefreiheit seit 1766 garan-<br />
18
tiert war, wurden die öffentliche Meinungsbildung und die<br />
künstlerische Experimentierfreude nie durch Zensur behindert.<br />
Am stärksten umstritten unter den Werken, die während<br />
des ersten Weltkriegs zur Aufführung gelangten, waren<br />
die des führenden Dramatikers des Landes, August Strindberg,<br />
der 1912 verstarb. Sein Werk verband ungeschminkte Leidensgeschichten<br />
mit der eindrücklichen Schilderung sozialer<br />
Pr<strong>ob</strong>leme. Beides: der extreme Realismus und der provokative<br />
Symbolismus seines Werks faszinierten das städtische Publikum<br />
in zunehmendem Masse. Gleichzeitig forderte die aufstrebende<br />
Lyrikerin Selma Lagerlöf (die erste Frau, die 1909 den<br />
Litera<strong>tu</strong>r-N<strong>ob</strong>elpreis gewann) mit den moralischen Dilemmen<br />
in ihren lyrischen Werken eine erweiterte Gesellschaftsordnung.<br />
Aber das populärste Unterhal<strong>tu</strong>ngsmedium lieferte die<br />
blühende schwedische Filmindustrie.<br />
Bis vor Kurzem galt Dänemark <strong>als</strong> die führende Nation<br />
in der Filmproduktion (ein noch keine zwei Jahrzehnte altes<br />
Medium!) und beim Einsatz von Musikern, welche die flackernden<br />
S<strong>tu</strong>mmfilme in improvisierten Vorführräumen begleiteten.<br />
In den Kopenhagener Laboratorien entwickelten sich die Kameratechnologien<br />
aber schnell, begünstigt durch die kühnen<br />
Visionen von Regisseuren wie Viggo Larsen und Benjamin<br />
Christensen, wie auch durch Schauspieltalente wie Asta Nielsen,<br />
die sowohl <strong>als</strong> Trendsetterin wie auch <strong>als</strong> tragische Heldin<br />
einen grossen Namen hatte. Diese Talente produzierten Serien<br />
von melodramatischen Filmen und lancierten damit in der Tat<br />
die Entstehung des europäischen Starwesens. Es war dann<br />
1912, <strong>als</strong> sich der schwedische Geschäftsmann Charles<br />
Magnusson drei Partner suchte, mit welchen er in Stockholm<br />
ein Unternehmen gründete, das eine erstaunliche Vielfalt von<br />
Kunstfilmen produzierte, die auch packende Unterhal<strong>tu</strong>ng boten.<br />
Innerhalb von vier Jahren hatte Schweden im internationalen<br />
Filmgeschäft die Führung übernommen, w<strong>ob</strong>ei die Konkurrenz<br />
der kriegführenden Nationen natürlich fehlte. Schwedi-<br />
19
sche Filme wurden zum erfolgreichen Exportgut – sehr zum<br />
Nutzen natürlich von Magnusson, dem die Ehre zukommt, diese<br />
Chancen erkannt und genutzt zu haben. Zusammen mit<br />
dem russisch-finnischen Theater-Regisseur Mauritz Stiller, dem<br />
schwedischen Schauspieler-Manager Victor Sjöström und dem<br />
Kameramann Julius Jaenzon übernahm er das an sich farblose<br />
Filmunternehmen Svenska Bio, das aber auf dem Weg war,<br />
internationale Anerkennung zu finden. Zwischen 1912 und<br />
1916 produzierte das Unternehmen eine ganze Reihe stark<br />
beachteter Filme, w<strong>ob</strong>ei Sjöström und Stiller dem schwedischen<br />
Film auch eine ganz neue Ausrich<strong>tu</strong>ng gaben.<br />
So stellten Filme 1915 im geschäftigen Stockholm wohl<br />
das populärste Unterhal<strong>tu</strong>ngsmedium dar. Da konnte es auch<br />
nicht verwundern, dass dieser Erfolg von einem wilden S<strong>tu</strong>rm<br />
sowohl auf Fotoapparate wie Filmkameras und Heimprojektoren<br />
für jedermann begleitet war. Die Leute, die es sich leisten<br />
konnten, sparten allgemein Geld für diese Anschaffungen zusammen.<br />
IN DIESER BEZIEHUNG war <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Vater ein<br />
glücklicher Mann. Er wurde im Mai 1871 in der südschwedischen<br />
Provinz Kron<strong>ob</strong>erg <strong>als</strong> Sohn von Johan Petter <strong>Bergman</strong>,<br />
einem renommierten Organisten, Lehrer und Musiker geboren,<br />
der seinen 14 Kindern eine lebenslange Leidenschaft für Musik<br />
mitgab. Das dreizehnte Kind, Jus<strong>tu</strong>s, wollte Künstler werden.<br />
Er verliess das Elternhaus mit fünfzehn Jahren, arbeitete <strong>als</strong><br />
Ladengehilfe und erh<strong>ob</strong> sich jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe,<br />
um etwas Zeit an der Staffelei verbringen zu können.<br />
Jus<strong>tu</strong>s konnte die Bekanntschaft des Malers Anders Zorn machen,<br />
der ihm kostenlosen Unterricht anbot, unter der Bedingung<br />
allerdings, dass er für seinen Unterhalt selbst aufkomme.<br />
Im Spätjahr 1889 waren Jus<strong>tu</strong>s' Mittel aber aufgebraucht,<br />
weshalb er nach Chicago emigrierte, wo die Schwester seiner<br />
Mutter mit ihren Kindern lebte und wo er auch bald eine Anstellung<br />
<strong>als</strong> Dekorateur für eine neue Hotelkette fand. Er war<br />
dam<strong>als</strong> ein grosser, hübscher, blauäugiger junger Mann mit<br />
20
angenehmer Ausstrahlung, ein zwar etwas unordentliches aber<br />
dennoch attraktives Individuum, das ein berühmter Maler oder<br />
Opernstar werden wollte und immer noch hoffte, dieses Ziel<br />
irgendwie zu erreichen.<br />
Nach zehn Jahren kehrte Jus<strong>tu</strong>s nach Stockholm zurück<br />
und eröffnete ein Geschäft <strong>als</strong> Kunsthändler. Dieses brachte<br />
aber kaum das Nötigste zum Leben ein, weshalb Jus<strong>tu</strong>s bald<br />
darüber nachsann, sich <strong>als</strong> Impresario zu betätigen. Ein guter<br />
Rat kam dann aber von Jus<strong>tu</strong>s' Cousin, dem bekannten<br />
Stimmbildner Karl Nygren. Nachdem er privaten Mal- und Gesangunterricht<br />
genossen hatte, erhielt Jus<strong>tu</strong>s von Nygren die<br />
Gelegenheit, von Okt<strong>ob</strong>er 1903 bis März 1906 <strong>als</strong> Chorleiter<br />
einen Chor auf Amerika-Tournée zu begleiten, der schwedischamerikanische<br />
Gemeinden in Minnesota, Wisconsin, Illinois und<br />
Maine besuchte. Von diesem Abenteuer kam er zwar begeistert<br />
aber praktisch mittellos zurück, sodass er gelegentlich sogar<br />
auf die Gastfreundschaft seines Bruders und seiner Schwägerin<br />
Otto und Hulda <strong>Bergman</strong> (die mit einer Anzahl Kinder in ihrer<br />
bereits überbelegten Stockholmer-Wohnung lebten) angewiesen<br />
war, oder auch auf die Hilfe seiner ledigen Schwester, der<br />
frommen und gebrechlichen Ellen <strong>Bergman</strong>, die an einem angeborenen<br />
Herzfehler litt, zurückgreifen musste.<br />
Jus<strong>tu</strong>s hätte sein Leben <strong>als</strong> kämpfender Ästhet wohl<br />
noch fortsetzen können. Gegen Ende 1906 im Alter von 35<br />
Jahren wuchs in ihm aber der Wunsch heran, ein hübsches,<br />
rundliches deutsches Mädchen namens Frieda Adler zu heiraten.<br />
Vor sechs Jahren hatte er sie kennengelernt <strong>als</strong> sie mit<br />
ihren Eltern aus Kiel die Ferien in Schweden verbrachte. Frieda<br />
war im September 1884 in Kiel geboren und kam mit 16 erstm<strong>als</strong><br />
nach Stockholm, wo sie bei einem Nachmittagsspaziergang<br />
im Park den Sketchkünstler Jus<strong>tu</strong>s <strong>Bergman</strong> sah. Dieser<br />
war ihrer sanften Art, ihren faszinierenden und verführerischen<br />
dunkeln Augen und ihrem auffällig gesunden Menschenverstand<br />
auf der Stelle verfallen. In diesem Frühjahr 1900 blühte<br />
diese Romanze mit dem Flieder. Jus<strong>tu</strong>s sprach schon deutsch<br />
und brachte Frieda nun elementare Schwedischkenntnisse bei.<br />
Aber Friedas Eltern waren hartnäckig und liessen nicht zu, dass<br />
21
ihre Tochter einen erfolg- und mittellosen Quasi-Künstler heiratete.<br />
Sie musste eine gute Partie machen, wie ihre beiden<br />
ältern Schwestern Elsa und Luna. Jus<strong>tu</strong>s gelang es dann, bei<br />
einem Apparatehersteller eine Stelle zu finden, die ihm ermöglichte,<br />
auf ein respektables Gehalt hinzuarbeiten. So beeindruckte<br />
er die Adlers durch seine Strebsamkeit in der Weise,<br />
dass sie bei seinem vierten Besuch in Kiel im Frühjahr 1907,<br />
bei dem er um Friedas Hand anhielt, ihren Widerstand aufgaben.<br />
Siebenjähriges Werben – mussten sie zugeben – war kein<br />
Zeichen für eine kurze und <strong>ob</strong>erflächliche Leidenschaft, und<br />
kam dazu, dass Jus<strong>tu</strong>s jetzt doch über respektable Rücklagen<br />
verfügte.<br />
Als <strong>Ingrid</strong> viele Jahre später die Briefe las, die ihre Eltern<br />
während dieser langen "Verl<strong>ob</strong>ungs"-Zeit ausgetauscht<br />
hatten, gewann sie den Eindruck, dass sie ein Musterbeispiel<br />
an Gegensätzen waren. Ihre Mutter, sagte sie, sei "typisch<br />
deutsch, extrem praktisch veranlagt, systematisch und ordnungsliebend<br />
gewesen. Aber ihr Vater hatte alle Züge eines<br />
Künstlers und Bohémiens. Er war es, der alle Kompromisse<br />
einging, die diese Heirat erforderte. Gegen seine Na<strong>tu</strong>r wurde<br />
er zum Geschäftsmann", und sein Entscheid, dessen war sie<br />
sich sicher, liess ihn vieles bedauern, worauf er so eben verzichten<br />
musste. Eine seiner späteren Mitarbeiterinnen nannte<br />
ihn etwas weniger prosaisch "einen Träumer".<br />
Die Neuvermählten kehrten nach Stockholm zurück, wo<br />
Jus<strong>tu</strong>s bald eine Stelle in einem Geschäft fand, das Künstler<br />
und Fotografen belieferte. Aber er gab weder seine kreativen<br />
Interessen noch seine fixe Idee, ein Künstler zu sein, auf. Nach<br />
jemandem, der ihn kannte, "war er eine stadtbekannte Figur,<br />
ein netter und fröhlicher Geselle, den man in jeder Menschenmenge<br />
sofort an seinem hohen Künstlerhut erkennen konnte.<br />
Frieda posierte mehrm<strong>als</strong> geduldig für ihn und er selbst begleitete<br />
sich regelmässig am Klavier, wenn er schwedische und<br />
deutsche Balladen schmetterte.<br />
Frieda hatte 1908 einen Abor<strong>tu</strong>s und vier Jahre später<br />
wurde ihr frühgeborenes Kind nur eine Woche alt. Aber sie war<br />
22
eine disziplinierte Seele, gewohnt, ihre Emotionen zu unterdrücken<br />
und sie schien so vernünftig-pragmatisch zu sein, wie ihr<br />
Gatte lyrisch-romantisch. Als Jus<strong>tu</strong>s wochenlang an einem<br />
Herzpr<strong>ob</strong>lem litt, gestattete sich seine Frau weder Selbstmitleid<br />
noch jedwelche sonstigen Klagen. Immer pflichtbewusst,<br />
erfüllte sie all' die Aufgaben, für die sie von ihrer Mutter erzogen<br />
wurde. Frieda führte einen makellosen Haushalt, führte die<br />
Haushaltkasse und <strong>als</strong> erstklassige Köchin, die sie war, versorgte<br />
sie Jus<strong>tu</strong>s und sich mit reichhaltiger und deftiger deutscher<br />
Küche. Während Jus<strong>tu</strong>s ein seiner Einmeterneunzig-<br />
Sta<strong>tu</strong>r angemessenes Gewicht hielt, verlor sie an Gewicht. Ihre<br />
gelegentlichen Magenschmerzen schienen die logische Folge<br />
kulinarischer Zügellosigkeiten zu sein und verlangten während<br />
den folgenden Tagen ein spartanischeres Regime.<br />
Als <strong>Ingrid</strong> geboren wurde, hatte Jus<strong>tu</strong>s <strong>Bergman</strong> es bereits<br />
geschafft, am Strandvägen sein eigenes Fotogeschäft zu<br />
führen – und Kameras waren nun im filmverrückten Stockholm<br />
der Renner. Auch die etwas teureren Filmkameras, nun auch<br />
für den Amateur erschwinglich geworden, waren auf dem<br />
Markt, und Jus<strong>tu</strong>s, der ein neues Modell nach dem andern<br />
nachhause mitnahm, füllte leidenschaftlich Albums mit Fotos<br />
und Filmdosen mit endlosen Filmen von seiner Frau, seinen<br />
Brüdern und Schwestern, wie auch mit dokumentarischen Hafenmotiven.<br />
Immer professionellere Ausrüs<strong>tu</strong>ngen wurden den<br />
<strong>Bergman</strong>s zugänglich, <strong>als</strong> Papa Direktor von Konstindustri,<br />
einer Produktionsfirma für technische Ausrüs<strong>tu</strong>ngen für Kunst,<br />
Fotografen und die Filmindustrie wurde. "Wir waren nicht reich,<br />
aber wir lebten komfortabel" sagte <strong>Ingrid</strong> Jahre später, und<br />
Vater habe es sich leisten können, auch seinen H<strong>ob</strong>bies zu frönen:<br />
so belastete das Opern-Saisonabonnement für sich und<br />
seine Frau das Budget nicht mehr <strong>als</strong> die neueste Kamera.<br />
Später umgab sich <strong>Ingrid</strong> stets mit eingerahmten Fotografien<br />
von sich selbst und ihrer Familie. Nach Jahren fand sie<br />
auch jene vierzehn Minuten Heimkino, das einzige Stück, das<br />
den schnellen Zerfall überlebt hatte, dem die frühen Filmqualitäten<br />
jener Zeit ausgeliefert waren. In der ganzen Sammlung<br />
ist niemand so häufig zu sehen, wie das Kind <strong>Ingrid</strong>, das sich<br />
23
schon dam<strong>als</strong> in einer Vielzahl von Kostümen präsentierte,<br />
während Vaters Apparate klickten und surrten. Dank ihres Vaters<br />
war sie schon in ihrer Kindheit vielleicht das meistfotografierte<br />
Kind Schwedens. An ihrem ersten Geburtstag stand sie<br />
locker und lächelnd vor Papas Kamera und winkte mit den<br />
Händchen in freudiger Erregung über die ihr zuteilwerdende<br />
Aufmerksamkeit. Zu Weihnachten 1917, sie war dam<strong>als</strong> zweijährig,<br />
fotografierte Jus<strong>tu</strong>s sie und Frieda auf der Treppe zum<br />
Königlichen Theater, in nächster Nähe zu ihrem Heim.<br />
Zu Beginn des Jahres 1918 wurde die fröhliche Routine<br />
des <strong>Bergman</strong>-Haushalts jäh unterbrochen. Mit Fieber und<br />
Übelkeit musste Frieda für ein paar Tage das Bett hüten. Zunächst<br />
dachte niemand, sie leide unter mehr <strong>als</strong> einem neuen<br />
"Magensäure-Anfall", der üblichen Diagnose einer Befindlichkeit,<br />
die nachgerade chronisch wurde, speziell nach den üppigen<br />
Mahlzeiten der Ferienzeit. Aber am zwölften Januar war sie<br />
in einer ununterbrochenen Agonie, und um <strong>Ingrid</strong> diesen Anblick<br />
zu ersparen, wurde sie zu Onkel Otto und Tante Hulda<br />
mit ihren Kindern geschickt.<br />
Friedas Zustand verschlechterte sich mit jeder S<strong>tu</strong>nde,<br />
ihr Gesicht verfärbte sich gelb, sie erbrach sich heftig und litt<br />
unter starken Bauchschmerzen. Der herbeigerufene Arzt diagnostizierte<br />
eine Gallenblasenerkrankung und wies sie unverzüglich<br />
ins Spital ein. Aber noch während ihr Transfer organisiert<br />
wurde fiel sie ins Koma. Am Donnerstag, 18. Januar wurde<br />
ihr Atem sehr schwach und unregelmässig. Nach einem<br />
zermürbenden Kampf während des ganzen folgenden Tages<br />
starb Frieda <strong>Bergman</strong> am Freitag um zehn Uhr abends ohne<br />
das Bewusstsein wieder erlangt zu haben. Sie war 33 Jahre alt.<br />
"Ich kann mich an meine Mutter überhaupt nicht erinnern",<br />
sagte <strong>Ingrid</strong> oft. "Vater filmte mich auf ihrem Schoss <strong>als</strong><br />
ich jährig war, und dann wieder mit zwei Jahren – und mit drei<br />
Jahren filmte er mich, wie ich Blumen auf ihr Grab legte." Diese<br />
kurze, spezielle Friedhofszene, die auf Film überlebt hat,<br />
mag Jus<strong>tu</strong>s <strong>Bergman</strong>s Art gewesen sein, wie er sein H<strong>ob</strong>by<br />
nutzte, um mit seinem Schmerz fertig zu werden, der ihn wäh-<br />
24
end Monaten in eine schwere Depression stürzte. Aber sein<br />
Zeitvertreib hatte eine seltsame Folgeerscheinung, denn während<br />
ihrer Kindheit wurde <strong>Ingrid</strong> umgeben von Fotos ihrer Mutter,<br />
die letztlich nichts weiter <strong>als</strong> ein Schwarzweissbild war und<br />
blieb – und deren Abwesenheit dadurch erst richtig betont<br />
wurde. Als <strong>Ingrid</strong> das Schulalter erreichte, begriff sie erstm<strong>als</strong><br />
so richtig, wie sehr sie sich von andern Kindern unterschied:<br />
Da fehlte jemand, der nach den Gesetzen des Lebens hier sein<br />
müsste. Und je mehr die Familie versuchte, ihr einen Ausgleich<br />
für die fehlende Mutterliebe zu bieten, desto heftiger empfand<br />
sie den Mangel.<br />
PAPAS FILMEREI BESCHÄFTIGTE IHN während dieses<br />
ganzen Sommers von 1918. An ihrem dritten Geburtstag wurde<br />
<strong>Ingrid</strong> eine kleine Violine in die Hand gelegt. Ohne Umstände<br />
begann sie, einen Vir<strong>tu</strong>osen zu mimen, w<strong>ob</strong>ei sie allerdings<br />
nicht auf das Instrument, sondern unverwandt in die Kamera<br />
blickte. An ihrem vierten Geburtstag schnappte sich <strong>Ingrid</strong> –<br />
ein lebhaftes Kind mit honigblondem Haar und wachen blauen<br />
Augen – Grossmutter Adlers Brille und Hut und bot eine äusserst<br />
lustige Imitation einer deutschen Witwe. Während des<br />
Sommers wurde <strong>Ingrid</strong> dabei gefilmt, wie sie Brotkrumen an<br />
die Vögel verfütterte oder im nahegelegenen Berzelius-Park<br />
ihren Lutscher bearbeitete. An den wenigen hellen Winternachmittagen<br />
filmte sie Jus<strong>tu</strong>s, wie sie richtig süss in einen<br />
flauschigen Anzug verpackt unter einer hübschen Wollmütze<br />
hervorlachte. Und so wurde ein Star geboren und grossgezogen.<br />
"Mit zunehmendem Alter ermutigte er mich, mich zu<br />
verkleiden und kleine Gags zu improvisieren" erinnerte sich<br />
<strong>Ingrid</strong> an ihren Vater, der sich beim Fotografieren oft rasch<br />
neben sie stellte – eben ein Schauspieler und Regisseur! Doch<br />
die Familie befand, dass ein Kind einen Mutterersatz brauche.<br />
So traf im späten Frühjahr 1918 Jus<strong>tu</strong>s' Schwester Ellen in der<br />
Wohnung am Strandvägen ein. Eine kleine, kräftige ledige<br />
Dame von 49 Jahren, die ihr Leben mit der Pflege von kranken<br />
25
oder unpässlichen Verwandten verbrachte und sich mit wohltätiger<br />
Arbeit für die Lutherischen Gemeinden einsetzte. Doch<br />
dieses Jahr zwangen sie Herzbeschwerden, bei einigen ihrer<br />
strengeren kirchlichen Aufgaben kürzer zu treten. So widmete<br />
sie sich grosszügig und aufopfernd ihrem Bruder und ihrer<br />
Nichte mit Nähen, Kochen und Putzen.<br />
Was Wunder <strong>als</strong>o, dass <strong>Ingrid</strong> Tante Ellen bald Mama<br />
nannte, was sie an einem kirchlichen Anlass in einige Verlegenheit<br />
stürzte, weil man Fräulein <strong>Bergman</strong> dort nur <strong>als</strong> ledige<br />
Dame kannte. Das nächste Pr<strong>ob</strong>lem für Tante Ellen hatte seinen<br />
Grund in den Kapriolen, die Jus<strong>tu</strong>s und <strong>Ingrid</strong> bei ihren<br />
kleinen Pantomimen für die Kamera vollführten. Zur eigenen<br />
Freude und der jener, die zuhören wollten, erfand <strong>Ingrid</strong> während<br />
ihrer Kindheit eine Reihe lustiger Charaktere und Spielgefährten<br />
– einen Heiligen, eine Hexe, einen Hässlichen, einen<br />
Erzieher, ein Kind, einen Esel oder eine Schildkröte. Für Ellen<br />
<strong>Bergman</strong> hatten diese Kapriolen etwas mit Schauspielerei zu<br />
<strong>tu</strong>n und Schauspielerei war das Werk gottloser Seelen: ein<br />
gutes Leben war für Ellen ein seriöses Leben und nicht eines<br />
von Imitation und Angeberei.<br />
DEN SOMMER 1918 – und wenigstens einen Teil jedes<br />
Sommers während den folgenden Jahren – verbrachte <strong>Ingrid</strong><br />
bei ihren Grosseltern Adler in Deutschland. Jus<strong>tu</strong>s pflegte <strong>Ingrid</strong><br />
jeweils nach Hamburg oder Kiel zu bringen und einen Tag<br />
dort zu bleiben. Dann küsste er seine Tochter bye bye, winkte<br />
seinen "Angeheirateten" zu und verschwand in Rich<strong>tu</strong>ng Paris,<br />
London oder Kopenhagen. Ihr Vater wollte sicher nur das Beste<br />
für sein Kind, das er im Schosse einer grösseren Familie geborgen<br />
wissen wollte. Aber mit jedem weiteren Sommer fühlte<br />
sich <strong>Ingrid</strong> bei der Ankunft bei ihren Grosseltern verlassener<br />
und verlorener. Während ihr Vater ein unkomplizierter, fröhlicher<br />
Mensch war, war der Adler Haushalt ein Tempel teutonischer<br />
Ordnung und Sauberkeit. <strong>Ingrid</strong> war unglücklich mit der<br />
strikten Disziplin, den Spannungen, die ihr kindliches Verhalten<br />
auslöste und überhaupt mit der ganzen Fremdartigkeit des<br />
häuslichen Regimes im Vergleich zum Leben am Strandvägen.<br />
26
Die Begegnungen mit Mutters Schwestern Elsa und Luna<br />
waren angenehmer. Beide hatten gute Partien gemacht,<br />
aber Lunas Leben war vom Verlust ihres Ehemannes überschattet,<br />
der im Krieg gefallen war. Elsa – die von <strong>Ingrid</strong> "Tante<br />
Mutti" genannt wurde – war die Einzelgängerin im Adler-<br />
Clan. Ihr Mann war ein französischer Unternehmer, der, wenn<br />
er vom fruchtbaren Boden der Karibik und den billigen Arbeitskräften<br />
hörte, sofort Berge von Kaffee und Tonnen von Geld<br />
roch. Als <strong>Ingrid</strong> ihre Jungmädchen-Ferien in Deutschland verbrachte,<br />
war Tante Muttis Ehemann mit der Überwachung seiner<br />
Plantagen in Haiti und Jamaica und der Bewunderung der<br />
exotischen Frauen beschäftigt. Elsa ihrerseits führte in ihrem<br />
ummauerten Anwesen ausserhalb Hamburgs ein Leben in extremem<br />
Luxus, und ihren kleinen Stab von Bediensteten führte<br />
sie wie ein Drill-Sergeant. Dass diese Ehe definitiv in Brüche<br />
ging, <strong>als</strong> der ältere von Elsas beiden Söhnen auf Haiti an einem<br />
tropischen Fieber starb, wunderte niemanden in der Familie.<br />
So wurde Mutti Adler während fast zwanzig Jahren ihres<br />
Lebens zu <strong>Ingrid</strong>s Teilzeit-Ersatzmutter neben Tante Ellen. Sie<br />
brachte <strong>Ingrid</strong> gutes Deutsch bei, sie ermunterte sie, kurze<br />
deutsche Lyrik zu lesen, auswendig zu lernen und zu rezitieren<br />
und deutsche Lieder zu singen, alles sicher auch zur Freude<br />
ihres Vaters, wenn er sie am Ende des Sommers wieder nachhause<br />
zurückholte. Die Rückkehr bedeutete natürlich auch die<br />
Rückkehr zum ruhigeren, farbloseren Tagesverlauf mit Tante<br />
Ellen, umsomehr <strong>als</strong> sich Jus<strong>tu</strong>s in zunehmendem Masse in die<br />
Arbeit und das gesellschaftliche Leben stürzte. So lebte <strong>Ingrid</strong><br />
<strong>Bergman</strong> in ihren jungen Jahren schon unter sehr widersprüchlichen<br />
Einflüssen: Während eines Teils des Jahres genoss sie<br />
eindeutige Privilegien und das Spiel mit der Schauspielerei bei<br />
ihrer deutschen Tante – was aber nach ihrer Rückkehr an den<br />
Strandvägen von ihrer schwedischen Tante verschmäht wurde.<br />
Im Zentrum der ganzen Entwicklung stand ihr Vater,<br />
dessen Leben sich dramatisch veränderte <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> siebenjährig<br />
war. Um Ellen etwas von ihren Pflichten zu entlasten engagierte<br />
Jus<strong>tu</strong>s ein lebensfreudiges Mädchen namens Greta Danielsson,<br />
das an einigen Tagen pro Woche im Haushalt mitar-<br />
27
eitete. Innerhalb eines Monats war sie täglich da und wenig<br />
später blieb sie auch über Nacht und teilte Jus<strong>tu</strong>s' Bett und<br />
Tisch. Diesen Sommer 1922 war er einundfünfzig und sie achtzehn.<br />
<strong>Ingrid</strong>, die es nun mit einer dritten, viel jüngeren Mutterfigur<br />
zu <strong>tu</strong>n bekam, hatte ein komfortables Heim, hübsche<br />
Kleider und was sie wollte zu essen. Aber ausser ihrem Vater<br />
hatte sie nur ein Gewirr von sehr unterschiedlichen, disharmonischen<br />
Beziehungen. Ellen war aufmerksam, fürsorglich, humorlos<br />
und streng wie eine Klosterfrau, Mutti hatte Mühe mit<br />
dem Versmass, kämpfte um eine weitere Tasse Schokolade<br />
und noch ein Stück Kuchen; Greta hielt bei Tisch Jus<strong>tu</strong>s' Hand<br />
und kicherte aus keinem ersichtlichen Anlass.<br />
Tante Ellen, die sich für ihren Bruder und seine Konkubine<br />
entsetzlich schämte, zog bald zurück in ihre kleine Wohnung<br />
drei Blöcke nebenan. Sie erschien aber jeden Sonntag<br />
Morgen, um <strong>Ingrid</strong> aus ihrem gemütlichen Bett oder Nichts<strong>tu</strong>n<br />
herauszureissen, und blies ihr den Marsch in Rich<strong>tu</strong>ng Gottesdienst<br />
in der Gemeindekirche (die übrigens nach Hedwig Eleonora,<br />
der Gattin König Karl X. Gustav benannt war). Dort<br />
prangte über dem Altar ein dunkles, bedrückendes Bild von<br />
Jesus am Kreuz und ein anderes, wie er von Pila<strong>tu</strong>s zum Tod<br />
verurteilt wird, hing unter der Orgelgalerie.<br />
In der Kanzel stand jeden Sonntag Pfarrer Erik <strong>Bergman</strong>,<br />
der mit <strong>Ingrid</strong>s Familie aber nicht verwandt war. Im Juli<br />
1918 gebar Pfarrer <strong>Bergman</strong>s Frau Karin einen Jungen, den sie<br />
Karl Ingmar nannten und der ebenfalls in früher Kindheit mit<br />
den Wundern des Films bekanntgemacht wurde und mit dramatischen<br />
Eindrücken des Gemeindelebens aufwuchs. Pastor<br />
<strong>Bergman</strong>s Predigten betonten – sehr zu Ellens Genug<strong>tu</strong>ung –<br />
"spezifische Fragen der Beziehung zwischen Kind und Eltern<br />
und Gott", womit Ehre, Anstand, Gehorsam und ein strenger<br />
Moral-Kodex, der Sünde und Schuld, Reue und Sühne betraf,<br />
gemeint waren (was Ingmar bestätigte).<br />
Während einer kurzen Zeit in ihrer Jugend, speziell<br />
nachdem sie von Pastor <strong>Bergman</strong> konfirmiert war und sich<br />
28
praktisch ausschliesslich in Tante Ellens Gesellschaft bewegte,<br />
zeigte dieser <strong>ob</strong>skure Einfluss auch die vorhersehbare Wirkung<br />
in einer Art frömmelnder Religiosität <strong>Ingrid</strong>s. Aber da ihr Vater<br />
diesen Dingen völlig gleichgültig gegenüberstand, wurde dieser<br />
Einfluss zuhause nicht unterstützt. Im Gegenteil, mit Papa und<br />
Greta schien alles aufs Angenehmste zu laufen, Freizeitaktivitäten<br />
wurden nach Lust und Laune geplant, nichts war zementiert<br />
– und nichts erinnerte an die strengen lutherischen Wertvorstellungen.<br />
Zu Tante Ellens Entsetzen ging Greta sogar so<br />
weit, <strong>Ingrid</strong> ins Kino mitzunehmen, was für eine Frau wie Ellen<br />
<strong>Bergman</strong> soviel bedeutete, wie das Kind in die Gosse zu führen.<br />
Zum Beispiel 1922 sassen die beiden zweimal durch<br />
Victor Sjöströms neuen Film "Love's Crucible" (Schmelztiegel<br />
der Liebe), ein S<strong>tu</strong>mmfilm über ein mittelalterliches Thema, in<br />
dem eine Frau des Mordes an ihrem Mann angeklagt war. Sie<br />
stirbt auf dem Scheiterhaufen, hört himmlische Stimmen und<br />
erkennt ekstatisch ihren toten Mann, der sie ins Paradies führt.<br />
Das Orchester im Theater sandte Wellen rhapsodischer<br />
Musik über Greta und <strong>Ingrid</strong>, deren weit aufgerissene Augen<br />
an den zauberhaften Effekten der getönten Bilder hingen, in<br />
welchen durch Doppelbelich<strong>tu</strong>ng die verzehrenden Flammen<br />
mit dem ekstatischen Blick der Sterbenden verschmolzen. Story<br />
und Script des Films entstanden eindeutig in Anlehnung an<br />
eines der diesjährigen Hauptfilmthemen: Die Verurteilung und<br />
der Tod von Jeanne d'Arc, die unlängst heiliggesprochen wurde<br />
und deren neuer Sta<strong>tu</strong>s <strong>als</strong> Heilige auch zum Symbol nationaler<br />
Frömmigkeit nach Kriegsende wurde. Bilder der heiligen<br />
Jeanne, Theaterstücke, Filme, Gebete, Bücher und Pamphlete<br />
über sie überschwemmten Europa in den Zwanzigerjahren.<br />
Diese Verehrung erreichte ihren Höhepunkt 1929 mit Carl<br />
Dreyer's packendem Meisterwerk "Das Martyrium der Jeanne<br />
d'Arc". Das neunzehnjährige Bauernmädchen, das 1431 starb,<br />
wurde den christlichen Mädchen <strong>als</strong> leuchtendes Beispiel für<br />
Glaube, Mut und Treue vorgegeben.<br />
29
"Seit ich ein kleines Mädchen war, war sie meine grösste<br />
Heldin", sagte <strong>Ingrid</strong> viel später, die dam<strong>als</strong> Jeanne d'Arc<br />
sofort ihren geliebten Theaterfiguren zugesellte. "Sie hatte in<br />
meinem Herzen einen ganz speziellen Platz, und anstatt<br />
Schmetterlinge oder Briefmarken zu sammeln, begann ich<br />
mich nach Dingen um Jeanne d'Arc umzusehen und Bücher,<br />
Medaillen und Sta<strong>tu</strong>etten von ihr zu sammeln." Es fällt in der<br />
Tat nicht schwer, diese Beziehung zu verstehen. Jeannes frühe<br />
Lebensumstände betonten ihre Einsamkeit, die überzeugte<br />
Wahrnehmung einer inneren Stimme und dann die Sicherheit<br />
im Auftreten gegenüber andern, der eigenen Schüchternheit<br />
zum Trotz. "Sie wurde zur Gestalt, die ich am liebsten spielte.<br />
Auch sie war ein schüchternes Kind, aber auch voll Würde und<br />
Mut." Der Anfang dieser lebenslangen Verehrung fiel zeitlich<br />
zusammen mit <strong>Ingrid</strong>s vorübergehender Gewohnheit, mit Tante<br />
Ellen zur Kirche zu gehen. Während ihre Verehrung für<br />
Jeanne von Dauer war, traf dies für den Kirchgang nicht zu.<br />
UND SO ERGAB ES SICH, dass <strong>Ingrid</strong>s Liebe zur Heiligen<br />
vom ersten Schultag an wuchs. Am 1. September 1922 –<br />
drei Tage nach ihrem siebenten Geburtstag – trat sie in die<br />
erste Klasse des Mädchen-Lyzeums an der Kommendörsgatan<br />
13 ein, das sie in angenehmen 15 Gehminuten erreichte. An<br />
diesem Tag traf <strong>Ingrid</strong> Ebba Högberg, ihre Klassenlehrerin, die<br />
sie und ihre 19 Kameradinnen mit den Traditionen der Schule<br />
und dem S<strong>tu</strong>ndenplan für jeden Tag vertraut machte. Das Lyzeum,<br />
das Mädchen von der ersten Klasse bis zur S<strong>tu</strong>dienvorberei<strong>tu</strong>ng<br />
führte, betreute im laufenden Schuljahr 385 Schülerinnen,<br />
von welchen 238 die Primars<strong>tu</strong>fe besuchten.<br />
Die Hauptaufgabe der Schule – ihrem neuesten Prospekt<br />
zufolge – bestehe nicht nur in der Vermittlung theoretischen<br />
Wissens an die S<strong>tu</strong>denten, sondern auch in der Charakterschulung.<br />
Vielleicht ist es das, was ihr Gründer, Dr. Gustaf<br />
Sjöberg vor Augen hatte, <strong>als</strong> er der Schule den Namen einer<br />
griechischen Erziehungs-Insti<strong>tu</strong>tion gab, die den gesunden<br />
Geist im gesunden Körper anstrebte und den jungen Menschen<br />
30
die Lehre der grossen Philosophen mit ihren gesunden Lebensansichten<br />
nahebringen wollte. In diesem Sinne hatten die<br />
Schüler der ersten Klasse schon ein intensives Spektrum an<br />
Fächern zu bewältigen. Täglich wurde biblische Geschichte,<br />
Schwedische Sprache, Deutsch (worin <strong>Ingrid</strong> brillierte),<br />
Schwedische Geschichte bis 1389 und skandinavische Geografie<br />
(wo sie nicht brillierte), Arithmetik, Handschrift, Zeichnen,<br />
Singen, Nähen und Gymnastik unterrichtet.<br />
Das Lyzeum, ein klassizistischer, fünfstöckiger Baukörper<br />
mit vielen kleinen Winkeln für Klassenzimmer, vermittelte<br />
deutlich den Anspruch seiner Gründer und Verwalter auf Disziplin<br />
und Ordnung. Die Mädchen sassen auf harten, unbequemen<br />
Stühlen und ihre Arbeit wurde von spärlich-geizigem<br />
Licht aus einigen kränklich-gelben Glaskegeln beleuchtet. In<br />
dieser Atmosphäre – so verschieden von Tante Muttis prachtvollem<br />
Anwesen in Deutschland und der gemütlichen Geborgenheit<br />
in ihres Vaters Wohnung – drückte <strong>Ingrid</strong> vom Herbst<br />
1922 bis Frühjahr 1933 die Schulbank. Danach wurde ihr Lehrplan<br />
nach und nach erweitert um Biologie, Chemie, Französisch<br />
und Kochen; das lausigste Resultat von all diesen Fächern erzielte<br />
sie im letzten. Mit der Stricknadel erreichte sie Expertenniveau,<br />
aber wie leicht die Aufgabe auch gestellt sein mochte,<br />
die Kochkunst lag völlig jenseits ihrer Fähigkeiten. Französisch<br />
und Deutsch bestand sie gut, aber die Wissenschaften langweilten<br />
sie und so versagte sie auch darin dann und wann. Im<br />
übrigen zeigen <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Rapporte, dass sie ihre Primarschulzeit<br />
gut bestanden hat. Um kontraproduktive Konkurrenz<br />
zu vermeiden, wurden Lyzeumsschüler weder benotet<br />
noch erhielten sie irgendwelche Anerkennungen oder Preise.<br />
Aber während dieser ganzen Primarschulzeit war sie<br />
kein glückliches Kind. "Ich erinnere mich so gut daran, wie ich<br />
nach Schulschluss draussen zusah, wie die Mütter ihre Kinder<br />
abholten. Die Mütter waren für mich sehr hübsch, alle parfümiert<br />
und gut angezogen mit ihren aparten Hüten. Ich stand<br />
einfach dort und sah zu, wie sie zusammen weggingen. Erst<br />
dann begab ich mich selbst nachhause."<br />
31
1924, kurz vor <strong>Ingrid</strong>s neuntem Geburtstag, gab Jus<strong>tu</strong>s<br />
<strong>Bergman</strong> seine Wohnung am Strandvägen auf um ein grösseres<br />
Heim an der Ulrikagatan, einer angenehmen Wohnstrasse<br />
in Parknähe, zu ziehen. <strong>Ingrid</strong> benutzte nun die Strassenbahn<br />
zum Lyzeum, und <strong>als</strong> sie eines Tages von der Schule kam, hatte<br />
ihr Vater eine – wie er meinte – hervorragende Nachricht für<br />
sie. Er hatte den Auftrag erhalten, einen gemischten Chor von<br />
Amateursängern – "Die Schweden", wie sie sich gemeinhin<br />
nannten - <strong>als</strong> Leiter auf eine Amerika-Tournée zu begleiten, die<br />
sie durch drei amerikanische Städte führen sollte.<br />
Für seine Tochter war das die Katastrophe schlechthin:<br />
sie hatte Angst, ihr Vater würde nicht zurückkehren, er würde<br />
auf der Seereise umkommen – kurz: sie würde ihren Vater<br />
verlieren. Was Greta betraf, konnte sie Jus<strong>tu</strong>s nicht begleiten,<br />
denn verwitwete Herren mit jungen Mätressen konnten<br />
Schweden im Ausland nicht gut vertreten. Als sich Jus<strong>tu</strong>s zu<br />
Beginn des Jahres 1925 verabschiedete, war <strong>Ingrid</strong> einsamer<br />
denn je in ihrem ganzen Leben. Zwei Wochen später trat Greta<br />
einen J<strong>ob</strong> am andern Ende der Stadt an und meinte bei ihrem<br />
Abschied, sie werde wohl Filmschauspielerin. <strong>Ingrid</strong> verbrachte<br />
die Zeit von Papas Abwesenheit bei Onkel Otto und Tante Hulda<br />
und deren fünf Kindern Bill, Bengt, Bo, Britt und Margit;<br />
diese Cousins waren im Alter zwischen acht und einundzwanzig<br />
Jahren.<br />
Im Kampf gegen dieses Quintett um die elterliche Zuwendung<br />
erweiterte <strong>Ingrid</strong> die Gruppe ihrer Spielgestalten und<br />
dramatisierte einige schwedische Gedichte, die sie in der Schule<br />
gelernt hatte. Einmal, zum Beispiel, kleidete sie sich in eine<br />
Stola und eine beschmutzte Schürze und betrat mit Wischer<br />
und Eimer in der Hand den Raum, wo sich die Familie aufhielt.<br />
Sie rezitierte ein Gedicht von Fröding, und zum Erstaunen ihrer<br />
Familie hatte sie sich in eine rätselhafte Dienerin verwandelt,<br />
verloren in einer Träumerei über einen hübschen Soldaten, den<br />
es in ihrer Vergangenheit gegeben haben mag oder nicht.<br />
Die Buben hänselten <strong>Ingrid</strong> gnadenlos: "Wie willst du<br />
eine Schauspielerin sein, so plump und unbeholfen!", und be-<br />
32
tonten, dass <strong>Ingrid</strong> – <strong>ob</strong>wohl erst neunjährig – zu lang sei und<br />
zu einer gewissen Tölpelhaftigkeit neige. "Als Schauspielerin<br />
bin ich nicht ich selbst!" entgegnete sie dieser Kritik mit einer<br />
etwas unlogischen Logik. Als sie nach Jahren auf diesen Wortwechsel<br />
zu sprechen kam, sinnierte sie nur: "Ich habe nicht<br />
das Schauspiel gewählt. Das Schauspiel hat mich gewählt."<br />
Als <strong>Ingrid</strong> Ihre kleinen Vorstellungen während der Abwesenheit<br />
ihres Vaters fortsetzte, wandelte sich Onkel Ottos<br />
Verblüffung darüber in offene Ablehnung. "Anstatt über mich<br />
zu lachen, pflegte mein Onkel wütend zu werden, weil er fanatisch<br />
religiös war und glaubte, das Theater sei des Teufels<br />
Werk." Aber Otto betrachtete fast alle Arbeit <strong>als</strong> Teufelswerk.<br />
"Er hatte nie eine feste, einträgliche Stelle" erinnerte sich <strong>Ingrid</strong>s<br />
erster Ehemann Jahre später, "und er schien weitgehend<br />
vom Ertrag von Jus<strong>tu</strong>s' Fotogeschäft gelebt zu haben".<br />
Zur Verwunderung der ganzen Familie setzte sich Tante<br />
Ellen wenigstens zweimal für ihre Nichte ein. Sie protestierte,<br />
das Mädchen sei nicht schlecht, sondern es habe ganz einfach<br />
die Gabe für unschuldige Vorträge. Vielleicht, meinte Ellen,<br />
werde <strong>Ingrid</strong>s Talent eines Tages doch religiösen Zwecken dienen.<br />
Warum könnte sie nicht zur Missionarin werden? Besonders<br />
jetzt im Jazz-Zeitalter, wo Europa mit wilder amerikanischer<br />
Musik und schockierenden amerikanischen Filmen überflutet<br />
wurde, brauchte die Welt Missionare. <strong>Ingrid</strong> hörte zu,<br />
hatte aber früh gelernt, bei derartigen Exkursen von Tante<br />
Ellen zu schweigen.<br />
Die Reaktionen in der Schule waren weniger fromm und<br />
viel weniger von Zensur bestimmt. In der fünften Klasse beeindruckte<br />
<strong>Ingrid</strong> ihre Kameradinnen mit der dramatischen<br />
Lesung eines Ausschnitts von "Sveaborg", Teil von Johan Ludvig<br />
Runebergs "The Stories of Fänrik Stål". Dieses Gedicht habe<br />
sie mit einem derartigen Pathos vorgetragen, berichtete<br />
eine Kollegin, dass die ganze Klasse benommen und mit Tränen<br />
in den Augen dagesessen sei. Auch andere Gedichte boten<br />
ihr Gelegenheit zu dramatischen Interpretationen, wie z.B. ihr<br />
Vortrag vom "Song of the Winds" aus Strindbergs "Dream<br />
33
Play": "Winde blasen und pfeifen, woe, woe, woe...". Die Mädchen<br />
konnten das Aufheulen des Winterwinds im Raum förmlich<br />
spüren, und niemand wunderte sich darüber, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> im<br />
Frühjahr 1925 mit ihren Vorträgen einen öffentlichen Wettbewerb<br />
gewann. Sten Selander, einer der Juroren, übergab ihr<br />
das Preiszertifikat mit den Worten: "Fräulein <strong>Bergman</strong> wird es<br />
ganz bestimmt noch weit bringen."<br />
Spät im August 1925, gerade <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> von Tante Mutti<br />
aus Hamburg zurückgekehrt war, kam Jus<strong>tu</strong>s in Stockholm an.<br />
Unter den Geschenken für seine Tochter faszinierte sie eine<br />
getrocknete kalifornische Orange am meisten, die sie während<br />
Jahren hütete. "Es war mein erster Kontakt mit Amerika, und<br />
ich fand es wundervoll." Kurz danach zogen sie in eine Dachwohnung<br />
an der Birger Jarlsgatan 34, einem sehr eleganten<br />
Gebäude im Geschäftsviertel.<br />
Papas Reise hatte ihn in seiner Musikleidenschaft bestärkt.<br />
Diesen Herbst setzte er seine Klavierübungen und seine<br />
Dirigiers<strong>tu</strong>nden fort, und er nahm <strong>Ingrid</strong> gleich mit in seine<br />
privaten Stimmbildungslektionen. Sie sei jetzt zehnjährig, sagte<br />
er, und ihre Zukunft sei klar: Sie werde eine grosse Operndiva.<br />
"Er nahm mich oft in die Oper mit, was mich langweilte",<br />
errinnerte sie sich später. Einige von Papas Heimfilmen zeigen<br />
<strong>Ingrid</strong> ab Noten singend, während Papa sie am Piano begleitet.<br />
Sie lächelt zwar in die Kamera, aber da ist nicht viel Begeisterung<br />
zu spüren; ihr Blick scheint ums Aufhören zu bitten. Aber<br />
um ihren Vater nicht zu enttäuschen, hielt sie dam<strong>als</strong> eben<br />
still.<br />
Aber sie konnte ihr Entzücken nicht unterdrücken, <strong>als</strong> er<br />
sie zwei Monate nach ihrem Geburtstag im Herbst 1926 erstm<strong>als</strong><br />
ins Königliche Dramatische Theater mitnahm. Sie borgte<br />
bei einer Kusine ein Kleid – kirschenrot, Papas Lieblingsfarbe –<br />
und bat Tante Ellen an jenem Nachmittag dreimal, es zu glätten.<br />
<strong>Ingrid</strong>s früheste Erinnerungen an die Umgebung am<br />
Strandvägen waren bestimmt vom Bild des Theaters, das <strong>als</strong><br />
Neubau 1908 fertiggestellt war und <strong>als</strong> eines der elegantesten<br />
34
Bauwerke galt, in welchen das Drama gefeiert wurde. Papa<br />
und Greta machten sie auf den grossen äusseren Marmortreppenaufgang<br />
aufmerksam, auf die allegorischen Figuren der<br />
Kunst, auf die Dionysos-Friese und die Commedia dell’arte, die<br />
Sta<strong>tu</strong>en der Tragödie und der Komödie. Von ihrem Fenster aus<br />
konnte <strong>Ingrid</strong> Saison um Saison zusehen, wie festlich gekleidete<br />
Damen und Herren zu den Premieren eintrafen. Jetzt betrat<br />
sie selbst erstm<strong>als</strong> das Gebäude, Blick nach <strong>ob</strong>en zu Carl Larssons<br />
Deckengemälde "Die Geburt des Dramas", einem Jugendstil-Meisterwerk,<br />
auf dem ein von einem dünnen Schleier bedecktes<br />
Mädchen von einer männlichen Figur mit dem Lorbeerkranz<br />
gekrönt wird – klar der kritische Geist, der in seiner andern<br />
Hand die gegenteilige Belohnung, das mörderische<br />
Schwert trägt.<br />
Dieser Herbstabend war bestimmend für <strong>Ingrid</strong>s weiteres<br />
Leben. Das Stück hiess "Der Pöbel" von Hjalmar <strong>Bergman</strong><br />
(der weder mit ihrer noch mit Pastor <strong>Bergman</strong>s Familie verwandt<br />
ist), einem zeitgenössischen Romanschriftsteller und<br />
Bühnenautor, bestens bekannt für die Darstellung der bittersten<br />
Abgründe des menschlichen Daseins, worum es auch in<br />
diesem Stück ging. Die Geschichte, die von einer notleidenden<br />
Familie handelte, die auf die Hilfe eines reichen jüdischen Verwandten<br />
angewiesen war, wurde <strong>als</strong> Komödie betitelt, aber die<br />
Handlung um Korruption und Heuchelei bot wenig Anlass zum<br />
Lachen. Aber was immer der Inhalt (oder der trendige antisemitische<br />
Unterton), die elfjährige <strong>Ingrid</strong> hatte das Theater entdeckt.<br />
"Ich traute meinen Augen nicht. Erwachsene Leute taten<br />
auf dieser Bühne genau das, was ich zuhause zu<br />
meinem eigenen Vergnügen tat. Und die wurden dafür<br />
bezahlt! Die lebten sogar davon! Ich konnte einfach<br />
nicht verstehen, wie diese Schauspieler dasselbe machten<br />
wie ich, eine Fantasiewelt erfinden, <strong>tu</strong>n <strong>als</strong> <strong>ob</strong> und<br />
das Arbeit nennen! Bei der ersten Gelegenheit drehte<br />
ich mich zu meinem Vater und sagte ihm in meiner Aufregung,<br />
was vermutlich das ganze Theater mithörte:<br />
"Papa, Papa, DAS ist es, was ich <strong>tu</strong>n werde!"<br />
35
Von da an hatten <strong>Ingrid</strong>s improvisierte Darbie<strong>tu</strong>ngen<br />
zuhause eine neue Dimension bekommen. Jus<strong>tu</strong>s nahm sie von<br />
einem Stück zum andern mit, immer in der Hoffnung, sie werde<br />
auf diese Weise das Theater doch vergessen und sich<br />
ernsthaft der Musik zuwenden. Zusammen sahen sie verschiedene<br />
Stücke mit dem grossen Gösta Ekman, und einmal mehr<br />
beeindruckte <strong>Ingrid</strong> ihre Lehrer und Klassenkameradinnen mit<br />
ihrem Gedächtnis. Nachdem sie das Stück "Der grüne Aufzug"<br />
gesehen hatte, konnte sie Teile des Schlusstexts des Hauptdarstellers,<br />
eines betrunkenen Jungen namens Billy, der über<br />
seine - was denn sonst? - verlorene Liebe klagt, fast wörtlich<br />
wiedergeben: "Tessi, Tessi, meine kleine Morgen-Märchen-<br />
Königin...etc.". Zweifellos war die Wiedergabe besser <strong>als</strong> der<br />
Text.<br />
1927 sahen sich die Mädchen im Lyzeum routinemässig<br />
nach <strong>Ingrid</strong> um, wann immer sie ohne Aufsicht waren. Bei einer<br />
solchen Gelegenheit begann sie einen Text aus "Der Pöbel"<br />
zu rezitieren, <strong>als</strong> die Lehrerin, Ester Sund, eintrat und die ganze<br />
Klasse für den Rest des Tages entliess. Da folgte die ganze<br />
Gesellschaft <strong>Ingrid</strong> zum Humlegården, wo sie die Szene (den<br />
Tod eines kranken alten Mannes) zu Ende spielte. Passanten<br />
waren verunsichert beim Anblick der zwei Dutzend zwölfjährigen<br />
Mädchen, die sich in Tränen um eine Klassenkameradin<br />
herum drückten, die auf einer Parkbank den Tod spielte. Ihr<br />
erfolgreicher Realismus erfreute und belustigte sie; Schauspiel<br />
war eben reines Vergnügen.<br />
Sie liebte es auch, ihre Lehrer und Vorgesetzten zu<br />
überraschen. Dem Vortrag eines tragischen Gedichts konnten<br />
ein paar Tage später Szenen einer Posse folgen; einmal setzte<br />
sie den Tod von Jeanne d'Arc in Szene und tags darauf improvisierte<br />
sie eine beschwipste Dame die ihren Hausschlüssel<br />
nicht finden konnte. "Ich erinnere mich, dass <strong>Ingrid</strong> einen ausgeprägten<br />
Sinn für Humor hatte", sagte ihre Klassenkameradin<br />
Elisabeth Daevel, "sie war eine der Lustigsten der ganzen<br />
Schule. Wie die meisten von uns war sie nicht besonders fleissig,<br />
aber wir schafften es alle in die nächste S<strong>tu</strong>fe."<br />
36
Im selben Jahr lasen die Mädchen in der Schule das<br />
Märchen von Tristan und Isolde. "Es hatte eine starke Wirkung<br />
auf meine romantischen Jungmädchen-Träumereien", sagte<br />
<strong>Ingrid</strong> später. "Irdische Liebe war ein wichtiges Thema für ein<br />
unattraktives Mädchen wie mich." Sie war natürlich alles andere<br />
<strong>als</strong> das – sie war einfach viel grösser <strong>als</strong> die andern, und<br />
das ist eine schlimme Erfahrung für jeden ihres Alters. 1928 an<br />
ihrem dreizehnten Geburtstag hatte sie ihre volle Körpergrösse<br />
von 1 m 78 cm erreicht. Als die andern Mädchen erstm<strong>als</strong> mit<br />
Schuhen mit hohen Absätzen ausstaffiert wurden, fühlte sie<br />
sich weiterhin an die flachen Absätze gebunden.<br />
"Ich hasste die Schule, weil ich grösser war <strong>als</strong> andere<br />
Leute und unbeholfen und scheu", erinnerte sie sich, "ich war<br />
nicht s<strong>tu</strong>mm, aber ich sprach nur wenn ich musste. Wenn ich<br />
die Antwort auf eine Frage hatte, nur hätte aufstehen müssen<br />
und sie geben, errötete ich schon. Die Schule war die Hölle für<br />
mich. Und ich war allein."<br />
Zu den Gedichten und dramatischen Vorträgen: "Ich<br />
spielte alle die Rollen allein. Ich wollte nicht mit andern spielen<br />
und fragte mich ständig: Was kann ich allein machen? So las<br />
ich lustige und traurige Gedichte und dramatisierte sie." Das<br />
Leben mancher Schauspieler weist identische Züge auf: Die im<br />
wesentlichen isolierte Persönlichkeit, die auf der Bühne oder<br />
vor der Kamera aufblüht, was auf ein unsicheres Ego hinweist.<br />
Für einige bedeutet das Rollenspiel – eine andere Identität annehmen<br />
– die Möglichkeit, sonst unerreichbare (Er-)Lebensbereiche<br />
zu ergründen. Für <strong>Ingrid</strong> waren berufliche Erfahrungen<br />
dieser Art während ihres ganzen Lebens sehr wichtig, was nur<br />
logisch erscheint, weil sich ein Talent ihres Kalibers ständig<br />
weiter vervollkommnet. Und wenn der Applaus einmal spärlich<br />
floss und die Kritik mit dem gezogenen Schwert, anstatt mit<br />
dem strahlenden Lorbeerkranz daherkam, dann wechselte sie<br />
einfach zu einer andern Rolle. Ein einziges Mal in ihrem Leben<br />
reagierte <strong>Ingrid</strong> spontan auf eine negative Kritik, und zu ihrem<br />
endlosen Verdruss geschah dies Jahre später in Stockholm.<br />
37
AN WEIHNACHT 1928 ging Jus<strong>tu</strong>s mit <strong>Ingrid</strong> zum<br />
Abendessen zu Bern's Salonger, einer ehrwürdigen Insti<strong>tu</strong>tion<br />
der Stadt. Bern's war ein 1863 eröffnetes Gourmet-Restaurant<br />
mit Orchester im traditionellen "Pinguin-Look", kleineren Räumen<br />
für private Anlässe und dem berühmten roten Zimmer mit<br />
seinen überdimensionierten Sesseln und polierten Tischen, der<br />
niedrigen gotischen Decke und den Buntglasfenstern. Es war<br />
der Raum, in dem die Künstler und Intellek<strong>tu</strong>ellen der 1880er-<br />
und 1890er-Jahre verkehrten. Hier diskutierten sie über Politik<br />
und Kunst, hier schlürften sie ihren Kaffee, tranken Wein und<br />
Bier, rauchten, stritten und kritzelten Noten aufs Papier. Die<br />
Atmosphäre inspirierte einen der regelmässigen Besucher, August<br />
Strindberg, eine bissige Satire zu schreiben, die nach diesem<br />
Raum betitelt wurde. <strong>Ingrid</strong> und ihr Vater tranken hier ein<br />
Glas Champagner und sie las die in Holz geschnitzten philosophischen<br />
Grundsätze: "Du kannst nie genug Gutes <strong>tu</strong>n... Dein<br />
grösster Sieg ist der Sieg über dich selbst... Ehre ist der<br />
schönste Baum im Wald." Sie begaben sich dann hinunter in<br />
den Speisesaal zum Abendessen, wo sie ein Festtagsmenü mit<br />
gebratenem Elch bestellten.<br />
Ein paar Tage danach, <strong>als</strong> mit dem Neujahr 1929 eine<br />
bittere Kälte hereinbrach, musste Jus<strong>tu</strong>s mit einem undefinierbaren<br />
Leiden das Bett hüten. Eine Woche verging, ohne dass<br />
eine Besserung eingetreten wäre. Bleich und schwitzend konsultierte<br />
er schliesslich einen Arzt, der eine Reihe von Tests<br />
anordnete. Bis die Resultate vorlagen, konnte der unglückliche<br />
Patient noch kaum mehr einen Bissen bei sich behalten; er<br />
verlor auch schnell an Gewicht. Seine Schwester Ellen, selbst<br />
an Influenza erkrankt, konnte nicht helfen, sodass <strong>Ingrid</strong> Greta<br />
Danielsson auftrieb, die nun vom andern Ende der Stadt her zu<br />
Hilfe kam. Nach ein paar Tagen, während welchen jeder geflissentlich<br />
vermied, über die Diagnose zu sprechen, setzte sich<br />
Jus<strong>tu</strong>s mit seiner Ex-Mätresse und seiner Tochter zusammen.<br />
Er hatte Magenkrebs und die Aussichten waren schlecht. Greta<br />
brach in Tränen aus und <strong>Ingrid</strong> frass ihren Kummer in sich hinein.<br />
38
"Ich will nicht, dass <strong>Ingrid</strong> ihren Vater sterben sieht,"<br />
sagte Jus<strong>tu</strong>s zu seinem Freund Gunnar Spångberg, einem Floristen<br />
im Quartier, "und der Herr weiss, wie lange das dauern<br />
wird." Damit traf er Vorberei<strong>tu</strong>ngen für eine Reise mit Greta zu<br />
einem Spezialisten nach München. "Vielleicht kann er mich<br />
heilen. Wenn nicht, komme ich in einer Kiste nachhause."<br />
Nichts davon geschah. Zum verständlichen Ärger der<br />
ganzen Familie blieb Jus<strong>tu</strong>s der undisziplinierbare Bohémien<br />
bis ans Ende. Er verbrachte den Frühling 1929 mit Greta in<br />
einer ruhigen Vorstadt von München. Sie pflegte ihn mit Kräutertee<br />
und dünnen Suppen, und wenn seine Kraft es erlaubte<br />
stellte er die Staffelei in den kleinen Garten und malte wilde<br />
Blumen. "Dann kam er nachhause," erinnerte sich <strong>Ingrid</strong>, "so<br />
dünn, schrecklich!" Das war der einzige Sommer, den sie nicht<br />
bei Mutti verbrachte, die inzwischen ihren Mädchennamen wieder<br />
angenommen und sich einen hübschen und erfolgreichen<br />
deutschen Stofffabrikanten <strong>als</strong> Liebhaber zugelegt hatte.<br />
Diesmal kam Mutti von Deutschland her und befremdete den<br />
<strong>Bergman</strong>-Clan einmal mehr mit der Weigerung, in den allgemeinen<br />
Chorus einzustimmen, Greta müsse das Haus verlassen.<br />
"Sie hat das Recht, hier zu sein, <strong>als</strong>o akzeptiert das bitte,"<br />
sagte sie zu Otto und Ellen. Was anderes sollten sie <strong>tu</strong>n? Frau<br />
Adler war nicht der Typ, dem man widerspricht.<br />
Juni und Juli waren ungewöhnlich warm, und wie die<br />
Tage länger wurden, wurde Jus<strong>tu</strong>s <strong>Bergman</strong>s Leiden zur unausgesetzten,<br />
entsetzlichen Pein. Er erfreute sich bester Gesundheit<br />
bis zum vergangenen Winter, <strong>als</strong> durch seine plötzliche<br />
Krankheit sein lebensbedrohender Zustand erkannt wurde.<br />
Jetzt war er so schwach, dass er nur noch wispern und sich pro<br />
Tag mit einigen Wassertropfen am Leben halten konnte. Greta<br />
versah ihn mit kühlen Kompressen. Gegen den Willen ihres<br />
Vaters schlief <strong>Ingrid</strong> tagsüber ein paar S<strong>tu</strong>nden, um die Nacht<br />
an seinem Bett zu verbringen. Sie hielt seine Hand und – in<br />
ihrer bisher wohl besten Rolle – summte sie seine liebsten<br />
Volkslieder und wiederholte endlos und geduldig, was sie<br />
selbst <strong>als</strong> tragische Illusion erkannte: wenn er nur durch diesen<br />
entsetzlich langen Sommer käme, wenn er doch nur etwas<br />
39
Suppe zu sich nehmen könnte, wenn sie doch nur einen besseren<br />
Arzt finden könnten, wenn nur...<br />
Gegen Mitternacht am 28. Juli wurde sein Atem<br />
schwach, und vier S<strong>tu</strong>nden später, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> und Greta bei<br />
ihm am Bett sassen, drehte er noch kurz den Kopf und sandte<br />
beiden einen liebevollen Blick. Um 3.55 Uhr am Morgen des<br />
29. Juli 1929 war Jus<strong>tu</strong>s Samuel <strong>Bergman</strong>, 55, tot. <strong>Ingrid</strong> wird<br />
in genau einem Monat vierzehnjährig.<br />
Tags darauf erschien in den Zei<strong>tu</strong>ngen eine Notiz, die<br />
Otto und Ellen über der Unterschrift von <strong>Ingrid</strong> verfasst hatten.<br />
"Ruhig und friedlich hat uns gestern mein lieber Vater verlassen.<br />
Um ihn trauern seine Tochter, Verwandten, Freunde und<br />
ehemaligen Mitarbeiter. Beerdigung auf dem Nordfriedhof,<br />
Samstag, 3. August um 16 Uhr."<br />
Während Monaten lebte <strong>Ingrid</strong> so in sich zurückgezogen,<br />
dass man begann, um ihre Gesundheit zu fürchten. Da<br />
gab es keine improvisierten Vorstellungen mehr für die Familie,<br />
keine Vorträge oder sonstige Unterhal<strong>tu</strong>ng, und sie ging auch<br />
jedem Gespräch aus dem Weg. Greta, die bis zum Ende des<br />
Schulsemesters bei ihr blieb, konnte das arme Mädchen für gar<br />
nichts interessieren, weder einen Film noch – selbst im Herbst<br />
– ein Theaterstück. <strong>Ingrid</strong> versuchte zu malen, doch wenn ihr<br />
Pinsel die Leinwand berührte, wurde sie zu traurig, zu müde<br />
um sich zu konzentrieren, zu denken, sich zu erinnern, sodass<br />
ihr Vaters Pinsel aus den Fingern fiel. "Ich wusste nicht, wie ich<br />
weiterleben sollte," sagte sie zu diesem Jahr. "Klar, ich lebte -<br />
wir alle überleben." Aber während ihres ganzen Lebens gab es<br />
Momente, in welchen diese Erinnerung einen Schatten der<br />
Trauer über <strong>Ingrid</strong> verbreitete. "Als ich ein Kind war," berichtete<br />
ihre älteste Tochter Pia später, "sah ich Mama oft über den<br />
Verlust von Vater und Mutter trauern."<br />
Jus<strong>tu</strong>s hinterliess ein Vermögen von nahezu einer halben<br />
Million schwedischen Kronen ($ 100'000 gem. Wechselkurs<br />
von 1997). Ein Viertel davon, in Form von Aktien der Gesellschaft,<br />
deren Managing Director er war, wurde treuhänderisch<br />
40
für <strong>Ingrid</strong> angelegt, und kleine Beträge wurden an Verwandte<br />
und Freunde verteilt.<br />
Mitte September wurde Papas Wohnung aufgegeben<br />
und <strong>Ingrid</strong> in Tante Ellens düstere Zweitstock-Wohnung an der<br />
Nybergsgatan 6 gezügelt. Der Ort lag in der Nähe und war <strong>Ingrid</strong><br />
vertraut. So war <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> mit vierzehn eine Vollwaise,<br />
die tragischerweise nicht mehr fähig war, sich auf die Dauerhaftigkeit<br />
menschlicher Zuneigung und Zuwendung zu verlassen.<br />
1925 – im Mädchen-Lyzeum<br />
41
42<br />
Ca. 1921 - mit Papa und ihrem "besten Freund"
<strong>Ingrid</strong> vierzehnjährig und Vollwaise<br />
43
44<br />
1936 - Portrait
"... Was würden nur Mama und Papa dazu sagen, wenn sie<br />
mich hier in meiner Einsamkeit sehen könnten. Ich möchte<br />
mich in jemandes Arme kuscheln, der mich beschützt, tröstet<br />
und lieb hat."<br />
1929 - 1936<br />
(<strong>Ingrid</strong> 19-jährig, vor ihrer ersten Premiere)<br />
WÄHREND DES SCHULJAHRS 1929-1930 hatte <strong>Ingrid</strong><br />
wenig Freiraum zum Trauern, nachdem nun Physik, Chemie,<br />
Mathematik und – am schlimmsten von allem – Kochen den<br />
S<strong>tu</strong>ndenplan bereicherten. Ganz im Gegenteil, ihre Lehrer waren<br />
Experten in strenger schwedischer Buchhal<strong>tu</strong>ng – wie Tante<br />
Ellen, die (allerdings ohne sichtbaren Erfolg) versuchte, ihrer<br />
Nichte den Segen der religiösen Praxis klarzumachen. Aber<br />
dann geschah es, dass Ellen <strong>Bergman</strong> anfangs 1930 nicht<br />
mehr zur Kirche gehen konnte; sie war nun chronisch kurzatmig<br />
und das Treppensteigen wurde für sie zur zermürbenden<br />
Qual. Wollte sie ihre Herzrhythmusstörungen nicht verschlimmern,<br />
sagte ihr Arzt, müsse sie das Treppensteigen auf ein<br />
mögliches Mindestmass reduzieren.<br />
Aber das Pr<strong>ob</strong>lem der Frau lag tiefer. Eines Nachmittags<br />
im Frühjahr fühlte sie sich zum Umfallen schwindlig, <strong>als</strong> sie<br />
sich nach der Bibellektüre vom S<strong>tu</strong>hl erheben wollte. <strong>Ingrid</strong>,<br />
eben vom Lyzeum heimgekehrt, verabreichte ihr eine starke<br />
Tasse Tee. Dann kam nach Ostern 1930 die Krise. Eines Morgens<br />
um drei Uhr schrie Ellen nach Atem ringend nach <strong>Ingrid</strong>.<br />
"Ich fühle mich so krank", sagte sie mit aschfahlem Gesicht,<br />
ihre Brust umklammernd. "Bitte ruf' Onkel Otto." So telefonier-<br />
45
te <strong>Ingrid</strong> Otto, der mit seiner Familie ganz in der Nähe wohnte<br />
und sagte, sie seien unterwegs.<br />
"Lies mir aus der Bibel vor," japste Ellen, "lies die Bibel!"<br />
<strong>Ingrid</strong> fand einen Psalm während sich ihrer Tante Zustand<br />
verschlimmerte. "Ich sterbe," wimmerte sie, "oh warum kommen<br />
sie nicht, warum kommen sie nicht?" Dann rief sie plötzlich:<br />
"Schlüssel – Schlüssel!" <strong>Ingrid</strong> begriff sofort, was sie damit<br />
meinte. Ellen pflegte Besuchern jeweils die Schlüssel aufs<br />
Trottoir hinunterzuwerfen, um ihnen den Zugang durch den<br />
geschlossenen Haupteingang zu ermöglichen und den Weg<br />
abzukürzen. <strong>Ingrid</strong> war dies im Moment entfallen.<br />
<strong>Ingrid</strong> kehrte sofort zu Tante Ellens Zimmer zurück und<br />
nahm sie in die Arme. Einen Moment später packte sie <strong>Ingrid</strong>s<br />
Arm mit einem schmerzerfüllten Blick. Sie tat noch einen tiefen<br />
Atemzug, ihr Kopf fiel auf <strong>Ingrid</strong>s Brust und sie war tot.<br />
Noch nicht fünfzehnjährig hatte <strong>Ingrid</strong> eine ganze Serie<br />
von Familiendramen erlebt, die sie in einen Nebel von Konfusion<br />
und Schmerz stürzten. Ihre Verwandten erinnerten sich,<br />
dass sie während Monaten wie abwesend war, ihr Blick leer,<br />
die Stimme ausdruckslos und trocken. Sie schaffte es, durch<br />
s<strong>tu</strong>mpfe Erledigung der Aufgaben durch die letzten Schulwochen<br />
zu kommen und durch den Versuch, sich wieder an einem<br />
andern Ort neu einzurichten: in Otto und Huldas Zweitstock-<br />
Wohnung an der Artillerigatan 43, unweit vom Strandvägen<br />
entfernt. Kein Wunder, dass sie eine Zeit lang "distanziert, ja<br />
sogar kalt und misstrauisch gegenüber jedermann" wurde, wie<br />
sie später sagte, zurückgezogen und verängstigt, dass wem<br />
immer sie sich zuneigen könnte, ihr wieder brutal entrissen<br />
würde.<br />
In Onkel Ottos Wohnung musste <strong>Ingrid</strong> ihr Schlafzimmer<br />
mit niemandem teilen, wie ihre Cousins das <strong>tu</strong>n mussten.<br />
Der Anwalt ihres Vaters sorgte durch effiziente Verwal<strong>tu</strong>ng<br />
sowohl des Erbes <strong>als</strong> auch des Ertrags des Fotogeschäfts am<br />
Strandvägen, das weitergeführt wurde, dafür, dass die <strong>Bergman</strong>s<br />
für <strong>Ingrid</strong>s Aufnahme und Pflege grosszügig entschädigt<br />
wurden. Sie hatte einen eigenen, sonnigen Raum zur Verfü-<br />
46
gung, gross genug auch für das Klavier der Eltern und Papas<br />
Pult und Bilder. Tante Hulda, eine dunkeläugige Frau, die um<br />
zehn Jahre älter <strong>als</strong> ihre 40 aussah, besorgte nun einen Haushalt<br />
für acht Personen und überwachte auch das Fotogeschäft.<br />
Otto werkelte an seinen Erfindungen, überzeugt, dass er eines<br />
Tages ein Patent für ein geniales Gerät haben würde und sie<br />
dann alle in eine Villa auf dem Lande ziehen würden.<br />
Im Herbst 1931 war <strong>Ingrid</strong> sechzehn und am Lyzeum<br />
bekannt dafür, dass sie ein anderer Mensch wurde, wenn sie<br />
Gedichte vortrug oder Dramen inszenierte. Zu dieser Zeit hatte<br />
sie bereits ein festes Ziel vor Augen: ihr Leben "bedingungslos<br />
dem Theater zu widmen... die neue Sarah Bernhardt zu<br />
sein...ich träumte sogar davon, eines Tages in einem Stück mit<br />
Gösta Ekman zu spielen." Fortan war ihre Klasse am Lyzeum<br />
nur noch ein Hort von Langeweile: "Ich dachte nur an meine<br />
Arbeit, meine Ambitionen für das Schauspiel, ich wollte reisen<br />
und Neues erleben."<br />
"Ich glaube, das Theater war eine Art Versteck für<br />
mich. Einsame Menschen in schwierigen Lebensumständen<br />
lieben das Theater, weil man sich dort hinter<br />
Masken verschanzen kann. Das hilft gegen alles, was<br />
einen ängstigt. Was man auf der Bühne spricht, hat<br />
man nicht selbst geschrieben und was man zu sein<br />
vorgibt, ist man nicht. Es ist eine Flucht."<br />
Sie unternahm den ersten kleinen Schritt in Rich<strong>tu</strong>ng<br />
der Verwirklichung ihres Traums im Januar 1932, eine Woche<br />
nach einem Weihnachtstreffen mit Greta Danielsson, die Gewicht<br />
verloren, ihr Haar blond gefärbt hatte, in der Stimm- und<br />
Schauspielschulung war und gelegentlich eine Statistenrolle in<br />
einem Film erhielt. So geschah es, dass Greta <strong>Ingrid</strong> an einem<br />
bitterkalten Wintertag ins S<strong>tu</strong>dio der Svenska Filmindustri mitnahm,<br />
wo sie sofort in einer Massenszene des Films "Landskamp"<br />
eingesetzt wurden, dessen Titel sich auf einen internationalen<br />
Sportwettkampf bezieht. Die Mädchen waren natürlich<br />
nicht registriert (und im Film selbst nicht sichtbar, <strong>als</strong> er im<br />
März jenes Jahres in die Kinos kam), was für <strong>Ingrid</strong> aber kei-<br />
47
nerlei Enttäuschung bedeutete. Ihr gefiel – richtigerweise -<br />
dass sie damit einmal einen Anfang gemacht hatte, und sie<br />
war freudig überrascht, "ganze zehn Kronen für einen der vergnüglichsten<br />
Tage meines Lebens erhalten zu haben".<br />
Diese Erfahrung war für <strong>Ingrid</strong> so aufregend, dass sie<br />
fortan das Ende ihrer Schulzeit kaum mehr erwarten konnte.<br />
Sie wollte nun endlich ernsthaft Theater spielen, weshalb sie<br />
sich bald nach den Ausbildungsmöglichkeiten an der Königlichen<br />
Schauspielschule erkundigte, die für ihr anforderungsreiches<br />
Unterrichtsprogramm jährlich ein paar Kandidaten aus<br />
Dutzenden von geprüften Bewerbern auswählte. Die Aufnahme<br />
bedeutete nicht gleich Karriere, aber der Zugang zur "Dramaten"<br />
(wie Schule und Theater dam<strong>als</strong> im Volksmund genannt<br />
wurden) garantierte eine erstklassige Ausbildung an einer der<br />
renommiertesten Schauspielschulen Europas. Unter anderen<br />
bekannten Grössen war der berühmte Bühnen- und Filmschauspieler<br />
Lars Hanson ein Ehemaliger der Schule; er ging nach<br />
Hollywood und spielte mit Lilian Gish. Eine Hilfscoiffeuse namens<br />
Greta Gustafsson hatte auch an der Dramaten s<strong>tu</strong>diert;<br />
sie nahm den Namen Greta Garbo an, bevor auch sie nach<br />
Hollywood emigrierte. Signe Hasso, die in Schweden und Hollywood<br />
eine grosse Bühnen- und Filmkarriere machte, war eine<br />
Zeitgenossin von <strong>Ingrid</strong>. Viveca Lindfors kam einige Jahre später;<br />
auch sie erlebte ihren grössten Ruhm in Amerika. Auch<br />
Mai Zetterling, Max von Sydow und Bibi Andersson waren unter<br />
den Ehemaligen der späteren Jahre.<br />
1787 hat König Gustav III. bestimmt, dass junge Künstler<br />
am Königlichen Theater in Tanz, Gesang und Rezitation<br />
ausgebildet werden. Von da an führten aktive Sänger und<br />
Schauspieler Klassen für S<strong>tu</strong>denten, die auch Gelegenheit erhielten,<br />
in Massenszenen <strong>als</strong> Statisten und gelegentlich sogar<br />
mit kurzen Sprechrollen aufzutreten. Als die Schule 1908 ein<br />
Dutzend Räume im neuerstellten Königlichen Theater belegen<br />
konnte, enthielt der Lehrplan Diktion, Setgestal<strong>tu</strong>ng, Benehmen,<br />
Tanz und Fechten – sowie auch Französisch, Deutsch und<br />
Litera<strong>tu</strong>r- und Theatergeschichte.<br />
48
Weil diese Kurse auf das "Show Business" ausgerichtet<br />
waren und ihre Klassenkameraden Kollegen waren, gewann<br />
<strong>Ingrid</strong> eine völlig neue Einstellung zur Aussicht auf neue harte<br />
Anforderungen an ihre Lernbereitschaft. Eine Woche nachdem<br />
sie ihr Frühjahrssemester am Lyzeum abgeschlossen hatte, am<br />
2. Juni 1933, wählte sie die drei Fächer aus, in welchen sie an<br />
der Dramaten geprüft werden wollte. Im Abschlusszeugnis des<br />
Lyzeums, das kürzlich von seiner notenfreien Praxis für Abgänger<br />
auf Sekundarschulniveau abgegangen war, war vermerkt,<br />
dass <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> "A" für Betragen, Fleiss, Aufmerksamkeit<br />
und Organisation erhielt; "A-" für Religion, Schwedisch und<br />
Litera<strong>tu</strong>r; "B+" für Deutsch, Geschichte, Kunstgeschichte und<br />
Geographie; und "B" für Mathematik, Physik, Chemie, Hauswirtschaft,<br />
Gesundheit, Nähen, Zeichnen, Singen und Gymnastik.<br />
Dann begann sie sich zuhause auf die Dramaten vorzubereiten.<br />
Onkel Otto, der von ihren Plänen nichts hielt, meinte,<br />
sie sollte besser gleich einen alternativen Bildungsweg aufnehmen.<br />
Sie sei zu gross und plump wie eine Gans, sagte er<br />
und fügte gleich bei, dass ein Mädchen seine Tugend am Theater<br />
nicht bewahren könne. Aber ein Gutteil seines Haushaltseinkommens<br />
stammte von <strong>Ingrid</strong>s Treuhandfonds, sodass<br />
er ihr diesen Versuch wohl oder übel gestatten musste. <strong>Ingrid</strong><br />
wählte einen Text aus Rostands "L'aiglon", einen aus Strindbergs<br />
"Dream Play" und eine Szene mit einem Bauernmädchen,<br />
die sie aus einer ungarischen Komödie zusammenstellte.<br />
Mit 48 Mitbewerbern trat sie diesen August vor die Juroren<br />
des Königlichen Dramatischen Theaters, und sieben Glückliche<br />
wurden für die in einem Monat beginnenden Kurse ausgewählt.<br />
Als sie an der Reihe war, trat <strong>Ingrid</strong> auf die Bühne<br />
und begann ihren Rostand-Auszug. Sie kam aber nicht weit<br />
damit, <strong>als</strong> einer der Experten sie von der Bühne winkte; sie<br />
hatten genug gehört. Das war der schlimmste Moment ihres<br />
Lebens, sagte sie später, denn sie verbrachte den Rest des<br />
Tages ziellos dem Hafen entlang wandernd und getraute sich<br />
mit diesem Bericht nicht nachhause zurückzukehren. Als sie es<br />
dann doch tat, hatte einer ihrer Cousins eine Telefonmeldung<br />
49
für sie: sie hatte die Prüfung bestanden und sollte sich am<br />
nächsten Tag zur 2. Prüfung einfinden; die Experten hatten sie<br />
unterbrochen, weil sie sofort von <strong>Ingrid</strong>s Talent und Potential<br />
überzeugt waren.<br />
So wurde der schlimmste Tag ihres bisherigen Lebens<br />
zum glücklichsten. Ihr zweimonatiges S<strong>tu</strong>dium begann sich in<br />
den folgenden Tagen bezahlt zu machen, denn nach ihrem<br />
Strindberg-Vortrag und der anschliessenden, extrem kontrastierenden<br />
und urkomischen Interpretation eines Bauernmädchens,<br />
das über Bäche springend seinem fliehenden Liebhaber<br />
nachsetzt, erhielt sie einen Platz im September-Semester. "Da<br />
sie in ihrer äusseren Erscheinung so sehr an ein Landmädchen<br />
erinnert" sagte einer ihrer Lehrer, "ist sie auch sehr natürlich<br />
und benötigt weder im Gesicht noch im Geist jedwelches Makeup."<br />
Eine schreckliche, weltweite Wirtschafts-Depression<br />
hielt die Welt im Herbst 1933 in Atem, aber für Schweden war<br />
das Schlimmste bereits vorbei, da seine Exporte von Eisen,<br />
Nähmaschinen, medizinischen und Dental-Instrumenten, Öfen,<br />
Dynamit und Papier hohe Preise erzielten. Ausserdem erreichte<br />
der Tourismus in diesem Jahr Rekordwerte. Durch die starke<br />
Verbrei<strong>tu</strong>ng des Telefons und des Autom<strong>ob</strong>ils, wie auch den<br />
rapiden Ausbau des nationalen Strassennetzes wuchsen Dörfer<br />
und Städte zusammen, und die wachsende Macht der Sozialdemokratie<br />
führte zu einer Reihe von sozialen Entwicklungen in<br />
Medizin, Schulwesen, Altersfürsorge und anderen Bereichen,<br />
von welchen jeder schwedische Bürger, <strong>ob</strong> jung oder alt, profitierte.<br />
(Präsident Roosevelts Wiederaufbau-Strategie war stark<br />
auf diese schwedischen Massnahmen ausgerichtet, die von<br />
amerikanischen Fachleuten in Schweden sehr genau s<strong>tu</strong>diert<br />
wurden.)<br />
Ausserdem hatte in Stockholm ein neuer Geist von Freiheit<br />
und Experimentierfreude Kunst, Handel und Industrie erfasst,<br />
und die Menschen empfanden das tägliche Leben <strong>als</strong><br />
spannende Herausforderung. "Die Strassen waren einfach voll<br />
von gutgekleideten Leuten," erinnerte sich der Künstler Diet-<br />
50
ich, dessen Karriere dam<strong>als</strong> in Stockholm ihren Anfang nahm.<br />
"Die Läden platzten aus den Nähten und das Theater florierte.<br />
Es gab dam<strong>als</strong> einen ganz speziellen Trend – das war die ungarische<br />
Csardas mit Zigeunerviolinen, und wo immer man<br />
sich gerade hinwandte, gab es ein Restaurant, das Goulasch<br />
anbot." Die Arbeitsmarktlage in Budapest war wesentlich<br />
schlechter <strong>als</strong> die in Schweden, was viele Arbeitnehmer nach<br />
Skandinavien trieb, und so wurden osteuropäische Musik, Tänze<br />
und Gerichte die Renner der Saison. Auch <strong>Ingrid</strong> erinnerte<br />
sich an die plötzliche Schwemme von ungarischen Cafés und<br />
Tschechischen Modeläden. Deren exotischer Reiz sprach vor<br />
allem die jungen Leute an, die eine buntere, kosmopolitischere<br />
Lebensart suchten, <strong>als</strong> was die gute, stabile schwedische Einfachheit<br />
zu bieten hatte.<br />
Aber <strong>Ingrid</strong> und ihre Kameradinnen hatten wenig Zeit,<br />
sich um trendige Kaffeehäuser und Bistros zu kümmern. Die<br />
Klassen an der Dramaten arbeiteten an sechs Tagen pro Woche,<br />
und nach einer einstündigen Pause am Abend standen die<br />
S<strong>tu</strong>denten auf dem <strong>ob</strong>eren Balkon, um die Abendvorstellungen<br />
zu verfolgen. Während der Saison 1933-1934 genossen sie ein<br />
reiches internationales Programm. Den S<strong>tu</strong>denten war es aber<br />
untersagt, den Pr<strong>ob</strong>en beizuwohnen, weshalb die Zugänge zum<br />
Auditorium stets verschlossen waren. Wie <strong>Ingrid</strong> Jahre später<br />
sagte, konnte eine Haarnadel dieses Pr<strong>ob</strong>lem aber lösen. Die<br />
Sonntage waren dann reserviert für die Lektüre der Anweisungen,<br />
Gedächtnistraining und Szenens<strong>tu</strong>dium zuhause. Für ihre<br />
privaten S<strong>tu</strong>dien bevorzugte <strong>Ingrid</strong> die Sitzbänke dem Strandvägen<br />
entlang, oder dann die ruhigeren Bänke im Djurgården,<br />
einem Park mitten in der Stadt.<br />
Das Arbeitspensum war sehr intensiv. Da war die Theatergeschichte<br />
mit dem ernsten Professor Stig Torsslow, der<br />
sich an <strong>Ingrid</strong>s Entschlossenheit und methodische Energie erinnerte;<br />
Fechtlehrer war der kurze, agile R<strong>ob</strong>ert Påhlman;<br />
Stimme und Diktion erteilte die stattlich-elegante Karin Alexandersson,<br />
die für Strindberg gespielt hatte, und Szenens<strong>tu</strong>dium<br />
schliesslich erteilte die grosse Hilda Borgstöm, der Star<br />
von "Ingeborg Holm". Später am Tag eilten die S<strong>tu</strong>denten zu<br />
51
einem kahlen Umkleideraum für den Bewegungsunterricht mit<br />
dem graziösen Tänzer Valbörg Franchi, dann zur Körperkul<strong>tu</strong>r<br />
(wie sitzen, stehen, betreten und verlassen eines Raums) und<br />
den rhythmischen Tanzübungen mit der eleganten Ruth Kylberg<br />
und der strengen Jeanna Falk; und vielleicht am denkwürdigsten<br />
von allen: der Unterricht im dramatischen Ausdruck<br />
mit der grossartigen Anna Pettersson-Norrie.<br />
Die aristokratische dreiundsiebzigjährige Madame Pettersson-Norrie<br />
mit ihrem Zwicker, platinweissen Haar und vollen<br />
Busen war eine für Karika<strong>tu</strong>ren prädestinierte Figur. Aber<br />
niemand hätte es gewagt, sich über sie lustig zu machen.<br />
Ernst, wie ein Richter und mitleidlos wie der Henker konnte sie<br />
sein und übertriebene Hal<strong>tu</strong>ngen ihrer S<strong>tu</strong>denten manchmal<br />
warmherzig, manchmal eisig abstrafen. Sie tat das im kuriosen<br />
Glauben, dies sei der beste Weg zur Überwindung der Schüchternheit.<br />
Übertreibungen könnten später immer korrigiert werden,<br />
aber für den Moment galt: "Junger Mann, lassen Sie mich<br />
Ihre Hand in der Luft sehen!" oder "Warum werfen Sie Ihre<br />
Arme nicht weit offen auf diese Linie, meine Liebe?" Mit all'<br />
ihren Eigenheiten war Anna Pettersson-Norrie für <strong>Ingrid</strong> eine<br />
wertvolle Lehrerin – nicht so sehr für die grossen Gesten, <strong>als</strong><br />
vielmehr weil sie ihr Aufmerksamkeit beibrachte, wie man einem<br />
Mitspieler zuhört, wie man sich innerhalb der Szene benimmt,<br />
nicht einfach durch unbedachtes und unmotiviertes<br />
Handeln versucht, das Publikum zu zerstreuen oder – Horror! –<br />
eine Szene zu stehlen.<br />
Nach drei Monaten Dramaten hatte <strong>Ingrid</strong> die Bewunderung<br />
ihrer Mitschüler wie ihrer Lehrer gewonnen, und offenbar<br />
waren ihr Selbstvertrauen und Talent in der ganzen Schule<br />
bekannt. "Sie hatte ein grosses natürliches Talent, alle ihre<br />
Lehrer bewunderten das," sagte Rudolf Wendbladh, der spätere<br />
künstlerische Direktor der Schule, und fügte gleich bei, sie<br />
sei "ein pummeliges und impulsives Mädchen gewesen, das<br />
sehr genau wusste, was es wollte."<br />
Ihre Selbstsicherheit auf der Bühne und in der Klasse<br />
(aber nicht im Privatleben) wurde auch vom Schauspieler Gun-<br />
52
nar Björnstrand, ihrem ehemaligen Klassenkollegen von 1933,<br />
vermerkt. "Vielleicht war sie innerlich gar nicht so, aber sie<br />
machte nach aussen hin den Eindruck von völliger Stabilität.<br />
Sie verströmte immer den Eindruck von phänomenaler Gesundheit,<br />
Stärke und Vitalität. Sie hatte einen eisernen Willen<br />
und ein unglaubliches Gedächtnis. Ihre Texte lernte sie im<br />
Schlaf." Ein anderer Klassenkollege, Frank Sundstrom, erinnerte<br />
sich, dass sie sehr dezidierte Meinungen über ihre Arbeit<br />
hatte, zu einer Zeit, da Frauen noch keine Ideen zu haben hatten.<br />
Nach einer dritten Kollegin, <strong>Ingrid</strong> Luterkort, "war <strong>Ingrid</strong><br />
eine Schönheit – und sie wusste es auch".<br />
Das grosse Talent wurde auch vom Regisseur Alf Sjöberg<br />
erkannt, der sich in jenem Herbst 1933 zum absolut ungewöhnlichen<br />
Schritt entschloss, <strong>Ingrid</strong> (<strong>als</strong> junge Dramaten-<br />
S<strong>tu</strong>dentin) in Sigfrid Siwertz's Stück "Ett Brott" (Ein Verbrechen)<br />
aufzunehmen, das er eben am Theater vorbereitete und<br />
in dem Edvin Adolphson, einer der gefeiertsten schwedischen<br />
Schauspieler, die Hauptrolle spielte. Nach geheiligter Tradition<br />
durften nur die besten S<strong>tu</strong>denten im letzten Semester für<br />
Sprechrollen am Theater beigezogen werden. So bewirkte Sjöbergs<br />
Wahl der Erstjahres-S<strong>tu</strong>dentin <strong>Ingrid</strong> erheblichen Widerstand<br />
und persönliche Anfeindung gegen sie – bis hin zum Eklat,<br />
wo ein S<strong>tu</strong>dent, der sie auf der Strasse antraf, ihr ein Buch<br />
auf den Kopf schlug. Sjöberg musste nachgeben und <strong>Ingrid</strong><br />
musste sich während den Pr<strong>ob</strong>en dieses Winters noch aus dem<br />
Stück zurückziehen.<br />
Der Vorfall hätte eine andere achtzehnjährige S<strong>tu</strong>dentin<br />
deprimieren können – bis hin zum Verlassen der Schule. Aber<br />
<strong>Ingrid</strong> war zu entschlossen, im Interesse des Erfolgs durchzuhalten<br />
– und war damit gut beraten. Im folgenden April gelang<br />
es Sjöberg dann doch, etwas für <strong>Ingrid</strong>s Karriere zu <strong>tu</strong>n. Diesmal<br />
brachte er sie zusammen mit ein paar andern Erstklasse-<br />
Mädchen in einer Massenszene von Sheridans klassischer Komödie<br />
"Die Rivalen" unter, die er zwischen Mitte Mai und Anfang<br />
Juni 1934 mit 19 Vorstellungen im Programm hatte. Die<br />
Hauptrolle (Kapitän Absolut) wurde wiederum von Edvin<br />
Adolphson gespielt; zu ihrem Missvergnügen war <strong>Ingrid</strong> nur<br />
53
s<strong>tu</strong>mme Statistin. "Sie war sehr unglücklich darüber," erinnerte<br />
sich <strong>Ingrid</strong> Luterkort, "vielleicht weil ihr Bühnendébut nicht<br />
besser verlief <strong>als</strong> ihr Filmdébut in "Landskamp", wo sie ebenfalls<br />
eine unsichtbare Statistin war.<br />
Während Jahren stand Alf Sjöberg im Verdacht, <strong>Ingrid</strong>s<br />
erste Liebe gewesen zu sein – vermutlich weil er sie so verbissen<br />
in der Schule zu fördern versuchte. Aber wie <strong>Ingrid</strong> später<br />
ihrem ersten und dritten Mann gestand, fiel diese Rolle Edvin<br />
Adolphson zu, einem betörend hübschen Mann, der – wenn die<br />
Rolle es erforderte – einen unwiderstehlichen Sex-Appeal verströmen<br />
konnte. Mit seiner starken Persönlichkeit, dunklem<br />
Haar und dunkeln Augen, seinem bestimmenden Auftreten,<br />
konnte er Männer einschüchtern und Frauen zur kopflosen Unterwürfigkeit<br />
bringen.<br />
Adolphson war 41, verheiratet und Vater. Dessen ungeachtet<br />
war er dieses Frühjahr 1934 bezaubert von diesem ausgelassenen,<br />
ausdrucksvollen achtzehnjährigen Na<strong>tu</strong>rkind, das<br />
ihm schon bei den ersten Pr<strong>ob</strong>en zu "Ett Brott" aufgefallen<br />
war. <strong>Ingrid</strong> fand sein Auftreten glänzend, seine Autorität unwiderstehlich<br />
und sein Interesse an ihr schmeichelhaft. Nach einer<br />
Pr<strong>ob</strong>e zu "Die Rivalen" an einem regnerischen Nachmittag<br />
lud Adolphson <strong>Ingrid</strong> und eine andere junge Kollegin zu einem<br />
Kaffee ein. Am darauffolgenden Sonntag traf er <strong>Ingrid</strong> allein zu<br />
einem Spaziergang durch die engen Strassen der Altstadt, der<br />
sie zufälligerweise zum Schlafzimmer eines Freundes führte,<br />
der angenehmerweise während des Wochenendes auswärts<br />
weilte.<br />
Achtzehn, leidenschaftlich und verspielt, wie sie war,<br />
vermied sie es doch, in die Falle zu treten, die für jene weit<br />
offen stand, die mit dieser Si<strong>tu</strong>ation unrealistische, romantische<br />
Erwar<strong>tu</strong>ngen verknüpft hätten. Vor allem nahm sie die<br />
Tatsache sehr ernst, dass Edvin verheiratet und ein gefeierter<br />
Star war, der zwar eine willige Jungschauspielerin zu schätzen<br />
wusste, nicht aber die öffentliche Schmach. Mit andern Worten:<br />
sie wusste, dass das für sie beide eine vorübergehende<br />
Sache war, und sie erwartete von dieser Beziehung wenig<br />
54
mehr, <strong>als</strong> sie zu bieten vermochte: eine zärtliche Einführung in<br />
die sexuelle Intimität und den Vorteil des Kontakts mit einem<br />
hervorragenden und erfahrenen Schauspieler, der sowohl die<br />
Litera<strong>tu</strong>r wie die Bühnenpraxis kannte und willens war, zu fördern<br />
wie zu liebkosen. So heimlich, wie die Romanze gelebt<br />
sein musste, gibt es keinen Hinweis darauf, dass sie für die<br />
beiden schliesslich etwas anderes war, <strong>als</strong> eine schöne Erinnerung.<br />
Und wie das in <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Leben immer war – eine<br />
Liebesaffäre wurde danach zu einer sympathiebasierten<br />
Freundschaft.<br />
Die gelegentlichen Treffen mit <strong>Ingrid</strong> während dieses<br />
Frühjahrs und Sommers hätten das Jahr hindurch durchaus<br />
unpr<strong>ob</strong>lematisch weitergehen können, wäre da nicht ein Rivale<br />
aufgetaucht, der solche Konkurrenz nicht einfach hingenommen<br />
hätte. <strong>Ingrid</strong>s Kusine Margit (eine Tochter von Onkel Otto<br />
und Tante Hulda) war die begeisterte Patientin eines jungen<br />
Zahnarztes namens Lindström. Eines Sonntagabends im November<br />
1933, kurz nachdem ihre Familie die neue Wohnung<br />
an der Skeppargatan 37, zehn Gehminuten von der Dramaten<br />
entfernt, bezogen hatte, lud sie ihn zum Abendessen ein. "Ich<br />
betrachtete ihn dam<strong>als</strong> einfach <strong>als</strong> alten Mann," erklärte <strong>Ingrid</strong><br />
Jahre später. "Aber ich war noch immer etwas linkisch und in<br />
Gesellschaft unbeholfen...da fühlte ich mich sehr geschmeichelt,<br />
dass ihn meine Gesellschaft nicht langweilte. Er hatte ein<br />
Auto und lebte in einer hübschen Wohnung. All' das machte<br />
mir grossen Eindruck." Lindström, dam<strong>als</strong> mit seinen sechsundzwanzig<br />
Jahren um acht Jahre älter <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong>, war 1 m<br />
85 cm gross, blauäugig und blond. Edvin Adolphsons Ebenbild<br />
punkto seiner äusseren Erscheinung, seines Charmes und<br />
Selbstbewusstseins, hatte er ebenfalls einen soliden professionellen<br />
Hintergrund zu bieten.<br />
Petter Aron Lindström wurde am 1. März 1907 in Stöde,<br />
einem Dorf im rauhen Nordosten Schwedens, <strong>als</strong> Sohn von<br />
Alfred Lindström, dem Garten- und Landschafts-Architekten<br />
der Grafschaft und seiner kultivierten Frau, Brita Lisa Söderberg,<br />
geboren. Seinen zweiten Vornamen trug er zu Ehren eines<br />
verehrten Onkels, weshalb er von Kindsbeinen an Aron<br />
55
gerufen wurde, oder eben der schwedischen Tradition zufolge<br />
Petter Aron. Mit zwanzig schaffte er an der Universität Heidelberg<br />
seinen Abschluss in Zahnheilkunde; vier Jahre später erhielt<br />
er von der Universität Leipzig einen Lehrauftrag in der<br />
Dentalmedizinischen Forschung. Somit verfügte Petter dieses<br />
Frühjahr 1934 über eine Professur und eine eigene Zahnarzt-<br />
Praxis; nebenher setzte er zügig sein Medizins<strong>tu</strong>dium fort. Als<br />
begnadeter und erfolgreicher Arzt pflegte er auch diverse kul<strong>tu</strong>relle<br />
und sportliche Interessen. Ein Könner auf der Skipiste<br />
und im Boxring, war er auch ein starker Wanderer, ein glänzender<br />
Schwimmer und ein unermüdliches Wunderkind auf<br />
dem Tanzboden. Nur für Theater und Film schien er nichts übrig<br />
zu haben. (Lindström liess in Amerika den ö-Umlaut in seinem<br />
Namen übrigens fallen und signierte stets mit Lindstrom.<br />
Wir berücksichtigen diesen Punkt hier aber nicht weiter.)<br />
Zu Beginn des neuen Jahres wurde Petter eingeladen,<br />
sich Margit und ihrem Freund <strong>als</strong> Begleiter für <strong>Ingrid</strong> zu einem<br />
Ball im Grand Hotel anzuschliessen. "Ich bewundere Ihr schönes<br />
Haar," sagte er ihr an jenem Abend. "Und die schöne<br />
Stimme, die Sie haben." Mit derartigen Komplimenten kam er<br />
gut voran. Ironischerweise war es vermutlich ihrem durch Edvin<br />
Adolphson gestärkten Selbstvertrauen zuzuschreiben, dass<br />
<strong>Ingrid</strong> dieses Frühjahr mit dieser trockenen Umwerbung durch<br />
den sehr korrekten jungen Zahnarzt zurechtkam.<br />
Otto und Hulda <strong>Bergman</strong> wussten nichts von <strong>Ingrid</strong>s<br />
Romanze mit Adolphson. Umsomehr unterstützten sie die<br />
wachsende Freundschaft zwischen ihrer Nichte und dem netten<br />
jungen Zahnarzt. Er hatte einen geachteten und einträglichen<br />
Beruf, er war eine Seele von Charme, machte sich endlos nützlich,<br />
wo er konnte, und bald begann <strong>Ingrid</strong>, seine Auffassungen<br />
zu vertreten und sich zunehmend auf seinen Rat und sein Urteil<br />
– u.a. beispielsweise in Fragen der Gesundheit und Diät -<br />
zu verlassen. Während ihre Beziehung zu Edvin höchst unsicher<br />
war und im Verstohlenen blühen musste, brachte Petter<br />
Stabilität, und man konnte sich in aller Offenheit treffen. Darüber<br />
hinaus rief noch Vieles in ihr nach väterlicher Fürsorglichkeit<br />
und Führung (worin allerdings auch eine von Edvins Stär-<br />
56
ken zu erkennen war), Qualitäten <strong>als</strong>o, die auch Petter durchaus<br />
zu bieten hatte. "Für eine Waise wie <strong>Ingrid</strong>," sagte ihr<br />
Zeitgenosse, Bertil Lagerström, "muss Lindström echte Sicherheit<br />
bedeutet haben" – speziell, könnte man beifügen, mit der<br />
Überzeugungskraft und Unbeugsamkeit, die er verströmte.<br />
Petter war nicht der einzige redegewandte und überzeugende<br />
Dozent der Geschichte, der seine Talente ausserhalb des Hörsa<strong>als</strong><br />
einsetzte, wo er manchmal (nach Auffassung einer seiner<br />
Zuhörerinnen, Alice Logardt-Timander) von den S<strong>tu</strong>denten<br />
sehr gefürchtet wurde. Er hatte es eben so an sich, überall zu<br />
dominieren.<br />
"Es war nicht Liebe auf den ersten Blick," sagte <strong>Ingrid</strong><br />
später vom Anfang dieser Beziehung, "aber es entstand etwas<br />
daraus, was für uns beide sehr wichtig wurde und ohne das wir<br />
nicht mehr leben wollten." Vielleicht dachte sie an Edvin, <strong>als</strong><br />
sie hinzufügte, "Und trotzdem ich die jungen Männer am Theater<br />
mochte, fühlte ich, dass ich mich auf seinen gesunden<br />
Menschenverstand besser verlassen konnte." Im Frühsommer<br />
1934 sahen sie sich sehr oft. Sie dinierten und tanzten an den<br />
Samstag Abenden und am Sonntag streiften sie dem Hafen<br />
entlang und durch die ruhigen Gefilde des Djurgårdens, das<br />
ehemalige Jagdrevier der königlichen Familie, wo später N<strong>ob</strong>el-<br />
Residenzen, ein Vergnügungspark wie das Kopenhagener Tivoli<br />
erstellt wurden, wo historische Exponate, detailgetreu wiederhergestellte<br />
Bauten den ursprünglichen schwedischen Lebensstil<br />
erahnen liessen und auch Reitwege angelegt waren. Zum<br />
Sonntags-Lunch oder Nachmittagstee begaben sie sich zum<br />
Hasselbacken, einem eleganten Ort, wo sich die fröhliche jugendliche<br />
Kundschaft und ein Tanzorchester am Abend Stelldichein<br />
gaben, und abwechslungsweise wanderten sie mit einem<br />
Picnic-Lunch in der Tasche durch die Wälder, Petter mit<br />
seinem mit Ziegelsteinen gefüllten Rucksack, von dem er sagte,<br />
dass er beim Wandern seine Muskeln stärke. Edvin traf sie<br />
nun vielleicht noch einmal in zwei Wochen.<br />
"Vor dir konnte ich mit niemandem über mich reden,"<br />
sagte <strong>Ingrid</strong> zu Petter, der sich Jahre später erinnerte: "Ich<br />
hörte ihr zu. Ich erfuhr, dass sie eine sehr schwere Jugend<br />
57
hinter sich hatte und dass sie zuhause niemanden hatte, dem<br />
sie sich anvertrauen konnte. Sie tat mir leid, ich wollte ihr helfen<br />
– und natürlich mochte ich sie."<br />
Aber im Moment wusste er nichts von ihren fortgesetzten<br />
Rendezvous mit Adolphson, w<strong>ob</strong>ei seine Hingabe an die<br />
Erfordernisse seiner Karriere den S<strong>tu</strong>rm der Leidenschaft ohnehin<br />
dämpften. "Lindström brauchte sehr lange um sich bewusst<br />
zu werden, dass er mich liebte," schrieb <strong>Ingrid</strong> später in<br />
ihren Memoiren. "Ich denke, sich in eine Schauspielerin zu verlieben,<br />
passte überhaupt nicht zu seinen Lebensvorstellungen<br />
... er verliebte sich praktisch ohne es wirklich wahrzunehmen."<br />
Während den Sommerferien 1934 verzichtete <strong>Ingrid</strong><br />
darauf, ihre Schauspielschul-Kollegen auf eine Russlandreise<br />
zu begleiten. Edvin Adolphson, der inzwischen von seinem attraktiven<br />
Rivalen wusste, legte einen andern Gang ein, um das<br />
komfortable Verhältnis mit <strong>Ingrid</strong> über die Runden zu retten.<br />
Und seine für die eifrige junge Schauspielerin unwiderstehliche<br />
Strategie war einfach. Mit der Regie in einer Filmkomödie beauftragt,<br />
die diesen Sommer produziert werden sollte, setzte<br />
er <strong>Ingrid</strong> in die einzige junge weibliche Rolle ein, deren Attraktivität<br />
durch die Arbeit mit dem Autor Gösta Stevens noch aufgewertet<br />
wurde. Schliesslich machte er sich das Vergnügen,<br />
die männliche Hauptrolle <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong>s romantischer Liebhaber<br />
selbst zu übernehmen.<br />
Es handelte sich um den Film "Munkbrogreven" (Der<br />
Mönchsbrücken-Graf), der in einem pittoresken Teil der Stockholmer<br />
Altstadt spielt. Er basierte entfernt auf einem Stück von<br />
Siegfried und Arthur Fischer, das sich bei der komischen Erfindungsgabe<br />
des französischen Filmregisseurs René Clair einige<br />
Anleihen holte. Am 12. Juli begann <strong>Ingrid</strong> die Arbeit am Film,<br />
wofür sie eine Gage von etwas mehr <strong>als</strong> $ 150.- erhielt. Sie<br />
wurde an zwölf Tagen benötigt, war aber während sechs Wochen<br />
täglich bei den Dreharbeiten – nicht nur, um Edvin<br />
Adolphson zu sehen, sondern weil sie vom Director of photography,<br />
Åke Dahlquist, möglichst alles lernen wollte, was mit<br />
Filmaufnahmetechnik, Objektiven, Linsen, Belich<strong>tu</strong>ng, Tricks<br />
58
und so weiter zu <strong>tu</strong>n hatte. Als ihres Vaters Tochter hatte sie<br />
jederzeit eine kleine Box-Kamera zur Hand, mit der sie Familienanlässe<br />
dokumentierte. Jetzt wollte sie jede Art von Aufnahme<br />
verfolgen und die Welt des Films bei der Arbeit mit ihren<br />
neuen Kollegen förmlich in sich aufsaugen.<br />
ALS EINE GEWINNENDE KOMÖDIE der schlechten Manieren<br />
gab "Munkbrogreven" <strong>Ingrid</strong> massenhaft Gelegenheiten,<br />
die Figur der Elsa ausgiebig zu gestalten; das lebenslustige<br />
Zimmermädchen arbeitete im Billighotel ihrer schlampigen alten<br />
Tante, das stark von gutmütigen Schmugglern frequentiert<br />
wurde, welchen oft die Polizei auf den Fersen war. Der mysteriöse<br />
Fremde namens Åke (Adolphson), der nun im Hotel auftaucht,<br />
macht den Anschein, ein Gauner-Ass zu sein, ein Ganove<br />
der schlimmsten Sorte, der dem Ruf der etablierten<br />
Schmugglergesellschaft aufs Übelste schadet. Am Schluss wird<br />
er aber <strong>als</strong> recherchierender Journalist enttarnt, der gesuchte<br />
Übeltäter wird gefasst und Åke besiegelt seine Romanze mit<br />
Elsa durch die Heirat.<br />
<strong>Ingrid</strong> schaffte hier ein beeindruckendes Début und Edvin<br />
freute sich darüber mächtig für sie beide. Die Begegnung<br />
mit dem charismatischen, hübschen Fremden löste in ihr Ängste,<br />
Neugier und erotische Faszination aus. Da gab es aber kein<br />
Zeichen von Überreaktion, von übertriebener Mimik und auch<br />
keine gestohlene Szene, im Gegenteil – speziell, wenn sie sich<br />
am Piano selbst begleitete und das kecke Lied "Golden Chains<br />
Are Love's Bands" sang, lieferte <strong>Ingrid</strong> das bestechend natürliche<br />
Portrait eines verknallten Mädchens, das an seinem Freund<br />
nur das Beste sehen wollte. Adolphson und Alquist fotografierten<br />
sie aufs sorgfältigste, um die Kontraste zwischen ihrer hellen<br />
Haut und dem lichtbraunen Haar gegen Adolphsons verführerisch<br />
dunkle und anziehende Persönlichkeit optimal herauszuholen.<br />
<strong>Ingrid</strong>s natürliche Fröhlichkeit verströmte einen ungekünstelten<br />
Charme, und sie bestätigte sich während des ganzen<br />
Films <strong>als</strong> absolut fähiges und zuverlässiges Ensemble-<br />
Mitglied unter erfahrenen, älteren Mitspielern.<br />
59
Viel später verbreiteten einige Kritiker negative Berichte<br />
über <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Leis<strong>tu</strong>ngen in den schwedischen Filmen<br />
der 1930er-Jahre, womit sie die Bedeu<strong>tu</strong>ng ihrer Arbeit in Europa<br />
vor ihrem Weggang nach Amerika untergruben. Aber mit<br />
"Munkbrogreven" erlebten Publikum und Presse den Auftritt<br />
einer neuen, verführerischen Schauspielerin. Bei der Premiere<br />
des Films 1935 fassten zwei Kritiker die öffentlichen Reaktionen<br />
auf den Film zusammen. "<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> zeigt in ihrem<br />
Filmdébut grosses Talent und viel Selbstvertrauen," schrieb der<br />
eine, und der andere pries sie <strong>als</strong> "eine erfrischende und unkomplizierte<br />
junge Dame, insgesamt ein echter Gewinn für den<br />
Film." Vom Anfang ihrer Karriere an bestach sie das Publikum<br />
mit ihrer unaffektierten Lebendigkeit und ihren schwungvollen,<br />
klaren Wechseln der Emotionen. Es schien immer, <strong>als</strong> würde<br />
ein inneres Leben die äussere Handlung ihrer Charaktere<br />
bestimmen; und dennoch gab es da auch gewisse Zögerlichkeiten<br />
in der Darstellung ihrer Emotionen. Kurz, sie machte<br />
den Eindruck einer natürlichen Person und nicht den einer Darstellerin<br />
von eins<strong>tu</strong>dierten Gefühlen.<br />
Dann traf sie eine kühne Entscheidung. Am 20. August,<br />
gerade bevor die S<strong>tu</strong>denten für das neue Semester den einzelnen<br />
Klassen zugeteilt wurden, erschien <strong>Ingrid</strong> im Büro des<br />
neuen Theater-Direktors, Olof Molander, um ihm mitzuteilen,<br />
dass sie die Schule verlasse. Sie habe eben die Arbeit an einem<br />
Film fertiggestellt, einen zweiten begonnen und den Vertrag<br />
für einen dritten in der Tasche, dessen Regisseur übrigens<br />
niemand anderer war <strong>als</strong> Olof Molanders Bruder, der berühmte<br />
und erfolgreiche Gustav Molander. "Das brauchte schon ein<br />
gutes Stück Selbstüberwindung und Mumm," sagte Lindström<br />
Jahre später. "Olof Molander würde wütend und sagte ihr, sie<br />
ruiniere damit ihre vielversprechende Karriere. Aber sie blieb<br />
dabei." Rudolph Wendbladh, der spätere Superintendant der<br />
Schule, unterstützte 1934 die kurzsichtige Optik von <strong>Ingrid</strong>s<br />
Lehrern: "Welch' ein Jammer! Welch' grosse Schauspielerin<br />
hätte aus ihr werden können!" Er kam nie auf diese Diagnose<br />
zurück.<br />
60
In Windeseile zurück im S<strong>tu</strong>dio der Svenska Filmindustri,<br />
war <strong>Ingrid</strong> glücklich, im Melodrama "Bränningar" (15<br />
Jahre später in Amerika unter dem Titel "The Surf" lanciert)<br />
eine völlig andere Rolle übernehmen zu können, <strong>als</strong> die der<br />
mädchenhaften, liebeskranken Elsa war. Als Karin spielte sie<br />
die Tochter eines armen Fischers, die von einem lüsternen Pastor<br />
geschwängert und dann sitzen gelassen wird, indem er die<br />
Stadt verlässt. Buchstäblich vom Blitz getroffen, kehrt er nach<br />
seiner Rekonvaleszenz wieder in die Stadt zurück und ist vom<br />
Lebensmut des Mädchens und seiner Hingabe <strong>als</strong> Mutter zutiefst<br />
gerührt. Trotz seiner Äch<strong>tu</strong>ng bekennt er sich öffentlich<br />
zu seiner Schuld, verlässt den Kirchendienst und beginnt mit<br />
Karin und dem Kind ein neues Leben auf einer Farm<br />
Zum ersten Mal musste <strong>Ingrid</strong> die Mühen von Aussenaufnahmen<br />
durchstehen, von welchen sie aber wieder viel<br />
Neues über das Filmhandwerk lernte. Auf der kleinen Insel<br />
Prästgrund vor der schwedischen Nordküste roch es durchdringend<br />
nach verwesendem Fisch, was sie aber verkraften konnte.<br />
In ihr Tagebuch schrieb sie: "Als Primadonna war ich zwei<br />
S<strong>tu</strong>nden auf See.<br />
Denn zum allerersten Mal baten mich die Leute um ein<br />
Autogramm. Die Mannschaft verehrte mich und vor<br />
lauter Komplimenten musste ich mich wirklich bemühen,<br />
meinen Kopf auf den Schultern zu behalten. Ich<br />
hoffe nur, ich sei in allen Szenen wirklich gut gewesen.<br />
Bei den Pr<strong>ob</strong>en denke ich war alles gut, aber dann bei<br />
den Aufnahmen ist das nicht ganz dasselbe. Was mich<br />
glücklich machte, war, dass Sten Lindgren, der meinen<br />
Liebhaber-Kirchenmann spielt, fürchtet, dass unsere<br />
Liebesszenen so leidenschaftlich seien, dass sie womöglich<br />
in der Zensur hängen bleiben könnten."<br />
Diese Pr<strong>ob</strong>lembilder wurden nicht geschnitten, aber leider<br />
auch das etwas feucht-muffige Szenario nicht. Nicht zum<br />
letzten Mal veredelte <strong>Ingrid</strong> durch ihr Spiel an sich unbedeutendes<br />
Material (geschrieben vom Regisseur Ivar Johansson)<br />
und liess eine eher fade, einsilbige Figur ohne einen Hauch von<br />
61
62<br />
1934 - in „Bränningar“
schmalziger Sentimentalität glaubhaft und sympathisch werden.<br />
"Sie ist einmalig!" applaudierte eine massgebende Kritik,<br />
<strong>als</strong> der Film gerade nur einen Monat nach dem "Munkbrogreven"<br />
in die Kinos kam. "Ihr Spiel ist sehr ausgewogen und<br />
zärtlich, sie ist graziös und natürlich."<br />
Zurück in den Stockholmer S<strong>tu</strong>dios war die Rede schon<br />
von der genialen und unbefangenen Neunzehnjährigen, die<br />
ihre Texte im Handumdrehen in<strong>tu</strong>s hatte, nie über Wiederholungen<br />
oder mühsame Aussenaufnahmen klagte und überhaupt<br />
alles interessant fand. "Weil ich immer Lindström hinter<br />
mir fühlte," sagte sie, "packte ich alles voller Zuversicht an.<br />
Auch wenn ich ihn einige Zeit nicht sehen konnte, wusste ich,<br />
er war da, mir zu helfen und beizustehen." Sogar Otto und<br />
Hulda waren nun doch sehr beeindruckt vom Erfolg ihrer Nichte.<br />
Bevor sie im November 1934 zu ihrem nächsten Film<br />
eilte, verbesserte die Filmgesellschaft <strong>Ingrid</strong>s Vertrag um jährlich<br />
zusätzliche $ 500 und die Aussicht auf weitere jährliche<br />
Erhöhungen um jeweils 20 %. Das war nichts im Vergleich zu<br />
den Gagen, die erfahrene Berufsschauspieler wie Edvin<br />
Adolphson oder Karin Swanström erhielten, aber <strong>Ingrid</strong> war –<br />
schon dam<strong>als</strong> wie immer danach – mehr an ihrer guten Arbeit<br />
und ihrer beruflichen Entwicklung interessiert, <strong>als</strong> an hohen<br />
Gagen. Wie ihr öfters gesagt wurde, würden Schauspieler mit<br />
Bühnenarbeit selten reich; bei ihren Verhandlungen spielte das<br />
Geld auch nie eine grosse Rolle. Solange sie ihren vernünftigen<br />
Lebensstil gesichert sah (was durch ihren familiären Hintergrund<br />
ohnehin der Fall war) und sie immer neue Rollen spielen<br />
konnte (wofür ihre Arbeitgeber eifrig sorgten), überliess sie die<br />
finanziellen Belange ihres Lebens dem Schicksal. Ihre Philosophie<br />
war einfach: solange sie gute Arbeit leistete, würde sie<br />
gut bezahlt. Sie suchte Anerkennung, nicht Reichtümer. Popularität<br />
betrachtete sie <strong>als</strong> Zeichen der öffentlichen Zustimmung,<br />
und darauf war sie begierig.<br />
Das Jahr endete mit ihrer Beteiligung an einem Film von<br />
Hjalmar <strong>Bergman</strong>s Geschichte von einer exzentrischen Familie,<br />
63
"Swedenhielms", mit Regisseur Gustav Molander. Während der<br />
Wirtschaftsdepression wurden weltweit Komödien über reiche<br />
Familien produziert, die in Not geraten und dann mit ihrem<br />
kärglichen Leben ganz flott und fröhlich zurechtkommen; dann<br />
gab es auch die unglaublichsten Geschichten über glückliche<br />
Arme, die sich neben den sorgenvollen Reichen fröhlich durchs<br />
Leben mauserten. Die Swedenhielms haben aber ein anderes<br />
Pr<strong>ob</strong>lem: Papa, ein Wissenschafter, giert nach dem N<strong>ob</strong>elpreis,<br />
während seine drei Kinder nur den Jahren nach erwachsen sind<br />
und ausschliesslich die Annehmlichkeiten dieses Standes geniessen<br />
möchten. Kapriziös, rechthaberisch und bequem, lernen<br />
sie schliesslich die Bedeu<strong>tu</strong>ng eines ehrenhaften Lebensstils<br />
von ihrer Haushälterin (einer von Karin Swanström gespielten,<br />
rührenden und humorvollen Persönlichkeit) kennen.<br />
Gleichzeitig sieht Papa seinen Herzenswunsch erfüllt, nachdem<br />
er die schmerzliche Erfahrung machen musste, dass er die Ehre<br />
seiner Familie übergangen hatte. Alle – einschliesslich Astrid<br />
(<strong>Ingrid</strong>), ein reiches Mädchen, das den abgebrannten, faulen<br />
Sohn eines Wissenschafters unterstützen will – erkennt darin<br />
die Bedeu<strong>tu</strong>ng echter Verantwor<strong>tu</strong>ng und wird damit um Erfahrungen<br />
reicher.<br />
<strong>Ingrid</strong>s Rolle war sicher nebensächlich, was sie aber<br />
glücklich machte, war der Umstand, dass sie ihren Mädchentraum<br />
verwirklichen konnte, nämlich "in einem Film mit Gösta<br />
Ekman aufzutreten", den sie auf der Bühne wie auf der Leinwand<br />
so sehr bewunderte. "Als wäre er mein Vater," bemerkte<br />
sie nachdenklich, "inspirierte er mich auf eine ganz mystische<br />
Art. Ich verehre ihn mehr denn je." Er selbst bewunderte an<br />
ihr ihre Professionalität und versprach, sie hätten nicht zum<br />
letzten Mal zusammengearbeitet. "Du bist wirklich sehr talentiert,"<br />
sagte er, "du hilfst mir in meiner Rolle, weil sich jedes<br />
meiner Worte in deinem Gesicht und Ausdruck widerspiegelt.<br />
Das erlebt man heute sehr selten." Die Kritiker berichteten,<br />
dass <strong>Ingrid</strong>s Szenen mit Co-Star Håkan Westergren die Hitze<br />
eines liebeskranken Mädchens mit der Angst einer Frau verbanden,<br />
sie könne ihren Mann verlieren.<br />
64
"Ich fand die Arbeit mit Gustav Molander wundervoll,"<br />
bescheinigte <strong>Ingrid</strong> später dem Regisseur, der<br />
"mir beibrachte, wie herunterzuspielen und jederzeit<br />
aufrichtig und natürlich zu agieren." Sein Rat: "Keine<br />
Experimente, nicht niedlich sein wollen. Sei immer du<br />
selbst und lerne deine Zeilen gut." Im Set gab er mir<br />
ein starkes Gefühl von Sicherheit. Er rannte nicht<br />
ständig weg ans Telefon oder kümmerte sich um hundert<br />
andere Dinge, wie ich das bei anderen Regisseuren<br />
erlebt habe. Er konzentrierte sich stets auf die<br />
Szene, auf dich."<br />
Aber dankbar und kooperativ, wie sie war, blieb <strong>Ingrid</strong><br />
oft an Details hängen. Nach vielen Wiederholungen einer Szene<br />
in Swedenhielms (bedingt durch Kamerapr<strong>ob</strong>leme), hatte<br />
sie es endlich geschafft und Molander sagte, sie könne gehen.<br />
Aber dann rief der Kameramann: "<strong>Ingrid</strong>, geh' nicht weg, wir<br />
ändern die Beleuch<strong>tu</strong>ng für die nächste Szene – bleib' wo du<br />
stehst." "Es ist heiss hier,"antwortete sie, "und ich brauche<br />
eine Pause."<br />
INGRID BEGANN DAS JAHR 1935 mit Hoffnung und in<br />
Sorge. Sie freute sich auf ihre erste Premiere – "Munkbrogreven"<br />
am 21. Januar im Scandia Theater – und fürchtete sich<br />
zugleich davor.<br />
"Ich fühle mich sicher und unsicher zugleich," vertraute<br />
sie ihrem Tagebuch an, "Ich bin verunsichert durch<br />
die ganze Publizität, die da betrieben wurde, und hoffe<br />
nur, den Erwar<strong>tu</strong>ngen des Publikums auch gerecht zu<br />
werden. Was würden nur Mama und Papa dazu sagen,<br />
wenn sie mich hier in meiner Einsamkeit sehen könnten.<br />
Ich möchte mich in jemandes Arme kuscheln, der<br />
mich beschützt, tröstet und lieb hat."<br />
Diesen Komfort bot ihr Lindström, der diesen Winter eine<br />
Woche Urlaub nahm und mit <strong>Ingrid</strong> zum Skifahren nach Norwegen<br />
fuhr. Eine Arbeitspause war dam<strong>als</strong> wie später äusserst<br />
65
selten für ihn: auf seine Karriere fokussiert, betrachtete er das<br />
Privatleben nur <strong>als</strong> einen Teil des Lebens – und eben nicht <strong>als</strong><br />
den wichtigsten. Er wollte sein Talent vollumfänglich der Wissenschaft<br />
und seinen Patienten widmen – daher auch sein Bemühen<br />
um die Armen und für seinen Ruf <strong>als</strong> Arzt. Von<br />
Lindström wie von ihren Lehrern und Regisseuren wurde <strong>Ingrid</strong><br />
das Primat der Arbeit auf Lebenszeit eingepaukt. Das Schauspiel<br />
war für sie eine Berufung, wie die Medizin für ihn: nicht<br />
einfach ein J<strong>ob</strong>, beides gipfelte in einer hochstehenden, wertvollen<br />
Kunst und bedeutete nicht einfach die Strasse zu Reich<strong>tu</strong>m<br />
und Ruhm.<br />
"Sie ist nicht sonderlich intelligent, aber sie ist speziell,"<br />
behauptete Lindström von <strong>Ingrid</strong> und meinte damit vielleicht<br />
nur ihre Schulbildung und ihre geringe Lebenserfahrung; vielleicht<br />
hatte er auch ihr mädchenhaftes Wesen und die Unbeschwertheit,<br />
mit der sie lachte oder ihre Meinung zum Besten<br />
gab, im Auge. Aber er lag mit seiner Behaup<strong>tu</strong>ng daneben,<br />
denn <strong>Ingrid</strong> hatte eine schnelle Auffassungsgabe, das ausgesprochene<br />
Talent, Fremdsprachen schnell zu erlernen und die<br />
Fähigkeit, komplizierte Texte im Handumdrehen im Kopf zu<br />
haben. Noch in diesem Jahr erschien in einem Zei<strong>tu</strong>ngsartikel<br />
die unterkühlte Mitteilung, wonach Lindströms Elternhaus in<br />
Stöde nun für die Waise <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> zum zweiten Heim geworden<br />
sei.<br />
Je näher sich die beiden nun kamen, desto mehr wurde<br />
Lindström zum Beschützer, Bewacher und Berater seiner willigen<br />
Freundin. Mittlerweile pflegte er, nach dem Bericht eines<br />
befreundeten Journalisten, "<strong>Ingrid</strong> regelmässig seine guten<br />
Ratschläge zu erteilen, und keine einzige Filmszene mit ihr habe<br />
das Labor ohne die Zustimmung des kunstbesessenen Zahnarztes<br />
verlassen." Natürlich wird hier übertrieben, denn keiner der<br />
beiden hatte den geringsten Einfluss auf den endgültigen<br />
Schnitt ihrer Filme. Sie stand unter Vertrag, und diese Entscheidungen<br />
wurden höherenorts getroffen, w<strong>ob</strong>ei die Meinung<br />
eines Beaus noch schneller vom Tisch gewesen wäre, <strong>als</strong> die<br />
eines Ehemanns. Dennoch, Lindströms lebenslanges Dementi,<br />
66
dass er Einfluss auf ihre Karriere-Entscheidungen genommen<br />
habe, wird durch die Tatsachen widerlegt.<br />
Natürlich rief sie seine Gefühle wach und er ging auch<br />
willig darauf ein. Ausserdem verfügte Lindström über einen<br />
hellwachen Geschäftssinn, w<strong>ob</strong>ei <strong>Ingrid</strong> ihre eigene Schwäche<br />
auf diesem Gebiet nur allzugut kannte. Seine späteren Beteuerungen<br />
hinsichtlich seiner Zurückhal<strong>tu</strong>ng und Nichteinmischung<br />
in Ihr Berufsleben, sowohl in Schweden wie auch später in<br />
Amerika, betrafen nicht sein Interesse an ihrer Karriere. "Von<br />
allem Anfang an," stellte <strong>Ingrid</strong>s ehemalige Freundin, die Kolumnistin<br />
Marianne Höök, fest, "war <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> starke Frau auf<br />
der Suche nach einem noch stärkeren Mann." Petter Aron<br />
Lindström war das.<br />
Ihr persönliches Glück wurde 1935 durch gute Arbeit<br />
vervollkommnet. Nach der Arbeit mit ihrem Idol Gösta Ekman<br />
begann ihr rasanter Aufstieg durch Filme mit Lars Hanson, Victor<br />
Sjöström und wiederum mit Edvin Adolphson und Karin<br />
Swanström. Zum ersten, Gustaf Edgrens "Valborgsmässoafton"<br />
(Walpurgisnacht), trug sie eine Kraft und Überzeugung bei, die<br />
allein verhinderte, dass die Sekretärin-<strong>als</strong>-treue-Geliebte-Rolle<br />
zum Cliché verkam. Der Film, eine deftige Geschichte für die<br />
damalige Zeit, wurde in Amerika nicht freigegeben, bevor die<br />
Zensur 1941 die nötigen Schnitte vorgenommen hatte: Eine<br />
Frau (Karin Carlsson), die der Abtreibung einer Schwangerschaft<br />
den Vorzug vor dem Verlust der jugendlichen Figur gibt.<br />
Die Entrüs<strong>tu</strong>ng darüber treibt ihren Ehemann in die Arme seiner<br />
von ihm ohnehin schon verehrten Sekretärin Lena (<strong>Ingrid</strong>), der<br />
Tochter eines so mächtigen wie sittenstrengen Zei<strong>tu</strong>ngsverlegers<br />
(Sjöström). In Szenen von Liebe und Auseinandersetzung,<br />
zeigte <strong>Ingrid</strong> – nun auf dem Höhepunkt ihrer jugendlichen<br />
Schönheit und hinreissend fotografiert von Martin Bodin – wie<br />
gut sie von Molander die Kunst des Herunterspielens und des<br />
Spiels mit transparenter Aufrichtigkeit gelernt hatte.<br />
Inzwischen hatte <strong>Ingrid</strong> auch mehr Selbstvertrauen gewonnen.<br />
Eines Tages traf sie Karin Swanström, die im Set nicht<br />
gerade benötigt wurde und ihrer Doppelrolle <strong>als</strong> S<strong>tu</strong>dio-Casting-<br />
67
Agentin nachging, auf dem Weg zur Arbeit. "Was für einen<br />
schrecklichen Hut haben Sie an, Miss <strong>Bergman</strong>," sagte<br />
Swanström durch ihre Lorgnette starrend, "der ist doch nicht<br />
etwa für die Szene, oder?"<br />
<strong>Ingrid</strong> erwiderte, dass er das allerdings sei: "Sie sind die<br />
einzige, die ihn nicht mag!"<br />
"Nicht nur das," sagte Swanström, "Hier treffe ich die<br />
Entscheidungen. Wir werden einen anderen Hut nehmen!"<br />
"Und ich bin diejenige, die die Szene spielt, was mir das<br />
Recht gibt, meine Meinung dazu zu haben."<br />
Dem Augenzeugen zufolge fiel Swanström die Lorgnette<br />
aus der Hand, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> ihren Kopf h<strong>ob</strong> und ihres Wegs ging.<br />
Auch in schwierigeren Si<strong>tu</strong>ationen hielt sie stand. Ein<br />
sehr einflussreicher S<strong>tu</strong>dio-Kadermann beschloss, etwas ganz<br />
Persönliches zu unternehmen und teilte <strong>Ingrid</strong> mit, dass sie für<br />
eine Pressekonferenz in Göteborg gebraucht werde, um "Walpurgisnacht"<br />
zu propagieren. Eben im Begriff, zu Bett zu gehen,<br />
hörte sie es an ihre Schlafwagenabteiltür klopfen. Sie öffnete<br />
und fand ihren S<strong>tu</strong>diomann in langer Unterwäsche mit einer<br />
Flasche Champagner im Arm vor der Tür, der sich lächelnd vernehmen<br />
liess: "Ich dachte, wir sollten uns doch das 'Du'<br />
(deutsch ausgesprochen. D.Ueb.) anbieten", womit er auf die<br />
vertraulich-familiäre Anrede abzielte, die im beruflichen Umgang<br />
dam<strong>als</strong> nicht üblich war. "Nothing doing", entgegnete <strong>Ingrid</strong><br />
auf Englisch mit einem klugen Wortspiel und drückte die Tür<br />
vor seiner Nase ins Schloss.<br />
Ihr nächster Film, "På Solsidan" (Auf der Sonnenseite)<br />
war eine etwas seichte Romanze, aber mit den Co-Stars Hanson<br />
und Adolphson schloss <strong>Ingrid</strong> ein extrem attraktives Dreieck.<br />
In- und ausserhalb des Sets war <strong>Ingrid</strong> zu Adolphson so herzlich<br />
wie zu allen andern in der Produktion, aber <strong>ob</strong>schon sie ihn<br />
weiterhin sowohl <strong>als</strong> Verbündeten, wie auch <strong>als</strong> Freund betrachtete,<br />
war sie nun fest an Lindström gebunden und nahm keine<br />
weiteren Einladungen mehr von Edvin an. Über seine Reaktion<br />
auf das Ende der Romanze ist nichts bekannt, ausser dass es<br />
68
ihm auch weiterhin nie an der Wertschätzung und Gesellschaft<br />
anderer dankbarer Frauen fehlte.<br />
Mit diesem Film machten <strong>Ingrid</strong>s Stern und Aktien bei<br />
den schwedischen Kritikern einen weiteren deutlichen Sprung<br />
nach <strong>ob</strong>en: "<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> ist blendend schön und spielt mit<br />
starker Inspiration", schrieb ein verliebter Journalist <strong>als</strong> der<br />
Film – ihr fünfter innerhalb Jahresfrist – im Februar 1936 in die<br />
Kinos kam. "<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> ist <strong>als</strong> Schauspielerin und Frau<br />
reifer geworden, und man kann nicht anders, <strong>als</strong> vor ihrer<br />
Schönheit und ihrem Talent kapi<strong>tu</strong>lieren", fügte ein anderer bei.<br />
Als der Film im Sommer 1936 nach New York kam, wurde <strong>Ingrid</strong><br />
erstm<strong>als</strong> in der amerikanischen Presse erwähnt, und zwar<br />
ebenfalls positiv <strong>als</strong> absolut Hollywood-taugliche Schauspielerin<br />
(Variety). Der New York Times-Kritiker, der den Film langweilig<br />
fand, pries dennoch ihren natürlichen Charme, der alles zum<br />
Guten wende...Miss <strong>Bergman</strong> dominiert das Feld."<br />
Dieses Jahr gab es in Amerika keinen neuen Greta Garbo-Film,<br />
und Marlene Dietrichs Karriere hatte in der Folge einer<br />
engen Verbindung mit dem Regisseur Josef von Sternberg einen<br />
spürbaren Dämpfer erhalten. So standen die Menschenschlangen<br />
nun vor den Kassen des Cinéma de Paris, um die<br />
neue schwedische Schönheit zu sehen, "deren Stern so rasend<br />
schnell das skandinavische Filmfirmament er<strong>ob</strong>ert hat" – wie<br />
der New York Times-Artikel schloss.<br />
INZWISCHEN, ANFANGS 1936, verband <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong><br />
und Dr. Lindström eine zweijährige inoffizielle Beziehung, die<br />
durch Petters Initiative besiegelt wurde, <strong>als</strong> Onkel Otto am 12.<br />
März verstarb. "Ich erinnere mich gut, wie aufmerksam Petter<br />
dam<strong>als</strong> zu mir war," sagte <strong>Ingrid</strong> später,<br />
"Seine Liebenswürdigkeit und Anteilnahme berührten<br />
mich tief. Bald entdeckte ich, dass solches bei ihm<br />
nicht ungewöhnlich war. Er war sehr grosszügig und<br />
stets hilfsbereit. Alt und Jung suchte bei ihm Rat<br />
oder kam einfach, um sich an seiner Schulter auszu-<br />
69
70<br />
heulen. Alle betonten, wie glücklich sie für mich waren,<br />
dass ich einen derart netten Mann gefunden habe.<br />
Und das war auch ich."<br />
Nun war es an der Zeit, dass <strong>Ingrid</strong> Petter Tante Mutti<br />
vorstellte, weshalb sie mit der Fähre Kurs nach Deutschland<br />
nahmen. Frau Adler war sehr beeindruckt von Dr. Lindströms<br />
Persönlichkeit, seiner Art und seinem Verhalten, seinem<br />
Charme und seinem exzellenten Deutsch, und sie sah diese<br />
Verbindung zwischen ihrer Nichte – der Kindna<strong>tu</strong>r, wie sie<br />
<strong>Ingrid</strong> nannte - und dem ausgleichenden Wesen des jungen<br />
Akademikers sehr gerne.<br />
Aber vom ersten Moment bei ihrer Ankunft an, war<br />
Petter alarmiert. Frau Adler sei, wie er sagte, "zum leidenschaftlichen<br />
Nazi mutiert, und ihr Freund produzierte nun SS-<br />
Uniformen. In Muttis Heim waren der Nazigruss und die 'Heil<br />
Hitler'-Rufe nicht nur an der Tagesordnung, sondern auch<br />
sehr wichtig gewesen. Und <strong>Ingrid</strong>, um die Kirche im Dorf zu<br />
behalten und Ärger zu vermeiden, gewöhnte sich an den<br />
Gruss mit dem ausgestreckten Arm." Im Moment ging<br />
Lindström nicht weiter darauf ein, aber er selbst verweigerte<br />
sich diesem politischen Enthusiasmus. Seine Beklemmung<br />
steigerte sich noch, <strong>als</strong> ihm Frau Adler riet, seinen zweiten<br />
Vornamen fallenzulassen: "In unserer Familie können wir<br />
niemanden mit dem jüdischen Namen Aron haben." Eine echt<br />
kühne Forderung von jemandem, der einen so offenkundig<br />
jüdischen Namen wie 'Adler' trägt; vielleicht auch war ihre<br />
Ergebenheit dem Reich gegenüber dem Einfluss ihres Liebhabers<br />
zuzuschreiben.<br />
Aber da war mehr. An der Dinner-Party jenes Abends<br />
erklärte Muttis Liebhaber, dass Herr Goebbels, Reichs-<br />
Propagandaminister und damit Machthaber über die deutsche<br />
Filmindustrie, der sein Hauptquartier in den UFA-S<strong>tu</strong>dios in<br />
Berlin bezogen hatte, ein Bewunderer von <strong>Ingrid</strong> sei; <strong>als</strong> der<br />
Tochter einer deutschen Mutter könnte er ihr eine grosse Zukunft<br />
<strong>als</strong> deutscher Filmstar prognostizieren. Es klangen die
Champagnergläser, Glückwünsche folgten – und dann knallte<br />
Muttis Liebster mit den Absätzen zum Hitlergruss.<br />
1934 - „Munkbrogreven“<br />
71
1936 - <strong>Ingrid</strong> im Einflussbereich von Adolphson und Lindström<br />
72
"Mein Liebster, mein Schatz, mein Ein und Alles auf dieser<br />
Welt, wie ich dich lieb habe! Ich könnte platzen... ... Komm<br />
und bleib´ bei mir. Ich liebe dich in alle Ewigkeit - für immer<br />
deine <strong>Ingrid</strong>"<br />
1936 - 1938<br />
(<strong>Ingrid</strong> vor ihrer Hochzeit an Petter Lindström)<br />
"INGRID WAR GANZ SICHER KEIN NAZI“, sagte Petter<br />
Lindström, "sie war einfach an der Politik nicht interessiert und<br />
wusste wenig vom Charakter des Nation<strong>als</strong>ozialismus. Aber sie<br />
verbrachte viel Zeit mit ihrer Tante, die ein fanatischer Nazi<br />
war."<br />
Auch in Schweden habe sie keinerlei Interesse an solchen<br />
Diskussionen gezeigt, wie von S<strong>tu</strong>dienkollegen aus der<br />
Dramaten-Zeit bestätigt wurde. "Wir alle waren dam<strong>als</strong> politisch<br />
uninteressiert," sagte Schauspielerin Lilli (Mrs. Gunnar)<br />
Björnstrand. Und nach Irma Christenson: "Zu keiner Zeit hörte<br />
ich <strong>Ingrid</strong> irgendeine positive Äusserung über den Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />
oder Hitler machen. Aber keiner von uns diskutierte<br />
dam<strong>als</strong> über Politik. Wir waren Künstler und fühlten uns von<br />
der Politik nicht betroffen."<br />
Um Mutti Adler keine Unannehmlichkeiten zu verursachen<br />
und um auch ihrer Karriere in Deutschland nicht zu schaden,<br />
übernahm <strong>Ingrid</strong> den Hitlergruss in Tante Muttis Heim,<br />
wenn das von ihr erwartet wurde. Der tiefere Sinn dieser Gesten<br />
und deren mögliche Interpretation scheinen ihr dam<strong>als</strong><br />
nicht bewusst geworden zu sein. Ganz auf ihre Karriere kon-<br />
73
zentriert, konnten sie politische Auseinandersetzungen und<br />
Diskussionen über Politiker - seien diese nun Schweden, Deutsche,<br />
Amerikaner oder was immer - nur langweilen. Stolz auf<br />
die deutschen Wurzeln ihrer Mutter und voller Dankbarkeit an<br />
ihre Tante, war <strong>Ingrid</strong> glücklich, in Deutschland <strong>als</strong> gute Deutsche<br />
zu gelten, wie sie in Schweden eine gute Schwedin war.<br />
"Ihre ganze Umgebung praktizierte den Hitlergruss im persönlichen<br />
Kontakt – ja sogar am Telefon," erinnerte sich Lindström<br />
später. "Sie dachte sich einfach nichts weiter dabei." Doch später<br />
machte ihr Petter ihr Pro forma-Naziverhalten zum Vorwurf,<br />
was sie in einen erheblichen Konflikt trieb – den Druck, gleichzeitig<br />
den Erwar<strong>tu</strong>ngen ihrer Familie und jenen Lindströms gerecht<br />
zu werden, wo sie sich doch ausschliesslich um ihre Karriere<br />
kümmern wollte. Hier wurde tatsächlich die Saat einer<br />
Schuld gesät, die dereinst auf sie zurückfallen würde, denn zu<br />
dieser Zeit weigerte sie sich standhaft, die grauenvolle Bedrohung<br />
der ganzen Welt zur Kenntnis zu nehmen, die von Tag zu<br />
Tag klarer erkennbar wurde.<br />
Petter und <strong>Ingrid</strong> kehrten nach Stockholm zurück, und<br />
am 28. März begann sie ihre Arbeit an jenem Film, der ihr Leben<br />
von Grund auf verändern sollte. Regisseur Gustaf Molander<br />
und sein Autor-Partner Gösta Stevens hatten ein Original-<br />
Film-Skript namens "Intermezzo" vorbereitet, und <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong>s<br />
ersten Mann hatten sie wiederum Gösta Ekman verpflichtet,<br />
der entzückt war, einmal mehr mit <strong>Ingrid</strong> zusammenarbeiten<br />
zu können.<br />
DIE GESCHICHTE WAR EINFACH, und Molander wusste,<br />
dass das Publikum es unwiderstehlich finden würde. Mit einem<br />
seit über sechzig Jahren populären Musikstück, das auch eine<br />
Romanze für Violine enthält, beschreibt "Intermezzo" die Geschichte<br />
von Holger Brandt (Ekman), einem Konzertviolinisten,<br />
der die meiste Zeit seines Lebens auf Konzert-Tournée verbringt<br />
und für Frau und Kind eigentlich ein Fremder ist. Gerade<br />
rechtzeitig zurückgekehrt zum Geburtstag seiner Tochter, trifft<br />
er deren junge und talentierte Klavierlehrerin, Anita Hoffmann<br />
74
(<strong>Ingrid</strong>). Eines Abends kurz danach begibt es sich, dass sich<br />
die beiden im selben Konzert begegnen, nach dessen Ende er<br />
sie zu einem Champagner-Diner einlädt. Was wir heute <strong>als</strong><br />
"midlife crisis" bezeichnen würden, hat wohl bewirkt, dass Holger,<br />
um gut 20 Jahre älter <strong>als</strong> Anita, sich auf der Stelle in die<br />
junge Frau verknallt. Er setzt nun offen auf Verführung: nach<br />
dem Essen schlendern sie dem Hafen entlang, be<strong>ob</strong>achten die<br />
Eisschollen, die losbrechen und ins Meer abdriften. Für diese<br />
Szene schrieben Molander und Stevens ganz im Geiste der<br />
deutschen Romantik. Die Bilder und Dialoge versinnbildlichen<br />
das Dahinschmelzen von Bedrängnis, Entsagung und dem bevorstehenden<br />
Einbruch des Frühjahrs.<br />
HOLGER (Ekman):<br />
ANITA (<strong>Bergman</strong>):<br />
Die Eisschollen sind auf dem Weg zum Meer –<br />
eine wundervolle Reise!<br />
Aber die Tiefe des Meeres ist dunkel und kalt.<br />
HOLGER: Es ist die Gefahr, welche die Reise so anziehend<br />
macht.<br />
ANITA: Es wird geschmolzen sein, lange bevor es das<br />
offene Meer erreicht.<br />
HOLGER: Genau, das ist ja das Schöne. Einfach so mit<br />
dem Strom daherdriften – vom Frühlingss<strong>tu</strong>rm<br />
davongetragen. Mit dem Meer eins werden! Mit<br />
dem Leben selbst verschmelzen – das Leben<br />
im S<strong>tu</strong>rm nehmen!<br />
ANITA: Das Leben im S<strong>tu</strong>rm nehmen!<br />
HOLGER: Hast du Angst vor dem Leben?<br />
ANITA: Nein, heute Nacht könnte ich – alles <strong>tu</strong>n.<br />
Nun, "alles" geschah nicht in dieser Nacht, aber bald<br />
genug sind Holger und Anita ein Liebespaar, und sie entschliesst<br />
sich, ihre Karriere aufzugeben, um <strong>als</strong> seine Klavierbegleiterin<br />
mit ihm um die Welt zu reisen. Als Holgers Frau die<br />
75
Scheidung verlangt, erfährt Anita, dass sie einen Wettbewerb<br />
gewonnen hat, der ihrer eigenen Karriere starken Auftrieb gibt.<br />
Es entgeht ihr auch nicht, dass Holger seine Frau und Kinder<br />
schrecklich vermisst. "Er glaubt mich noch immer zu lieben,"<br />
sagt Anita zu Holgers Manager, "und vielleicht <strong>tu</strong>t er es ja auch<br />
auf seine Art. Aber das ist lediglich ein Intermezzo in seinem<br />
Leben."<br />
Nur wenige Schauspielerinnen konnten das Dickicht der<br />
blumigen Dialoge des Films souverän meistern oder die romantischen<br />
Clichés, welchen Anita unterworfen war, glaubhaft machen.<br />
Aber <strong>Ingrid</strong>s natürliches Rollenspiel erzeugte den Eindruck,<br />
diese Frau sei von Minute zu Minute entweder ekstatisch<br />
verliebt oder in Angst, verlassen zu werden.<br />
Gefangen zwischen ihrem Liebeshunger und ihrer Entscheidung,<br />
von ihrem Liebhaber loszulassen, fasst <strong>Ingrid</strong> diese<br />
Persönlichkeit in einem Bild zusammen. Sie umarmt Holger<br />
zum Abschied und blickt über seine Schulter zu seinem Manager,<br />
der ihr – Zustimmung signalisierend – zunickt, <strong>als</strong> wollte<br />
er sagen: "Gut so, du bist auf dem richtigen Weg." Aber ihr<br />
trauriger, wissender Gesichtsausdruck sagt etwas anderes:<br />
"Das Intermezzo ist vorbei." <strong>Ingrid</strong>s sensibles Spiel in Anitas<br />
Rolle gab dem Film eine subtile emotionale Struk<strong>tu</strong>r. Im ersten<br />
Drittel des Films scheint sich Anita in Holger <strong>als</strong> den verehrten<br />
Lehrer und Vater einer jungen Tochter zu verlieben (den Vater,<br />
vielleicht, den Anita selbst vermisst). Dann wechseln ihre Gefühle<br />
vom Lehrer-Vater zum Musiker-Vater und schliesslich zur<br />
Vaterfigur <strong>als</strong> Liebhaber.<br />
Nach Gustav Molander bewegte sie sich immer mit Grazie<br />
und Selbstkontrolle in wundervoller Harmonie.<br />
76<br />
"Die Art und Weise, wie sie sprach und ihre strahlende<br />
Schönheit erschlugen mich, <strong>als</strong> ich sie zum ersten Mal<br />
sah. Sie liebte Komplimente, die sie fast etwas verlegen<br />
entgegennahm, die aber an den drei Eckpfeilern<br />
ihrer Arbeit: Wahrheit, Natürlichkeit und Fantasie, nie<br />
etwas änderten. Ich schuf "Intermezzo" für sie, war<br />
aber für den Erfolg des Films nicht verantwortlich. Ing-
id selbst sorgte durch ihre darstellerische Kraft für<br />
den Erfolg. Es ist tatsächlich so: niemand entdeckte<br />
sie, niemand lancierte sie. Sie entdeckte sich selbst."<br />
Die Umstände, unter welchen der Film entstand, waren<br />
für alle bis zur Erschöpfung mühsam. Weil auch Ekman jede<br />
Nacht im Theater auftauchte, wurden tagsüber die "Intermezzo"-Szenen<br />
gepr<strong>ob</strong>t und dann von Mitternacht bis Morgengrauen<br />
gefilmt. "Eines Morgens um fünf Uhr war ich wirklich<br />
fertig," erinnerte sich Molander, "aber da war <strong>Ingrid</strong>, die gierig<br />
darauf wartete, die Szene zu schiessen, in der sie eben<br />
gebraucht wurde. Ich erklärte ihr ein Pr<strong>ob</strong>lem, das ich an dieser<br />
Stelle mit dem Script hatte, sie dachte kurz nach und<br />
spielte die Szene dann so, dass alle Pr<strong>ob</strong>leme gelöst waren.<br />
Sie hatte eine In<strong>tu</strong>ition und Fantasie, die nie versagte."<br />
Während all' den Jahren war ihre Leis<strong>tu</strong>ng nie weniger<br />
<strong>als</strong> unwiderstehlich, und doch sind Jahrzehnte später an ihr<br />
wieder bemerkenswerte Zeichen von Selbs<strong>tu</strong>nsicherheit zu<br />
erkennen; und darin liegt der Schlüssel zur lebenslangen Gestal<strong>tu</strong>ng<br />
neuer Charaktere. Letztlich schien <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong><br />
keine bestimmte Technik zu benutzen, die sie intellek<strong>tu</strong>ell<br />
oder kritisch analysierbar gemacht hätte. Sie beteiligte sich<br />
auch nie an gelehrten oder hochtrabenden Konversationen<br />
über die Psychologie des Schauspiels.<br />
Ganz im Gegenteil, <strong>Ingrid</strong> packte ihre Rollen unkompliziert<br />
und unaffektiert an, dann zog sie sich in Ruhe zurück,<br />
überdachte und lernte ihre Texte – und wenn sie zurückkam<br />
hatte sie das Ganze in den Grundzügen im Griff. Sicher profitierte<br />
sie von der Erfahrung aufmerksamer Regisseure und<br />
vom Umfeld von guten Schauspielern. Aber vom Anfang jedes<br />
Projekts an hatte sie eine klare Vorstellung von den Frauenfiguren,<br />
die sie zum Leben erwecken sollte. Die Grösse ihrer<br />
Leis<strong>tu</strong>ngen war nie das Resultat einer akademischen Analyse<br />
oder psychologischen Untersuchung, sondern allein auf ihre<br />
seltene Gabe eines realitätsbetonten und doch fantasievollen<br />
Bewusstseins zurückzuführen.<br />
77
IN "INTERMEZZO" ÜBERTRUG INGRID die Belas<strong>tu</strong>ngen,<br />
die sich aus den ständigen Konflikten zwischen den Anforderungen<br />
von Karriere und zwischenmenschlichen Beziehungen<br />
ergaben - und die sie selbst ihr ganzes Leben lang<br />
verfolgten, auf Anita. Ihr eigenes Portrait – wozu Anita im<br />
Grunde genommen wurde – gedieh so wundervoll haargenau,<br />
weil es (wenn auch unbewusst) aus ihrer eigenen Lebenserfahrung<br />
heraus entstand. <strong>Ingrid</strong>s bedingungslose Hinwendung<br />
zum Beruf, die sie schon mit 20 Jahren kannte, basierte nicht<br />
nur auf ihrem Vertrauen in ihre Begabung, sondern auch auf<br />
ihrer Überzeugung, dass menschliche Beziehungen (Mama,<br />
Papa, Tante und Onkel) zeitlich begrenzt sind. Wirklich verlassen<br />
konnte sich <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong>o ausschliesslich auf die Einkünfte,<br />
die tragenden Kräfte aus ihrer beruflichen Kapazität. "Ich<br />
möchte mich in Jemandes Arme kuscheln, der mich beschützt,<br />
tröstet und lieb hat", schrieb sie in ihr Tagebuch. Der sicherste<br />
Anker in ihrem Leben war aber ihre künstlerische Kraft.<br />
<strong>Ingrid</strong> war eine Realistin, keine Träumerin.<br />
Dem unmöglichen moralischen Idealismus im Ausklang<br />
von "Intermezzo" – Holger in den Armen einer verzeihenden<br />
Frau – wurde in der vorangehenden Szene durch die letzte<br />
Nahaufnahme, die <strong>Ingrid</strong>s Gesicht durch das Fenster des davonrollenden<br />
Zugs zeigt, auf nette Art die Schärfe genommen.<br />
Aber sie wendet dieses Cliché auch zu ihrem Vorteil. Ihr Blick<br />
ist in die Unendlichkeit gerichtet, nicht sinnbildlich im Sinne<br />
von n<strong>ob</strong>ler Entsagung oder Selbstmitleid. Ganz im Gegenteil,<br />
sie liefert hier die einzig mögliche Stimmung emotionalen,<br />
erwachsenen Realitätsbewusstseins: das Bild einer Frau, deren<br />
Integrität und Zukunft in der bedingungslosen Akzeptanz<br />
ihres eigenen Ichs liegt. Ihre gedämpften, überzeugenden<br />
Emotionen wirkten sehr ergreifend auf das Publikum und einmal<br />
mehr war auch die Kritik der Meinung, dass die junge<br />
Schauspielerin auf gutem Wege sei. "<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> fügt<br />
ihren bisherigen Siegen einen weiteren bei," hiess es in etwa.<br />
Als die Produktion von "Intermezzo" am 19. Juni zu<br />
Ende ging, schickte ihr Gustav Molander einen Blumenstrauss<br />
mit der Notiz: "Du gibst meinem Film Erhabenheit, Reinheit<br />
78
und Schönheit." Gösta Ekman betreffend, schrieb <strong>Ingrid</strong> in ihr<br />
Tagebuch: "Ich weiss, er ist verheiratet und zwanzig Jahre<br />
älter <strong>als</strong> ich (tatsächlich 25 Jahre). Ich weiss, er hat einen<br />
Sohn genau in meinem Alter, ebenfalls im August geboren.<br />
Einmal dachte ich, wenn ich nur seinen Sohn heiraten könnte,<br />
das wäre der Himmel." Obschon sie (wie bei Edvin Adolphson)<br />
offensichtlich einen weiteren Vater-Freund gefunden hatte,<br />
den sie liebte und dem sie vertraute – und der ihre Gefühle<br />
auch erwiderte – scheint es, dass diese Beziehung platonisch<br />
blieb. Dieses Frühjahr war Ekman oft krank und müde, und<br />
"Intermezzo" war denn auch sein letzter Film. Er starb im Januar<br />
1938 gleich nach seinem siebenundvierzigsten Geburtstag.<br />
UNMITTELBAR NACH "INTERMEZZO" reisten <strong>Ingrid</strong> und<br />
Petter wieder zu Frau Adler nach Deutschland, um ihr ihre<br />
Verl<strong>ob</strong>ung bekanntzugeben. Am 7. Juli nahm <strong>Ingrid</strong> in jener<br />
Kirche, in der ihre Eltern getraut wurden, von Petter einen<br />
Ring entgegen. Während Petter danach nach Stockholm und<br />
zu seinen S<strong>tu</strong>dien zurückkehrte, verlängerte <strong>Ingrid</strong> ihren Aufenthalt<br />
bei Tante Mutti noch um volle drei Monate - das Jahr<br />
1936 neigte sich bereits seinem Ende zu.<br />
Während dieser Zeit vervollkommnete <strong>Ingrid</strong> ihre<br />
Deutschkenntnisse, wie sie Petter voll Begeisterung schrieb.<br />
Daneben widmete sie auch einige Zeit Kursen für fortgeschrittenes<br />
Englisch. Eine Schauspielerin, argumentierte sie, könne<br />
nie über zu viele Sprachkenntnisse verfügen. Petter forderte<br />
sie in seiner Antwort auf, nicht "allzu deutsch" zu werden und<br />
daran zu denken, dass sie in erster Linie eine gute Schwedin<br />
bleiben müsse. "Unsinn!" sagte Mutti, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> ihr den Brief<br />
vorlas. Frieda Adler <strong>Bergman</strong> war Deutsche und so sei auch<br />
<strong>Ingrid</strong> so deutsch wie schwedisch. <strong>Ingrid</strong> selbst sah sich vor<br />
allem <strong>als</strong> Schauspielerin und wünschte all diese Politik und<br />
internationalen Beziehungen zum Teufel.<br />
In jener Herbstsaison spielte Zarah Leander so etwas<br />
wie eine Vorbildrolle für <strong>Ingrid</strong>, jene schwedische Schauspiele-<br />
79
in, die nach Deutschland kam, um Marlene Dietrich (die 1930<br />
nach Hollywood emigriert war) und Greta Garbo zu ersetzen,<br />
die sich standhaft weigerte, in Deutschland zu arbeiten. Leander,<br />
die einer der grossen Stars des Dritten Reichs wurde,<br />
hatte die wehmütige Melancholie und das "exotisch"skandinavische<br />
Gepräge der Garbo, den von Dietrich verströmten<br />
Sexappeal und die erotische Direktheit (und die Figur)<br />
von Mae West. Sie spielte Sängerinnen, Hofdamen, treue<br />
Gattinnen und verlassene Mätressen, sie wurde mit einer<br />
grossen Werbekampagne und zahlreichen Pressekonferenzen<br />
eingeführt. Das S<strong>tu</strong>dio ging sogar auf ihre Forderung nach<br />
Script-Genehmigung ein, wie auch auf ihre Forderung auf<br />
Auszahlung von 53 % ihrer Gagen in schwedischen Kronen<br />
auf ihr Bankkonto in Stockholm - zwei Konzessionen, die keinem<br />
andern schwedischen oder sonstwie ausländischen<br />
Schauspieler je gewährt wurden.<br />
MITTE AUGUST KEHRTE INGRID nach Stockholm zurück,<br />
und am 15. Januar 1937 war sie auch wieder am Theater;<br />
im Komeditheatern trat sie in der schwedischen Produktion<br />
eines französischen Stücks Namens "L’heure H" von Pierre<br />
Chaine auf. "Timman H", wie es genannt wurde, war eine<br />
eher schlaffe Satire auf kommunistische Revolutionäre, die<br />
einen Anschlag auf eine Fabrik planten. <strong>Ingrid</strong>, in einer kleinen<br />
Rolle, "war eine Augenweide", wie einer der Kritiker<br />
schrieb, "und sie lasse in Zukunft noch grosse dramatische<br />
Leis<strong>tu</strong>ngen erwarten". Das Stück erlebte 128 Aufführungen.<br />
Anfang Mai nahm sie ihre Filmarbeit wieder auf, <strong>als</strong><br />
Gustaf Molander (der inzwischen zu ihrem Mentor wurde wie<br />
D.W. Griffith für Lilian Gish, Mauritz Stiller für Greta Garbo<br />
und Josef von Sternberg für Marlene Dietrich) ihr die Hauptrolle<br />
einer lebhaften Schauspielerin namens Julia in "Dollar"<br />
gab, einer Komödie über schlechte Ehesitten, in der drei Paare<br />
in einer Riesenblödelei schamlos um die Wette flirten. Vielleicht<br />
inspiriert von der Energie und den sexuellen Einfällen<br />
von Ernst Lubitsch, Claire Booth Luce oder gar Noel Coward<br />
80
ist "Dollar" wenigstens eine Parodie über Leute, deren Gesellschaft<br />
man gerne meidet. Spinnerkomödien waren nie die<br />
Stärke des schwedischen Films, und so bleibt "Dollar" letztlich<br />
gerade noch mit <strong>Ingrid</strong>s herausragendem und praktischem<br />
Sinn für Humor, ihren umwerfenden Gesten und Blicken erwähnenswert,<br />
mit welchen sie Regie, Kollegen und den ganzen<br />
Set täglich überraschte und erheiterte.<br />
Set und Publikum überraschte sie auch, <strong>als</strong> sie im Anschluss<br />
an eine komische Szene die genau richtige Kunstpause<br />
einlegte, bevor sie feststellte, wie sehr sie sich nach ihrem<br />
geschäftsgierigen Ehemann sehnte. "Manchmal fühle ich mich<br />
so mies, dass ich sogar um kleine Lügen bettle." Noch bewegender<br />
ist der melancholische Ton ihrer Bemerkung zu einer<br />
Freundin, <strong>als</strong> Julia von sich selbst sagt:<br />
"Du denkst, es gehe dir gut, du seiest verliebt und<br />
werdest geliebt. Wie die Kerzen an einer Party. Du<br />
starrst blind in die Flammen und vergisst, wie bald sie<br />
verlöschen werden. Illusion um Illusion verlöscht - bis<br />
die Illusion selbst und der Tod übrigbleiben."<br />
Der definitive Schnitt des Films brachte es so eindeutig<br />
an den Tag, wer der alles überragende Star war, dass Gustaf<br />
Molander sie im Vorspann an <strong>ob</strong>erste Stelle setzte, sogar vor<br />
Edvin Adolphson: "Mit ihrem überragenden Sinn für Humor<br />
und ihrer leuchtenden Erscheinung," schrieb einer der Kritiker,<br />
"hat <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> alle andern in den Schatten gestellt".<br />
MIT DEM ANDERE-IN-DEN-SCHATTEN-STELLEN fuhr<br />
sie fünf Tage nach Vollendung von "Dollar" gleich fort. Die<br />
Titelseiten der schwedischen Medien füllte nur eine einzige<br />
Nachricht, nämlich dass Schwedens berühmtester und beliebtester<br />
Filmstar einen renommierten Zahnarzt und Mediziner<br />
heiratete. In der Hoffnung auf eine von einem Medienzirkus<br />
verschonte, ungestörte Feier wählten sie die entlegene Gemeindekirche<br />
von Stöde und luden nur Verwandte und die<br />
81
engsten Freunde ein. Ein blauäugiger Lokalmatador schaffte<br />
es dann trotzdem, die Presse zu verständigen, womit ein Heer<br />
von Kameraleuten und Fotographen das Paar beim Verlassen<br />
der Kirche erwartete, womit nun Bilder und Berichte in Windeseile<br />
um die Welt gingen. Es ist nicht übertrieben zu sagen,<br />
dass die Berichte über die <strong>Bergman</strong>-Lindström-Heirat <strong>als</strong> gesellschaftliches<br />
Ereignis nur geringfügig weniger Beach<strong>tu</strong>ng in<br />
ganz Europa fanden, <strong>als</strong> jene über die im Juni erfolgte Heirat<br />
seiner ehemaligen Majestät, jetzt Königlichen Hoheit, des<br />
Herzogs von Windsor mit der geschiedenen Amerikanerin<br />
Wallis Warfield Simpson.<br />
"Mein Liebster," schrieb <strong>Ingrid</strong> Petter kurz vor der<br />
Hochzeit, "mein Schatz, mein Ein und Alles auf dieser Welt,<br />
wie ich dich lieb habe! Ich könnte platzen...Anlässlich unserer<br />
ersten kirchlichen Eheverkündigung schreibe ich dir diese Zeilen<br />
im Bett. Ich bin dein in jeder Beziehung. Ich sehne mich<br />
nach dir und bin nur glücklich, wenn du bei mir bist. Komm´<br />
und bleib´ bei mir. Ich liebe dich in alle Ewigkeit für immer<br />
deine <strong>Ingrid</strong>"<br />
Sie war kaum eine leidenschaftslose Braut, wie gewisse<br />
Leute später behaupteten, noch war er, wie ihr Verhalten<br />
verrät, ein enttäuschender Kumpan.<br />
Andererseits kann von <strong>Ingrid</strong> auch nicht behauptet<br />
werden, dass sie in einem romantischen Rausch lebte.<br />
82<br />
"Vor meiner Heirat beschäftigten mich viele Fragen.<br />
Meine Arbeit bedeutete mir alles. Ich liebte sie sehr<br />
und fragte mich, welche Art Ehe sie mir wohl ermöglichte.<br />
Da gab es keine einfache Antwort, aber eines<br />
wusste ich - ich wollte Petter nicht verlieren."<br />
MIT 30 WAR LINDSTRÖM SICHER IN DER LAGE, sich<br />
mit dem Mädchen, um das er während vier Jahren geworben<br />
hatte, endlich niederzulassen. Sie waren beide äusserst attraktive<br />
Menschen und beide liebten es, das Leben zu geniessen,<br />
wenn sie einmal von ihrem strengen beruflichen Zeitplan
loskommen konnten: beide liebten das ausgiebige Tanzen in<br />
Nachtclubs, Skiferien zu verbringen, an Parties und Spielen<br />
mit gleichgesinnten Kollegen und Bekannten teilzunehmen.<br />
Das waren keine sehr häufigen Vergnügungen, aber sie packten<br />
jede sich dazu bietende Gelegenheit und genossen privat<br />
gegenseitig ihren sprühenden Geist und ihre schier unerschöpfliche<br />
Energie.<br />
Petter war grundsätzlich ein ernster Charakter und ertrug<br />
Dummköpfe nicht gerade gut. Und das ganze gesellschaftliche<br />
Leben der Theaterwelt empfand er eben <strong>als</strong> Schwachsinn.<br />
"Mein Vater," erklärte Pia Lindström später, "repräsentierte<br />
Stabilität und Wissen, er war intelligent und tüchtig." Mit andern<br />
Worten: für ihn zählte nur das akademische Leben.<br />
Hatte nun Petter vor dem Hochzeitstag womöglich Vorbehalte<br />
dieser Art gegenüber <strong>Ingrid</strong>? Es scheint fast so. Im<br />
Juni noch fragte er eine Freundin, <strong>ob</strong> er es wohl wagen könnte,<br />
eine hübsche Schauspielerin zu heiraten, <strong>ob</strong> allzu verschiedene<br />
Charaktere und Interessen nicht zu einer Mésalliance mit verheerenden<br />
Folgen führen könnten. Nachdem diese Freundin<br />
<strong>Ingrid</strong> kennengelernt hatte, beruhigte sie Petter: "Mit solch<br />
einer Frau kannst du es sicher wagen."<br />
Das tat er denn auch, <strong>ob</strong>schon er sich der Risiken bewusst<br />
war, die mit einem Schauspielerleben, Unsicherheiten<br />
und einem komplexen Ego verbunden waren. "Als mein Mann<br />
mich heiratete," sagte <strong>Ingrid</strong>, "wusste er, dass er es mit einer<br />
egoistischen Schauspielerin zu <strong>tu</strong>n hatte." Ihre Hinwendung<br />
zum Beruf bildete so etwas wie eine eifersüchtige dritte Kraft<br />
in dieser Ehe - was natürlich ebensogut für Petter und seinen<br />
Beruf gilt. Beide fürchteten, ihre beiderseitigen beruflichen<br />
Verpflich<strong>tu</strong>ngen könnten das menschliche Klima ihrer Ehe in<br />
Gefahr bringen.<br />
Was die etwas persönlicheren emotionalen Belange anbetraf,<br />
war (die lebenslustige, spontane, weniger förmliche und<br />
um acht Jahre jüngere) <strong>Ingrid</strong> freimütig: "Nun ja, vielleicht<br />
übernahm er die Stelle meines Vaters," sinnierte sie Jahre später,<br />
83
84<br />
"und ich glaube, ich war auch auf der Suche nach einem<br />
zweiten Vater. Petter trainierte und organisierte mich...<br />
wie ich immer von Männern bestimmt wurde, zuerst<br />
von meinem Vater, dann von Onkel Otto und dann von<br />
meinen Regisseuren. Und dann von Petter, der mich unter<br />
einem sehr strengen Regime hielt. Anstatt mich<br />
selbständiger zu machen, mich selbst handeln zu lassen,<br />
entzog er mir jede Gelegenheit dazu durch seine<br />
dauernde Hilfsbereitschaft, indem er alles für mich tat<br />
und alle Entscheidungen für mich traf. Ich muss allerdings<br />
zugeben: ich war daran mitschuldig, denn anfänglich<br />
fragte ich ihn ständig um Rat und Hilfe, ich verliess<br />
mich völlig auf ihn."<br />
In dieser Hinsicht war die Lindström-Ehe alles andere<br />
<strong>als</strong> ungewöhnlich.<br />
Zu Beginn entwickelten sich die Dinge ganz ordentlich.<br />
Nach einer Autoreise nach Norwegen und England bezogen die<br />
Neuvermählten Petters Stockholmer-Wohnung in jenem Quartier,<br />
das <strong>Ingrid</strong> seit frühester Jugend kannte. Die Wohnung an<br />
der Grev Magnigata 14 war ein elegantes Penthouse mit einer<br />
grossen Terrasse nach Westen - sicher das hübscheste Heim<br />
seit Vaters Wohnung am Strandvägen. Hier empfingen die<br />
Lindströms Bekannte aus der Welt des Films, des Theaters, der<br />
Medizin und der Medien. Die Journalistin Barbro Alving (vulgo<br />
"Bang") war zusammen mit dem Karika<strong>tu</strong>risten Einar Nerman<br />
und einigen Kollegen von Petter oft zu Gast. Bei solchen Gelegenheiten<br />
holten sie jeweils einen Koch ins Haus, denn während<br />
<strong>Ingrid</strong> einen sauberen und geordneten Haushalt führte<br />
und nichts gegen das Fegen und Scheuern hatte, war sie in der<br />
Küche nach wie vor hilflos und weigerte sich standhaft, auch<br />
das Geringste zu lernen, was mit einem Kochherd, Kühlschrank<br />
oder Backofen zu <strong>tu</strong>n hatte. Das Abendessen vorzubereiten<br />
bedeutete bei ihr, sich für's Restaurant umzuziehen.<br />
AM 2. OKTOBER BEGANN INGRID IHREN ACHTEN FILM<br />
und den fünften unter Gustaf Molanders Regie: "En enda natt"
(Nur eine Nacht), von dem <strong>Ingrid</strong> nach der Script-Lektüre<br />
dachte, er sei Schund. Aber um Molander gefällig zu sein und<br />
die Rolle besser zu spielen, <strong>als</strong> sie angelegt war - bewerkstelligte<br />
sie einen Kompromiss. Der auffällig produktive Gösta Stevens<br />
hatte eben das Konzept zu einem neuen Stück fertiggestellt,<br />
das auf einer französischen Novelle beruhte, die von<br />
einer hübschen Frau erzählt, deren Gesicht und Charakter<br />
durch ein Feuer grauenhaft entstellt und verändert werden. So<br />
willigte <strong>Ingrid</strong> ein, "En enda natt" zu spielen, unter der Bedingung<br />
allerdings, dass Molander die S<strong>tu</strong>dio-Direktion dazu bewegen<br />
könne, ihr auch die Hauptrolle in "A Woman’s Face" zu<br />
geben. Der Handel kam zustande und Molander stellte fest, er<br />
werde <strong>Ingrid</strong> im Vorspann beider Filme an erster Stelle erscheinen<br />
lassen.<br />
"En enda natt" war wirklich ein sonderbarer Film, der<br />
die Erwar<strong>tu</strong>ngen des Publikums zu enttäuschen drohte. Als Eva<br />
Beckman, eine Doktorandin der Philosophie, begnadete Pianistin,<br />
Sportlerin und Mündel eines begüterten Aristokraten wurde<br />
<strong>Ingrid</strong> so verschwenderisch ausstaffiert und so strahlend fotographiert,<br />
wie noch in keiner Rolle je zuvor. Ihr männlicher<br />
Gegenpart war niemand anderer <strong>als</strong> Edvin Adolphson in der<br />
Rolle eines Zirkus-Marktschreiers, der sich <strong>als</strong> der uneheliche<br />
Sohn des Aristokraten entpuppt. Nachdem er darauf vorbereitet<br />
wurde, sein rechtmässiges Erbe anzutreten, stellt er fest,<br />
dass seine leidenschaftliche Na<strong>tu</strong>r bei der kühlen (vielleicht<br />
sogar frigiden) Eva nicht ankommt. Sozial im Abseits und in<br />
der Liebe verschmäht, kehrt er zu seinem früheren Leben (und<br />
seiner früheren Freundin) zurück. <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> Eva bleibt allein<br />
mit ihrem Piano und ihren philosophischen Büchern - Anita<br />
Hoffman lässt grüssen.<br />
Wenn nun Molander und das Produktions-Team genau<br />
wussten, wie sie das Publikum mit hinreissenden Einstellungen<br />
auf ein attraktives Paar beeindrucken wollten, so hatte der<br />
Autor Gösta Stevens ganz anderes im Sinn: <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> eine<br />
Frau zu zeigen, welche die Liebe derart idealisiert, dass sie sich<br />
vom Gedanken an die sexuelle Realität abgestossen fühlt. Der<br />
Verlauf einer brandheissen Liebesszene zum Beispiel wird ab-<br />
85
upt unterbrochen, <strong>als</strong> Waldemars unablässige Küsse Eva in<br />
einen Weinkrampf und sinnlose Schuldgefühle stürzen. Selbst<br />
Jahrzehnte später kann nicht mit Sicherheit gesagt werden,<br />
wie diese Charaktere überhaupt zu verstehen sind: ist "En enda<br />
natt" ein Plädoyer für die voreheliche Keuschheit (mit einem<br />
Seitenblick auf "Walpurgisnacht") oder für die Psychoanalyse<br />
(mit einem Seitenblick auf die latente Lesbenkul<strong>tu</strong>r oder<br />
die Pathologie der frigiden Frau) ? Müssen wir Eva Beckman <strong>als</strong><br />
die heroische Wächterin über ihr Schicksal (ihre Tugend und<br />
Klasse) sehen? Oder trifft sie die Kritik, weil sie nicht Lady<br />
Chatterley ist? So oder so, <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> war zu hübsch, zu<br />
gut für den Sinn dieses Films - wo immer der auch zu finden<br />
war.<br />
STEVENS UND MOLANDER KÄMPFTEN um eine Geschichte,<br />
die einen Gegensatz zu den amerikanischen Spinnerkommödien<br />
der 30er-Jahre mit ihren seichten Happy-Ends bildete<br />
(z.B. "It Happened One Night" oder "My Man Godfrey",<br />
die davon ausgingen, dass mit einer Liebesgeschichte alles<br />
bestens wäre und dass unterschiedliche soziale und kul<strong>tu</strong>relle<br />
Hintergründe durch echte Liebe schnell bedeu<strong>tu</strong>ngslos würden.<br />
Aber die These von Molander und Stevens funktionierte einfach<br />
nicht. Umsomehr funktionierte <strong>Ingrid</strong>, jedenfalls ermöglichte<br />
sie es dem Zuschauer irgendwie, an ihre konfuse Persönlichkeit<br />
zu glauben. Und die Wahl von Edvin Adolphson war grossartig,<br />
denn er war nach wie vor eine bestrickend gut aussehende<br />
Erscheinung, <strong>ob</strong> in der Arbeitskluft eines Zirkusschreiers oder<br />
im "Pinguin-Dress" mit weisser Fliege fürs Gala-Diner bei der<br />
Aristokratie. Er und <strong>Ingrid</strong> waren privat nicht mehr verbunden,<br />
beide genossen diese Zusammenarbeit aber sehr und besiegelten<br />
dabei eine lebenslange Freundschaft. In Anbetracht ihres<br />
Humors und beidseitigen guten Willens ist es nur verständlich,<br />
wenn ihr Dialog und die unterbrochene Liebesszene sie mehr<br />
belustigt <strong>als</strong> professionell beschäftigt hat.<br />
Die Produktion war am 20. Dezember beendet, und <strong>Ingrid</strong><br />
hatte einen freien Monat bis zum Beginn der Aufnahmen<br />
86
zu "A Womans Face". Zwei Tage vor Weihnacht machte ihr<br />
Petter die betrübliche Mitteilung, dass seine Verpflich<strong>tu</strong>ngen an<br />
der Klinik ihre geplanten Skiferien in Norwegen zunichte machten.<br />
Neben seiner Praxis versah er jetzt noch die Stelle eines<br />
stellvertretenden Professors für Zahnheilkunde am Karolinska<br />
Insti<strong>tu</strong>t. Ihre Enttäuschung, wie gross sie immer gewesen sein<br />
mag, wurde aber schnell gemildert durch den luxuriösen Pelzmantel,<br />
den ihr Petter mit dem Versprechen auf einen längeren<br />
Ferienaufenthalt im kommenden Jahr schenkte.<br />
Aber noch willkommener waren ihr die beruflichen Neuigkeiten.<br />
In einer Abstimmung wählten die schwedischen Filmfreunde<br />
<strong>Ingrid</strong> vor Greta Garbo zum beliebtesten Filmstar des<br />
Jahres 1937 (15.208 Stimmen für <strong>Ingrid</strong>, 10.949 für Garbo,<br />
deren Aktien seit ihrem Wegzug nach Hollywood allerdings<br />
kontinuierlich fielen). Ausserdem hatte "Intermezzo" an Weihnacht<br />
in New York Premiere, wo <strong>als</strong> Folge von <strong>Ingrid</strong>s Popularität<br />
während der Festtage zusätzliche Vorstellungen eingeplant<br />
werden mussten. "Die Aufrichtigkeit in der Darstellung speziell<br />
der charmanten jungen <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>," schrieb ein Kritiker<br />
der New York Times, "bestätigt die guten Noten, die sie zuhause<br />
und im Ausland erhielt." Die einstimmige Meinung der amerikanischen<br />
Kritiker brachte "Variety" mit der Proklamation auf<br />
den Punkt: "Eine talentierte, hübsche Schauspielerin, deren<br />
Stern nach Hollywood weist." Und so war es denn auch - nur<br />
dass die Reise durch einen Umweg über Deutschland verzögert<br />
wurde.<br />
Schon andere Künstler wurden durch die weitreichenden<br />
und technisch überragenden Produktionsmöglichkeiten der<br />
Universal Film Aktiengesellschaft (UFA, mit den S<strong>tu</strong>dios in<br />
Neubabelsberg ausserhalb Berlins) angezogen, wo zwischen<br />
1917 und 1933 einige der grossen internationalen Film-Meisterwerke<br />
produziert wurden. Unter den früher dort tätigen<br />
Regisseuren waren Ernst Lubitsch, Fritz Lang, Alfred Hitchcock,<br />
Erich Pommer, R<strong>ob</strong>ert Wiener, Josef von Sternberg, F.W. Murnau<br />
und G.W. Pabst. Zarah Leander war 1937 die führende<br />
Darstellerin der S<strong>tu</strong>dios.<br />
87
Das Dritte Reich hatte alles verändert. Juden durften<br />
keine beschäftigt werden, weshalb viele talentierte Autoren,<br />
Regisseure, Schauspieler und Grafiker plötzlich fehlten. Im Juli<br />
1933 wurde ein Dekret erlassen, wonach im deutschen Film<br />
nur deutsche Staatsbürger oder wer deutsche Vefahren nachweisen<br />
konnte, beschäftigt werden durften. Aber schon bald<br />
musste Goebbels das Gesetz in dem Sinne entschärfen, dass<br />
Nicht-Arier dann beschäftigt werden konnten, wenn das im<br />
politischen oder wirtschaftlichen Interesse der S<strong>tu</strong>dios lag. Das<br />
war der Beginn einer ganzen Reihe von Konzessionen, die sogar<br />
der Reichs-Propagandaminister der Filmindustrie gewähren<br />
musste. Mochten die Juden auch für rechtlos erklärt worden<br />
sein, so war doch die Eigengesetzlichkeit eines ganzen Industriezweigs<br />
nicht einfach zu steuern. Bei der UFA wurde das Nazi-Regime<br />
offen kritisiert und die der Produktion auferlegte<br />
Zensur wurde ständig bekämpft. Auch das Knallen der Absätze<br />
und "Heil-Hitler" galten bei der UFA <strong>als</strong> vulgär und wurden geflissentlich<br />
ignoriert. Diese Abkehr von der sonst gängigen Praxis<br />
musste toleriert werden, weil Goebbels & Co. im deutschen<br />
Film viele fähige Leute brauchten.<br />
Ueberdies versuchte sich des Führers Reich der Dienste<br />
einer ganzen Reihe international angesehener Schauspieler zu<br />
versichern - daher auch die äusserst positiven Reaktionen, <strong>als</strong><br />
Tante Mutti und ihr Liebster einem Freund bei der UFA von<br />
ihrer geliebten <strong>Ingrid</strong> (<strong>als</strong> schwedischer Star bekannt) erzählten<br />
und gleich eine private Vorführung eines ihrer schwedischen<br />
Filme in den S<strong>tu</strong>dios arrangierten. "Die Idee, sie unter<br />
Vertrag zu nehmen, entstand, <strong>als</strong> Goebbels und seine Getreuen<br />
ihren ersten Film sahen," berichtete ein schwedischer<br />
Kommentator am 30. November 1937. Noch selten hätten sie<br />
eine derart spontane Schauspielerin gesehen. Ihr Spiel sei so<br />
gut, wie ihre charmante Erscheinung, sagten sie.<br />
<strong>Ingrid</strong>s Arbeit in Schweden wurde jährlich durch einen<br />
einfachen brieflichen Vertrag mit der Svenka Filmindustri geregelt,<br />
doch Petter erkannte, dass die Verhandlungen für einen<br />
deutschen Film sehr sorgfältig geführt werden mussten. So zog<br />
er nach Neujahr 1938 einen alten Freund, den Künstleragenten<br />
88
Helmer Enwall, bei, der ihn bei der Detailformulierung beriet,<br />
und bald unterzeichnete <strong>Ingrid</strong> den Vertrag für zwei Filme, die<br />
noch dieses Frühjahr in Berlin <strong>als</strong> erstes produziert werden<br />
sollten. "Mit diesem Vertrag beginnt <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> eine neue<br />
Aera ihrer künstlerischen Karriere" kündigte UFA in ihrem internationalen<br />
Pressebulletin an.<br />
UND WIE ES IM LEBEN SO GEHEN KANN: die Grundzüge<br />
ihrer Karriere und die Rich<strong>tu</strong>ng, die ihr ferneres Leben<br />
nehmen sollte, wurden durch Entwicklungen verändert, die<br />
tausende Kilometer entfernt und ohne ihr Wissen vor sich gingen.<br />
Wie viele andere Hollywood-Produzenten unterhielt auch<br />
David O. Selznick in New York eine Agen<strong>tu</strong>r. Dort hatten zwei<br />
tüchtige Frauen namens Katherine Brown und ihre Assistentin,<br />
Elsa Neuberger, die Aufgabe, Stücke zu scouten, literarische<br />
Verwendungsrechte sicherzustellen, ausländische Filme anzusehen<br />
und Selznick zuhanden seiner Namensliste neue Talente<br />
vorzuschlagen.<br />
Eines Tages im Januar erzählte ein junger schwedischer<br />
Liftmonteur Elsa, dass seine Eltern soeben "Intermezzo" gesehen<br />
hätten. "Ich weiss, dass Sie ständig nach neuen Filmen<br />
und Schauspielern Ausschau halten," sagte ihr der junge<br />
Mann, "meine Eltern sind schlicht hingerissen von diesem Film<br />
und einem jungen Mädchen darin. Vielleicht sollten Sie ihn<br />
einmal ansehen."<br />
Der Rest ist - wie man so sagt - Geschichte. Elsa sah<br />
"Intermezzo" im Cinema de Paris in Manhattan, lieferte einen<br />
begeisterten Bericht an Kay Brown, die sich den Streifen auch<br />
ansah und davon ähnlich beeindruckt war. Kay kabelte unverzüglich<br />
ihren Vorschlag an Selznick, sich die Rechte an "Intermezzo"<br />
für ein amerikanisches Remake (evtl. ebenfalls mit<br />
<strong>Bergman</strong>) zu sichern; zur Untermauerung des Vorschlags<br />
sandte sie ihm Zei<strong>tu</strong>ngsberichte, Fotos und (nach harten Verhandlungen<br />
mit der New Yorker Agen<strong>tu</strong>r der Svenska Filmindustri)<br />
eine Kopie des Films nach. Aber Selznick stand unter<br />
extremem Arbeitsdruck mit den Vorberei<strong>tu</strong>ngen zu einer Film-<br />
89
version von "Vom Winde verweht", weshalb er die Bearbei<strong>tu</strong>ng<br />
des "Intermezzo"-Projekts an ein kleines Team von erfahrenen<br />
Mitarbeitern delegierte. "Eine Gruppe von uns sah den Film",<br />
meinte Produktions-Manager Raymond Klune.<br />
90<br />
"Wir wussten nicht so recht, was wir sahen, aber wir<br />
waren fasziniert davon, trotzdem alles - mit englischen<br />
Untertiteln - schwedisch gesprochen war. Es war so etwas<br />
wie eine Art romantische Seifenoper, aber wir waren<br />
alle beeindruckt von <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>, und wir sagten<br />
ihm, sie sei so sensationell, er müsse die mit allen<br />
Mitteln hierher holen."<br />
Selznick seinerseits verstand den Auftrag an sein Team<br />
in dem Sinne, sie sollten den Film auf seine Eignung für ein<br />
amerikanisches Remake prüfen und nicht nach einem neuen<br />
Star suchen. "Ja klar", sagte Klune, "aber produziere das Remake<br />
mit ihr." Selznick sah sich darauf den halben Film selbst<br />
an, fand ihn gut und erkannte, dass er - wie schon so oft mit<br />
ausländischen Filmen und Schauspielern - die Rechte an Film<br />
und Darstellern wohl für relativ wenig Geld bekommen könnte.<br />
Aber "Vom Winde verweht" und die Pläne für die ebenso populäre<br />
Novelle "Rebecca" beschäftigten Selznick buchstäblich<br />
rund um die Uhr (eine Folge sowohl seiner hyperaktiven Persönlichkeit,<br />
wie auch seiner Gewohnheit, das Amphetamin<br />
´Benzedrine`einzunehmen), weshalb die Pläne für ein amerikanisches<br />
"Intermezzo" während den ersten Monaten von<br />
1938 an eine tiefere Stelle in Selznicks Agenda rutschten. Kay<br />
Brown liess aber nicht nach, ihrem Boss ständig mit höflichen<br />
Hinweisen auf Miss <strong>Bergman</strong> in den Ohren zu liegen, die bereits<br />
Angebote aus London und von andern Hollywood-Produzenten<br />
erhielt.<br />
Miss <strong>Bergman</strong>s Leben war diese Saison ausgebucht, und<br />
sie selbst freute sich speziell auf ihre Arbeit bei der UFA. Vor<br />
ihrer Abreise nach Berlin dieses Frühjahr 1938 schuf sie aber<br />
eines ihrer intensivsten und komplexesten Filmportraits, das<br />
der Anna Helm in "A Woman´s Face" , mit Beginn der Aufnahmen<br />
am 18. Januar. Dann erkannte <strong>Ingrid</strong> während der Pro-
duktion, dass sie schwanger war. Sie und Petter feierten das<br />
Ereignis mit einem Champagner-Diner und Tanz im Café Royal<br />
des Grand Hotels.<br />
Anna <strong>als</strong> ein Charakter, der für jede noch so gewitzte<br />
Schauspielerin eine echte Herausforderung darstellte, hätte<br />
<strong>Ingrid</strong> leicht dazu verleiten können, sie fälschlich <strong>als</strong> romantisches<br />
Cliché darzustellen; sie aber schuf durch Kon<strong>tu</strong>ren und<br />
Schattierungen aus einem wechselweise grotesken und unglaubhaften<br />
Charakter eine menschlich erfassbare, glaubwürdige<br />
Persönlichkeit - und entkräftete damit auch den letzten<br />
Zweifel an ihrer herausragenden Kapazität <strong>als</strong> Schauspielerin.<br />
In ihrer Kindheit wird Annas Gesicht in einem schrecklichen<br />
Feuer, in dem ihre alkoholkranken Eltern umkommen, völlig<br />
zerstört. Anna hat den unsteten Charakter ihrer Familie geerbt;<br />
<strong>als</strong> das Zentrum eines Rings von Gaunern ist sie eine<br />
Frau ohne Gewissen oder Wärme. Als aber ein Schönheitschirurg,<br />
der Ehemann eines ihrer prospektiven Erpressungsopfer,<br />
ihre Schönheit wiederherstellt, setzt bei ihr auch eine gewisse<br />
geistige Veränderung ein. Wie sie dann bei der Ret<strong>tu</strong>ng eines<br />
Kindes, dessen Gouvernante sie geworden ist, ihr Leben riskiert,<br />
erlöst sie sich auch selbst.<br />
Petter kam seiner Frau beim Makeup zu Hilfe. "Er machte<br />
etwas ganz brilliantes", stellte sie Jahre danach fest und<br />
erklärte im Detail, wie er eine Art Spange anfertigte, "die in<br />
meine Mundhöhle passte und meine Wange nach aussen<br />
drückte, dann klebten wir auf der andern Seite das Augenlid<br />
nach unten - mit Makeup wäre das ja nicht zu machen gewesen<br />
- und, oh, wie grauenhaft ich dann aussah!"<br />
Die Handlung von "A Womans Face" war - wie so oft in<br />
der Zusammenarbeit zwischen Molander und Stevens - unnötig<br />
kompliziert und belastet von Wiederholungen und abgeschwächten<br />
Episoden. Aber der Endeffekt ist sowohl packend<br />
in der Darstellung, <strong>als</strong> auch pointiert in der Enfal<strong>tu</strong>ng der<br />
längst begrabenen Sehnsucht nach Liebe in der Seele einer<br />
verbitterten Frau. Es ist im Filmgeschäft eine wohlbekannte<br />
Tatsache, dass ein Film in der Regel nicht nach dem Hand-<br />
91
lungsverlauf fotographiert wird, denn Produzent und Regisseur<br />
müssen auf Gegebenheiten wie den Zeitplan der Schauspieler<br />
eingehen und auch Sequenzen mit einem bestimmten Set oder<br />
an einem bestimmten Aussenaufnahmeort in einer Zeiteinheit<br />
schiessen können, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, wo im<br />
Szenario die einzelnen Szenen liegen. Ausserdem spielen die<br />
Unvorhersehbarkeit der Wetterverhältnisse und die Erfordernisse<br />
des bewilligten Budgets eine wichtige Rolle. Diese Forderung,<br />
Filme ausserhalb des Handlungsverlaufs zu produzieren,<br />
stellt für die Darsteller eine ausserordentliche Herausforderung<br />
dar - die Schaffung einer glaubhaften Persönlichkeit in kleinen,<br />
unzusammenhängenden Sequenzen; die tägliche Arbeit wird<br />
so z.B. oft zu einer unablässigen Folge von abrupten und verwirrenden<br />
Wechseln des benötigten emotionalen Klimas. Der<br />
erste Drehtag kann eine Fin<strong>als</strong>zene enthalten, der zweite eine<br />
der ganz frühen Szenen und so weiter. Mehr <strong>als</strong> ein Schauspieler<br />
ist in diesen felsigen Untiefen schon schwer ausgerutscht.<br />
Solchen Zwängen verdanken wir manchmal künstlerische<br />
Tugenden, und das Publikum, das von einer Figur oder<br />
gar einem ganzen Film nicht zu überzeugen ist, kann den<br />
Grund dafür in diesen Anforderungen finden, oder gar in gelegentlich<br />
damit zusammenhängenden Fehleinschätzungen oder<br />
Fehlleis<strong>tu</strong>ngen der Schauspieler. Die Kontinuität mag durch gut<br />
aufeinander abgestimmte Sequenzen stimmen; die emotionale<br />
Übereinstimmung ist aber wieder etwas ganz anderes.<br />
In dieser Hinsicht machte <strong>Ingrid</strong> in ihrer Karriere sehr<br />
wenig f<strong>als</strong>ch. Ihr subtiler Aufbau der Persönlichkeit der Anna<br />
Holm war ein erstklassiges Beispiel für ein Talent, das einen<br />
Charakter Moment für Moment erfassen konnte und deshalb<br />
die verschiedenen Befindlichkeiten im Leben einer Frau <strong>als</strong><br />
voneinander unabhängige mentale Si<strong>tu</strong>ationen - <strong>als</strong> Microkosmen<br />
- einer komplexen Identität wiedergeben konnte. Als der<br />
geschundene Krüppel, eine Frau, die die Welt hasst, schien sie<br />
ihre Texte auszuspeien, rachebegierig gegen jede Frau, allein<br />
wegen ihrer Unversehrtheit: "Hat sie nicht alles, was eine Frau<br />
will? Wird sie nicht geliebt, verehrt, bewundert? Ist sie nicht<br />
schön? Also gut - gehört sie nicht bestraft dafür?" Später wird<br />
92
dieses Motiv neu aufgenommen: "Sie verabscheut einen Knaben<br />
(und denkt sogar kurz daran, ihm etwas anzu<strong>tu</strong>n) einfach<br />
weil: "Du hast alles. Du bist verwöhnt! Du bekommst alles,<br />
was du willst!" Aber das tränennasse Gesicht dieses Kindes,<br />
das eine Mutter so dringend nötig hätte, wie Anna (seine neue<br />
Gouvernante), bewirkt den ersten Riss im harten Herzen dieser<br />
Frau, deren Gesicht wiederhergestellt wurde und deren Seele<br />
nun ebenfalls heilen kann.<br />
<strong>Ingrid</strong> milderte das gr<strong>ob</strong>e, männliche Wesen der kriminellen<br />
Anna sukzessive in der Weise, dass diese innere Wandlung<br />
in der Wiederherstellung ihres Gesichts eine plausible Erklärung<br />
findet. So wurde "A Woman s Face" durch ihr fachliches<br />
Können, ihre perfekte Mimik und ihre subtilen Reaktionen<br />
zu einem Kleinod, zu einem Drama in der Tradition von Arthur<br />
Wing Pineros gespenstischem englischem Stück "The Enchanted<br />
Cottage". Der Haupteffekt dieser Werke liegt nicht in der<br />
Kunst der ästhetischen Metamorphose , sondern in der geistigen<br />
Wandlung eines Menschen. *)<br />
INGRIDS SCHWANGERSCHAFT erforderte die Vorverlegung<br />
des Drehbeginns für ihren nachfolgenden deutschen Film,<br />
der ursprünglich gegen Ende Mai vorgesehen war. Sofort nach<br />
Beendigung von "A Woman s Face" am 29. März begab sie<br />
sich zu den UFA-S<strong>tu</strong>dios nach Berlin, wo sie in einem gemieteten,<br />
komfortablen Vorstadthaus zusammen mit den drei deut-<br />
*) Wie üblich bemühte sich Joan Crawford zwei Jahre später intensiv,<br />
Anna Holm in einem glänzenden amerikanischen Remake von "A Woman's<br />
Face" zu neuem Leben zu erwecken. Leider schienen aber sie<br />
und Regisseur George Cukor das schwedische Original missgedeutet zu<br />
haben. Im Gegensatz dazu behielt der 1945 hergestellte amerikanische<br />
Film "The Enchanted Cottage" (mit Dotothy McGuire und R<strong>ob</strong>ert Young<br />
in den Hauptrollen, Autoren DeWitt Rodeen und Hermann J. Mankiewicz,<br />
Regie John Cromwell) Jahrzehnte danach seine poetische und<br />
emotionale Integrität, weil er sich nicht scheute, klarzustellen, dass<br />
Liebe nicht allein auf physische Anziehungskraft angewiesen ist. Beide<br />
Geschichten behandeln das Pr<strong>ob</strong>lem der physischen Versehrtheit in einer<br />
Welt, die in zunehmendem Masse von ästhetischen Werten besessen<br />
ist.<br />
93
schen Frauen untergebracht war, die <strong>als</strong> ihre Co-Stars für "Die<br />
vier Gesellen" bestimmt waren; die Dreharbeiten begannen in<br />
der zweiten Aprilwoche.<br />
Der historische Respekt der Schweden für den deutschen<br />
Ordnungssinn, die kul<strong>tu</strong>rellen Leis<strong>tu</strong>ngen und die Lutherische<br />
Tradition des Landes erhielt einen schweren Stoss, <strong>als</strong><br />
Hitler 1933 die Macht übernahm, und die schwedische Nostalgie<br />
für Deutschland schaffte ernsthafte ethische Pr<strong>ob</strong>leme vor<br />
und während des zweiten Weltkriegs im Land. Viele Schweden<br />
wollten weder vom Antisemitismus noch von den Ausdehnungsplänen<br />
der Nazis über die damaligen Reichsgrenzen hinaus<br />
etwas wissen. Verschiedene prominente Schweden, angeführt<br />
vom König, einem Erzbischof und einem Literaten, glaubten<br />
sogar, Hitler auf einen moderateren politischen Kurs bringen<br />
zu können, doch ihre Reise zum Führer verlief erfolglos.<br />
Einerseits kritisierte dieser Schwedens Neutralität; andererseits<br />
versprach er Schweden tatkräftige Hilfe durch den Ankauf<br />
von Rüs<strong>tu</strong>ngsgütern für die deutsche "Verteidigung". Wenigstens<br />
zwei bedeutende schwedische Waffenfabriken kamen<br />
gross ins Geschäft mit dem Reich. 1937 z.B. wurden 20<br />
Schiffsladungen Eisenerz nach Deutschland exportiert. Aber<br />
der vielfach erwartete "Anschluss" blieb aus. Selbst <strong>als</strong> Schweden<br />
den deutschen Truppen den Zugang nach Norwegen via<br />
schwedische Grenze erlaubte, erhielten Norweger und Dänen<br />
in Schweden politisches Asyl und Schutz vor der Nazi-<br />
Verfolgung. Mit andern Worten: die Doppelmoral war allgegenwärtig.<br />
Soviel war jedenfalls klar, <strong>als</strong> das schwedische Parlament<br />
1933 das Tragen politischer Insignien verbot: uniformierte<br />
Nazis wurden im Land nicht geduldet. Auch blieb die Regierung<br />
nicht untätig, <strong>als</strong> bekannt wurde, dass die Nazis für<br />
Schweden bestimmte Post in Deutschland abfingen und zensurierten.<br />
1934 schloss die schwedische Polizei eine Nazi-Agen<strong>tu</strong>r<br />
in einem Stockholmer Hotel mit der offiziellen Begründung, es<br />
handle sich dabei um "eine Organisation, die die öffentliche<br />
Ordnung gefährde". Wie sich herausstellte, war der Hotel-<br />
Direktor selbst ein überzeugter Nazi. Ein Jahr danach wurden<br />
94
ei einer Polizei-Razzia elf Nazis eingekerkert; das Gesetz zur<br />
Abwehr politischer Gruppen mit militärischem Charakter wurde<br />
mit vermehrter Strenge durchgesetzt. Durch die offene Opposition<br />
des Parlaments gegen das Nazi<strong>tu</strong>m wurde das schwedische<br />
Volk auch vermehrt sensibilisiert für die Gefahren und die<br />
Bedrohung der eigenen Sicherheit, die vom deutschen Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />
ausgingen.<br />
DAS ALLES KONNTE INGRID nicht verborgen bleiben,<br />
und sie war in Bezug auf ihren Entschluss, in Deutschland zu<br />
arbeiten, sehr offen:<br />
"Ich akzeptierte das deutsche Angebot, weil ich die<br />
Sprache beherrschte - aber sicher nicht mit der Absicht,<br />
dort zu bleiben. Natürlich hatte ich dam<strong>als</strong> bereits ein<br />
Auge auf Hollywood geworfen, es handelte sich einfach<br />
darum, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Die Politik<br />
hat mich nie interessiert, so wusste ich gar nicht, was<br />
ich tat... Hätte ich von Politik etwas verstanden, wäre<br />
ich nie auf die Idee gekommen, 1938 nach Deutschland<br />
zu gehen, um einen Film zu machen..."<br />
Dennoch fügte sie nachdrücklich hinzu: "Man spürte,<br />
dass da was gärte während der Produktion von "Die vier Gesellen",<br />
und die Angst war etwas Undefinierbares. Aber die Sache<br />
schien mich nicht zu betreffen, ich war hergekommen um einen<br />
Film zu drehen." Später hegte <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> ein echtes<br />
Schuldgefühl wegen ihrer Gleichgültigkeit gegenüber dem<br />
schrecklichen Geist jener Zeit.<br />
Ironischerweise war "Die vier Gesellen" ein kläglicher<br />
Reinfall. Eine farblose Geschichte von vier jungen Frauen, die<br />
mit ihrer Werbeagen<strong>tu</strong>r gescheitert waren, es war eine romantische<br />
Komödie, ein Genre, der dem deutschen Temperament<br />
noch weniger entsprach, <strong>als</strong> dem schwedischen. Nicht nur die<br />
sexuelle Selbstbestimmung, sondern auch die selbständige<br />
Denkweise der Frauen wurden diskriminiert - zwei Forderungen,<br />
die von den Nazi-Schergen bei der UFA resolut bekämpft<br />
95
wurden. Die schwangere <strong>Ingrid</strong>, die während der Produktion<br />
wochenlang morgendliche Übelkeit durchzustehen hatte, sah in<br />
grossen Teilen des Films abwesend und zerstreut aus, <strong>als</strong> wäre<br />
sie von ihrem Text ebenso gequält wie von den normalen<br />
Schwangerschaftsbeschwerden.<br />
Sie fand auch die s<strong>tu</strong>re Gewohnheit ihres Regisseurs,<br />
Carl Fröhlich, ärgerlich, sie jeder kleinsten Unsauberkeit der<br />
deutschen Aussprache wegen mitten in der Szene zu stoppen.<br />
Alle wüssten, dass sie ein schwedischer Import sei, sagte sie -<br />
und ausserdem hätte sie die Szene ja gut gespielt. Trotzdem:<br />
ihr Deutsch war wichtiger, Fröhlich insistierte, und die Szene<br />
musste wiederholt werden.<br />
Der Film wurde gegen Ende Mai fertiggestellt, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong><br />
im fünften Monat war. Petter kam nach Berlin, und zusammen<br />
fuhren sie zu einem Ferienaufenthalt nach Paris und anschliessand<br />
nach Monte Carlo. Anfang Juli waren sie zurück in Stockholm,<br />
wo sich <strong>Ingrid</strong> auf die Geburt vorbereitete und ihre Zukunftspläne<br />
überdachte. Wie üblich war Petter mit Helmer Enwall<br />
bei der Hand. "Ich fragte ihn, <strong>ob</strong> in England oder den USA<br />
nicht ein S<strong>tu</strong>dio finden könnte, das <strong>Ingrid</strong> einen J<strong>ob</strong> anzubieten<br />
hätte," erinnerte sich Petter. "Enwall erhielt aus England ein<br />
Angebot und aus Hollywood deren drei, aber deren finanzielle<br />
Bedingungen waren allesamt uninteressant, weshalb nichts<br />
daraus wurde. So unterzeichnete <strong>Ingrid</strong> den Vertrag, bei der<br />
UFA im folgenden Jahr zwei weitere Filme zu drehen.<br />
Am 20. September 1938 wurde den Lindströms ein<br />
Mädchen geboren, die sie Friedel Pia nannten: der erste Name<br />
zu Ehren von <strong>Ingrid</strong>s Mutter, der zweite <strong>als</strong> ein Konstrukt aus<br />
den Initialen der elterlichen Vornamen (Petter, <strong>Ingrid</strong>, Aron).<br />
Das Kind wurde später durch Pastor <strong>Bergman</strong> getauft, der bei<br />
der örtlichen Gemeinde immer noch im Amt war.<br />
Am Tag nach der Geburt hielt <strong>Ingrid</strong> in der Klinik eine<br />
Verabredung ein, die Petter und sie Wochen zuvor getroffen<br />
hatten. In ihr Zimmer trat eine kultivierte, intelligente Dame<br />
namens Jenia Reissar, die in London und Europa für David O.<br />
Selznick arbeitete, und zwar in derselben Funktion, wie Kay<br />
96
Brown in New York. In eine gebildete und einflussreiche Familie<br />
in Russland geboren, hatte sie zunächst in London Medizin<br />
s<strong>tu</strong>diert, doch war das ein Beruf, in welchem Frauen noch unerwünscht<br />
waren. So widmete Reissar ihre umfassenden Fähigkeiten<br />
eben der Kunst. David Selznick war klug genug, ihre<br />
Schnelligkeit und ihre wertvollen gesellschaftlichen Beziehungen<br />
in England zu erkennen und zu nutzen.<br />
Reissar hatte von Selznick den telegraphischen Auftrag<br />
erhalten, sich nach Stockholm zu begeben, die Rechte an "Intermezzo"<br />
zu erwerben, <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> einen Vertrag unterzeichnen<br />
zu lassen und Gustaf Molander <strong>als</strong> Regisseur zu verpflichten.<br />
"Mit den Lindströms war gut zu verhandeln," sagte<br />
Reissar, "sehr vernünftig und ehrlich. Wenn sie etwas sagten,<br />
dann galt das, und es gab keine Wenns und Abers. Im Hinblick<br />
auf all die Aufregung um das Neugeborene wurden aber noch<br />
keine festen Zusagen gemacht und man wollte sich dafür noch<br />
ein paar Tage Bedenkzeit lassen. Inzwischen lehnte Molander<br />
das Angebot ab. Er spreche zu wenig englisch; auch wolle er<br />
Schweden und seine Familie nicht für die Ungewissheit des<br />
Filmens in Hollywood verlassen.<br />
Ein paar Tage später lud <strong>Ingrid</strong> Jenia Reissar in ihre<br />
Wohnung ein und erklärte ihr, sie würde sich tatsächlich sehr<br />
freuen, in Hollywood arbeiten zu können, wo andere Schweden<br />
so erfolgreich seien. Nach neun schwedischen Filmen war sie<br />
eine der beliebtesten und populärsten Schauspielerinnen, aber<br />
wie immer war sie nicht schnell zufrieden mit sich selbst. <strong>Ingrid</strong><br />
wusste, dass Stücke wie "A Woman s Face" sehr selten<br />
waren: wo immer ihr Reiz liegen mochte, "Dollar" und "En<br />
enda natt" waren schauspielerisch keine anspruchsvollen Filme.<br />
Die Arbeit in Amerika, nahm sie an, werde wenigstens<br />
ihren beruflichen Horizont erweitern.<br />
Das Angebot wurde inzwischen noch attraktiver, <strong>als</strong><br />
Reissar erwähnte, dass Selznick <strong>als</strong> ihren männlichen Hauptdarsteller<br />
vermutlich Leslie Howard einsetzen werde, der momentan<br />
noch mit "Im Winde verweht" beschäftigt war. "Schon<br />
dafür gehe ich nach Hollywood!", sagte <strong>Ingrid</strong> entschlossen.<br />
97
"Ihr Gemahl war nicht sonderlich begeistert von den finanziellen<br />
Aspekten des Vertrags", sagte Reissar Jahre danach,<br />
"und nach einigen Diskussionen erklärte <strong>Ingrid</strong>, sie gehe zwar<br />
voller Begeisterung nach Amerika, wolle aber ihre neugeborene<br />
Tochter nicht sofort verlassen. Reissar hatte den Auftrag, sich<br />
in den zeitlichen Modalitäten flexibel zu zeigen, ging sofort<br />
darauf ein und bereitete den üblichen Siebenjahresvertrag für<br />
<strong>Ingrid</strong> vor.<br />
"Sie wollte nicht auf der Stelle unterzeichnen", erinnerte<br />
sich Jenia Reissar, "wir trafen uns noch mehrere Male und sie<br />
und ihr Gatte informierten sich genau über jeden Vertragspunkt<br />
und sie wollte vieles über die Bedingungen der Film-<br />
Arbeit in Hollywood und über Selznick <strong>als</strong> Produzenten wissen."<br />
Dann rückte Lindström mit dem Hauptpr<strong>ob</strong>lempunkt heraus:<br />
"Er widersetzte sich der Unterzeichnung eines langfristigen<br />
Vertrags mit Optionen und lehnte die Klausel ab, wonach <strong>Ingrid</strong><br />
im Falle einer Schwangerschaft entlassen werden könnte.<br />
So entfernte ich diese Stipulationen und wir einigten uns auf<br />
einen Ein-Film-Vertrag. Sollte ihr Hollywood gefallen, könnten<br />
sie und Selznick alles weitere nach "Intermezzo" aushandeln."<br />
Mitte Okt<strong>ob</strong>er legte Reissar <strong>Ingrid</strong> einen bereinigten<br />
Vertrag zur Unterzeichnung vor. "Ich dachte, nach allem sollte<br />
sie jetzt eigentlich unterzeichnen - was allerdings die Zustimmung<br />
ihres Ehemanns erforderte, denn er war es letztlich, der<br />
reihenweise Pr<strong>ob</strong>leme schuf." So wurde noch tagelang weiterdiskutiert.<br />
Inzwischen machte sich Selznick ernsthafte Sorgen,<br />
<strong>Ingrid</strong> arbeite auf Zeitgewinn und sei womöglich mit einem<br />
andern Produzenten in Verhandlung. So entsandte er Kay<br />
Brown mit dem Auftrag nach Stockholm, "nicht ohne einen<br />
Vertrag mit Miss <strong>Bergman</strong> zurückzukommen," wie er später<br />
schrieb. Die Verhandlungen waren kompliziert, und Petter bestand<br />
darauf, Helmer Enwall und den Anwalt Cyril Holm einzubringen.<br />
Petter hätte <strong>Ingrid</strong>s Unterschrift mit Leichtigkeit noch<br />
weiter verzögern können, hätte er gewusst, welche Konfusionen<br />
Selznicks Kopf verwirrten. "Eben durchfuhr mich ein kalter<br />
98
Schauer." schrieb er diesen Sommer an Kay Brown, "vielleicht<br />
sind wir wirklich hinter dem f<strong>als</strong>chen Mädchen her. Vielleicht ist<br />
unser Mädchen Gosta (sic) Stevens. Bitte um Prüfung und Bericht<br />
hierüber." Dann tat er sich schwer mit der Frage, <strong>ob</strong> er<br />
<strong>Ingrid</strong> für das Remake von "Intermezzo" vorsehen sollte; während<br />
mehrerer Wochen diesen Herbst war er nämlich mit der<br />
Idee beschäftigt, Loretta Young und Charles Boyer <strong>als</strong> Stars<br />
einzusetzen. Aber er wollte nach wie vor <strong>Bergman</strong> unter Vertrag<br />
haben und instruierte daher Kay Brown, die Sache zu Ende<br />
zu führen. Jenia Reissar, die den Handel bis fast zur Abschlussreife<br />
vorbereitet hatte, war inzwischen zu ihrer Aufgabe<br />
in London zurückgekehrt.<br />
1902 geboren, bestand Kay Brown 1924 ihren Abschluss<br />
am Wellesley-College; anschliessend arbeitete sie an<br />
der Theater-Akademie von New Hampshire. Joseph P. Kennedy<br />
war ein Leiter dieser Schule, und <strong>als</strong> er die Film Booking Offices<br />
of America (FBO), eine Film-Produktions- und Vertriebsgesellschaft<br />
kaufte, übernahm Kay einen J<strong>ob</strong> in der Produktions-<br />
und Litera<strong>tu</strong>r-Abteilung. Kennedy vereinigte später die<br />
FBO mit dem Radio-Keith-Orpheum-Unternehmen und übertrug<br />
Kay die Aufgabe, literarische Neuheiten ausfindig zu machen<br />
und deren Rechte für das S<strong>tu</strong>dio einzukaufen ("Cimarron"<br />
war unter ihren ersten Acquisitionen).<br />
1935 wurde sie von David Selznick <strong>als</strong> seine New Yorker<br />
Agentin engagiert, und Kay fuhr fort, einige der herausragendsten<br />
Verträge der Filmgeschichte abzuschliessen. Im darauffolgenden<br />
Jahr las sie Margaret Mtchells Novelle "Vom Winde<br />
verweht" noch vor deren Publikation und setzte beim unentschlossenen<br />
Selznick (der darin noch keine erfolgsträchtige<br />
Filmgeschichte sehen konnte) den Ankauf der Rechte an diesem<br />
Werk zum Preis von $ 50.000 durch (dam<strong>als</strong> der höchste<br />
für eine Story je bezahlte Preis). Dann überzeugte Kay Selznick<br />
1937 davon, Verhandlungen aufzunehmen, um sich die<br />
Dienste von Englands populärstem Regisseur, Alfred Hitchcock,<br />
zu sichern, dessen Filme weltweit Kassenschlager waren.<br />
99
KAY, DIE SELBST ZWEI KLEINE TÖCHTER HATTE, wollte,<br />
dass sich <strong>Ingrid</strong> volle Rechenschaft darüber gebe, welche<br />
Auswirkungen ein derart bedeutender Karriereschritt auf ihre<br />
Familie haben könnte und dass sie diesen Schritt wohlüberlegt<br />
unternehme. Aber mit Petters Zustimmung war <strong>Ingrid</strong> zuversichtlich.<br />
Ihr Gatte sagte übrigens: "<strong>Ingrid</strong> mag Schweden<br />
nicht" - eine Aussage, die <strong>Ingrid</strong> später in dem Sinne ergänzte:<br />
"Ich bin glücklich, <strong>als</strong> Schwedin geboren zu sein, was bedeutet,<br />
dass ich eine strenge Erziehung genoss - jedenfalls war das zu<br />
meiner Zeit noch so. Aber sogar in meinen Zwanzigerjahren<br />
konnte ich nicht dort leben. Schweden ist psychologisch zu<br />
weit entfernt vom Rest der Welt. Du fühlst dich dort auf eine<br />
Insel verbannt."<br />
Ende 1938 entschloss sie sich, im kommenden Frühjahr<br />
nach Amerika zu gehen, um im Hollywood-Remake von "Intermezzo"<br />
ihre Rolle zu übernehmen, die ihr die hübsche<br />
Summe von $ 2.500 die Woche einbringen sollte, eine der<br />
höchsten Gagen jener Zeit überhaupt und das Doppelte von<br />
Vivien Leighs Gage in "Vom Winde verweht". Wenn sie oder<br />
der Film enttäuschen sollte, mutmasste sie, könnte sie immer<br />
noch nach Schweden oder Deutschland zurückkehren.<br />
"Es war wirklich Petter Lindström, der alles kontrollierte<br />
und <strong>Ingrid</strong> veranlasste, Selznicks Angebot anzunehmen", erinnerte<br />
sich die schwedische Schauspielerin Signe Hasso, die in<br />
Amerika auf der Bühne und im Film ebenfalls Erfolg hatte und<br />
später Stücke schrieb. "Ihm ist es zu verdanken, dass sie nach<br />
Amerika kam. Er unterstützte sie enorm in ihrer Karriere und<br />
übte stets einen grossen Einfluss auf sie aus." Ihr Gatte, bestätigte<br />
<strong>Ingrid</strong> "trainierte und organisierte mich, und nur für ihn<br />
habe ich mich entschlossen, nach Hollywood zu gehen". Petter<br />
ermunterte sie auch, schon vor ihrer Abreise von Stockholm so<br />
häufig wie möglich english zu sprechen, worin ihr auch Kay<br />
eine grosse Hilfe war, die noch dreimal von New York herüber<br />
kam, um die letzten Vertragsdetails zu regeln und <strong>Ingrid</strong><br />
schliesslich nach Amerika zu begleiten. Als es Zeit zur Abreise<br />
wurde, entschieden sich die Lindströms schon im Hinblick darauf,<br />
dass <strong>Ingrid</strong> nur ein paar Monate abwesend sein würde, Pia<br />
100
die Mühen einer transatlantischen Seereise zu ersparen. Petter<br />
engagierte eine Nanny.<br />
Bei all den vergangenen Diskussionen war Kay stets beeindruckt<br />
von <strong>Ingrid</strong>s Unaffektiertheit, ihrer Direktheit, ihrer<br />
Herzlichkeit, ihrer Aufgestelltheit und Überzeugung, wonach<br />
die Verfeinerung ihres Talents viel wichtiger sei, <strong>als</strong> die Entfal<strong>tu</strong>ng<br />
eines f<strong>als</strong>chen Filmstar-Gepräges, von dem sie ohnehin<br />
wusste, dass es sich je nach Zeit und Mode von selbst bilden<br />
würde. <strong>Ingrid</strong> ihrerseits bewunderte die nette, elegante und<br />
kluge Kay, die um 13 Jahre älter war <strong>als</strong> sie, und schenkte ihr<br />
volles Vertrauen. Sie konnte alles aus jeder möglichen geschäftlichen<br />
oder privaten Perspektive sehen, und ohne jede<br />
F<strong>als</strong>chheit oder eisiges Kalkül hatte sie für <strong>Ingrid</strong> etwas Mütterliches<br />
- das führte, dirigierte, beschützte und Vorschläge<br />
machte. Laurence Evans, später <strong>Ingrid</strong>s Londoner Agent,<br />
brachte es treffend auf den Punkt: "Sie war alles in allem eine<br />
bemerkenswerte Frau mit ausgeprägter Intelligenz und Persönlichkeit.<br />
Sie war auch eine geborene Führerna<strong>tu</strong>r, was <strong>Ingrid</strong><br />
gerade in dieser Phase ihrer Karriere sehr zustatten kam."<br />
<strong>Ingrid</strong> selbst war ebensosehr bezaubert von der Aussicht,<br />
in Amerika zu arbeiten, <strong>als</strong> auch verunsichert über das<br />
mögliche Fazit: "Schweden erschien mir zu klein, ich suchte<br />
Möglichkeiten in einem grösseren Land - aber ich litt Todesängste,<br />
Hollywood würde mich nicht akzeptieren."<br />
1936<br />
„Valborgsmässoafton“<br />
(Walpurgisnacht) mit<br />
Victor Sjöström<br />
101
102<br />
1936 - „Intermezzo“
Portrait 1938<br />
103
104<br />
1939 - New York und Hollywood
1939<br />
"Als ich nach Amerika kam und all die Namen sah - Stingers,<br />
Daiquiries - begann ich einfach bei "A" und arbeitete mich das<br />
Alphabet runter."<br />
(Wie <strong>Ingrid</strong> mit den amerikanischen Cocktails bekannt wurde.)<br />
AM DONNERSTAG MORGEN, 20. April 1939 dockte die<br />
"Queen Mary" in New York an; an Bord waren <strong>Ingrid</strong> und ihre<br />
neue Freundin Kay, die ihr bei allen Vorberei<strong>tu</strong>ngen zu dieser<br />
Reise behilflich war. Auf Selznicks Kosten im Chatham Hotel<br />
einquartiert, erklärte <strong>Ingrid</strong> Kay, sie wolle keine Zeit verlieren,<br />
ihr Englisch zu vervollkommnen und den amerikanischen Lebensstil<br />
kennenzulernen. Sie wollte sich in typischen Cafeterias<br />
und Restaurants verpflegen, sie wollte Zei<strong>tu</strong>ngen lesen, Radio<br />
hören und Comics durchschnüffeln; am meisten freute sie sich<br />
aber auf Theaterbesuche.<br />
Ihre paar ersten Mahlzeiten verliefen recht monoton;<br />
ein Steak oder Hamburger mit einem Glas Wein, unausweichlich<br />
heruntergespült mit einem Kaffee und schliesslich gekrönt<br />
durch ihre erste aufregende Neuentdeckung, die amerikanische<br />
Ice Cream Sundae. Von da an tauchte sie oft bei Schrafft's,<br />
Child's oder Louis Sherry unter (oder bediente sich auch mal<br />
an einem Automaten) für zwei Kugeln Vanille, eine Doppelportion<br />
"hot fudge" mit einem grossen Hut aus Schlagsahne ("Es<br />
machte mich nie krank, nur dick."). Ice Cream blieb eine ihrer<br />
grossen Versuchungen, die nur unterdrückt wurde, wenn sie<br />
sich auf eine Produktion vorbereitete und schnell Pfunde loswerden<br />
musste.<br />
105
Sie lernte auch den amerikanischen Cocktail kennen,<br />
und im Handumdrehen entwickelte sie einen sicheren Geschmack<br />
für Gin Martinis, Rhum Drinks und Whisky Sours - für<br />
buchstäblich das ganze Angebot. "Als ich nach Amerika kam<br />
und all die Namen sah - Stingers, Daiquiries - begann ich einfach<br />
bei "A" und arbeitete mich das Alphabet runter." Glücklicherweise<br />
hatte <strong>Ingrid</strong> eine starke Konsti<strong>tu</strong>tion und hielt den<br />
Drinks stand. Ihr Leben lang genoss sie ihre Drinks unbeschwert,<br />
konnte für eine Diät jederzeit verzichten und war nie<br />
so etwas wie eine Alkoholikerin. Disziplin und Stolz hätten es<br />
ihr nicht erlaubt, sich von irgendeiner Lust bestimmen zu lassen.<br />
Was die Verbesserung ihrer Englischkenntnisse anbetraf,<br />
so war <strong>Ingrid</strong> viel zu quirlig, <strong>als</strong> dass sie sich in Ruhe hätte<br />
mit einer Zei<strong>tu</strong>ng hinsetzen oder eine solche gar konzentriert<br />
hätte lesen können. Da stimmte auch Kay zu, dass wohl<br />
das Theater das Richtige wäre. Nach einer Woche hatte sie<br />
"Abe Lincoln in Illinois", "The Little Foxes", "The Philadelphia<br />
Story" und "No Time for Comedy" gesehen - war aber dem<br />
Verständnis der amerikanischen Umgangssprache um nichts<br />
näher gekommen. Solange Kay langsam und klar sprach und<br />
sich auf elementare Satzkonstruktionen beschränkte, war alles<br />
gut. Aufgeschmissen war <strong>Ingrid</strong> aber, wie es sich um dramatische<br />
Dialoge, Dialekt oder etwas Komplizierteres <strong>als</strong> einen einfachen<br />
Satz handelte. Kay sah, dass hier schnell etwas geschehen<br />
musste, weil die Dreharbeiten zu "Intermezzo" im<br />
Mai beginnen sollten. In seiner Antwort auf ihr diesbezügliches<br />
Telegramm schrieb Selznick, er werde einen Sprachcoach in<br />
Hollywood für sie bereithalten.<br />
Die Ankunft dort erfolgte am frühen Samstag Nachmittag<br />
des 6. Mai. Kay begleitete <strong>Ingrid</strong> im Zug von New York<br />
nach Pasadena, wo ein Wagen mit Fahrer sie erwartete, um die<br />
beiden Damen zum Selznick Mansion am Summit Drive in Beverly<br />
Hills zu bringen. Mit einem Swimming Pool, einem riesigen<br />
gediegenen Esszimmer, verschiedenen Salons, einer Bibliothek<br />
und einem Filmvorführraum war das Selznick-Anwesen<br />
etwas Unvorstellbares für eine schwedische Schauspielerin, die<br />
106
mit einer anspruchslosen Wohnung durchaus zufrieden war.<br />
<strong>Ingrid</strong> hatte solchen Luxus in amerikanischen Filmen und Magazinen<br />
gesehen, war aber viel zu sensibel, um ihr Staunen<br />
professionell zu überspielen.<br />
Sie wurde sofort Davids Frau Irene (Tochter des MGM-<br />
Moguls Louis B. Mayer) vorgestellt, die eben das Ken<strong>tu</strong>cky<br />
Derby hörte. Ihr Mann sei in Culver City mit Dreharbeiten zu<br />
"Vom Winde verweht" beschäftigt. Erstaunt darüber, <strong>Ingrid</strong><br />
hier mit ein paar kleinen Gepäckstücken und ohne den bei<br />
Filmstars üblichen Überseekoffer zu sehen, führte Irene sie<br />
zum Gästetrakt der Selznick-Residenz, wo sie nun für's erste<br />
wohnen sollte. <strong>Ingrid</strong> staunte gleich weiter über die verschwenderisch<br />
ausgestattete Dreizimmer-Suite mit Bad und<br />
Salon, die ihr <strong>als</strong> Gästezimmer zugewiesen wurde.<br />
Am Abend lud Irene Selznick <strong>Ingrid</strong> ein, sie mit ein paar<br />
Freunden zum "Beachcomber" zu begleiten, einem Restaurant<br />
in Hollywood mit Südpazifik-Athmosphäre. Mit von der Partie<br />
an diesem Abend waren auch Miriam Hopkins, Richard Barthelmess<br />
und Grace Moore - neben <strong>Ingrid</strong>, die in dieser Gesellschaft,<br />
verwirrt von der "Maschinengewehr-Konversation",<br />
buchstäblich sprachlos war. Aber nach einem der tödlichen<br />
Beachcomber-Daiquiries (serviert in einer Keramik-Kokosnuss<br />
mit einem kleinen rosa Sonnenschirmchen geschmückt) machte<br />
sie eine scherzhafte Bemerkung über ihre Grösse, womit das<br />
Eis gebrochen war und (wie Irene sich erinnerte) ihr alle verfallen<br />
waren.<br />
Trotzdem <strong>Ingrid</strong>s Englisch beschränkt war, hatte sie eine<br />
bemerkenswerte Kommunikationsfähigkeit: was immer sie<br />
fühlte wurde irgendwie schnell durch einen feinen aber direkten<br />
Begriff, einen Blick und ein paar sparsame Gesten herübergebracht<br />
- ein Mix von Qualitäten übrigens, der ihre Gefühle<br />
auf der Leinwand so intensiv zum Ausdruck brachte. "Ihre<br />
Unaffektiertheit war grandios", fand Irene (die von den<br />
Stars ihres Gatten nicht schnell beeindruckt war). "Einfach und<br />
direkt, hatte sie ein frisches Auftreten. In der Tat war sie mit<br />
keiner mir bisher begegneten Schauspielerin zu vergleichen.<br />
107
Eigentlich wollte ich zu ihr nur gastfreundlich sein, aber ich<br />
nahm sie auf der Stelle unter meine Fittiche und versuchte, ihr<br />
Hollywood zu erklären."<br />
Nach dem Essen begab sich die Gruppe zum Projektionsraum<br />
bei Miriam Hopkins zuhause. Etwa um ein Uhr früh<br />
tippte jemand auf <strong>Ingrid</strong>s Schulter. Selznick hatte endlich den<br />
Weg zur Gruppe gefunden und erwartete <strong>Ingrid</strong> nun in der Küche.<br />
Über einen Tisch gebeugt, machte er sich über einige<br />
Restbestände aus Miriams Kühlschrank her. Eulenhaft, schwerfällig,<br />
überspannt und so geschwätzig, wie er immer geschildert<br />
wird, fasste er sie durch die dicken Brillengläser ins Auge<br />
und war von ihrer Grösse alarmiert (1m 75cm). "Gott, ziehen<br />
Sie die Schuhe aus", murmelte er nach einer flüchtigen Begrüssung.<br />
"Das bringt nichts", antwortete <strong>Ingrid</strong> gelassen, "ich<br />
trage flache Absätze". Der Produzent spiesste ein kaltes Stück<br />
Lamm auf und griff nach einer Whisky-Flasche.<br />
DAVID O. SELZNICK WAR EINE DER GROSSEN KRÄFTE<br />
in Hollywood. Mit seinen 37 Jahren war er bereits ein erfolgreicher<br />
Produzent bei RKO, Paramount und Metro-Goldwyn-<br />
Mayer, wo ihn sein Schwiegervater, Louis B. Mayer, <strong>als</strong> Vizepräsidenten<br />
und Produktionschef installiert hatte. Bis 1939<br />
hatte Selznick Dutzende von Hits produziert, worunter "What<br />
Price Hollywood?", "A BIll of Divorcement", "King Kong", "Little<br />
Women", "Dinner at Eight", "David Copperfield", "Anna Karenina"<br />
und "A Star is Born". "Vom Winde verweht" sollte in Kürze<br />
in die Kinos kommen, und "Rebecca" war <strong>als</strong> nächste Produktion<br />
geplant. "Intermezzo" sollte seine 55. Produktion<br />
werden.<br />
Mit finanzieller Unterstützung durch die Familie Whitney<br />
kam Selznick nun zu seinem eigenen S<strong>tu</strong>dio. Damit sollte nicht<br />
nur sein Imperium weiter ausgedehnt werden, sondern es sollte<br />
ihm auch ermöglichen, jedes Detail in jedem von ihm produzierten<br />
Film persönlich zu überwachen. Zehntausende von<br />
108
Notizen und Telegrammen, die er Tag und Nacht diktierte, belegen<br />
seinen unternehmerischen Eifer. Sinnlich und grüblerisch,<br />
ein Mann von scharfer Intelligenz und unersättlichem<br />
Appetit, war Selznick auch eine unerschöpfliche Quelle von<br />
Ideen, die oft in langen Nächten mit Whisky, Poker und Pillen<br />
geboren wurden. Kein Bereich seiner Produktion, sei es das<br />
Casting, Frisuren, Makeup oder Werbung, auf den er nicht Einfluss<br />
genommen hätte; mit seinen Anforderungen an deren<br />
Arbeitszeit, Energie und Aufmerksamkeit konnte er seine Vertrags-Schauspieler<br />
leicht an die Grenze des Wahnsinns treiben.<br />
Die erste Begegnung zwischen <strong>Ingrid</strong> und David über<br />
kaltem Lamm und Whisky nahm ihren Fortgang, indem er auf<br />
ihren Namen zu sprechen kam, den er zu deutsch fand. Warum<br />
sie nicht umbenennen in <strong>Ingrid</strong> Berryman? "<strong>Bergman</strong> ist ein<br />
guter Name und er ist mir lieb", konterte sie. "Wenn ich in<br />
Amerika durchfalle, kann ich <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> wieder nach<br />
Schweden zurückkehren."<br />
Ja, und ausser ihrem Namen gebe es da noch das Pr<strong>ob</strong>lem<br />
mit ihren Augenbrauen, fuhr Selznick fort, die viel zu dick<br />
seien. Nach einem weiteren Schuss Whisky ins Glas: ihre Zähne<br />
müssten dringend fixiert werden und auch hinsichtlich ihres<br />
Makeups müsste etwas geschehen und - <strong>ob</strong>'s denn in Miriams<br />
Kühlschrank keine übrigen Kartoffeln habe oder Brot und Butter?<br />
"Ich denke, Sie haben einen grossen Fehler gemacht,<br />
Mr. Selznick", unterbrach ihn <strong>Ingrid</strong> in ruhigem, überlegtem<br />
Tonfall, "ich dachte, Sie hätten mich in "Intermezzo" gesehen,<br />
für gut befunden und Kay Brown beauftragt, mich von Schweden<br />
hierher zu holen. Jetzt sehen Sie mich persönlich und wollen<br />
alles an mir ändern. Unter diesen Umständen möchte ich<br />
den Film lieber nicht machen. Wir sprechen nicht mehr darüber<br />
und bereiten uns keine Schwierigkeiten. Vergessen wir es. Ich<br />
nehme den nächsten Zug und fahre nachhause." Damit vergass<br />
David O. Selznick, der gewohnt war, zu bekommen was<br />
er wollte, weiterzumampfen und zu schlürfen. Er hatte eben<br />
seinen Meister gefunden. Tatsächlich erkannte er auch den<br />
109
erstaunlich hohen Grad an gesundem Menschenverstand in<br />
ihrer Antwort.<br />
110<br />
"Er sagte, es hätte phantastisch geklungen", erinnerte<br />
sich <strong>Ingrid</strong>,- der beste Werbeeinfall aller Zeiten - und<br />
dass er an der Idee eines natürlichen Mädchens arbeite<br />
- dass nichts geändert würde. "Er befahl den Leuten in<br />
der Makeup-Abteilung, meine Augenbrauen nicht anzurühren,<br />
und trotzdem ich für die Kamera etwas Makeup<br />
brauchte - mein Gesicht lief unter den heissen Lampen<br />
rot an - wurde alles auf sehr natürlich und ungeschminkt<br />
angelegt. So wurde ich der 'natürliche' Star.<br />
Und das kam gerade zur rechten Zeit, denn alles war so<br />
künstlich geworden in den Filmen, alle diese gerupften<br />
und nachgezogenen Augenbrauen, das ganze dicke Lippenrot<br />
und die lächerlichen f<strong>als</strong>chen Haarteile. Ich sah<br />
sehr einfach aus, mein Haar flatterte im Wind und ich<br />
spielte wie das Mädchen von nebenan."<br />
Plötzlich stand Selznick auf ihrer Seite. Es sei brillant,<br />
sagte er, ihr bürgerlicher Name, ihre echte Erscheinung, ihr<br />
echtes Haar, die echten Zähne. Das alles war in Hollywood so<br />
normal wie der Schnee im Sommer.<br />
Wie sie sagte, beruhte <strong>Ingrid</strong>s Widerstand gegen<br />
Selznicks Absichten auf der einfachen Überzeugung, dass wenn<br />
sie in Hollywood nicht den erhofften Erfolg hatte, sie leicht in<br />
Schweden oder Deutschland wieder Arbeit finden würde. Sie<br />
hatte genügend amerikanische Filme gesehen, um zu wissen,<br />
dass 1939 praktisch alle Filmschauspielerinnen bis zur Unkenntlichkeit<br />
frisiert und geschminkt waren. Klar, im schwedischen<br />
Film war alles etwas unsicherer, weshalb sie die enormen<br />
technischen Möglichkeiten und die scheinbar unerschöpflichen<br />
finanziellen Mittel in der amerikanischen Filmproduktion<br />
so schätzte; zudem wusste sie, dass in Amerika viele Ausländer<br />
grosse Filmkarrieren machten, w<strong>ob</strong>ei eine ganz bestimmte<br />
Vorliebe für deutsch-skandinavische Frauen festzustellen war<br />
(unter vielen andern Greta Garbo, Marlene Dietrich, Hedy<br />
Lamarr, Ilona Massey und Anna Sten).
Sie war aber auch gewitzt genug, zu wissen, dass der<br />
äussere Glanz ablenken konnte (schöne Frauen wurden selten<br />
für überragende darstellerische Fähigkeiten gel<strong>ob</strong>t), dass das<br />
rein künstliche ihre Popularität nur sehr vorübergehend sichern<br />
konnte (wenn's gut ging bis zum Alter von 35), und dass nur<br />
ein Talent, das in Verbindung mit guten Stücken reifen konnte,<br />
ihre Karriere zu sichern vermochte. Ausserdem gab sie sich der<br />
Hoffnung hin, eines Tages wieder auf der Bühne zu stehen.<br />
<strong>Ingrid</strong>s Theater-Ambitionen waren Teil einer grösseren<br />
Welt, die sie für sich anvisierte. Während den Monaten nach<br />
Pias Geburt besuchte sie mehrm<strong>als</strong> wöchentlich ein Stockholmer<br />
Kino, sah sich an, was sie nur konnte, und erkannte die<br />
erstaunlichen Möglichkeiten, die das internationale Filmgeschäft<br />
Schauspielern bot. Ihre Zeit in Deutschland konnte ihren<br />
permanenten Appetit auf neue Methoden, neue Aufgaben,<br />
neue Rahmenbedingungen und neue Schauplätze nicht stillen.<br />
Auch betrachtete sie das Leben in Schweden <strong>als</strong> eingeengt<br />
("auf eine Insel verbannt", wie sie sagte), aber an der Wurzel<br />
dieses Missbehagens sass vielleicht auch ihr Verdacht, dass sie<br />
die tiefste Befriedigung im Leben nicht in Ehe und Mutterschaft,<br />
sondern in der guten Arbeit finden würde. Ihr Charakter<br />
wurde durch zwei prägende Lebenserfahrungen geformt,<br />
die sie zu einem bemerkenswerten Selbstvertrauen führten:<br />
der Tod ihrer Angehörigen und das unerschütterliche Vertrauen<br />
in ihr Talent. Mit dreiundzwanzig reiste sie Tausende von Meilen<br />
zu einer fremden Kul<strong>tu</strong>r, wo sie sich auf nichts verlassen<br />
konnte, <strong>als</strong> auf ihre innere Stärke, ihre unaffektierte Art, die<br />
ihre aussergewöhnlichen Gaben <strong>als</strong> Schauspielerin zu gegebener<br />
Zeit aufblühen lassen konnten. Somit schien sie weder<br />
Heimweh noch Selbs<strong>tu</strong>nsicherheit zu kennen. Adjektive und<br />
Verben lernte sie leicht, Kühnheit und Energie besass sie bereits.<br />
Eine Woche nach ihrer Ankunft war <strong>Ingrid</strong> Ehrengast an<br />
einer Dinnerparty im Hause Selznick, unter deren zwei Dutzend<br />
Gästen auch Tyrone Power, Loretta Young, Errol Flynn,<br />
Claudette Colbert, Gary Cooper, Joan Bennett, Cary Grant,<br />
Spencer Tracy, Charles Boyer, Clark Gable und Ann Sheridan<br />
111
anzutreffen waren; die Letztgenannte wurde von Warner Bros.<br />
<strong>als</strong> "The Oomph Girl" vorgestellt. Niemand konnte <strong>Ingrid</strong> die<br />
Bedeu<strong>tu</strong>ng dieses seltsamen Namens erklären und auch ihr<br />
Schwedisch-Englisch-Dictionnaire brachte kein Licht in die Angelegenheit.<br />
Unfähig, die Bedeu<strong>tu</strong>ng von "Oomph" zu ergründen,<br />
begann sie zu bezweifeln, dass sie American-English je<br />
beherrschen würde. Aber die Hilfe nahte in der Person von<br />
Ruth R<strong>ob</strong>erts, die ihr ein paar Tage später <strong>als</strong> ihr Sprach- und<br />
Dialog-Coach vorgestellt wurde, eine ruhige, scharfsinnige<br />
Frau, die einigen Immigranten Englisch beibrachte. Sie war die<br />
Schwester des Schriftstellers und Regisseurs George Seaton<br />
und wurde nun <strong>Ingrid</strong>s Sprachtrainerin und Kollegin bei Filmaufnahmen<br />
- und später lebenslang ihre vertraute Freundin.<br />
Mitte Mai hatte Selznick für <strong>Ingrid</strong> ein Haus gemietet,<br />
eine charmante Villa im spanischen Stil an der South Camden<br />
Drive 260, Beverly Hills. Einmal mehr war Selznick von ihrer<br />
Reaktion schockiert: das sei eine unnötige Ausgabe, sagte <strong>Ingrid</strong>.<br />
Da ein möblierter Wohnanhänger in den S<strong>tu</strong>dios für sie<br />
bereitstand, fand sie, wäre sie damit absolut glücklich gewesen.<br />
Irene machte ihr dann in aller Ruhe klar, dass sowas für<br />
ihren neuen Stand <strong>als</strong> Selznick-Hauptdarstellerin keine angemessene<br />
Unterkunft wäre.<br />
Ihre neue Nachbarschaft war nicht zu vergleichen mit<br />
Summit Drive, hoch über dem Sunset Boulevard, wo Anwesen<br />
mit Swimming Pools, Gästehäusern, Tennisplätzen und Personalhäusern<br />
mehrere Acres Land beanspruchten. <strong>Ingrid</strong>s vorübergehende<br />
Residenz lag nun zwei Blöcke südlich vom Wilshire<br />
Boulevard auf einem schmalen Landstück ohne Swimming Pool<br />
- und hatte somit ein weniger glanzvolles Cachet. Sie war aber<br />
immer noch glanzvoller, <strong>als</strong> alles, was <strong>Ingrid</strong> bisher bewohnt<br />
hatte, und sie liebte den Charme des Hauses gleichermassen<br />
wie seine geradezu exotische Anlage: das rote Ziegeldach, die<br />
hellen S<strong>tu</strong>ckwände, die Balkendecken, die gewölbten Säulengänge,<br />
den üppigen Bestand an Yucca, Kakteen, Zitronen-,<br />
Oliven- und Eucalyp<strong>tu</strong>s-Bäumen, den süssen Duft der nachts<br />
blühenden Yasmine - alles zur Zierde eines geräumigen Vierbettheims<br />
für <strong>Ingrid</strong> und eine Frau, die Selznick <strong>als</strong> ihre Kö-<br />
112
chin, Chauffeuse und persönliche Assistentin eingestellt hatte.<br />
Gemäss ihrem Vertrag mit Selznick International Pic<strong>tu</strong>res<br />
(der später zu ihren Gunsten geändert wurde) sollte <strong>Ingrid</strong><br />
während der Produktion von "Intermezzo" eine Wochengage<br />
von $ 2.500 erhalten. Selznick stipulierte Optionen, wonach sie<br />
darüber hinaus jährlich in zwei weiteren Filmen engagiert werden<br />
konnte, wofür ihr eine Gage von wöchentlich $ 2.812.50<br />
bezahlt würde, mit einer Garantie auf 16 Wochen für das zweite<br />
Jahr. Jährliche Anpassungen würden dieses Gehalt bis zum<br />
6.Jahr auf wöchentlich $ 5.000 erhöhen. Mit einem 16wöchigen<br />
Arbeitsplan würde <strong>Ingrid</strong> bis 1946 ein garantiertes<br />
Jahreseinkommen von $ 80.000 beziehen - immer vorausgesetzt,<br />
sie wäre mit den Ergebnissen von "Intermezzo" zufrieden.<br />
Schliesslich erhielt <strong>Ingrid</strong> zwischen 1939 und 1946 von<br />
Selznick ein Bruttoeinkommen von über $ 750.000, was sie<br />
(neben Irene Dunne) zu einer der höchstbezahlten Frauen in<br />
Hollywood machte, aber nicht zu einer der reichsten im Lande.<br />
Obschon sie eine registrierte "niedergelassene Ausländerin"<br />
war, hatte sie dieses Einkommen zu versteuern. Zu jener Zeit<br />
besteuerte die amerikanische Regierung ihr Einkommen zu 90<br />
% womit sich ihr jährlicher Nettolohn um die $ 20.000 herum<br />
bewegte.<br />
WÄHREND DREI TAGEN ANFANGS MAI wurde <strong>Ingrid</strong> für<br />
ein paar Testaufnahmen benötigt, da Kameramann Harry<br />
Stradling und Regisseur William Wyler, der für "Intermezzo"<br />
bei Samuel Goldwyn ausgeliehen wurde, Haar, leichtes Makeup<br />
und Farben bestimmen mussten. Am Mittwoch, 24. Mai begann<br />
Wyler mit den Pr<strong>ob</strong>en, und bis Samstag entwickelten sich die<br />
Dinge ganz nach Wunsch. Aber am darauffolgenden Montag<br />
(Memorial Day) schrieb Wyler, der <strong>als</strong> detailbesessener Pedant<br />
für viele Wiederholungen jeder Szene bekannt war, Selznick,<br />
dass er sich aus diesem Film zurückziehe. Die Anforderung,<br />
"Intermezzo" in sechs Wochen fertigzustellen, sei unannehmbar<br />
– was mehr eine Ausrede <strong>als</strong> eine Begründung war. Tatsa-<br />
113
che aber war, dass "Intermezzo" <strong>als</strong> Stück überhaupt nicht<br />
nach Wylers Geschmack war.<br />
Selznick nahm die Nachricht gelassen. Das Budget für<br />
"Vom Winde verweht" hatte schon die unvorstellbare Höhe<br />
von $ 4 Mio. erreicht, und umsomehr <strong>als</strong> Selznick beabsichtigte,<br />
"Intermezzo" wirtschaftlich zu produzieren, projizierte Wylers<br />
Ruf für Wiederholungen Horror-Szenarien in Selznicks<br />
hochsensibles Vorstellungsvermögen. Dass Wylers "Jezebel"<br />
Bette Davis eben ihren zweiten Oscar eingebracht hatte, oder<br />
dass sein "Wuthering Heights" einer der grossen Erfolge des<br />
Jahres war, kümmerte ihn nicht. Eigentlich war Selznicks ursprüngliche<br />
Wahl für die Regie von "Intermezzo" auf Gregory<br />
Ratoff gefallen, einen russischen Immigranten, Schauspieler,<br />
Regisseur und ehemaligen Spielkumpanen, der Selznick aus<br />
früheren Pokerspielen noch eine stattliche Summe Geldes<br />
schuldete. So schaffte er es am Donnerstag, 1. Juni, Ratoff bei<br />
Darryl Zanuck von Twentieth Cen<strong>tu</strong>ry-Fox, wo er unter Vertrag<br />
stand, auszuleihen. In seinem breiten slawisch-jiddischen Akzent<br />
oft unverständliche Anweisungen bellend, entpuppte sich<br />
der neue Regisseur von "Intermezzo" für alle Beteiligten <strong>als</strong><br />
s<strong>tu</strong>rer Pauker – ausser für <strong>Ingrid</strong>, die er anbetete.<br />
Zuerst ärgerte sich <strong>Ingrid</strong> über den abrupten Transfer<br />
dieser wichtigen Aufgabe von einer Person auf die andere, aber<br />
dann begriff sie, dass es ja nicht allein Ratoffs Film war. Selznick,<br />
so begierig, Tempo und Wirtschaftlichkeit bei der Produktion<br />
durchzuhalten, wie auch den Erfolg der schwedischen "Intermezzo"-Version<br />
zu wiederholen, hatte jede Szene der ersten<br />
Version im Kopf. So schaffte er es zum Erstaunen und Missvergnügen<br />
buchstäblich aller Beteiligten, von der Überwachung<br />
von "Vom Winde verweht" zur Kontrolle jeder einzelnen Aufnahme<br />
von "Intermezzo" hin und her zu hetzen. Ratoff hatte<br />
daher meist den Anschein, Selznicks Helfer zu sein (was auch<br />
er selbst so sah). "Er war temperamentvoll, aber er war auch<br />
ein lieber, süsser Mann", sagte <strong>Ingrid</strong>, "sein Akzent war sehr<br />
lustig anzuhören. Oft kam er auf mich zu und sagte: 'You don't<br />
read ze line right. Lizzen to me and do eet zees way!' Dann<br />
kam Ruth daher und sagte: 'Um's Himmels Willen, hör' nicht<br />
114
auf ihn, hör' auf mich!'" Verständlicherweise führte dies für<br />
<strong>Ingrid</strong> gelegentlich zu Verwirrung, denn sie fürchtete bald, mit<br />
allem, was sie sagte, nicht verstanden zu werden. "Kein Grund<br />
zur Aufregung", meinte Selznick, unsaubere Stellen könnten<br />
später leicht nachgedoppelt werden.<br />
Während <strong>Ingrid</strong>s Aussprache korrigiert werden konnte,<br />
war das bei ihrer Erscheinung, wenn einmal fotografiert, nicht<br />
möglich. Vier Tage nachdem Ratoff mit den Aufnahmen begann,<br />
hatte Selznick plötzlich den Einruck, dass Stradling (der<br />
schon in Hollywood, England und Frankreich gearbeitet hatte)<br />
nicht die Fachkompetenz hatte, <strong>Bergman</strong>s amerikanisches Debüt<br />
zu fotografieren.<br />
"Bei der Produktion dieses Films gibt es nichts, was<br />
physisch wichtiger wäre, <strong>als</strong> die Fotographie von Miss<br />
<strong>Bergman</strong>. Wenn wir es nicht schaffen, dass sie göttlich<br />
aussieht, kann der ganze Film durchfallen. Es scheint,<br />
wir haben noch nicht erfasst, aus welchen Winkeln und<br />
in welcher Belich<strong>tu</strong>ng sie optimal aufzunehmen. Der<br />
wissbegierige Charme, den sie in der schwedischen<br />
"Intermezzo"-Version hatte, die Kombination von erregender<br />
Schönheit und frischer Reinheit – das alles einzufangen,<br />
sollte im Rahmen unserer Möglichkeiten liegen.<br />
Es wäre schockierend, wenn irgendein Kameramann<br />
in einem kleinen Stockholmer S<strong>tu</strong>dio fähig wäre,<br />
so viel besser mit ihr umzugehen, <strong>als</strong> wir das können."<br />
(Nach einer Durchsicht der noch erhaltenen Stradling-<br />
Szenen fällt es schwer, zu verstehen, was Selznick störte. Sein<br />
Auftrag an Stradling lautete: natürliche Ansichten. Und das<br />
war es, was Stradling lieferte.)<br />
Abgesehen von ihrer Grösse, deren Pr<strong>ob</strong>lematik durch<br />
entsprechende Aufnahmewinkel oder eine gute Positionierung<br />
kleinerer Partner leicht zu beheben war, bot <strong>Ingrid</strong> der Kamera<br />
keinerlei Schwierigkeiten. Und das Gerücht, sie trage in "Intermezzo"<br />
kein Makeup, wurde von Selznick mit Hingabe verbreitet,<br />
unterstützte es doch seine Werbekampagne über die<br />
Ankunft eines schwedischen Milchmädchens, das so hübsch<br />
115
ist, dass es keinerlei kosmetische Nachhilfe brauche. Tatsache<br />
ist, dass sie sehr hellhäutig war und die hellen Lichter ihre<br />
Haut rötlich erglänzen liessen, was mit dem passenden Puder<br />
etwas abgedämpft werden musste.<br />
Was nun Stradling anbetraf, war Selznick verzweifelt: er<br />
sah, was er in dieser zweiten Dreh-Woche sehen musste, nämlich<br />
eine Serie von visuellen Katastrophen, die den Film kaputt<br />
zu machen drohten. So war Stradling der Nächste, der aus der<br />
Produktion entlassen wurde; sein Ersatz war Gregg Toland (der<br />
für Wyler und Goldwyn "Wuthering Heights" fotografiert hatte)<br />
*) .<br />
Aber nun bekam es <strong>Ingrid</strong> mit der Angst zu <strong>tu</strong>n. "Sie<br />
hatte Tränen in den Augen", schrieb Selznick erstaunt in einer<br />
Notiz an William Herbert, seinen Werbedirektor. Sie fürchtete,<br />
das werde Stradlings Ansehen schädigen, und alles in allem sei<br />
er doch ein sehr guter Kameramann gewesen und es spiele<br />
doch keine Rolle, <strong>ob</strong> er sie jetzt etwas weniger gut fotografierte<br />
– sie würde das lieber in Kauf nehmen, <strong>als</strong> ihn zu verletzen.<br />
Selznick <strong>als</strong> Mann, der (speziell von Schauspielern)<br />
nicht leicht zu beeindrucken war, musste erfahren – wie er<br />
Herbert gegenüber sagte, dass <strong>Ingrid</strong> die verantwor<strong>tu</strong>ngsbewussteste<br />
Schauspielerin war, mit der er je gearbeitet hatte.<br />
Als Beweis dafür nannte er die Tatsache, dass sie ihr ganzes<br />
Leben den Anforderungen der Produktion unterordnete. "Sie<br />
verlässt das S<strong>tu</strong>dio zu keiner Zeit und verlangte noch keine<br />
einzige Minute vor 6 Uhr abends Feierabend . . .ganz im Gegenteil,<br />
sie ist unglücklich, wenn das Team nicht bis Mitternacht<br />
arbeiten will."<br />
Er wurde nicht müde, zu staunen. <strong>Ingrid</strong> war auch in<br />
Sorge über die Ausgaben für ihre Kleider in diesem Film. Wurde<br />
ein Kleid ausgeschieden, weil es ihr nicht stand, erkundigte<br />
sie sich bei der Garder<strong>ob</strong>e-Abteilung, <strong>ob</strong> es nicht mit einem<br />
*) Typisch für Selznick: er wechselte seine Auffassungen über Stradlings<br />
Talent von Tag zu Tag und beauftragte ihn dann (klugerweise) mit den<br />
anspruchsvolleren Aufnahmen für "Rebecca".<br />
116
Kragen, einer andern Farbe oder einem andern Schnitt zu retten<br />
wäre, womit man doch diese Geldverschwendung verhindern<br />
könnte. Ausserdem gefiel ihr ihr kleiner Umkleideraum<br />
(die grösseren wurden dem Starquartett aus "Vom Winde verweht"<br />
zugewiesen) so gut, dass sie Selznick vorschlug, die<br />
Miete für Camden Drive zu sparen und ihr zu erlauben, im S<strong>tu</strong>dio<br />
zu wohnen.<br />
"Das alles ist absolut unaffektiert", schrieb Selznick und<br />
auch darin sah er das Potenzial für einen positiven Werbeeffekt:<br />
"so dass ihr natürlicher Liebreiz, ihre Zurückhal<strong>tu</strong>ng und<br />
ihr Verantwor<strong>tu</strong>ngsbewusstsein zu einer Art Legende werden –<br />
speziell auch im Hinblick auf den zunehmenden Unsinn, den<br />
uns die Stars heute zumuten". <strong>Ingrid</strong> wollte eine erfolgreiche,<br />
seriöse Schauspielerin sein; das Drum und Dran des Star<strong>tu</strong>ms<br />
war nicht ihr höchstes Ziel. "Ich bin eine bodenständige Person",<br />
antwortete sie Jahre danach etwas müde auf die Frage,<br />
an welcher Stelle sie sich unter den Stars denn selbst sehe.<br />
"Ich stehe hier, wo ich bin. Ich mache meine Arbeit, das ist<br />
alles."<br />
Und so machte es auch Toland, der Selznick gab, was er<br />
verlangte: eine natürliche <strong>Bergman</strong>, dennoch mit allen verfügbaren<br />
Mitteln gerissen herausgeholt – Nuancen und Schatten,<br />
Umgebungs- und Schlaglichter, Winkel und Distanzen peinlich<br />
genau gemessen. In "Intermezzo" gibt es Momente von unglaublich<br />
realistischer Grösse – in der Boot-Szene zum Beispiel,<br />
wo ihr Haar im Wind flattert (eine Szene, die es in der<br />
schwedischen Originalversion nicht gibt). Aber das Natürlichste<br />
von allem war ihr Spiel.<br />
Der Film brachte hinsichtlich der romantischen Unbeholfenheiten<br />
des Origin<strong>als</strong> nicht viel Neues. Während die schwedischen<br />
Arrangements beibehalten (und manche längeren Szenen<br />
gleich von Molanders Version übernommen) wurden, entschlossen<br />
sich der anglophile Selznick und der Engländer Leslie<br />
Howard (Co-Produzent des Films) offenbar, den Film von britischem<br />
Geist zu erfüllen, mit britischen Teetassen, Manieren,<br />
Dekorationen und Akzenten. Wenig mehr <strong>als</strong> ein moralischer<br />
117
Glanz auf die erregende Geschichte eines Ehemanns und Vaters<br />
mittleren Alters, der eine Romanze mit einer wesentlich<br />
jüngeren Frau hat, litt "Intermezzo" unter den ständigen Einmischungen<br />
von Selznick, der nach <strong>Ingrid</strong> "dauernd neue Notizen<br />
runterschickte, denen wir nachzukommen hatten. 'Haben<br />
wir doch schon geschossen, um's Himmels Willen!' Er war unmöglich.<br />
Er konnte sich nicht entscheiden. Wir wiederholten<br />
und wiederholten meinen Auftritt, ich kann nicht sagen wie oft,<br />
ich tat es und tat es nochm<strong>als</strong>. Sein Argument: er wolle meine<br />
Ankunft im amerikanischen Film zu einem Schock machen."<br />
Ausserdem – <strong>als</strong> hätte er sich geschworen, das visuelle<br />
Gegenstück zum Adverb zu erfinden – wollte Selznick ein<br />
Übermass an Szenen mit der entsetzlich entzückenden Tochter<br />
des morbid verinnerlichten Violinisten (Leslie Howard) und dem<br />
schrecklich lebhaften Hund (kleine Mädchen und Haustiere waren<br />
für das amerikanische Publikum immer unwiderstehlich).<br />
Auch erweiterte er die Rolle der schrecklich n<strong>ob</strong>eln und unendlich<br />
leidenden Ehefrau (Edna Best), und er gab seinem Autor,<br />
George O'Neil, ermüdende Ideen für Szenen mit vortrefflich<br />
ergebenen Freunden und Bediensteten. Der Film war – in andern<br />
Worten – eine Sammlung von Saccharin-Clichés, erwähnenswert<br />
einzig wegen <strong>Ingrid</strong>, die ihn allein über das Mass der<br />
Niedlichkeit heraushebt.<br />
Eindrücklich in jeder Sequenz, kommunizierte sie die<br />
Gefühle einer jungverliebten Frau sowohl durch ihr Schweigen,<br />
wie auch durch ihre Sprache: ihre Gesten waren echt und unbefangen,<br />
ihre Reaktionen und ihr Timing waren Ausdruck einer<br />
authentischen Person – nicht das geschönte Konstrukt, das<br />
von einer weniger begabten Schauspielerin hätte produziert<br />
werden können. Noch besser <strong>als</strong> in der schwedischen Version<br />
schuf sie eine Anita Hoffmann, die von Moment zu Moment zu<br />
leben begann, eine junge Frau, deren Charakter erst sichtbar<br />
wird, wenn sie gefangen ist zwischen den Höhen des Entzückens<br />
und den Niederungen der Schuld. Dieser Version wurde<br />
zögernd etwas beigefügt, was von da an zu <strong>Ingrid</strong>s universeller<br />
Ausstrahlung wurde: Frauen im Publikum konnten sich mit<br />
ihrer Verletzlichkeit identifizieren, während sich die Männer in<br />
118
ihrem Sehnen bestätigt fühlen, ihre zögerliche Hal<strong>tu</strong>ng zu<br />
überwinden und Leidenschaft und Beruf frei auszuleben.<br />
WIE SIE DIE AMERIKANISCHE ART der Filmproduktion<br />
kennenlernte, erstaunte sie die Feststellung, dass es "so viel<br />
einfacher ist, hier Filme zu machen <strong>als</strong> in Europa ...Ein Set<br />
besteht aus mehr Leuten, es gibt mehr Kleider, mehr Ersatzkräfte<br />
– was wir alles in Schweden nicht hatten – mehr Kosmetikerinnen<br />
und Elektriker. Während du in einem schwedischen<br />
Set im Durchschnitt vielleicht zwölf Leute findest, sind es in<br />
einem amerikanischen leicht fünfzig. Der einzige andere Unterschied<br />
ist der, dass hier alles etwas glänzender ist und die Sets<br />
viel teurer sind." Sie erfasste sehr schnell alle aesthetischen<br />
und technischen Aspekte der Filmproduktion.<br />
"Intermezzo" war Ende Juli fertiggestellt, es brauchte<br />
noch ein paar Tage für die Nachbesserung schlechter Dialogstellen,<br />
und dann, am 3. August ordnete Selznick Farbfilm-Test<br />
mit <strong>Ingrid</strong> im "Vom Winde verweht"-Set in Rhett Butlers<br />
Schlafzimmer an. Selznick versprach ihr, dass wenn (er sagte<br />
nicht 'falls') sich der Erfolg für sie und "Intermezzo" einstelle,<br />
er ihr einen neuen Vertrag und eine Hauptrolle in einem Farbfilm<br />
anbieten werde. Sie erklärte ihm, dass ihr Traum die Rolle<br />
der Jeanne d'Arc sei, und er stimmte zu, dass dies ein perfektes<br />
Projekt für sie sei. Tags darauf, nach einer letzten Wiederholung<br />
ihres ersten Auftritts in "Intermezzo", bestieg <strong>Ingrid</strong><br />
nachmittags den Zug nach New York, wo sie unverzüglich nach<br />
Stockholm einschiffte.<br />
Sie musste Ende August zuhause sein, wie Petter beide,<br />
sie und Daniel O'Shea (Vizepräsident von Selznick International)<br />
informierte, wollte sie ihren Verpflich<strong>tu</strong>ngen zur Produktion<br />
eines weiteren deutschen Film nachkommen. Sie habe so<br />
manches Script von UFA zurückgewiesen, erinnerte Petter sie,<br />
dass es nun wirklich unklug wäre, das nochm<strong>als</strong> zu <strong>tu</strong>n;<br />
Lindströms Standpunkt, an Kay von <strong>Ingrid</strong> übermittelt, wurde<br />
in einem Memorandum vom 29. Juni an O'Shea festgehalten.<br />
Aber dann schrieb Petter so gewitzt wie ein Agent am 28. Juli<br />
119
an Kay Brown, "Ich habe UFA mitgeteilt, dass meine Frau von<br />
ihrem Vertrag zurücktritt (was sie nicht tat), aber ich habe<br />
nicht definiert, <strong>ob</strong> dies nur für einen oder beide Filme gilt, für<br />
die sie sich verpflichtet hatte". Mit diesem Brief erreichte Petter,<br />
dass Selznick darüber informiert war, dass <strong>Ingrid</strong> noch<br />
andere Karrieremöglichkeiten offenstanden, <strong>als</strong> Selznick und<br />
Hollywood. Mit andern Worten: er eröffnete eine vir<strong>tu</strong>elle Auktion<br />
für die Dienste seiner Frau.<br />
Ueberdies verhandelte Petter direkt mit Carl Fröhlich<br />
(<strong>Ingrid</strong>s Regisseur in "Die vier Gesellen"). In einem Brief vom<br />
19. Juli an Kay Brown von Stockholm aus schrieb Petter "Ich<br />
empfinde es <strong>als</strong> eine gewisse Sicherheit, dass der frühere Regisseur<br />
meiner Frau in Deutschland, Herr Fröhlich, in seiner<br />
Eigenschaft <strong>als</strong> Präsident der gesamten deutschen Interessen<br />
nun eine sehr einflussreiche Persönlichkeit im deutschen Film<br />
geworden ist....sie wird alles <strong>tu</strong>n, um das jetzt vorliegende<br />
Filmprojekt zu akzeptieren....und meine Frau sollte in Berlin<br />
sein" so bald wie möglich. Vier Tage später fügte er hinzu, er<br />
sei immer noch in Verhandlungen mit UFA und dass "meine<br />
Frau aufpassen sollte, die Geduld von UFA nicht zu überfordern".<br />
<strong>Ingrid</strong> überliess alle diese Dinge ihrem Mann. Einerseits<br />
verstand sie, dass sie mit Vorteil nicht persönlich in Verhandlungen<br />
involviert sein sollte; andererseits fragte sie sich, wer<br />
denn dafür vertrauenswürdiger sein konnte, <strong>als</strong> ihr eigener<br />
Mann, der bis jetzt ohnehin den zentralen Platz des Managers<br />
und Agenten eingenommen hatte. Kay sah noch einen andern<br />
wichtigen Punkt in Petters Vorgehen: "Ich nehme an, dass<br />
wenn Dr. Lindström sich so schnell aus dem deutschen Film<br />
zurückziehen konnte, UFA die Vertragsklauseln anwandte, die<br />
es Miss <strong>Bergman</strong> ermöglichten, den Grossteil ihres deutschen<br />
Geldes ausser Landes zu bringen" – so, wie auch Zarah Leander<br />
es geschafft hatte.<br />
"ICH HATTE EINE WUNDERVOLLE ZEIT in Hollywood",<br />
schrieb <strong>Ingrid</strong> an Ruth R<strong>ob</strong>erts, <strong>als</strong> der "Super Chief" am<br />
120
4. August von Los Angeles ostwärts nach New York ratterte.<br />
"So viele nette Leute. Wenn du zu den S<strong>tu</strong>dios zurückkehrst,<br />
überbring' ihnen bitte meine allerherzlichsten Grüsse."<br />
"Ich betete, dass ich gute Arbeit geleistet hatte und<br />
dass mich David zurückhaben wollte", sagte sie später. "Ich<br />
liebte die Erfahrung, in Hollywood zu arbeiten und ich liebte die<br />
Leute, mit denen ich arbeitete. Ich hoffte so sehr, zurückzukommen,<br />
doch ich hatte auch an mein Kind und Petters S<strong>tu</strong>dium<br />
zu denken. Es schien alles so kompliziert." Und das war es<br />
auch. Aber die Antwort auf ihr Gebet erreichte sie per Telegramm<br />
auf der "Queen Mary" unterwegs nach Schweden: "Liebe<br />
<strong>Ingrid</strong> – Du bist eine bezaubernde Person und du erwärmst<br />
unser aller Herzen. Ich wünsche dir eine wundervolle Zeit, aber<br />
komm' bald zurück. Dein Boss". Als Petter das Telegramm sah,<br />
feuerte er unverzüglich eine Antwort an Kay: er sei in Verhandlungen<br />
für einen englischen Film, teilt er ihr mit, damit<br />
Selznick dieses in was immer er <strong>Ingrid</strong> anbieten würde, berücksichtigen<br />
konnte.<br />
Petter erwartete <strong>Ingrid</strong> Samstag nachts, am 19. August<br />
in Cherbourg, von wo sie gleich nach Stockholm weiterfuhren,<br />
wo er ein altes, nicht modernisiertes aber sehr charmantes<br />
Haus, die Villa Sunnanlid im Djurgården-Park, gemietet hatte.<br />
Sie empfing einen Zei<strong>tu</strong>ngsreporter, dem sie erzählte, ja – sie<br />
sei spät für den Beginn des neuen Films bei UFA, wo sie in einem<br />
historischen Drama die Rolle der Charlotte Corday spielen<br />
würde – doch ihr Agent (...Petter, wer sonst?...) habe einen<br />
Aufschub für sie erwirkt, sodass sie im Okt<strong>ob</strong>er nach Berlin<br />
fahre. Inzwischen freute sie sich auf ein Familientreffen. Pia<br />
weinte in der ungewohnten Nähe ihrer Mutter; Petter war etwas<br />
herzlicher zu ihr, aber viel später wurde ihr klar, dass die<br />
viermonatige Trennung ernsthafte Differenzen in ihren Persönlichkeiten<br />
und anvisierten Perspektiven offenbarte. Später gab<br />
<strong>Ingrid</strong> zu, dass sich ihre Ehe von den Folgen dieser ersten<br />
Trennung "nie wieder richtig erholte". Mit der Distanz kam<br />
auch der erste Eindruck, dass ihr Geschmack und ihre Temperamente<br />
so verschieden seien, dass man sie buchstäblich <strong>als</strong><br />
inkompatible Partner bezeichnen musste. Denn jeder war ja<br />
121
einer schwierigen und aufreibenden Karriere verpflichtet, und<br />
während Petter vorgab, zu wissen, was für <strong>Ingrid</strong> das Richtige<br />
sei, hatte sie die unerschütterliche Erkenntnis, dass er sie bevormundete;<br />
andererseits hatte sie ihrerseits keinerlei Zugang<br />
zu seinem Lebensbereich (nicht einmal in der Konversation).<br />
Nahe am Zentrum des Pr<strong>ob</strong>lems lag <strong>Ingrid</strong>s Wunsch<br />
nach der Freiheit, dort zu arbeiten, wo sich die Gelegenheit<br />
dazu bot – ein Ansinnen, das mit den Erfordernissen von Ehe<br />
und Mutterschaft wie auch der Ethik im Umgang mit der verfügbaren<br />
Zeit kollidierte. In ihrem jungen Leben hatte sie eine<br />
Reihe von Erschütterungen erlebt: die Todesfälle in ihrer Familie,<br />
die vielen Umzüge von einem Heim zum andern, die Isolation,<br />
welche ambitiöse und fantasiebegabte Persönlichkeiten<br />
oft erleben - das alles hat die junge <strong>Ingrid</strong> in ihrem Innersten<br />
zu einem unabhängigen Wesen geformt. Aber gleichzeitig wurde<br />
sie durch ihre emotionalen Bedürfnisse dazu gedrängt, sich<br />
in die Abhängigkeit von einem Mann zu begeben. So lange sie<br />
Petter kannte, verliess sie sich auf seinen Rat.<br />
Natürlich wurde sie auch von Kay und Irene unterstützt<br />
bei ihrer beruflichen und gesellschaftlichen Einführung in Hollywood<br />
und selbstredend von David Selznick mit ihrer Anstellung.<br />
Aber nachdem nun "Intermezzo" auf gutem Wege war,<br />
fand sich <strong>Ingrid</strong> sehr auf sich selbst gestellt, und sie erfuhr aus<br />
ihren Kontakten mit allen vom Regisseur bis zum Tontechniker,<br />
von Ruth R<strong>ob</strong>erts bis zu ihrem Mädchen, dass sie die Klippen<br />
der gewöhnlichen Umgangssprache, sogar in Englisch, schadlos<br />
umschifft hatte. Sie hatte mit andern Worten begriffen,<br />
dass ihr Talent von den Leuten bewundert wurde und dass sie<br />
beträchtliche innere Reserven hatte, auf die sie sich bei ihrer<br />
eigenen Meinungsbildung und ihren künstlerischen Entscheidungen<br />
verlassen konnte, s<strong>ob</strong>ald es zur Auswahl und Interpretation<br />
von Rollen kommen würde.<br />
Drei Tage danach marschierten die deutschen Truppen<br />
in Polen ein, und nochm<strong>als</strong> zwei Tage danach erklärten England<br />
und Frankreich Deutschland den Krieg. Schweden blieb<br />
neutral, w<strong>ob</strong>ei niemand vorauszusagen wagte, für wie lange,<br />
122
und alles war sehr unsicher in den diplomatischen und wirtschaftlichen<br />
Beziehungen zu Deutschland. Kein vernünftiger<br />
Schwede wollte in einem kriegführenden Land arbeiten, womit<br />
auch UFA's Produktionsplan vorübergehend eingefroren wurde.<br />
"Mein deutscher Film gestrichen" kabelte <strong>Ingrid</strong> am 29. September<br />
an Selznick, ohne ein Wort über den Krieg zu verlieren.<br />
Aber sie war nicht ohne Perspektiven: ihr Mann und Helmer<br />
Enwall hatten ihr eine Rolle in einem in Vorberei<strong>tu</strong>ng befindlichen<br />
schwedischen Film beschafft. Dann, am 6. Okt<strong>ob</strong>er, hatte<br />
"Intermezzo" in Amerika Premiere, und Selznick übermittelte<br />
die Nachrichten, auf die sie alle so sehr gehofft hatten: Presse<br />
und Publikum hatten in <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> einen neuen Star gefunden.<br />
"Schwedens <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> ist eine derart liebliche<br />
Person und graziöse Schauspielerin", begann der Bericht in der<br />
New York Times, um weiter "ihre Frische, Einfachheit und natürliche<br />
Würde" zu l<strong>ob</strong>en.....ihr Spiel zeuge von einer überraschenden<br />
Reife und sei doch einmalig frei von stilistischen Macken<br />
(Manierismus, Posen, Intonationen), wie sie zum Inventar<br />
der reiferen Schauspielerinnen gehören.....da ist dieses Leuchten<br />
um Miss <strong>Bergman</strong>, dieser geistige Funke, der uns glauben<br />
lässt, dass Selznick eine neue Film-Diva entdeckt hat."<br />
Selznick fand kein Ende, ihr die Nachrichten in einem<br />
langen, oft unverständlichen, transatlantischen Telefongespräch<br />
vorzulesen (dam<strong>als</strong> eine sehr teure und wenig genutzte<br />
Kommunikationsmethode):<br />
"David O. Selznick war überaus klug, sich an die hübsche<br />
Hauptdarstellerin vom Original zu halten. Sie<br />
heisst <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> und ist die Hauptattraktion des<br />
Films. Sie verfügt über natürliche Selbstsicherheit und<br />
Würde, wie auch über ein faszinierendes Talent....Kaum<br />
geschminkt, spielt sie mit beweglicher Intensität, sie<br />
gestaltet die Rolle so lebendig und glaubhaft, dass sie<br />
zum Kern der ganzen Geschichte wird......Meines Erachtens<br />
ist sie die begabteste und attraktivste Nachwuchs-<br />
123
124<br />
spielerin, die die S<strong>tu</strong>dios seit langem im Ausland rekrutieren<br />
konnten."<br />
"Gross, hübsch, leidenschaftlich und eine grossartige<br />
Schauspielerin, ist <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> eine Neuentdeckung<br />
für den amerikanischen Film, von der wir nur träumen<br />
können."<br />
"Sie ist hübsch, talentiert und überzeugend – eine<br />
warmherzige Persönlichkeit, eine glänzende Nova in<br />
Hollywoods Sternenhimmel."<br />
"Sie ist das Beste, das seit langer Zeit von irgendwoher<br />
den Weg nach Hollywood gefunden hat. Es ist extrem<br />
unfair, sie <strong>als</strong> eine zweite Garbo zu bezeichnen, nur weil<br />
auch sie von Schweden stammt. Sie hat eine seltene<br />
Kombination von Schönheit, Frische, Vitalität und Fähigkeit<br />
– so selten anzutreffen, wie eine Jahrhundertpflanze<br />
in der Blüte." *)<br />
Und so ging's weiter, Seite um Seite, ekstatische Berichte.<br />
"Ich hab's ja gesagt!" wiederholte Selznick noch und<br />
noch. Viele zusätzliche Kopien wurden an weitere Kinos verschickt<br />
und vor den Kassen bildeten sich lange Schlangen von<br />
Menschen, <strong>als</strong> das Publikum in Scharen ankam, um Selznicks<br />
neuen Star zu sehen. Vivien Leigh hatte an "Vom Winde verweht"<br />
länger und unter wesentlich schwierigeren Bedingungen<br />
gearbeitet, aber der Film war noch nicht in die Kinos gekommen.<br />
So war <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> bis dahin die heisseste Neuigkeit<br />
dieses Jahres in der Unterhal<strong>tu</strong>ngsbranche. **)<br />
*) Wenn ein Journalist Garbo um ihre Meinung über <strong>Bergman</strong> befragte,<br />
nachdem sie die amerikanische Version von "Intermezzo" gesehen hatte,<br />
sagte sie: "Ich bitte Sie!" Und zwar ohne das leiseste Lächeln.<br />
**) Leigh gewann den Oscar <strong>als</strong> beste Schauspielerin; weiter nominiert waren<br />
Bette Davies für „Dark Victory“, Irene Dunne für „Love Affair“, Greta Gar-<br />
bo für „Ninotchka“ und Greer Garson für „Goodbye Mr. Chips“.
"Ich heulte den ganzen Tag lang in Stockholm", erinnerte<br />
sie sich, "während der Aufnahmen hatte ich einige Abzüge<br />
gesehen. David und Gregory Ratoff und andere sagten, ich sei<br />
gut, aber ich glaubte ihnen nicht. Es war böse von mir, so zu<br />
denken, aber wenn ich hörte, dass das Publikum zufrieden<br />
war, dann – und nur dann – war ich überzeugt und befriedigt."<br />
Am 9. Okt<strong>ob</strong>er, mit Petters Zustimmung, wie sie in einem Brief<br />
an Selznick schrieb, unterzeichnete <strong>Ingrid</strong> die Option für ein<br />
weiteres Jahr bei Selznick International mit Beginn im kommenden<br />
April. Sie bemerkte etwas zweifelhaft, dass sie an<br />
Selznick gebunden sei, <strong>ob</strong> er nun einen Film mit ihr produziere,<br />
sie an andere S<strong>tu</strong>dios ausleihe (er konnte sie zu jedem x-beliebigen<br />
Preis ausleihen, w<strong>ob</strong>ei sie stets nur die vertraglich<br />
vereinbarte Gage erhielt) oder sie arbeitslos auf ein neues<br />
Selznick-Projekt warten lassen.<br />
Über seine Gewinne durch ihre Ausleihungen sprach<br />
<strong>Ingrid</strong> Klartext: "Ich war nie unglücklich darüber, dass er mich<br />
zu derart hohen Preisen an andere S<strong>tu</strong>dios auslieh, ohne dass<br />
ich einen Cent davon gesehen hätte. Die Leute versuchten<br />
mich dagegen aufzustacheln, worauf ich nur antwortete, ich<br />
hätte einen Vertrag unterzeichnet, und wenn es ihm gelänge,<br />
zusätzliche $ 250'000 zu meinen $ 50'000 zu bekommen, dann<br />
störe mich das nicht – er sei eben clever und ich nicht!" Wenn<br />
sie aber etwas nicht ertrug, dann war es der Zustand der Arbeitslosigkeit.<br />
Für ihr Salär war sie verpflichtet, Selznick für jährlich<br />
zwei Filme zur Verfügung zu stehen, wenn er das wollte, aber<br />
sie war auch berechtigt, jährlich ein Bühnenstück aufzuführen<br />
– vorausgesetzt, es fand seine Zustimmung. Er war auch berechtigt,<br />
sie für Radio-Hörspiele zu verkaufen. Im Bewusstsein<br />
all' dieser Tatsachen plante <strong>Ingrid</strong>, nach Neujahr 1940 nach<br />
Hollywood zurückzukehren.<br />
Zuerst aber folgte die Produktion von "Juninatten" (Juninacht),<br />
deren Dreharbeiten in Stockholm am 18. Okt<strong>ob</strong>er<br />
begannen. Der lyrische Titel dieses Films war bewusst ironisch<br />
gewählt, denn der fertige Film (Regie von Per Lindberg nach<br />
125
einem Script von Ragnar Hylten-Cavallius) gilt heute noch <strong>als</strong><br />
eines der bittersten Filmdokumente über sexuelle Ausbeu<strong>tu</strong>ng<br />
und fehlgeleitete Leidenschaften. "Juninatten" erweiterte auch<br />
<strong>Ingrid</strong>s Repertoire an Charakteren: im Rückblick nach Jahren<br />
muss festgestellt werden, dass diese Leis<strong>tu</strong>ng ihren Platz ganz<br />
weit <strong>ob</strong>en in ihrem Leis<strong>tu</strong>ngsausweis hat.<br />
Sie wurde <strong>als</strong> Kerstin Nordback verpflichtet, eine freidenkende<br />
Frau in einer schwedischen Kleinstadt, liiert mit Nils,<br />
einem gr<strong>ob</strong>schlächtigen und gewaltbereiten Mann, der sie mit<br />
einem Schuss in die Herzgegend beinahe umgebracht hätte,<br />
<strong>als</strong> sie ihn verlassen wollte. Durch eine schwierige Herzoperation<br />
gerettet, erscheint sie im Gericht und plädiert für ihren Ex-<br />
Geliebten um Nachsicht, weil sie selbst die Verantwor<strong>tu</strong>ng für<br />
das Geschehene zu tragen habe: "Alles was ich wollte, war<br />
eine Affäre..." – ein mutiges und offenes Geständnis, das ihr<br />
nichts <strong>als</strong> öffentliche Schande einträgt. Sie ändert ihren Namen<br />
in Sara und zieht nach Stockholm, findet Arbeit in einer Apotheke<br />
und (mit einem Seitenblick auf "Die vier Gesellen") teilt<br />
in einer Pension ihre Unterkunft mit drei andern Frauen, die<br />
ebenfalls Männerpr<strong>ob</strong>leme haben.<br />
Hier nun beginnt der Sinn des Films klar zu werden,<br />
denn jede der drei Frauen ist ein Opfer von sexuellem Missbrauch<br />
durch ihren Freund. Selbst ein sanfter und menschlicher<br />
Arzt namens Stefan (Carl Ström) missbraucht seine Praxishilfe<br />
für die schnelle sexuelle Befriedigung, und wie er von<br />
Saras Geschichte erfährt, wird er vom Wunsch besessen, sie<br />
zu treffen und kennenzulernen. Später erleidet sie eine nahezu<br />
fatale Herzattacke durch den Schock, den sie erlebt, <strong>als</strong> Nils<br />
wieder auftaucht und sie wieder missbraucht. Stefan pflegt sie<br />
und bedrängt sie bald mit einer überstürzten Liebeserklärung,<br />
der sie auch erliegt. Das Finale, wie sie zu einem Landausflug<br />
durch frühsommerliche Blumenfelder wegfahren, lässt ahnen,<br />
dass Kerstin – wie sie ja hiess – nun doch die Möglichkeit zu<br />
echter Liebe im Leben gefunden habe. Aber die andern Frauen,<br />
deren Beziehungen zerstört waren, müssen den rechten Mann<br />
finden, wie Kerstin – so jedenfalls wünschten sie es sich alle in<br />
dieser legendären Juninacht.<br />
126
<strong>Ingrid</strong> machte aus Kerstin/Sara eine sympathische Persönlichkeit,<br />
deren Schädigung symptomatisch ist für die Härte<br />
der sexuellen Ausbeu<strong>tu</strong>ng. In dieser Beziehung ist "Juninatten"<br />
(der 1939 in Amerika nie hätte produziert werden können)<br />
erbarmungslos in seiner emotionalen Ehrlichkeit. Auf der Suche<br />
nach Liebe sieht Kerstin sofort – wie <strong>Ingrid</strong> es mit hochgezogener<br />
Augenbraue, einer leichten Grimasse oder einem kurzen<br />
Zögern zum Ausdruck bringt – die leichte Perfidie hinter<br />
den Liebesbeschwörungen.<br />
Eine einzige Sequenz gegen Ende des Films macht den<br />
ganzen destruktiven Egoismus hinter dieser brutalen sexuellen<br />
Gewalt der Männer dieser Geschichte sichtbar; hier verfällt<br />
sogar ein Gentleman und Arzt der verrückten Leidenschaft eines<br />
betrunkenen Triebtäters.<br />
Stefan (Ström): Ich habe so oft an dich gedacht.<br />
Kerstin (<strong>Bergman</strong>): Wirklich? Wir haben uns ja erst ken<br />
nengelernt.<br />
Stefan: Ich habe dich überall gesehen.<br />
Kerstin: Reine Phantasie und Wunschdenken –<br />
das ist alles.<br />
(Hier unterbricht sich <strong>Ingrid</strong> und dreht den Kopf leicht zur Seite,<br />
<strong>als</strong> wollte sie andeuten, dass auch Kerstin weiss, was solche<br />
Phantasien und Träume bedeuten können.)<br />
Stefan: Wenn man sich jemandem annähert,<br />
passiert etwas; die Persönlichkeiten<br />
verändern sich. – Schau nicht so<br />
skeptisch. Du bringst die Männer auf<br />
sonderbare und gefährliche Gedanken.<br />
Dein Herzchen – hütest du es auch gut?<br />
Kerstin: Ja, es ist mir zur Gewohnheit gewor<br />
den. Ich merke das selbst nicht mehr.<br />
Ich habe eine Narbe.<br />
(Ihre Stimme klingt weise und wehmütig: zwar erkennt sie die<br />
Ironie, dennoch kann sie sich nicht aus dieser Abhängigkeits-<br />
127
Si<strong>tu</strong>ation befreien.)<br />
Stefan: Ich möchte dich küssen.<br />
Kerstin: Nein – nicht heute.<br />
Stefan: Sag's - sag, dass du mich willst.<br />
Kerstin: Aber du weißt nichts von mir. Ich habe<br />
so alles durcheinandergebracht.<br />
Stefan: Wirklich? Du wühlst mich auf. Das ge-<br />
nügt mir.<br />
Carl Ström in der Rolle des wohlmeinenden aber verkommenen<br />
Doktors lieferte die überzeugende Verbindung von<br />
menschlicher Absicht und verspäteter pubertärer Verblendung.<br />
Aber <strong>Ingrid</strong> gab der komplexen Rolle der Kerstin einen tief tragischen<br />
Sinn, indem sie aus dem Cliché der Lebedame eine zu<br />
Unrecht in Verruf geratene Seele portraitierte, die von Schuldgefühlen<br />
gequält wird und auf Gedeih und Verderben der brutalen<br />
Presse und den pathetischen Verehrern ausgeliefert ist.<br />
Jahrzehnte später enthüllen die Gerichtsszene, die Sequenzen<br />
in der Apotheke, mit dem Doktor und das Finale, mit welch<br />
instinktiver Sicherheit sie im Alter von vierundzwanzig Jahren<br />
die vielen verschiedenen perversen Emotionen erkannte, die in<br />
der Welt der Erwachsenen <strong>als</strong> Gefühle (miss)verstanden werden.<br />
Regisseur Per Lindberg, der es ablehnte, seinen Star zu<br />
sehr einzuengen, überliess es <strong>Ingrid</strong> vertrauensvoll, den Kern<br />
dieser Persönlichkeit zu suchen und zu finden. Mögen er selbst<br />
und das Publikum vielleicht erstaunt darüber gewesen sein,<br />
dass Kerstin für sie heimatlos war, bis sie am Ende alles riskierte<br />
– und darin lag auch der tiefere Sinn von "Juninatten".<br />
DIE DREHARBEITEN WAREN AM 5. DEZEMBER abgeschlossen.<br />
Als Selznick <strong>Ingrid</strong> telegrafisch anfragte, wann sie<br />
wieder nach Hollywood zurückzukehren gedenke, war Petter<br />
mit der Antwort bei der Hand. Er hatte sich bei der schwedischen<br />
Armee ab Januar für ein paar Monate zu einem freiwilligen<br />
Dienst verpflichtet – und zwar vor allem <strong>als</strong> Dokumentarfilmer;<br />
er wollte die Produktion mehrerer Kurzfilme über die<br />
128
Fortschritte in der Dentalmedizin überwachen. Gleichzeitig teilten<br />
er und <strong>Ingrid</strong> die allgemeine Sorge um Schwedens strategische<br />
Lage und eine mögliche Verwicklung des Landes in die<br />
derzeitigen kriegerischen Ereignisse. Sie und Pia wären bestimmt<br />
sicherer in Amerika, und Petter könnte ihnen zu einem<br />
späteren Zeitpunkt nachfolgen.<br />
"Petter zurückzulassen, war keine einfache Entscheidung<br />
für mich", sagte <strong>Ingrid</strong> zu einer Freundin, aber "letzten<br />
Endes traf er die Entscheidung selbst, wie immer". Er begleitete<br />
seine Frau, Tochter und ein Kindermädchen nach Genua, wo<br />
er sie am 2. Januar 1940 an Bord des italienischen Linienschiffs<br />
"REX" – mit Ziel New York – brachte.<br />
Mit Leslie Howard in "Intermezzo"<br />
129
130<br />
1938 - „A Woman’s Face“
1939 - Hollywood, erste Hoffnungen auf Jeanne d’Arc<br />
131
132
1940<br />
"...Man hält sich gerne zurück, eine Schauspielerin bei ihrem<br />
ersten Auftritt zu sehr zu l<strong>ob</strong>en, aber die Zeit wird kommen,<br />
wo es uns schwerfallen wird, Miss <strong>Bergman</strong> noch genügend zu<br />
würdigen..."<br />
(Brooks Atkinson, New York Times, über <strong>Ingrid</strong>s Bühnendébut)<br />
WÄHREND INGRIDS LETZTEN WOCHEN IN SCHWEDEN<br />
versüsste ihr David O. Selznick die Aussichten auf ihre Arbeit<br />
in Hollywood durch sein Versprechen, ihren Traum zu erfüllen<br />
und einen Film über ihre geliebte Jeanne d'Arc zu produzieren.<br />
In der freudigen Erwar<strong>tu</strong>ng dieser Aussichten kam sie am 12.<br />
Januar in New York an – was von der New York Times am<br />
darauffolgenden Morgen mit einer kurzen Notiz und einigen<br />
bekannten Namen aus der Passagierliste der "Rex" vermerkt<br />
wurde. Aber Kay Brown stimmte auf Instruktion durch ihren<br />
Boss in das Schweigen um die Jungfrau von Orleans ein. Selznick<br />
wollte den Zeitplan für diesen Film zu gegebener Zeit persönlich<br />
bekanntgeben – was aber nie geschah. Nicht einmal<br />
von einem Ersatzprojekt für sie war je die Rede.<br />
"Obschon ich scheu war, brüllte ein Löwe in mir, der<br />
sich weder stillhalten noch schweigen wollte", sagte <strong>Ingrid</strong>.<br />
Während den ersten beiden Monaten des Jahres bedrängte sie<br />
Selznick unablässig, ihr Arbeit zu geben, was ihr wichtigstes<br />
Lebenselement war. Tatsächlich musste ihr Produzent schnell<br />
erkennen, dass sie weder stillzuhalten noch zu schweigen gedachte.<br />
"Ohne Arbeit zu sein, machte mich krank", erklärte sie<br />
später.<br />
133
Unbeschäftig zu sein, war unerträglich für <strong>Ingrid</strong>, deren<br />
Appetit auf Arbeit durch ihre Theaterbesuche in diesem Winter<br />
nur noch weiter angeheizt wurde. Wie so oft im kommenden<br />
Jahrzehnt, produzierte Untätigkeit in ihr eine Unruhe, die eine<br />
andere Art von Hunger generierte – den auf allerlei Leckereien<br />
und ganz speziell auf Ice Cream Sundaes. So holte sie sich in<br />
dieser Saison locker fünfzehn Pfunde, die sie durch Spaziergänge<br />
im Central Park oder Rudern auf dem See, durch Besuche<br />
des Flohmarkts in Harlem am Sonntag-Nachmittag und<br />
durch das Durchforsten der letzten Winkel der Weltausstellung<br />
loszuwerden versuchte. Auf ihren Ausgängen wurde sie dann<br />
und wann von Kinogängern, die "Intermezzo" gesehen hatten,<br />
erkannt, und <strong>ob</strong>schon sie willig Autogramme verteilte, konnten<br />
ihr Schmeicheleien nichts anhaben. Ein etwa elfjähriger Junge<br />
belästigte sie und Kay entlang zweier Blocks und stahl sich<br />
danach mit ihnen in ein Taxi, wo er ihr aufsässig weitere Autogramme<br />
abzupressen versuchte, bis ihn Kay entschlossen auf<br />
die Strasse stellte.<br />
"Oh, du hast ihn vielleicht verletzt", schrie <strong>Ingrid</strong> sie an,<br />
den Blick auf den (völlig unbeschadeten) Jungen gerichtet,<br />
während Kay den Fahrer bat, Gas zu geben.<br />
"Nichts da, verletzt", sagte Kay mit einem Zwinkern zu<br />
<strong>Ingrid</strong>, "ich hab' ihn umgebracht. Aber ohne Waffe, so ist es<br />
legal. Du wirst Amerika lieben – es ist ein grossartiges Land."<br />
BEUNRUHIGT DURCH INGRIDS SEHNEN NACH ARBEIT,<br />
bestürmte Kay Selznick vom Park Avenue Appartment aus, wo<br />
<strong>Ingrid</strong> mit Pia und dem Mädchen vorübergehend wohnte, mit<br />
Telegrammen und Anrufen. Schliesslich rief Selznick seinen<br />
neuen Star am 22. Januar nach Hollywood, wo sie sich einem<br />
Team für eine Radio-Ausstrahlung von "Intermezzo" anschliessen<br />
sollte. <strong>Ingrid</strong> liess Pia in Kays Obhut und bestieg<br />
den Zug, allerdings erst nachdem ein neues Mädchen zur<br />
Betreuung des Kindes gefunden war. Das schwedische Mädchen,<br />
das sie mitgebracht hatte, geriet in New York in schlechte<br />
Gesellschaft, nahm Drogen und fiel regelmässig in Absen-<br />
134
zen. <strong>Ingrid</strong> entliess sie und Kay engagierte einen r<strong>ob</strong>usten Ersatz,<br />
ebenfalls eine schwedische Immigrantin.<br />
In Kalifornien erklärte Selznick <strong>Ingrid</strong>, warum das<br />
Jeanne d'Arc-Projekt auf unbestimmte Zeit versch<strong>ob</strong>en werden<br />
musste. Vor 500 Jahren haben Frankreich und England beschlossen,<br />
die Jungfrau zu verraten, doch heute kämpfen sie<br />
gemeinsam gegen Deutschland. Der speziellen Logik jener Zeit<br />
entsprechend, musste somit in jedem Hollywood-Film im Hinblick<br />
auf die Europäischen Nationen strikte Neutralität bewahrt<br />
werden – sogar wenn sich die Geschichte vor 500 Jahren abspielte.<br />
Selznicks wahrer Grund dafür war allerdings nicht so<br />
diplomatisch, wie sie später erfuhr: seinen Anteil am Gewinn<br />
aus "Vom Winde verweht" musste er mit seinem Schwiegervater,<br />
Louis B. Mayer, bei MGM teilen (dem <strong>als</strong> Entgelt für die<br />
Ausleihung von Clark Gable das Vertriebsrecht und die Hälfte<br />
der Einnahmen am Film zustanden); ausserdem war "Rebecca"<br />
noch nicht in den Kinos. Ein Film über Jeanne d'Arc war ein<br />
weiteres kostspieliges Epos, weshalb Selznicks Finanzleute zur<br />
Vorsicht mahnten.<br />
Aber wenn nun schon keine Produktion über die Heilige<br />
Jungfrau von Orléans möglich war, orchestrierte Selznick fleissig<br />
seine Publizität für die Heilige <strong>Ingrid</strong> von Stockholm. Bosley<br />
Crowther, einem Filmkritiker der New York Times, wurde das<br />
einzige Manhattan-Interview des Monats gewährt, und am 21.<br />
Januar (dem Tag vor <strong>Ingrid</strong>s Abreise von New York nach Hollywood)<br />
brachte die Zei<strong>tu</strong>ng einen Artikel unter dem Titel "Die<br />
Dame aus Schweden".<br />
"Das Liebchen eines Wikingers", begann Crowther,<br />
"frisch geschrubbt mit elfenbeinener Seife, am ersten<br />
warmen Frühlingstag auf einer vom Meer umspülten<br />
Klippe Pfirsiche und Sahne aus einer Dresdener Porzellanschale<br />
essend – das gibt einen guten Eindruck von<br />
<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>"....Dieser Reporter setzte seinen Bericht<br />
fort mit Schilderungen wie 'dass ihm noch kein<br />
Star begegnet sei, der auch nur im Entferntesten mit<br />
135
136<br />
dem unglaublichen Neuankömmling aus Schweden zu<br />
vergleichen gewesen wäre'.<br />
Sie sei, wie er mit Posaunen und Fanfaren weiterfuhr,<br />
"ein skandinavisches Traummädchen...so schlicht und echt,.....<br />
wie von der nicht immer unfehlbaren Filmindustrie bisher noch<br />
niemand – die legendäre Garbo eingeschlossen – zu uns hergeholt<br />
wurde." Crowther schwelgte über ihre Unaffektiertheit<br />
und ihr kindlich-unschuldiges Lächeln, ihre gute Laune und<br />
Einfachheit, er bewunderte ihre Schönheit, die er genüsslich<br />
bis ins Detail beschrieb ("lichtbraunes Haar, hellblaue Augen,<br />
eine edle Erscheinung, die Gesundheit und Kraft ausstrahlt,<br />
eine athletische Figur"). Er berichtete weiter, dass sie viele<br />
verschiedene Rollen spielen wollte, "sogar komische und eine<br />
gefallene Frau".<br />
Während der kommenden zwei Jahre setzte Selznick<br />
seine Pressekampagne fort, die zusehends zu einem festen<br />
Bestandteil des amerikanischen Journalismus wurde, der die<br />
wachsende Liebesaffäre des Landes mit <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> sowohl<br />
reflektierte wie auch weiter entflammte. "Ein Mittagessen mit<br />
ihr", seufzte der Kommentator Thornton Delehanty in einem<br />
Anfall von schulbübischer Schwärmerei, "ist wie eine S<strong>tu</strong>nde<br />
oder so sich hinzusetzen, um mit einer charmanten und hochintelligenten<br />
Orchidee zu plaudern". Ein anderer Reporter fand,<br />
sie sei "so unverdorben wie frisch gefallener Schnee in Schweden".<br />
Orchideen, Schneefall, Pfirsiche und Sahne, Elfenbeinseife<br />
und Dresdener Porzellan: das war die Kraft von <strong>Ingrid</strong>s offensichtlichem<br />
Charme, der sogar abges<strong>tu</strong>mpfte New Yorker<br />
Autoren dazu verleitete, ihre Federn in Purpur zu tauchen und<br />
die unglaublichsten, anbetenden Metaphern zu kreieren und<br />
Gleichnisse zusammenzubasteln, die zum Schreien übertrieben.<br />
Sogar die nüchterneren und glaubwürdigen Berichte<br />
waren unisono positiv gestimmt. "Erstm<strong>als</strong> traf ich sie bei den<br />
Aufnahmen zu "Intermezzo" ', erinnerte sich der Autor und<br />
Universitäts-Professor Åke Sandler, Sohn des schwedischen<br />
Premierministers und dam<strong>als</strong> ebenfalls Immigrant. Er hatte
<strong>Ingrid</strong> mit Walter Danielson, dem schwedischen Vize-Konsul,<br />
im Selznick-S<strong>tu</strong>dio von Culver City besucht und einen reizenden<br />
Artikel über <strong>Ingrid</strong> in der Schwedisch-Amerikanischen<br />
Presse veröffentlicht. "Selten habe ich ein unschuldigeres Gesicht<br />
gesehen", gemäss Sandler. "Sie verströmte eine besondere<br />
Art von Reinheit und war unglaublich charmant und entgegenkommend.<br />
Ich verstand sehr wohl, dass Petter ihr verfallen<br />
war." So sehr sie sich darüber freuen mochte, so bereitete<br />
dieses Mass an Verehrung <strong>Ingrid</strong> auch einige Sorge: konnte<br />
sich dieses plötzliche und überschwängliche L<strong>ob</strong> nicht ebenso<br />
plötzlich durch die Laune eines Reporters oder ein unbedachtes<br />
Wort von ihr in der Öffentlichkeit ins Gegenteil verkehren?<br />
"Ja", sagte Selznick, "du musst dich einfach in Acht nehmen:<br />
Achte auf jeden Schritt, den du <strong>tu</strong>st, spiele nach den Regeln<br />
und <strong>tu</strong>', was ich dir sage." Sie versprach, es zu versuchen.<br />
ENDE JANUAR WAR INGRID ZURÜCK in New York bei<br />
Pia, dem Mädchen, Kay und Jim Barrett und Kays beiden kleinen<br />
Töchtern Kate und Laurinda, die eben ins Schulalter kamen<br />
und die noch nicht zweijährige Pia mit Freude in ihrer Mitte<br />
willkommen hiessen. Aber während die Kinder glücklich waren,<br />
fühlte sich die unbeschäftigte <strong>Ingrid</strong> mehr und mehr<br />
elend. Als Kay erfuhr, dass Vinton Freedley (der mehrere<br />
Gershwin-Music<strong>als</strong> produziert hatte) beabsichtigte, Ferenc Molnárs<br />
romantische Fantasie "Liliom" neu aufzuführen, packte<br />
sie die Gelegenheit beim Schopf, um <strong>Ingrid</strong>s nervöser Trägheit<br />
ein Ende zu bereiten.<br />
"Liliom" , dem Publikum besser bekannt durch die 1945<br />
durch Rogers and Hammerstein erfolgte Transformation in das<br />
Musical "Carousel", war die Geschichte eines faulen Marktschreiers,<br />
der für seine grossen Verführungskünste bekannt<br />
war. Liliom heiratet die sanfte Julie, die er liebt, aber oft vergewaltigt<br />
und misshandelt; <strong>als</strong> sie schwanger wird, versucht<br />
er, mit kriminellen Mitteln zu leichtem Geld zu kommen und<br />
lässt sich lieber umbringen <strong>als</strong> gefangen nehmen. Vor dem<br />
himmlischen Gericht bereut er seine Taten und erhält nach<br />
137
einer gewissen Zeit im Purgatorium die Gelegenheit, zur Erde<br />
zurückzukehren, um eine erlösende gute Tat zu vollbringen.<br />
Julie sei eine der sympathischsten Rollen in der modernen<br />
europäischen Litera<strong>tu</strong>r, erklärte Kay Selznick in einem ellenlangen<br />
Memorandum. Es würde ihm keinen Nachteil bringen,<br />
einen seiner neuen Stars während einer Pause in ihren<br />
Filmverpflich<strong>tu</strong>ngen an den Broadway auszuleihen, es würde<br />
<strong>Ingrid</strong> im Gegenteil sehr glücklich machen, wieder arbeiten zu<br />
können. Widerwillig erklärte sich Selznick damit einverstanden,<br />
<strong>als</strong> er erfuhr, dass das Stück eine limitierte Spielzeit von sechs<br />
Wochen haben und ihm der Handel auch einen kleinen Profit<br />
abwerfen würde. Sofort telefonierte Kay mit Freedly und Regisseur<br />
Benno Schneider und <strong>Ingrid</strong> verabredete sich für eine<br />
Pr<strong>ob</strong>elesung für die Rolle. Wegen ihres schwedischen Akzents<br />
wurde ein New Yorker Dialog-Coach engagiert, der ihr täglich<br />
während vier Arbeitss<strong>tu</strong>nden zur Verfügung stand. Das Stück<br />
handelte übrigens in Ungarn, sodass der Akzent keine grosse<br />
Bedeu<strong>tu</strong>ng hatte, solange sie ihren Text klar und verständlich<br />
herüberbrachte.<br />
Freedly war von Kays Vorschlag entzückt, und nach einer<br />
tief berührenden Anhörung wurde <strong>Ingrid</strong> verpflichtet. Zwei<br />
Wochen vor Beginn der Pr<strong>ob</strong>en empfand sie es nur <strong>als</strong> fair,<br />
Freedly daran zu erinnern, dass sie mit der Bühnenarbeit noch<br />
wenig Erfahrung hatte; ausserdem versprach sie, die Details<br />
des Bühnenbetriebs vor der Premiere im Griff zu haben.<br />
"Wovon reden Sie da überhaupt?", fragte Freedly, indem<br />
er Stücke von Ibsen, O'Neill und andern aufzählte, in welchen<br />
er glaubte, sie sei darin aufgetreten.<br />
138<br />
"Nein", erwiderte <strong>Ingrid</strong> ruhig, "das war Signe Hasso".<br />
Freedly wurde schlagartig bewusst, dass er hier einem<br />
Irr<strong>tu</strong>m aufgesessen war und wandte sich wütend an Kay. "Bitte,<br />
wie sollten wir wissen, wen Sie wollten?", konterte sie unbeeindruckt,<br />
"Signe ist momentan in Kalifornien, und Sie verlangten<br />
nach <strong>Ingrid</strong>." Kay lehnte für Freedlys Konfusion jede
Verantwor<strong>tu</strong>ng ab; jedenfalls war es zu diesem Zeitpunkt ohnehin<br />
zu spät für irgendeine Korrek<strong>tu</strong>r der Si<strong>tu</strong>ation.<br />
Der Autor war ebenso skeptisch über die Besetzung <strong>als</strong><br />
er die Hauptdarstellerin traf (deren grosse, ehrlich gesagt:<br />
plumpe Figur unter Röcken und Schürzen verborgen werden<br />
musste) und den Hauptdarsteller Burgess Meredith, der um<br />
vier Zoll kleiner war <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong>. "Warum spielen sie nicht Liliom?"<br />
fragte Molnár <strong>Ingrid</strong> sarkastisch, bevor er sich angewidert<br />
abwandte. Die meisten andern Neulinge, speziell wenn sie<br />
eine Hauptrolle in einer Fremdsprache spielen, wären wohl bis<br />
hin zur Resignation eingeschüchtert gewesen – nicht so <strong>Ingrid</strong>.<br />
Trotz ihren Bedenken zweifelte sie keinen Moment an ihren<br />
Fähigkeiten, und sie betrachtete Julie <strong>als</strong> die Rolle, die ihr die<br />
Zuneigung der New Yorker Theaterwelt eintragen und Selznicks<br />
offenbar schwindendes Interesse an ihr neu beleben<br />
würde.<br />
Produzent, Schauspieler, Regisseur und Mannschaft<br />
kämpften sich durch die Pr<strong>ob</strong>en bis zur Premiere, die am 25.<br />
März im Forty-Fourth Street Theatre über die Bühne ging, und<br />
keiner von ihnen hatte eine Ahnung davon, welchen Eindruck<br />
<strong>Ingrid</strong> auf das Publikum machen würde. In der ersten Vorstellung<br />
brachte sie das Publikum mit ihrem Monolog über dem<br />
toten Liliom zum Vers<strong>tu</strong>mmen, jedes Wort sass perfekt, jede<br />
Pause wirkte natürlich und war in eine Reihe von Zärtlichkeiten<br />
eingebettet.<br />
"Schlaf, Liliom, schlaf", sagte sie indem sie Merediths<br />
Kopf in ihren Händen wiegte. "Ich habe es dir nie gesagt –<br />
aber nun sag' ich es dir – du böser, jähzorniger, gr<strong>ob</strong>er, unglücklicher,<br />
boshafter, lieber Junge. Schlaf in Frieden, Liliom.<br />
Sie können meine Gefühle nicht verstehen – ich kann es ja<br />
nicht einmal dir erklären – nicht einmal dir – wie ich fühle. Du<br />
würdest mich nur auslachen. Aber du kannst mich nicht hören."<br />
Während sie diese Kombination von Julies Zärtlichkeit<br />
und Vorwurf herüberbrachte, wurde ihre Stimme im Kummer<br />
zusehends trockener, <strong>als</strong> wäre sie den Tränen nahe; dann, <strong>als</strong><br />
139
sie die Bibel öffnete, um daraus zu lesen, begann ihre Stimme<br />
zu zittern und ihr Ton wurde brüchig. Im Publikum flossen an<br />
diesem Abend viele Tränen, <strong>als</strong> sie Kapitel fünf aus dem Matthäus-Evangelium<br />
las, in welchem Jesus über Liebe und Vergebung<br />
für den Feind sprach.<br />
"Die Rolle von Julie", schrieb Brooks Atkinson in der Times<br />
, "macht uns mit einer jungen Schauspielerin von ausserordentlicher<br />
Begabung und Fähigkeit bekannt....Sie hat einen<br />
leichten Akzent. Sie ist auch eine makellose Schönheit punkto<br />
Figur und Auftreten, hat wache Augen, einen sinnlichen Mund,<br />
eine angenehme, modulierbare Stimme, die man hört. Und<br />
ausserdem scheint sie die vollständige Kontrolle über die Rolle<br />
zu haben, die sie spielt. Miss <strong>Bergman</strong> hält ihre Rolle lebendig<br />
und lässt sie immer wieder in voller Schönheit aufleuchten."<br />
Atkinson, der von talentierten Anfängern nicht leicht zu<br />
überzeugen war, fügte dem ein paar Tage später noch bei:<br />
"<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>, die erstm<strong>als</strong> auf der englischsprachigen<br />
Bühne steht, spielt mit unvergleichlicher Schönheit. Sie ist persönlich<br />
sehr hübsch und schenkt Julie eine wache, pulsierende geistige Anmut.<br />
Man hält sich gerne zurück, eine Schauspielerin bei ihrem ersten<br />
Auftritt zu sehr zu l<strong>ob</strong>en, aber die Zeit wird kommen, wo es uns<br />
schwerfallen wird, Miss <strong>Bergman</strong> noch genügend zu würdigen. Es ist<br />
etwas ganz Entzückendes an der Art, wie sie Julies Charakter zum<br />
Leuchten bringt.“<br />
Der Grundtenor des Kritiker-Beifalls wurde von Ernest<br />
Lehman auf den Punkt gebracht, einem Autor, der dam<strong>als</strong> für<br />
den Hollywood Reporter und das Magazin Dance über Dramen<br />
berichtete (und der im Laufe des folgenden Jahrzehnts zu einem<br />
von Hollywoods bedeutendsten Filmautoren wurde): "Miss<br />
<strong>Bergman</strong> erzielte einen grandiosen Triumph durch ihre anziehende<br />
Persönlichkeit, ihre frische Schönheit und ihre solide,<br />
glänzende Leis<strong>tu</strong>ng."<br />
WÄHREND DEM STURM AUF "LILIOM" in diesem Frühjahr<br />
schloss <strong>Ingrid</strong> Freundschaften mit Schauspielern und New<br />
Yorker Presseleuten, die sie mit ihrem Charme nach und nach<br />
140
in die huldvolle, blabbernde Unterwürfigkeit führte, und zwar<br />
mit dem einfachen Mittel, sie selbst zu sein und immer zu sagen,<br />
was sie dachte. 1940 erhielten die Journalisten in der Regel<br />
von den Künstleragenten und S<strong>tu</strong>dios vorbereitete Statements,<br />
und wenn die Stars sich öffentlich äusserten, geschah<br />
dies in vorsichtig gemessenen, überschwänglich höflichen<br />
Phrasen. In dieser Beziehung war <strong>Ingrid</strong> immer sie selbst.<br />
"Schreiben sie, dass ich New York liebe", sagte sie einem Reporter<br />
vom Journal-American. "Ich liebe die 'drugstores', und<br />
dann die Doppeldeckerbusse. Das alles gibt's in Stockholm<br />
nicht."<br />
So weit, so gut – doch sie fuhr fort: "Es gibt nur zwei<br />
unangenehme Dinge in New York. Die Untergrundbahn fährt zu<br />
schnell und sie schliessen die Türen, bevor man drin ist. Und<br />
die Luft ist schlecht. Sie ist so voll von Autoabgasen, sie<br />
stinkt!" Prominente sprachen dam<strong>als</strong> einfach nicht so offen. Sie<br />
waren die Gesandten des endlosen guten Willens und verbreiteten<br />
wo immer sie waren das Evangelium des frohen Perfektionismus',<br />
w<strong>ob</strong>ei das Auftreten anderer Meinungen um jeden<br />
Preis zu vermeiden war. Weit entfernt in Culver City erschütterte<br />
David Selznick den 'Journal-American' durch ein ellenlanges<br />
Memorandum, das er auf dessen Chefpublizisten abfeuerte,<br />
von dem er verlangte, dass er Miss <strong>Bergman</strong> zu mehr Diskretion<br />
in ihren Äusserungen zum Stadtleben veranlasse. Was<br />
wohl Selznick dazu sagen würde, fragte sie Kay <strong>als</strong> sie von<br />
dieser Notiz erfuhr, wenn er wüsste, dass <strong>Ingrid</strong> an einer Party<br />
bei Burgess Meredith eben Maxwell Anderson getroffen hat?<br />
<strong>Ingrid</strong> erzählte leidenschaftlich von Jeanne d'Arc, und Anderson,<br />
natürlich von ihr betört, versprach <strong>Ingrid</strong>, für sie ein Stück<br />
über die Heilige zu schreiben. Im Gegensatz zu Selznick hielt<br />
er Wort.<br />
KURZ VOR ENDE MAI waren die "Liliom" -Vorstellungen<br />
zu Ende, und Kay nahm ihr Sommerferiendomizil nahe am<br />
Strand von Amagansett, Long Island, in Betrieb, wo sie ihre<br />
beiden Mädchen, <strong>Ingrid</strong>, Pia und die Nanny unterbrachte. "Sie<br />
141
waren ein Teil unserer Familie, so erinnere ich mich an <strong>Ingrid</strong><br />
und Pia in meiner Kinderzeit", sagte Kays Tochter Laurinda<br />
Barrett. "Woran ich mich am besten erinnere: Ice Cream – sie<br />
waren alle verrückt nach Ice Cream."<br />
Die erweiterte Familie erhielt anfangs Juni einen weiteren<br />
Zuzug, <strong>als</strong> sich Petter für einen Ferienaufenthalt zu ihnen<br />
gesellte. <strong>Ingrid</strong> liess Pia und das Mädchen für ein paar Tage bei<br />
den Barrett-Töchtern, holte ihn am Flughafen ab und brachte<br />
ihn ins Hotelzimmer, das sie - hoch <strong>ob</strong>en - für ihn gebucht hatte<br />
und von dem man einen herrlichen Ausblick auf den Central<br />
Park genoss. "Sieh nur die prächtige Stadt", schwärmte <strong>Ingrid</strong><br />
ihrem Gatten vor und machte ihn auf den Baumbestand, die<br />
Pferdefuhrwerke und die weit unten flanierenden Menschen<br />
aufmerksam, "das ist die aufregendste Stadt der Welt". Aber<br />
Petter konnte nur den Staub und den Schmutz der Stadt sehen.<br />
Nachdem er die Schuhe ausgezogen hatte, reklamierte<br />
er: "Schau dir den Teppich an – wie schmutzig er ist, meine<br />
Socken werden dreckig." Eher nach seinem Gusto war Amagansett,<br />
wo er, wie Laurinda Barrett berichtete, alle seine akr<strong>ob</strong>atischen<br />
Kunststücke vollführen konnte. Auf den Händen<br />
schritt er im Rasen des Vorgartens die ganze Hausfront entlang<br />
und uns Kinder trug er auf dem Rücken umher. Ihre<br />
Schwester Kate erinnerte sich, dass Pia und die Mädchen in<br />
skandinavische Trachten gekleidet kleine schwedische Spielzeuge,<br />
die sie unter <strong>Ingrid</strong>s Anlei<strong>tu</strong>ng gebastelt hatten, an die<br />
Nachbarn verkauften.<br />
Nach drei Wochen in Amerika kehrte Petter nach<br />
Schweden zurück, um die definitive Umsiedlung der Familie<br />
nach Amerika vorzubereiten. Er wollte sie vom Konflikt in Europa<br />
möglichst weit entfernt halten und beabsichtigte, seinen<br />
medizinischen Doktortitel an einer renommierten amerikanischen<br />
Universität wie Harvard, Yale oder Columbia zu erwerben.<br />
Das kurze Zusammensein der Lindströms liess einmal<br />
mehr die Risse gleich unter dem Putz der Fassade erkennen.<br />
Mit ihren persönlichen Karrieren beschäftigt und im Tempera-<br />
142
ment weiter von einander entfernt, <strong>als</strong> je zuvor, begegneten<br />
sich Petter und <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> höfliche Freunde, deren einzige Gemeinsamkeit<br />
sich in der Freude an ihrer Tochter offenbarte.<br />
<strong>Ingrid</strong> liess sich ja nie über unerfreuliche Beziehungen aus und<br />
meinte nur, der Besuch sei "kein Erfolg" gewesen.<br />
Neben ihrer beruflichen Untätigkeit litt <strong>Ingrid</strong> diesen<br />
Sommer zusätzlich an einer inneren Einsamkeit. Ungeachtet<br />
ihrer grossartigen Fortschritte mit der amerikanischen Sprache,<br />
war <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> nach wie vor eine Aussenseiterin in<br />
einer Gesellschaft, die Ausländerinnen entweder <strong>als</strong> moralisch<br />
fragwürdige Exotinnen oder aber <strong>als</strong> potentielle Saboteure betrachtete.<br />
Das mag auch zum Teil erklären, warum <strong>Ingrid</strong> während<br />
ihrer New Yorker Zeit zwar viele berufliche Bewunderer<br />
hatte und <strong>als</strong> willkommene Ergänzung der Gästelisten an Parties<br />
gehandelt wurde, es ihr aber - <strong>ob</strong>schon sie sich darum<br />
bemühte - nicht gelang, in dieser Zeit eine andere lebenslange<br />
Freundschaft zu gewinnen, <strong>als</strong> die zu Kay.<br />
INGRID WURDE DIESEN SOMMER FÜNFUNDZWANZIG<br />
und hatte eine sprühende gesellschaftliche Anmut, einen hellen<br />
Sinn für Humor, einen guten Geschmack für Gin Tonics, guten<br />
Wein und Scotch Whisky entwickelt; ausserdem wurde ihr zunehmend<br />
die offene erotische Aura bewusst, die sie umgab.<br />
Aber all das erfüllte sie mit der Sorge, es könnte ihre Karriere<br />
ein für allemal ruinieren. Sich selbst und ihre Verpflich<strong>tu</strong>ngen<br />
immer unter Kontrolle haltend, hatte sie doch verstanden, dass<br />
in gewissen Si<strong>tu</strong>ationen diätetischer Ungehorsam etwas helfen<br />
konnte. "Ich nehme zu, weil ich mich bedaure", schrieb sie am<br />
2. September an Ruth R<strong>ob</strong>erts nach Kalifornien, "so muss ich<br />
ihr eben dann und wann etwas Ice Cream geben." Wie verschiedene<br />
andere Schauspielerinnen (u.a. Bette Davis, Marlene<br />
Dietrich, und Marilyn Monroe) referierte auch <strong>Ingrid</strong> über ihr<br />
berufliches Ich gerne in der dritten Person. "Ich betrachte mich<br />
immer von aussen her", sagte sie im darauffolgenden Jahr,<br />
"<strong>als</strong> würde ich eine Fremde be<strong>ob</strong>achten, für die ich verantwortlich<br />
bin; so kann ich auch selbstkritisch sein." Sie unterschied<br />
143
auch sehr zwischen der Privatperson und der öffentlichen Figur,<br />
die sie war, und in dieser Saison musste <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>,<br />
die arbeitslose Schauspielerin, ein bisschen verwöhnt werden.<br />
Weil sie in dieser Zeit wirklich von allen Seiten viele<br />
Freundlichkeiten und Gastfreundschaften genoss, begann auch<br />
unausweichlich die Gerüchteküche über ihr Liebesleben zu brodeln.<br />
Es hiess, ein schöne Frau, die den Gefahren des New<br />
Yorker Theaterlebens erfolgreich getrotzt habe, müsse bestimmt<br />
eine lange Telefonliste von Verehrern führen. Wenn das<br />
wirklich so war, haben sie und die andern dicht gehalten.<br />
WÄHREND DEN ERSTEN KÜHLEN HERBSTTAGEN 1940<br />
begann <strong>Ingrid</strong> das Leben in New York unerträglich zu empfinden.<br />
"Lieber Gott, wenn ich doch nur Jeanne d'Arc zum Leben<br />
erwecken könnte, anstatt nutzlos hier herumzuhängen und<br />
Glacé zu essen", klagte sie Ruth R<strong>ob</strong>erts. "Arbeit, bitte, Arbeit!..."<br />
Wenigstens hatte Selznick ihre Klage vernommen. Gregory<br />
Ratoff hatte von Columbia Pic<strong>tu</strong>res den Regieauftrag für<br />
den Film "Adam Had Four Sons" erhalten, die Filmversion von<br />
Charles Bonners Novelle "Legacy", über eine französische Gouvernante,<br />
die während mehr <strong>als</strong> zehn Jahren einen Witwer und<br />
seine vier Söhne betreut. Als Vater endlich zu seiner unterdrückten<br />
Liebe zu ihr steht, brechen Familienpr<strong>ob</strong>leme aus, die<br />
sich in einem Hollywood-Happy End glücklich auflösen. Ratoff<br />
bat Selznick, ihm <strong>Ingrid</strong> auszuleihen, und anfangs Okt<strong>ob</strong>er<br />
spurteten sie und Pia nach Kalifornien, allerdings ohne das<br />
Mädchen, das inzwischen beschloss, dass Amerika nichts für<br />
sie sei und (Krieg in Europa hin oder her) nach Schweden zurückkehrte.<br />
Selznicks Leute halfen <strong>Ingrid</strong>, eine einfache, helle und<br />
möblierte Wohnung mit zwei Schlafzimmern am Shirley Place<br />
zu finden, südlich vom Olympic Boulevard am westlichen Ende<br />
von Beverly Hills – eine angenehme Bleibe etwa in gleicher<br />
Distanz zu den S<strong>tu</strong>dios von Selznick, Metro und Columbia. Sie<br />
144
fanden auch eine Perle von Haushälterin-Köchin namens Mabel,<br />
die an Pias zweitem Geburtstag ihre Arbeit aufnahm und<br />
das Kind mit einem Geburtsgskuchen und zwei rosa Kerzen im<br />
S<strong>tu</strong>rm er<strong>ob</strong>ert hatte. Dann, ein paar Tage später, wurde <strong>Ingrid</strong><br />
für ihre Rolle in "Adam Had Four Sons" in Korsetts – frühes<br />
zwanzigstes Jahrhundert – geschnürt, in Kostüme der Zeit gesteckt<br />
und mit einer unangenehmen Perücke gekrönt.<br />
Obschon bekannt <strong>als</strong> Tummelfeld erfolgreicher Regisseure<br />
wie Frank Capra, genoss Columbia Pic<strong>tu</strong>res 1940 inoffiziell<br />
den Ruf eines Kategorie B-S<strong>tu</strong>dios, quasi ein etwas bescheidenerer<br />
Cousin zu Metro, Paramount, Warner Bros. und<br />
Fox. Aber <strong>Ingrid</strong> interessierte sich weniger für ihr Prestige <strong>als</strong><br />
für die Gelegenheit, wieder Arbeit zu haben. "Ich bin eine der<br />
wenigen Schauspielerinnen, die Filme wundervoll finden, ohne<br />
jeden Seitenblick auf's Geld", sagte sie, "eine gute Filmrolle ist<br />
so gut wie eine gute Bühnenrolle – das ist meine Meinung."<br />
Und mit dieser Einstellung machte sie ein Script voller Clichés<br />
zur glaubwürdigen Geschichte. "Sie überlebte 'Adam Had Four<br />
Sons' ", stellte Kay Brown trocken fest, "und wer immer einen<br />
Schmetter wie diesen unbeschadet übersteht, kann nur Erfolg<br />
haben."<br />
<strong>Ingrid</strong>s Spiel in diesem sentimentalen Film baute gerade<br />
auf diesen billigen Vorgängen ihre berufliche Stärke auf und<br />
liess die Intensität erkennen, mit der sie die Feinheiten des<br />
Filmschauspiels instinktiv beherrschte. In die Rolle der Emilie<br />
Gallatin, einer französische Gouvernante, die zur Erziehung der<br />
vier Söhne von Adam Stoddard (gespielt von Warner Baxter)<br />
nach dem Tod ihrer Mutter (Fay Wray) hergeholt wurde, brachte<br />
sie starke gallische Weisheit ein, die verhinderte, dass das<br />
Süsse in ihrer Rolle unerträglich wurde. Ihr leidende Erkenntnis<br />
von menschlicher Dummheit wiederspiegelndes Halblächeln,<br />
ihr wissender Blick auf menschliche Psychopr<strong>ob</strong>leme, ihre<br />
Standhaftigkeit gegenüber Regisseur Ratoff, die entsetzlich<br />
sentimentalen Szenen zu unterspielen: das waren die Qualitäten,<br />
die <strong>Ingrid</strong>s Portrait von Emilie Gallatin berührend machten,<br />
anstatt es in unerträglichen Schmalz ausufern zu lassen.<br />
145
Auf ihre persönliche Anregung hin und mit Ratoffs herzlicher<br />
Zustimmung vermenschlichte sie den frommen Charakter,<br />
wo immer es ging, indem sie Szenen hinzufügte, in welchen<br />
sie mit den Jungen Basketball spielte oder gymnastische<br />
Übungen machte. Das waren Lichtblicke in einem schwülstigen<br />
und traurigen Szenario, das, wie <strong>Ingrid</strong> sich erinnerte, "während<br />
der Aufnahmen von Minute zu Minute neu definiert wurde",<br />
und so war es für sie sowohl Herausforderung wie auch<br />
Gelegenheit, aus der Not eine Tugend zu machen. Fay Wray<br />
brachte die Nöte der Schauspieler und der Crew in diesem Film<br />
wie folgt auf den Punkt: "<strong>Ingrid</strong> hatte eine Qualität, die sich<br />
auf der physischen und geistigigen Ebene zugleich bewegte.<br />
Sie wirkte vollkommen real, überhaupt nicht, <strong>als</strong> würde sie<br />
spielen." Als der Film 1941 in die Kinos kam, war der allgemeine<br />
Konsens der Kritiker und des Publikums der, dass <strong>Ingrid</strong> ihr<br />
grosses Talent für einen unwürdigen Film einsetzte, dass sie<br />
"absolut glaubwürdig und gewinnend" war und dass etwas wie<br />
ihr grossartiges Schauspieltalent einen weit besseren Stoff<br />
verdiente, <strong>als</strong> "Adam Had Four Sons" .<br />
Der Durchbruch kam sicher nicht mit ihrem nächsten<br />
Film "Rage In Heaven" . in welchen sie im Spätherbst, einen<br />
Tag nach Ende der Produktion von "Adam.." hineingeriet.<br />
Christopher Isherwood und R<strong>ob</strong>ert Thoeren hatten ein humorloses,<br />
unwahrscheinliches Szenario entworfen, basierend auf<br />
einer Novelle von James Hilton, dessen frühere Werke den<br />
Grundstein zu den Hollywood-Hits "Lost Horizon" und "Good<br />
Bye Mr. Chips" gelegt hatten. Metro, an die Selznick <strong>Ingrid</strong><br />
ausgeliehen hatte, rechnete fälschlicherweise mit einem weiteren<br />
Erfolg – umsomehr <strong>als</strong> ihr Hauptdarsteller R<strong>ob</strong>ert Montgomery<br />
einer ihrer grossen Stars war; aber nachdem sie das<br />
Script gelesen hatte, hätte <strong>Ingrid</strong> ihre Begeisterung dämpfen<br />
können. Die Geschichte handelt von einem paranoiden Schizophrenen<br />
(Montgomery in einer Variation seine Rolle in "Night<br />
Must Fall"), der seine Frau (<strong>Ingrid</strong>) terrorisiert und die Loyalität<br />
eines alten Freundes (George Sanders) missbraucht. "Rage In<br />
Heaven" war fast komisch-unglaubwürdig.<br />
146
Mit dem enttäuschenden Script konnte <strong>Ingrid</strong> letztlich<br />
leben, denn einmal mehr fand sie die richtige dramatische<br />
Gangart, um aus einem Papier-Cliché eine unwiderstehliche<br />
Persönlichkeit zu formen. Ihr Portrait von Stella Bergen, der<br />
Gesellschafterin einer älteren Dame, die Herrin des Guts und<br />
Gattin des Verrückten wird (etwas finsterer in den Schattierungen<br />
<strong>als</strong> ihre vorhergehende Rolle in "Adam.." ) war bemerkenswert<br />
punkto Nüancierungen und feiner Balance zwischen<br />
Zutrauen und Terror.<br />
Nicht ertragen konnte <strong>Ingrid</strong> hingegen die bellende<br />
Gr<strong>ob</strong>heit von Regisseur W.S (Woody) Van Dyke, einem Zuchtmeister,<br />
der in Stiefeln und Breeches im Set herumstolzierte<br />
und seine Befehle herumbrüllte wie ein Drill Sergeant. Als Regisseur<br />
in 76 Filmen innerhalb von 20 Jahren war er zu jener<br />
Zeit sehr gefragt – allerdings nicht bei den Schauspielern, die<br />
ihm den Übernamen "One Shot Woody" gaben, weil er ihnen<br />
kaum je die Gelegenheit bot, eine Szene zu wiederholen. Er<br />
realisierte seine Filme unter dem Budget, wofür ihn Mogule wie<br />
Louis B. Mayer liebten – im Gegensatz zu seriösen Kollegen<br />
wie <strong>Ingrid</strong>. "Los vorwärts damit!" brüllte Van Dyke plötzlich,<br />
und "Bringt diesen Film endlich vom Boden!" im nächsten Moment.<br />
"Ich will die nächste Szene in fünf Minuten bereit haben!"<br />
Die Dreharbeiten zu "Rage In Heaven" waren für <strong>Ingrid</strong><br />
eine Nachtmär an Unzivilisiertheit und Unprofessionalismus.<br />
Diese Art konnte sie ebensowenig mehr geduldig über sich<br />
ergehen lassen, wie des Regisseurs leichtfertige Gleichgültigkeit<br />
für die feineren Nuancen der Gestal<strong>tu</strong>ng eines Charakters.<br />
Van Dyke war <strong>als</strong> Ersatz für einen langsameren Regisseur eingestellt<br />
worden und sah seine Aufgabe einfach in der Beschleunigung<br />
der Produktion – den albernen Film auf eine Art<br />
und Weise fertigzustellen, die Mayer gefiel. Zum Teufel mit den<br />
Schauspielern.<br />
Ihre einzige Zuflucht in diesem November war Selznick.<br />
Was konnte sie gegen einen Mann wie Van Dyke <strong>tu</strong>n? Ihre<br />
Leis<strong>tu</strong>ng interessierte ihn nicht, und sie fürchtete, das Endresultat<br />
werde ein Film sein, der weder ihr noch Selznick etwas<br />
nützte, der ja weitere Projekte für sie suchte. Er aber mochte<br />
147
nicht intervenieren, sondern streichelte ihre Hand und sandte<br />
sie zurück zu Metro mit dem Versprechen auf grosse Dinge, die<br />
da kommen sollten – nach "Rage In Heaven".<br />
Tags darauf bei Metro glich Van Dyke einem gereizten<br />
Boxkämpfer und begann sofort mit der gewohnten Methode,<br />
herumknurren und –stampfen, von einer Ecke in die andere<br />
schiessen um alle verbal einzuschüchtern. <strong>Ingrid</strong> hatte genug,<br />
und zum ersten Mal war klar, dass (wie unterordnend sie auch<br />
immer ihrem Ehemann gegenüber war) sie tatsächlich einen<br />
brüllenden Löwen in sich hatte, und mit dieser Kraft hatte sie<br />
ein beträchtliches Selbstvertrauen in ihrer Kunst entwickelt.<br />
"Warum bleiben Sie nicht bei der Armee, so wie Sie herumrennen<br />
und –brüllen?" schrie sie unbeherrscht, w<strong>ob</strong>ei sie<br />
ihre Stimme so erh<strong>ob</strong>, dass alle rundum schwiegen. "Sie haben<br />
keine Ahnung von den Gefühlen der Leute, ganz sicher keine<br />
Ahnung, wie eine Frau zu behandeln! Sie interessieren sich<br />
einzig und allein dafür, diesen Film zu Ende zu kriegen, völlig<br />
egal, was für ein Film es ist! Sie geben uns keine Möglichkeit,<br />
zu spielen." Niemand hätte je gewagt, den grossen Van Dyke<br />
so direkt anzuherrschen – dabei war <strong>Ingrid</strong> noch nicht fertig:<br />
"Warum ziehen Sie keine Roller Skates an, um schneller von<br />
einer Stelle zur andern zu kommen?"<br />
"Na gut", sagte Van Dyke, so, <strong>als</strong> würde sie jetzt entlassen.<br />
Das sei auch ihr recht, erwiderte sie und rauschte ab,<br />
um mit George Sanders zu reden, der diese Produktion ebenfalls<br />
hasste. Und dann, später am Tag, schlich sich Van Dyke<br />
zur Überraschung aller in <strong>Ingrid</strong>s Garder<strong>ob</strong>e, entschuldigte sich<br />
für sein Benehmen, sagte, sie leiste grossartige Arbeit und er<br />
werde sich um ein menschlicheres Benehmen bemühen. Dafür<br />
waren ihr alle an "Rage In Heaven" Beteiligten sehr dankbar.<br />
Van Dyke hatte aber nicht lange Zeit, sein Benehmen zu ändern:<br />
nach einigen weiteren belanglosen Filmen starb er 1943<br />
im Alter von 54 Jahren, die Erinnerung an "jene junge Schwedin"<br />
bis zuletzt noch vor Augen. Wie Selznick, hatte auch er<br />
seinen Meister gefunden.<br />
148
Zufälligerweise arbeitete jene junge Schwedin, die sich<br />
eben mit allem, was sie tat, zur Topschauspielerin entwickelte,<br />
in jenem Herbst im selben S<strong>tu</strong>dio wie die ältere Schwedin: die<br />
um zehn Jahre ältere Greta Garbo arbeitete dam<strong>als</strong> an "Two<br />
Faced Woman" (was übrigens ihr letzter Film werden sollte).<br />
<strong>Ingrid</strong> versuchte vergeblich, ein Treffen mit ihrer abgeh<strong>ob</strong>enen,<br />
asozialen Kollegin zu arrangieren, denn die gemeiname<br />
Herkunft und Sprache bedeuteten der Garbo nichts, die alle<br />
freundlichen Vorstösse <strong>Ingrid</strong>s zurückwies.<br />
"Kannst du dir das voirstellen?" fragte sie später, "sie<br />
war erst 35 Jahre alt und eine äusserst hübsche und talentierte<br />
Schauspielerin, und von da an arbeitete sie keinen einzigen<br />
Tag mehr. Kannst du dir all' diese Jahre vorstellen? Du stehst<br />
morgens auf und was <strong>tu</strong>st du den ganzen Tag lang? Wenn du<br />
Kinder und Grosskinder hast, ist das was anderes – aber so<br />
einsam zu sein!" Für sich selbst konnte sich <strong>Ingrid</strong> nicht vorstellen,<br />
nie mehr zu arbeiten – gute oder schlechte Scripts, auf<br />
Bühne oder Leinwand: "Es ist mir egal, welche Rollen ich spiele,<br />
gross oder klein. Solange eine Rolle Sinn macht und ein<br />
menschliches Wesen verkörpert, werde ich es versuchen."<br />
Ihre Direktheit und Offenheit, die ihr völlig fremde Berechnung<br />
und Künstlichkeit schaffe, wie Hollywood-Reporter<br />
schrieben, einen starken Kontrast zur sphinxartigen Zurückgezogenheit<br />
von Greta Garbo, die niemand sehen konnte, wie sie<br />
auf der Stossstange ihres Wagens auf und niedersprang, weil<br />
sich diese an einem andern Wagen verfangen hatte. "Tollstes<br />
Ding, was ich je sah", sagte der S<strong>tu</strong>dio-Polizist, der <strong>Ingrid</strong> zuhilfe<br />
eilte, "erster Filmstar, die ich sah, der es nichts ausmachte,<br />
schmutzige Hände zu kriegen oder die den Andern nicht<br />
anflucht, dessen parkierter Wagen ihr im Wege steht."<br />
Gerade rechtzeitig zu Weihnachten kam Petter in Amerika<br />
an, erschöpft von seiner Reise von Stockholm über Berlin,<br />
Lissabon und dann mit einem por<strong>tu</strong>giesischen Frachter nach<br />
New York, wo ihn <strong>Ingrid</strong> und Pia abholten. Er wollte alle Neuigkeiten<br />
über <strong>Ingrid</strong>s Arbeit hören, wie auch über die Förderung<br />
seiner eigenen Karriere in den USA, wozu er sich an einer me-<br />
149
dizinischen Schule immatrikulieren und für seinen amerikanischen<br />
Doktortitel arbeiten musste.<br />
Die Ferientage in New York erhielten ihren festlichen<br />
Glanz hauptsächlich von Kay Brown und ihrer Familie, die eine<br />
ganze Reihe von eleganten Parties gaben, deren Höhepunkt<br />
der Sylvesterabend bildete. Aber <strong>als</strong> Petter bei Kay Rat suchte<br />
wegen seiner Bewerbung bei einer medizinischen Schule, war<br />
<strong>Ingrid</strong> wieder zu Tode gelangweilt durch ihre Inaktivität. Von<br />
ihrer Suite im Carlyle Hotel aus schrieb <strong>Ingrid</strong> Selznick, ihre<br />
Arbeitslosigkeit treibe sie in einen Herzinfarkt. "Ich fühle mich<br />
wie ein Rennpferd", sagte sie zu einem Reporter, "ich kann Tag<br />
und Nacht arbeiten ohne ein Schlafbedürfnis zu verspüren. In<br />
Hollywood machen sie sich lustig über mich, weil ich regelmässig<br />
vor der Zeit im S<strong>tu</strong>dio stehe."<br />
Petter lotete inzwischen seine Optionen aus. Sein Erfolgszwang,<br />
dem ihren ebenbürtig, machte nur deutlich, was<br />
sie bald während <strong>Ingrid</strong>s Arbeitslosigkeit realisierten. Während<br />
den letzten zwei Jahren lebten die Lindströms meist voneinander<br />
getrennt. Das war eine kritische Periode in ihren Karrieren,<br />
und vielleicht war es von ihrer Ehe zuviel verlangt, beides zu<br />
ertragen: die lange Trennung und die Tatsache, dass sie beide<br />
emotionell und beruflich unabhängig geworden waren. Gleichgültig,<br />
wie sehr sie sich auch gegenseitig ermunterten oder<br />
gemeinsam an Pia erfreuten, <strong>Ingrid</strong> und Petter war klar geworden,<br />
dass nicht nur ihre verschiedenen Interessen sie trennten:<br />
sie vertraten auch praktisch zu allem verschiedene Auffassungen.<br />
Einerseits sagte <strong>Ingrid</strong>, was sie dachte, und ihre<br />
gedankenverlorene Art, dies zu <strong>tu</strong>n, ermöglichte ihr, zu praktisch<br />
allem erstaunlich offen Stellung zu nehmen. Durch ihre<br />
Amerikanisierung entwickelte sich <strong>Ingrid</strong> auch zu einer hochgradig<br />
kosmopoliten, selbstbewussten Frau von Welt; Petter<br />
bewahrte die Eigenheiten eines mittelklassigen Schweden,<br />
dessen Verhalten durch grösste Ernsthaftigkeit und seinen Verlass<br />
auf die kalte Intelligenz charakterisiert wird. Es wäre zu<br />
einfach, sie <strong>als</strong> kreative Künstlerin zu definieren und ihn <strong>als</strong><br />
einen verantwor<strong>tu</strong>ngsvollen Wissenschafter. Aber diese Defini-<br />
150
tionen, so unvollständig sie auch sein mögen, sagen etwas in<br />
die richtige Rich<strong>tu</strong>ng aus.<br />
Sehr nahe am Zentrum ihrer Verschiedenheiten lag Petters<br />
unglückseliger Glaube, dass die Gaben seiner Frau, wie<br />
immer sie zu gewichten waren, sie nicht mit viel Intelligenz,<br />
gesundem Menschenverstand oder der Fähigkeit verbanden,<br />
richtige Entscheidungen zu treffen. Seine verheerendste Fehlkalkulation<br />
war, dass diese anbe<strong>tu</strong>ngswürdige junge Frau nicht<br />
gerade viel Kopf auf ihren Schultern trug; er ging in andern<br />
Worten davon aus, dass ihr offensichtliches Bedürfnis, sich auf<br />
den Rat eines Mannes verlassen zu können, mädchenhafte<br />
Unreife und Unentschlossenheit signalisiere. Mit der Energie,<br />
die stets seine Handlungsweise für sie charakterisierte, verband<br />
er die Überwachung ihrer Karriere mit jener der seinen,<br />
was sie auch zuliess – und diese Tatsache, was keiner von ihnen<br />
vorhersehen konnte, war der fatale Fehler, der sie mit der<br />
Zeit voneinander trennte.<br />
Bei der Arbeit war <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> eine Frau, die eine<br />
Rolle, eine Produktion oder die Zusammenhänge zwischen einer<br />
Geschichte und ihrer künstlerischen Umsetzung erstaunlich<br />
korrekt beurteilen konnte. Ohne ins Analytische oder Intellek<strong>tu</strong>elle<br />
zu verfallen, verliess sie sich auf ihre leuchtende In<strong>tu</strong>ition,<br />
während sie zuhause leicht in die Unterwürfigkeit unter die<br />
Führung eines dominanten, willensstarken Ehemanns schlüpfte.<br />
Was sie nicht realisierte, war der Umstand, dass sie Petter<br />
Lindström nicht so dringend brauchte, wie er sie brauchte, ihn<br />
zu brauchen.<br />
151
152<br />
1941 - Ivy Petersen in „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“
1941<br />
„...Erstm<strong>als</strong> bin ich aus dem Käfig ausgebrochen, der mich<br />
umschliesst – habe ich eine Öffnung zur Welt hin gefunden.<br />
Ich bin Dinge angegangen, von welchen ich nur hoffe, dass<br />
sie real existieren, die ich aber noch nie anzugehen gewagt<br />
hätte...“<br />
(<strong>Ingrid</strong> über ihre Rolle <strong>als</strong> Ivy in „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“)<br />
AM 22. JANUAR KEHRTEN DIE LINDSTRÖMS von New<br />
York nach Beverly Hills zurück, und <strong>Ingrid</strong> durchkämmte die<br />
Presse nach Anzeigen über Broadway- und Hollywood-<br />
Castings. Unter den Beiträgen, die sie am meisten interessierten,<br />
war einer über Ernest Hemingways neueste Novelle "Wem<br />
die S<strong>tu</strong>nde schlägt", die sie in New York gelesen hatte. Paramount<br />
hatte sich die Filmrechte an dieser unwahrscheinlichen<br />
Liebesgeschichte aus dem spanischen Bürgerkrieg geschnappt,<br />
und es war in diesem Winter ein pausenloses Gesumme darüber,<br />
wer wohl Maria, das feurige spanische Mädchen neben<br />
Gary Cooper spielen würde. Dieser war schon in einem früheren<br />
Hemingway-Film zu sehen ("A Farewell To Arms", 1932)<br />
und war daher die Wahl des Autors für die Rolle des R<strong>ob</strong>ert<br />
Jordan, des lakonischen, idealistischen amerikanischen Helden.<br />
Bevor sie und Petter zu einem kurzen Skiurlaub wegfuhren,<br />
eilte <strong>Ingrid</strong> noch rasch ins Büro zu Selznick und bat darum, für<br />
die Rolle der Maria an Paramount ausgeliehen zu werden. Ja,<br />
sagte sie, um ihm gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen,<br />
sie wisse, dass sie weder spanisch aussehe noch so töne, aber<br />
<strong>ob</strong> man denn nicht durch das richtige Makeup, den richtigen<br />
Haarschnitt und die richtige Beleuch<strong>tu</strong>ng diese Details erledigen<br />
könne? Und wurde sie nicht mächtig gel<strong>ob</strong>t für ihre Auftrit-<br />
153
te <strong>als</strong> französische Gouvernante und deutscher Flüchtling? Es<br />
war nicht allein die Story, die <strong>Ingrid</strong> so packte – wie sie bekannte:<br />
sie wollte einen Film mit Gary Cooper drehen.<br />
Selznick hörte zu, ohne ein Wort darüber zu verlieren,<br />
dass er sie für diese Rolle bereits vorgesehen hatte; dass er<br />
seinen Bruder, den Agenten Myron Selznick, bereits beauftragt<br />
hatte, telefonisch bei Paramount etwas über die Casting-Liste<br />
in Erfahrung zu bringen; und dass er bereits so weit gegangen<br />
war, Hemingway persönlich über seine Meinung zu <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong><br />
Maria auszuhorchen. "Nun", sagte Selnick lakonisch, indem er<br />
nach einer Aufsteller-Pille und einem Becher Wasser griff, "wir<br />
werden sehen, oder?"<br />
Am 25. Januar fuhren <strong>Ingrid</strong> und Petter nach Norden für<br />
einen Skiurlaub am June Lake an der kalifornischen Grenze zu<br />
Nevada. Selznick – immer mit einem Hintergedanken an die<br />
Paramount-Leute – hatte der Idee einer Fotostory für LIFE<br />
MAGAZINE zugestimmt ("Inrid <strong>Bergman</strong> erholt sich kurz von<br />
Hollywood"), und während sich die Lindströms an den Schneehängen<br />
fröhlich und sich mit Schneebällen bewerfend den Kameras<br />
stellten, zog er buchstäblich rund um die Uhr die Fäden<br />
von seinem Büro aus. <strong>Ingrid</strong> ihrerseits hatte keine Ahnung davon,<br />
dass der LIFE-Artikel Teil von Selznicks strategischer<br />
Kampagne war. "Um dich bezüglich <strong>Ingrid</strong> und 'Wem die S<strong>tu</strong>nde<br />
schläg' auf dem Laufenden zu halten", schrieb er am 31.<br />
Januar an Kay Brown,<br />
154<br />
"nagelte ich Hemingway heute fest, und er bestätigte<br />
klar und offen, dass er sie gerne in der Rolle der Maria<br />
sehen würde. Er erklärte das heute auch der Presse.<br />
Aber er fügte auch bei, man sei bei Paramount der Ansicht,<br />
sie sei hölzern, untalentiert und noch ein paar andere<br />
Dinge. Unnötig zu sagen, dass ich auf all das eine<br />
Antwort hatte. Myron ist hart an der Arbeit.<br />
Ich betreibe gegenwärtig selbst eine Werbekampagne<br />
mit dem Ziel, Paramount so in die Ecke zu treiben, dass<br />
sie sie fast nehmen müssen. Du wirst diese Einschal<strong>tu</strong>ngen<br />
von Zeit zu Zeit zu sehen bekommen. Übrigens,
<strong>Ingrid</strong> war heute nicht erreichbar, sonst hätte ich sie<br />
mit Hemingway zusammengebracht. Wir suchen heute<br />
aber einen Flug für sie, damit sie Hemingway in San<br />
Franzisco noch treffen kann, bevor sie nach China abreist.<br />
Wenn sie ihm gefällt, bitte ich ihn, sich bei Paramount<br />
einzusetzen. Sollte sie die Rolle nicht bekommen,<br />
wäre es zumindest nicht, weil es keine systematische<br />
Kampagne für sie gegeben hätte!"<br />
Während er das schrieb, war <strong>Ingrid</strong> bereits auf dem<br />
Weg zu Hemingway. In der Nacht vom 30. zum 31. Januar<br />
fuhren sie und Petter von June Lake nach Reno, wo sie einen<br />
Morgenflug nach San Franzisko erwischten. Nachmittags begaben<br />
sie, Petter und ein LIFE-Fotograph sich zu Jack's Restaurant<br />
an der Sacramento Street, wo sie Ernest Hemingway und<br />
seine neue Frau, die Journalistin Martha Gellhorn, trafen. Über<br />
Salattellern und einigen Flaschen Weisswein diskutierten sie<br />
"Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt" , w<strong>ob</strong>ei Hemingway mit ausladenden<br />
Gesten und trunkener Tapferkeit über seine Charaktere und<br />
Themen referierte.<br />
Und dann, mit einer sonderbar heftigen Bewegung, griff<br />
er sich eine Handvoll von <strong>Ingrid</strong>s langen, hellbraunen Haaren:<br />
das alles müsste verschwinden, wenn sie Maria spielen wollte,<br />
die in der Geschichte <strong>als</strong> jungenhaft kurzgeschorene Blondine<br />
geschildert wird.<br />
Von diesem Element einer konfusen, unklaren Geschlechtlichkeit<br />
war Hemingway besessen. Viele seiner Hauptdarstellerinnen<br />
in Fiktion und realem Leben, von Lady Brett<br />
Ashley in "The Sun Also Rises" bis hin zu seinen eigenen Frauen,<br />
waren kurzgeschorene Androgene – woraus sich auch seine<br />
grosse Freundschaft z.B. zur bisexuellen Marlene Dietrich erklärt,<br />
die in seiner Gegenwart nur ihr Markenzeichen – eben<br />
Herrenanzüge - trug. Wie bei allen andern von Hemingways<br />
Lieblingsfrauen in Film und Leben, dachte er auch von <strong>Ingrid</strong>,<br />
sie wäre viel attraktiver <strong>als</strong> jungenhaftes Mädchen – das, im<br />
vorliegenden Fall, in Gary Cooper verknallt war.<br />
155
Der ausgedehnte Lunch ging seinem Ende zu, <strong>als</strong> die<br />
Kellner die Tische für das Abendessen vorzubereiten begannen.<br />
Beim Abschied drückte Hemingway <strong>Ingrid</strong> ein Exemplar seiner<br />
Novelle in die Hand, gewidmet mit den Worten: "Für <strong>Ingrid</strong><br />
<strong>Bergman</strong>, die Maria dieses Buchs". Aber all das einschliesslich<br />
Selznicks Publicity-Paukenschläge hinderten Paramount nicht<br />
an der Verkündung, dass die ersten Drehtests für Maria in<br />
zehn Tagen mit Betty Field erfolgen würden, die eben in John<br />
Steinbecks Film "Of Mice and Men" zu sehen war. Das S<strong>tu</strong>dio<br />
hatte keine Eile, eine komplette Besetzungsliste zu veröffentlichen:<br />
in Anlehnung an Selznicks Vorgehen 1938 während seiner<br />
Suche nach der perfekten Scarlett O'Hara, liess sich Paramount<br />
für die endgültige Wahl der Maria fröhlich Zeit, während<br />
Dudley Nichols sich abrackerte, eine filmgerechte Story aus<br />
Hemingways epischer Novelle herauszuhämmern. Und damit<br />
war <strong>Ingrid</strong> - nach einem allzu kurzen Höhenflug – einmal mehr<br />
nutzlos geworden.<br />
Sie solle sich nicht aufregen, meinte Selznick, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong><br />
nach Beverly Hills zurückkehrte. Er hatte bereits alles für ihre<br />
neuerliche Ausleihung an Metro arrangiert, diesmal für eine<br />
hübsche Rolle in einer Grossproduktion mit Victor Fleming, der<br />
in "Vom Winde verweht" und "Der Zauberer von Oz" Regie geführt<br />
hatte. <strong>Ingrid</strong>s Rolle war die der süssen, unschuldigen,<br />
loyalen und liebestollen Verl<strong>ob</strong>ten von Spencer Tracy in "Dr.<br />
Jekyll and Mr. Hyde". R<strong>ob</strong>ert Louis Stevensons berühmte Geschichte<br />
von der gespaltenen Persönlichkeit eines Mannes (die,<br />
wie später bekannt wurde, auf grauenvollen Erfahrungen des<br />
Autors im Zusammenhang mit dessen bewusstseinsveränderndem<br />
Drogenkonsum basierte) war seit ihrer Publikation 1885<br />
oft auf Bühne und Leinwand zu sehen. Unter den erfolgreichsten<br />
Darstellern der Hauptrolle waren Richard Mansfield, Daniel<br />
Bandman, John Barrymore und Frederic March. Durch seinen<br />
alten Kumpanen Victor Fleming (unter dessen Regie er schon<br />
in "Captains Courageous" und "Test Pilot" spielte) in diesen<br />
Film eingeschleust zu werden, betrachtete Tracy <strong>als</strong> eine willkommene<br />
Gelegenheit, denn er war <strong>als</strong> Schauspieler bestens<br />
bekannt für eher ruhigere und gefällige Rollen. Das Moment<br />
156
der Überraschung war das wichtigste Element, auf welches er<br />
in dieser Geschichte setzte.<br />
<strong>Ingrid</strong> übernahm die ihr zugedachte Aufgabe nicht<br />
kampflos, denn bei der Lektüre der Rolle von Beatrix Emery<br />
wurde sie mit jeder Seite von wachsender Langeweile und Verzweiflung<br />
gepackt. Einmal hatte die Rolle keine Tiefe. In Henry<br />
Jekyll verliebt und ahnungslos über die dunkeln Absichten hinter<br />
dessen Experimenten, verblasste die Verl<strong>ob</strong>te im Vergleich<br />
zu Ivy, dem Cockney-Flittchen, das den Doktor anmacht, ihm<br />
zum Opfer fällt und schliesslich von dessen zweitem Ego umgebracht<br />
wird.<br />
Die Charaktere, die <strong>Ingrid</strong> in ihrer bisherigen Karriere in<br />
Amerika gespielt hat, hatten nichts gemein mit den vielschichtigen<br />
Figuren, deren Darstellung sie in Schweden so genoss. In<br />
ihrer eigenen Sprache spielte sie komische, dramatische, tragische<br />
und romantische Rollen; im Vergleich dazu gewährte ihr<br />
Selznick wenig Spielraum. Obschon sie jede Rolle zu ihrer eigenen<br />
machte und den Kern eines jeden Charakters treffen<br />
konnte, war ihr amerikanisches Repertoire von lähmender Eintönigkeit.<br />
In "Intermezzo", "Adam Had Four Sons" und "Rage<br />
in Heaven" war sie eine bewunderungswürdige, selbstaufopfernde<br />
Gouvernante oder Kameradin. Jetzt sehnte sie<br />
sich danach, einmal jemand anderen zu portraitieren – und<br />
wäre es eine gefallene Frau, wie sie sich Bosley Crowther gegenüber<br />
äusserte<br />
Selznick und Fleming wischten diese Idee vom Tisch,<br />
der Produzent, weil er ihren Filmruf nicht auf's Spiel setzen<br />
wollte, und der Regisseur, weil er ihre Fähigkeit anzweifelte,<br />
eine Barmaid zu spielen, die einem bösen Ende entgegengeht.<br />
Übrigens, erzählten sie <strong>Ingrid</strong>, die Rolle, die sie so sehr begehrte,<br />
werde von Metros Pullover-Mädchen vom Dienst, Lana<br />
Turner, gespielt, die eben einundzwanzig geworden sei und<br />
nun <strong>als</strong> Sexy-Star aufgebaut werde.<br />
Aber <strong>Ingrid</strong> hielt Fleming weiterhin unter sanftem<br />
Druck, bis er sich schliesslich bereit erklärte, sie für Ivy zu testen.<br />
Am 20. Februar sah er sich genötigt, Selznick zu erklären,<br />
157
dass <strong>Ingrid</strong> ihn überrascht hätte. In nur einer Szene – <strong>als</strong> die<br />
dankbare Ivy aus einem Strassenüberfall grettet war, versucht<br />
sie Dr. Jekyll zu verführen, indem sie die Bluse wie für eine<br />
Untersuchung langsam auszieht – verströmte sie eine seltene<br />
Kombination von sexueller Raffinesse und pathetischer Unschuld.<br />
Wenn sie Lana Turner in die anspruchslosere Rolle stecken<br />
würden, rechnete Fleming Selznick und Louis B. Mayer<br />
vor, hätten Tracy und <strong>Bergman</strong> eine Chance auf verlockende<br />
neue Rollen.<br />
Das kam dabei heraus: Als die Dreharbeiten Ende Februar<br />
begannen, war <strong>Ingrid</strong> mit viktorianischen R<strong>ob</strong>en ausgestattet<br />
und der Autor John Lee Mahin hatte Ivy den Familiennamen<br />
Petersen gegeben, um ihren schwedisch gefärbten<br />
Cockney-Slang zu rechtfertigen. "<strong>Ingrid</strong> wird nicht nur den<br />
wichtigsten Faktor darstellen, um Hyde glaubhaft wirken zu<br />
lassen", sagte Spencer Tracy einmal während den Aufnahmen<br />
– um dann etwas gemässigter und leicht bedenklich anzufügen:"Nur<br />
mich wird in diesem Film niemand bemerken. Sie ist<br />
so überragend!"<br />
Und das war sie wirklich. <strong>Ingrid</strong> tritt erst zwanzig Minuten<br />
nach Filmbeginn mit einem Off-camera-Schrei in Erscheinung<br />
<strong>als</strong> Ivy von Jekyll in einer Londoner Allee vor dem Übergriff<br />
eines Passanten in Sicherheit gebracht wird. Eine verstauchte<br />
Fessel vortäuschend küsst sie den Doktor, w<strong>ob</strong>ei ihr<br />
vorsichtiges Lächeln einen Hauch sowohl von Unschuld, wie<br />
auch von Attraktion signalisiert. Er begleitet sie dann nachhause,<br />
wo sie ihr Verführungswerk fortsetzt indem sie ihre<br />
Strümpfe abstreift und Jacke und Bluse auszieht – <strong>als</strong> <strong>ob</strong> es<br />
ihre Hochzeitsnacht wäre. Tracys Jekyll ist fasziniert aber zurückhaltend;<br />
<strong>als</strong> Dank für seine Hilfe reicht sie ihm lediglich ihr<br />
Strumpfband hin und flüstert: "Das reicht bei weitem nicht, ich<br />
weiss." Und damit sind die Voraussetzungen für Ivy geschaffen,<br />
dass sie viel mehr bekommt, <strong>als</strong> worum sie feilschte.<br />
Mit Mahins messerscharf gezeichnetem Script und<br />
Flemings akribisch getreuer Regie wurde Stevensons Geschichte<br />
einer geistigen Verwandlung im Rahmen von sexueller Be-<br />
158
drohung auf einmalig eindringliche Art umgesetzt. Jekylls erste<br />
Verwandlung in Hyde spielt sich in einer halluzinatorischen<br />
Episode ab, in welcher Tracy zu sehen ist, wie er ein weisses<br />
und ein schwarzes Pferd so lange auspeitscht, bis diese sich<br />
plötzlich in diskret nackte Bilder von <strong>Bergman</strong> (anstelle des<br />
schwarzen Pferds) und Turner (anstelle des weissen Pferds)<br />
verwandeln. Dann entkorkt Jekyll/Hyde langsam eine Flasche,<br />
w<strong>ob</strong>ei der Korken die Kopfform von <strong>Ingrid</strong> annimmt, die nun<br />
rücklings auf Wellen treibend zu sehen ist. "Dieser Einfall muss<br />
von Fleming sein", sagte <strong>Ingrid</strong> Jahre danach, weil sie des Regisseurs<br />
Schwäche für Freudsche Sexu<strong>als</strong>ymbolik kannte.<br />
Erstm<strong>als</strong> brachte <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> in einem amerikanischen<br />
Film eine freizügig fleischliche Na<strong>tu</strong>r zur Darstellung.<br />
Sehr zu Flemings Vergnügen wurde das Korken-Motiv<br />
von <strong>Ingrid</strong> selbst in die nachfolgende Episode eingebracht, <strong>als</strong><br />
Ivy im Palace of Frivolities an der Bar arbeitet, singt und flirtet.<br />
Fasziniert und verängstigt, angezogen und abgestossen von<br />
Tracy <strong>als</strong> Hyde, versucht sie standhaft und selbstsicher zu<br />
sein, bleibt dabei aber vorsichtig und nervös. Über ihre Worte<br />
stolpernd, ihren Blick abwendend und von der entsetzlichen<br />
Macht des Seinen wieder zurückgeholt, gewinnt <strong>Ingrid</strong>s Ivy<br />
eine Tiefe, die im Script nicht zu finden ist. "Ich begann das<br />
Mädchen zu lieben", sagte sie am Ende der Dreharbeiten, und<br />
dieses Mass an Identifikation ermöglichte es ihr, in dieser Rolle<br />
aufzugehen.<br />
Tracy/Hyde l<strong>ob</strong>te Ivy für ihren Gesang (<strong>Ingrid</strong> selbst<br />
zeichnete die kecken Verse von "You should see me dancing<br />
the Polka" auf) und Fleming ordnete eine Nahaufnahme seines<br />
lüsternen Blicks an. Und dann gab <strong>Ingrid</strong> ihrem Regisseur in<br />
einer bemerkenswerten Einstellung etwas Unerwartetes und<br />
Unheimliches: um Freude und Furcht über dieses Kompliment<br />
auszudrücken, blähte sie für einen Moment die Nüstern, während<br />
der Dialog seinen Fortgang nahm:<br />
Hyde: Und woher kommt dein lieblicher Gesang?<br />
Ivy (geschmeichelt aber verkrampft):<br />
Ich weiss nicht, mein Herr.<br />
159
(Sie stellt die Champagnerflasche ab und versucht, den Tisch<br />
rasch zu verlassen.)<br />
Hyde (<strong>als</strong> <strong>ob</strong> er sie mit seiner tiefen, bedrohlich und<br />
doch sinnlich klingenden Stimme hypnotisieren<br />
wollte): Ein halbes Pfund?<br />
Ivy (angeekelt mit leicht geschürzten Lippen, wäh<br />
rend ihre Brauen Teilnahmslosigkeit vortäuschen):<br />
Ja, Herr.<br />
(Sie versucht wegzugehen, doch er hält sie zurück.)<br />
Also, auf einen Schluck Champagner –<br />
aber ich kann natürlich nicht lange bleiben.<br />
Hyde (rückt näher ran): Wo hast du die hübsche<br />
Stimme her?<br />
Ivy (mit starrem Blick scheint sie ihn langsam <strong>als</strong><br />
den wohltätigen Dr. Jekyll zu erkennen):<br />
Oh - ich - weiss nicht...<br />
Hyde (fixiert ihren H<strong>als</strong>, Busen, Körper): Vielleicht ist<br />
es das hübsche Gefäss, aus dem sie kommt?<br />
(Wie der Alb in der Halluzination öffnet sie den<br />
Mund leicht und bläht die Nüstern wieder.)<br />
Von da an entwickelt sich die Tragödie schnell und<br />
qualvoll der Gefangennahme der armen Ivy durch Hyde zu, der<br />
sie nun in elegantem Konkubinat brutalisiert und nahezu bis<br />
zum Wahnsinn quält. Der Schrecken der sexuellen Versklavung,<br />
der wohl in keinem andern Film so eiskalt dargestellt<br />
wurde, beginnt in dem Moment, <strong>als</strong> er sie in einer Kutsche entführt.<br />
Hyde (schäumend): Du gehörst zu den Unsterblichen!<br />
Komm mit mir zum Olymp! Trinke Nektar mit<br />
den Göttern! Singe die alten Gesänge der Lust<br />
und beschäme Athene und Diana!<br />
160<br />
(Das arme Mädchen versteht seine klassischen<br />
Metaphern nicht und möchte an den Beschützer<br />
glauben – selbst noch <strong>als</strong> er sie mit seinen bruta-
len Annäherungen verängstigt.)<br />
Hyde: Hab' keine Angst vor mir, Ivy. Wenn ein Botani<br />
ker eine seltene Pflanze findet, schreit er seinen<br />
Triumph eben heraus, oder nicht?<br />
Ivy (nickt leicht, <strong>ob</strong>schon ihr Gesichtsausdruck ver<br />
rät, dass sie nichts von allem versteht): Sind Sie<br />
einer von denen?<br />
Hyde (beugt sich für einen Kuss nach vorn):<br />
Du magst doch einen Mann, der ein Mädchen<br />
sieht und seinen Entschluss gefasst hat, oder?<br />
(Der Hufschlag des Pferds wird eindringlicher<br />
und erinnert an die Nachtmär.)<br />
Ivy (zitternd, mit brechender Stimme und vor Angst<br />
schluchzend): Oh – ich weiss nicht wovon Sie<br />
reden!<br />
Hyde (verächtlich): Oh – sie weiss nicht, wovon ich<br />
rede!<br />
Hier beginnt der schreckliche, emotionale Kern dieses<br />
ausserordentlichen Films, wie die Szene zu der durch ihren<br />
mörderischen Mentor in klaustroph<strong>ob</strong>ischer Isolation gehaltenen<br />
Ivy schwenkt, die von einem Mann, den sie stets mit<br />
"Herr" anzusprechen hat, in die Unterwürfigkeit geprügelt wird<br />
und der sie brutal dazu zwingt, ihm jederzeit Passagen aus<br />
Paradise Lost vorzulesen. Das Versprechen auf einen erlösenden<br />
Abendausgang wird ihr nur gemacht, um es postwendend<br />
brutal zurückzunehmen. So ist <strong>Bergman</strong>s Ivy ein Portrait in<br />
elendem Terror, ein herzerweichendes Schicksal wird schmerzhaft<br />
erfassbar, weil ihr eigener Verführungsversuch an ihm<br />
leider so entsetzlich erfolgreich verlief. Ihr Leben wird zur stinkenden,<br />
finsteren Gefangenschaft, einem grotesken Leidenszyklus,<br />
selbst <strong>als</strong> sie sich verzweifelt nach menschlichem Kontakt<br />
sehnt.<br />
<strong>Ingrid</strong>s Reaktionen mit trockenem Mund und starr geweiteten<br />
Augen, typisch für eine Beute, die von ihrem Liebha-<br />
161
er-Peiniger konstant überrumpelt wird, entstanden spontan,<br />
und es gibt wohl keine erschütterndere Szene von Angst in<br />
irgend einem <strong>Bergman</strong>-Film, <strong>als</strong> die, in welcher Ivy von ihrem<br />
dämonischen Peiniger gezwungen wird, in Wiederholungen<br />
"You Should See Me Dancing The Polka" zu singen. Nichts<br />
mehr an ihr erinnert an die unbeschwerte Barmaid und ihren<br />
fröhlichen Gesang; sie versucht nun, widerwillig und mit vor<br />
Angst zitternder Stimme zu singen – und die Freude am Tanz<br />
ist ihr für immer abhanden gekommen. Von einem lasterhaften,<br />
allzu menschlichen Monstrum an die Wand genagelt,<br />
scheint sie dem Zusammenbruch nahe, <strong>als</strong> er unvermittelt zurückspringt<br />
und ihr Gesicht und ihren Körper lüstern mit verdorbenen<br />
Früchten zu bewerfen beginnt.<br />
Von da an führt die Handlung nun schnell und direkt<br />
zum Tod der jungen Frau. Dank <strong>Ingrid</strong>s Beschreibung von Ivys<br />
Innenleben und ihrem Überlebenswillen, übt die Wiedererkennungs-Szene<br />
mit Dr. Jekyll (bei dem sie eine kurze Konsultation<br />
erwirken kann) eine nahezu unerträgliche Wirkung der Verzweiflung<br />
auf den Betrachter aus. Ihre letzte Szene, in der sie<br />
die Identität von Dr. Jekyll mit Mr. Hyde unausweichlich erkennt,<br />
ist auch heute noch, mehr <strong>als</strong> ein halbes Jahrhundert<br />
danach, kaum ohne Entsetzen mitanzusehen. Im Bewusstsein,<br />
dass ihre eigene Reue, die Hoffnung auf Freiheit und einen<br />
Neubeginn sie nun umgebracht haben, wird <strong>Ingrid</strong>s Ivy zu einem<br />
fast übermenschlichen Gemisch von Sehnsucht und Verzweiflung.<br />
Fleming seinerseits war sprachlos vor Bewunderung,<br />
l<strong>ob</strong>te aber vor allem Tracy; zu niemandes Verwunderung stellte<br />
Selznick fest, er habe ja immer gesagt, dass der Film ein<br />
Triumph werde. Nur <strong>Ingrid</strong> beendete den Film mit einem charakteristisch<br />
bescheidenen Kommentar: "Ich bin etwas überrascht,<br />
wie gut er herausgekommen ist." Aber Tracy brachte es<br />
nahezu auf den Punkt: Das Publikum erstarrte in Schweigen<br />
angesichts der qualvollen Agonie, die sein unprätentiöser, erstaunlicher<br />
Co-Star meisterhaft auf die Leinwand brachte.<br />
162
"Ich hätte alles bezahlt für diesen Film" schrieb sie ausgangs<br />
dieses Winters in ihr Tagebuch:<br />
"Kann ich bei meiner Arbeit je glücklicher sein? Kann<br />
ich je eine bessere Rolle <strong>als</strong> die des kleinen Mädchens<br />
Ivy Petersen finden, einen besseren Regisseur <strong>als</strong> Victor<br />
Fleming, einen wundervolleren Partner <strong>als</strong> Spencer Tracy<br />
und einen besseren Kameramann <strong>als</strong> Joe<br />
Ruttenberg. Ich war noch nie glücklicher. In noch keiner<br />
Rolle habe ich mich so vollkommen ausgegeben. Erstm<strong>als</strong><br />
bin ich aus dem Käfig ausgebrochen, der mich<br />
umschliesst – habe ich eine Öffnung zur Welt hin gefunden.<br />
Ich bin Dinge angegangen, von welchen ich nur<br />
hoffe, dass sie real existieren, die ich aber noch nie anzugehen<br />
gewagt hätte. Dieser Film macht mich so<br />
glücklich. Als <strong>ob</strong> ich fliegen könnte. Ich kann fliegen,<br />
höher und höher, weil die Stäbe meines Käfigs zerbrochen<br />
sind."<br />
Und der wahre Grund für ihr Glück, ihre Höhenflüge, die<br />
Er<strong>ob</strong>erung neuer Höhen über ihrem bisherigen Käfig? Sehr<br />
einfach: sie war verliebt.<br />
Aber nicht so, wie die meisten Leute dachten. Vielleicht<br />
unausweichlich, begannen die Gerüchte während der Produktion,<br />
und <strong>als</strong> der Film im August in die Kinos kam, sah es in Hollywood<br />
für viele so aus, <strong>als</strong> sei Spencer Tracys Filmliebe zu<br />
<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> im Leben zur Realität geworden. Pech für die<br />
Gerüchteköche: keine mit dem Film im Entferntesten verbundene<br />
Person hätte, dam<strong>als</strong> oder wann immer, das haltlose Geschwätz<br />
bestätigen können. Im Gegenteil: Billy Grady, ein mit<br />
der Überwachung von "Dr. Jekyll und Mr. Hide" beauftragter<br />
Metro-Direktor, wusste, dass Tracy <strong>Bergman</strong> anbetete, "aber<br />
Spence war zu diskret und er wusste, dass dieses Mädchen<br />
nicht für ihn war. So entschied er sich für eine nette berufliche<br />
Beziehung." Jahre später spezifizierte Tracy: "Das Einzige, was<br />
<strong>Ingrid</strong> und ich noch taten, war in einem Drive In in Beverly<br />
Hills Hamburger essen." Soviel zur Illusion.<br />
163
In Tat und Wahrheit lag die Quelle von <strong>Ingrid</strong>s rauschendem<br />
Glück in einer (vorderhand) unerwiderten und unerfüllten<br />
Vernarrtheit: "Als der Film gemacht war, war ich über<br />
beide Ohren in Victor Fleming verliebt. Aber er war es nicht in<br />
mich. Ich war einfach Teil eines weiteren Films, den er produziert<br />
hatte." Dieses Jahr war <strong>Ingrid</strong> 25-jährig, ihr Traumliebhaber<br />
58 – wie in Edvin Adolphson und Petter Lindström sah sie<br />
in ihm ihren Vater, Mentor, Beschützer und Liebhaber. Während<br />
der Dreharbeiten zu "Dr. Jekyll und Mr. Hyde" begann er<br />
sie "Engel" zu nennen, was sie <strong>als</strong> Liebeserklärung verstand.<br />
Victor Fleming war ein draufgängerischer Rennwagen-<br />
Fan mit geringer Bildung, aber einer grenzenlosen Arroganz,<br />
einem kantig-hübschen Gesicht und dem Ruf eines Hollywood-<br />
Casanova. Wenn ihn nachts das Wimmern der Katze oder das<br />
Bellen des Hundes eines Nachbarn störte, dann griff er zur<br />
Flinte und machte dem Lärm mit einem sauberen Schuss ein<br />
Ende. Junggesellenhafter Unabhängigkeit verpflichtet und<br />
emotional unerreichbar – es sei denn von Saufkumpanen wie<br />
Clark Gable, Spencer Tracy und John Lee Mahin - brachte Fleming<br />
das Wort "Liebe" bestenfalls noch mit seiner Hochzeitszeremonie<br />
in Verbindung, nach welcher er sich – <strong>als</strong> weiterer<br />
Beweis für sein Credo an das persönliche, unbeschwerte Wohlergehen<br />
– standhaft weigerte, seine Frau in sein Heim zu lassen,<br />
bis sie nach einem Jahr schwanger wurde.<br />
Danach war die glücklose Mrs. Fleming erschreckend oft<br />
die Zielscheibe von dem, was man nur <strong>als</strong> "seine sadistischen<br />
Manipulationen" bezeichnen kann: nach Aussagen ihrer Tochter<br />
Victoria behandelte er sie wie die Katze die Maus, und regelmässig<br />
zwang er sie, ihn zu einer Filmpremiere zu begleiten,<br />
w<strong>ob</strong>ei sie zehn Schritte hinter ihm und seinem jeweiligen<br />
weiblichen Star zu gehen hatte. Wenn ihn seine Frau langweilte,<br />
wusste er seinem Missvergnügen auf kuriose Weise Ausdruck<br />
zu geben. Eine seiner Lieblingsgesten war, ein imaginäres<br />
Insekt auf dem Tisch zu fangen, es zu würzen, in den Mund<br />
zu stecken und geräuschvoll zu zerkauen. Wenn die arme Frau<br />
dann den Tisch weinend verliess, betrachtete Fleming seine<br />
Vorstellung <strong>als</strong> erfolgreich beendet. Kurz: er war nicht nur eitel<br />
164
Charme – <strong>ob</strong>schon wenigstens einige Frauen ihn für unwiderstehlich<br />
hielten. Sein Leben geriet oft durcheinander dank einer<br />
bemerkenswerten Zahl gleichzeitiger Beziehungen zu<br />
schönen Frauen.<br />
Im Vergleich zu Edvin Adolphson und Petter Lindström<br />
hätte Victor Fleming für <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> anomaler Quasi-Liebhaber<br />
gelten können, umsomehr <strong>als</strong> sie dam<strong>als</strong> über sein Familienleben<br />
kaum etwas wusste. Ausserdem war er ihr gegenüber immer<br />
ein Gentleman. Nachdem sie die Testaufnahmen für Ivy<br />
bestanden hatte, gewann Fleming durch seine Anerkennung<br />
ihres Talents ihre Hingabe, und seine väterliche Obhut, mit der<br />
er sie durch alle Widrigkeiten der Drearbeiten führte, stand im<br />
Kontrast zu dem, was <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> Petters Gleichgültigkeit gegenüber<br />
ihrer Rolle in einem (seines Erachtens) billigen<br />
Schmierenfilm empfand. Mehr <strong>als</strong> einmal erwischte <strong>Ingrid</strong> Victor<br />
dabei, wie er den Männern der Crew schlüpfrige Geschichten<br />
erzählte, aber er konnte sie höflich durch eine Szene führen:<br />
hier begegnete ihr eine neue Art amerikanischer Mann,<br />
der sie faszinierte.<br />
Tatsächlich, wie sie seine harte Sprache und seinen<br />
noch härteren Lebensstil besser kennnenlernte, mochte ihr<br />
Fleming aufregend erscheinen, gerade weil sein Benehmen zu<br />
dem ihres Ehemanns stark kontrastierte. Fleming hatte <strong>als</strong><br />
Vorgesetzter eine hohe Meinung von ihr; aber er war auch unerreichbar<br />
und <strong>als</strong> spezieller Reiz und Paradoxon der romantischen<br />
Besessenheit übt Distanz auf manche Leute gerade die<br />
besondere Attraktion aus. Auf <strong>Ingrid</strong> wirkte Flemings intensivperverse<br />
Regie dieses Films bestimmt so anziehend wie seine<br />
etwas löwenhafte Kontrolle, womit er ihre lebenslange Bewunderung<br />
erwarb. "Er holte Dinge aus mir heraus, die ich noch<br />
nie zuvor getan hatte", sinnierte sie dreissig Jahre später.<br />
"Gewisse Leute sagten von "Dr. Jekyll und Mr Hyde", dass sie<br />
mich überhaupt nicht erkannt hätten. Was mehr kann ein<br />
Schauspieler noch wollen?" So entschied sich <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong><br />
für die Freundschaft mit Victor Fleming, bis sich die Verhältnisse<br />
ein paar Jahre später dramatisch änderten.<br />
165
Die Verliebtheit verlieh ihr diese Saison Flügel, stellten<br />
ihre Freunde fest. Selbst wenn sie im Set nicht benötigt wurde<br />
und zuvor bis spät nachts gearbeitet hatte, stand <strong>Ingrid</strong> morgens<br />
um sieben im S<strong>tu</strong>dio, um Flemings wohlüberlegte und<br />
doch frische Regie anderer Schauspieler zu verfolgen. Ausserdem<br />
bereitete sie ihre eigenen Szenen intensiv vor und las<br />
über Sitten und Verhalten viktorianischer Frauen quer duch<br />
das gesellschaftliche Spektrum. "Sie sah immer aus, <strong>als</strong> würde<br />
sie vor Gesundheit und Kraft noch platzen", erinnerte sich Ruth<br />
R<strong>ob</strong>erts, die während ihrer Dreharbeit ständig <strong>als</strong> Sprachtrainerin<br />
an Akzent und Diktion mit <strong>Ingrid</strong> arbeitete. "Einmal<br />
musste ich mit ihr eine Nacht (mit Alkohol und Nikotin) durchbringen,<br />
weil sie am folgenden Morgen für eine Szene in "Dr.<br />
Jekyll und Mr. Hyde" richtig ramponiert aussehen wollte. Am<br />
Morgen stand sie so blühend da, wie immer, nur ich war am<br />
Boden zerstört."<br />
UND WIE ES SICH SO GAB, erfasste die Kunde von <strong>Ingrid</strong>s<br />
grossartiger Leis<strong>tu</strong>ng ganz Hollywood noch während Fleming<br />
und sein Autor "Jekyll und Hyde" den letzten Schliff verpassten.<br />
Eine Gruppe von Regisseuren, die ihre Fortschritte<br />
während dreier Filme verfolgt hatten, wollten nun auch den<br />
neuesten sehen – und keiner war diesbezüglich gieriger <strong>als</strong> der<br />
Engländer Alfred Hitchcock, ein weiterer Einwanderer in David<br />
Selznicks Diensten. Dieses Frühjahr 1941 erhielt "Rebecca",<br />
Hitchcocks erster amerikanischer Film, den Oscar <strong>als</strong> bester<br />
Film des Jahres 1940. Die Sta<strong>tu</strong>ette ging natürlich an Produzent<br />
Selznick, der Hitchcock nun an United Artists, RKO, Universal<br />
und Fox auslieh, und zwar zu Bedingungen, die noch<br />
gigantischer waren, <strong>als</strong> die Gebühren, die er für <strong>Ingrid</strong> kassierte.<br />
Hitchcock benötigte (wie auch <strong>Ingrid</strong>) für jedes Projekt<br />
Selznicks Zustimmung, mit dem er sich regelmässig traf, um<br />
neue Filmideen durchzubesprechen.<br />
"Hitch erzählte mir", schrieb Selznick am 2. April Val<br />
Lewton, seinem Westküsten-Autor,<br />
166
"eine sehr interessante, wenn auch reichlich erotische<br />
Geschichte, die sich wunderbar für <strong>Bergman</strong> eignen<br />
würde und bei welcher er – wie ich annehme - wohl<br />
auch Regie führen möchte. Joan Harrison (ein Mitglied<br />
von Hitchcocks persönlichem Assistenten- und Autorenteam)<br />
habe die komplette Geschichte, die auf einer<br />
wahren Begebenheit beruht, bei welcher ein Paar von<br />
chinesischen Räubern gekidnappt wurde – ich denke,<br />
in unserem Film wären es dann Japaner ! – die junge<br />
Frau eines Militärattachés oder so ähnlich und eines<br />
engen Freundes, die von den Chinesen während sechs<br />
Monaten aneinandergekettet gefangen gehalten wurden.<br />
Ich verstehe Hitchcocks Begeisterung dafür, bin meinerseits<br />
noch nicht so sicher, könnte aber etwas sehr<br />
Interessantes daraus werden. Was wir nun bräuchten,<br />
wäre die Kombination aus einer Starrolle für <strong>Ingrid</strong><br />
und einem Film für Hitch. Würdest du dir bitte Miss<br />
Harrison vornehmen und für mich die Hand auf diese<br />
Story legen."<br />
Während mehrerer Monate und selbst während der Arbeit<br />
an andern Filmen versuchten Hitchcock und zwei Assistenten<br />
ein brauchbares Szenario auf dem Kern dieser Geschichte<br />
aufzubauen, aber am Ende gaben sie das Projekt klugerweise<br />
<strong>als</strong> zu wenig effektiv auf. Hitchcocks Wunsch, mit <strong>Ingrid</strong> zu<br />
arbeiten, wurde dadurch nur noch gesteigert, und während der<br />
folgenden zwei Jahre durchkämmte sein Team Bibliotheken<br />
und Magazine um etwas zu finden, was bei Selznick eine Chance<br />
hätte. Um sicherzugehen, <strong>ob</strong> <strong>Ingrid</strong> auch mit ihm zu arbeiten<br />
gewillt war, lud Hitchcock die Lindströms verschiedentlich<br />
zu kleinen Dinnerparties in sein gemütliches, unprätentiöses<br />
Heim im vornehmen Bel-Air Estates Quartier von Los Angeles<br />
ein. Dort regierte Hitchcock – beleibt, korrekt und endlos witzig,<br />
abwechselnd mit etwas gewagten Witzen, grauenvollen<br />
Mordgeschichten und detaillierten Anlei<strong>tu</strong>ngen, wie das feinste<br />
Soufflé zustandekomme.<br />
167
Der einundvierzigjährige Hitchcock war der geni<strong>als</strong>te<br />
und übersprudelndste Gastgeber, manchmal etwas lausbübisch<br />
mit seinen gr<strong>ob</strong>en Scherzen, mit welchen er die Damen schockieren<br />
konnte, aber immer ein faszinierender Unterhalter mit<br />
kristallklarem Geist. <strong>Ingrid</strong> las ihm die Worte von den Lippen<br />
ab – keine Frage, <strong>ob</strong> sie mit ihm arbeiten wollte – und sogar<br />
Petter musste zugeben, dass ja, Hitchcock ein grossartiges<br />
Gedächtnis und ein dauernd kreatives Vorstellungsvermögen<br />
besass und dass <strong>Ingrid</strong> sicher von ihm profitieren könnte.<br />
Nach dem Essen rollten Hitch und seine Frau Alma den<br />
Wohnzimmerteppich zurück und schalteten den Phonographen<br />
ein, womit das Haus an der Bellagio Road zum improvisierten<br />
Dancing wurde. Niemand war dabei aktiver <strong>als</strong> Petter, der <strong>Ingrid</strong><br />
rundum durch den Jitterbug, Samba, durch Polkas und<br />
den Rhumba wirbelte. Er schätzte dieses Vergnügen ebenso<br />
wie die damit verbundene körperliche Aktivität, weshalb er<br />
unweigerlich jeweils mit mindestens zwei bis drei Hemden zum<br />
wechseln daherkam, um sich während des Abends voll ausgeben<br />
zu können. Andere Gäste, unter ihnen Joan Fontaine, Cary<br />
Grant, George Sanders, Theresa Wright und deren Partner<br />
fanden es schwierig, mit Petter mitzuhalten; auch <strong>Ingrid</strong> wurde<br />
offen bewundert, weil sie nur eine Handvoll kalten Wassers<br />
benötigte und keinen einzigen kosmetischen Tupfer, um auch<br />
nach einer extrem anstrengenden Runde auf dem Tanzboden<br />
wieder strahlend dazustehen.<br />
Aber im Frühjahr 1941 hatte Petter wenig Zeit fürs Tanzen<br />
übrig. Im Bestreben, seinen amerikanischen Doktortitel zu<br />
erhalten und und dann praktizieren zu können, akzeptierte er<br />
gerne die Unterstützung und Verbindungen, die ihm Kay Brown<br />
und David Selznick anbieten konnten. "Hier ein Bericht über<br />
die Expedition, die du für mich gestartet hast", schrieb er am<br />
18. April von New York aus an Selznick. "Kay verschaffte mir<br />
einen Termin in Yale. Sie unternahm heroische Anstrengungen,<br />
um mir hier behilflich zu sein, und dann habe ich den Dekan<br />
der Columbia Universität angerufen." Schliesslsich entschied<br />
sich Petter aber für die Universität von Rochester, wo ihm seine<br />
schwedischen Diplome höher angerechnet wurden, <strong>als</strong> an-<br />
168
derswo, und weil ihm der M.D. schon nach nur sechzehn S<strong>tu</strong>dienmonaten<br />
anstelle der in amerikanischen Universitäten üblichen<br />
zwei Jahre verliehen wurde. Diese schnelle Regelung<br />
wurde durch den Dekan der Universität Rochester, Dr. Alan<br />
Valentine, einen engen Freund von Selznick und John Hay<br />
Whitney, ermöglicht, die ihn für Lindström kontaktierten. "Vielen<br />
Dank für eure gute Hilfe", schrieb Petter an Selznick, nachdem<br />
er in Rochester aufgenommen war.<br />
Dies bedeutete, dass das nördliche New York State für<br />
die nächsten paar Jahre zu Petters Lebensraum wurde; so entschied<br />
er, dass Pia, bald dreijährig, bei ihm und einer Nanny in<br />
Rochester besser aufgeh<strong>ob</strong>en wäre, <strong>als</strong> bei <strong>Ingrid</strong> in Beverly<br />
Hills. "Meine Mutter kämpfte dam<strong>als</strong> mit dem Dilemma, beim<br />
Kind zu bleiben oder die Karriere weiterzuverfolgen", erklärte<br />
Pia Jahre danach. "Die Karriere fand in Hollywood statt, weshalb<br />
es <strong>als</strong> das Beste für mich angesehen wurde, bei Vater in<br />
Rochester zu bleiben, wo er s<strong>tu</strong>dierte. Meine Mutter kam gelegentlich<br />
zu Besuch, doch sie lebte hauptsächlich in Kalifornien.<br />
Unser Familienleben war ihr nie so wichtig, wie was auf dem<br />
Set vor sich ging. Wenn sie nicht arbeiten konnte, hatte sie<br />
das Gefühl, ihre Zeit zu verschwenden."<br />
<strong>Ingrid</strong> sollte diesen Sommer mit einem Stück auf Tournée<br />
gehen, woraus Petter schloss, dass nur Gott und Selnznick<br />
wussten, wie es danach weitergehen sollte (was in der Tat nur<br />
Gott wusste). Noch bevor das akademische Jahr im Herbst<br />
1941 begann, bezogen Petter, Pia und Mabel ein charakterloses<br />
"S<strong>tu</strong>cco"-Haus an der South Avenue 985, in Rochester,<br />
zwanzig Gehminuten von der Universität entfernt. <strong>Ingrid</strong> wollte<br />
dort zugegen sein, so wie es ihr die Verhältnisse erlaubten.<br />
Nachdem sich "Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt" offensichtlich<br />
weiter verzögerte und er ihr im Moment auch sonst nichts Passendes<br />
anzubieten hatte, entschloss sich Selznick, <strong>Ingrid</strong> in<br />
einem dramatischen Bühnenstück einzusetzen, was sich ja im<br />
vergangenen Jahr <strong>als</strong> so unerwartet erfolgreich erwiesen hatte.<br />
Sommertheater war der ideale Lückenbüsser, stellte Selznick<br />
fest: während die Premiere von "Dr. Jekyll und Mr. Hyde" vor<br />
169
der Tür stand, konnte er seinen Star quer durchs Land schicken,<br />
was ihm sowohl Geld wie Publizität einbrachte. Das<br />
Stück, das <strong>Ingrid</strong> und Kay Selznick vorschlugen, war ein 1920<br />
entstandenes Drama von Eugene O'Neill, das sich <strong>als</strong> perfekte<br />
Fortsetzung zu Ivy Petersen anzubieten schien. Die Rolle, die<br />
Garbo in ihrem ersten Tonfilm 1930 spielte, war <strong>Ingrid</strong> auf den<br />
Leib geschrieben, weshalb sich Selznick damit einverstanden<br />
erklärte, sein Empire in den sogenannten Strohhut-Zyklus des<br />
diesjährigen Sommertheaters einzubringen, und zwar durch<br />
Vorstellungen unter John Housemans Regie in Santa Barbara,<br />
San Francisco und Maplewood, New Jersey.<br />
"Anna Christie" zeichnet den Weg der Titelfigur nach,<br />
nachdem sie die Liebe in einer lieblosen Gesellschaft entdeckt<br />
hatte. Chris Christopherson, ein ehemaliger Hochseekapitän,<br />
der die See hassen lernte und sich nun auf einem Kohlekahn<br />
niedergelassen hat, erfährt, dass seine Tochter Anna, die er<br />
vor fünfzehn Jahren in Schweden verlassen hatte, ihn demnächst<br />
von Minnesota aus besuchen werde. Nicht wissend,<br />
dass sie sich nach einer Vergewaltigung der Prosti<strong>tu</strong>tion zugewandt<br />
hatte, wird Chris mit der Tatsache konfrontiert, dass sie<br />
an seiner Vernachlässigung gelitten hat. Überzeugt davon,<br />
dass sie keine Liebe erleben würde, verweigert sich Anna zunächst<br />
auch der gegenseitigen Leidenschaft mit dem Matrosen<br />
Mat Burke. Schliesslich versucht sie aber, mit ihm ein neues<br />
und illusionsloses Leben zu beginnen – wie auch Chris, der<br />
nach Jahren wieder seine erste Überseefahrt unternehmen will.<br />
Die See entscheidet letztlich über das Schicksal aller.<br />
O'Neill beschrieb Anna <strong>als</strong> eine grosse, zwanzigjährige<br />
Blondine, "eine hübsche Vikinger-Tochter, jetzt aber gesundheitlich<br />
heruntergekommen und äusserlich eindeutig dem ältesten<br />
Gewerbe zuzuordnen". Aber <strong>Ingrid</strong> schaffte diesen verwüsteten<br />
Auftritt nur halbwegs, denn kein blasses Makeup<br />
konnte ihren Glanz von Fitness und die dominante Ausstrahlung<br />
von gesundem Geist und Körper überdecken, die sie verströmte.<br />
"Es war eine Freude, mit <strong>Ingrid</strong> zu arbeiten", erinnerte<br />
sich Houseman. "Sie war eifrig, leidenschaftlich, immer gut<br />
vorbereitet und sie gab mir alles, was ich von ihr verlangte,<br />
170
nur nicht das Gefühl, dass Anna krank, kaputt und zerstört<br />
war. Man hatte den Eindruck, dass die Unterwäsche unter ihrem<br />
schmutzigen Rock gestärkt, sauber und wohlduftend sei."<br />
"Ich sehe Anna Christensen so, wie ich selbst bin, ein<br />
starkes, gesundes Schwedenmädchen", erzählte <strong>Ingrid</strong> diesen<br />
Sommer einem Reporter, so <strong>als</strong> <strong>ob</strong> sie eine Bemerkung Housemans<br />
während der Pr<strong>ob</strong>en beantworten würde. "Sie muss<br />
nicht verloren oder trostlos wirken – krank, ja, und bitter – sie<br />
ist ein Landmädchen, das sich in die Stadt verirrt hat. Ich denke,<br />
dass in der berühmten Szene, <strong>als</strong> sie auf das Kruzifix<br />
schwört, (<strong>als</strong> Prosti<strong>tu</strong>ierte) nie einen andern Mann zu lieben<br />
und rechtschaffen leben zu wollen, man ihr das glauben muss.<br />
Zu glauben, sie gehe zurück zu ihrem alten Leben, wäre sinnlos."<br />
Das war sicher eine Interpretation, die im Text zu lesen<br />
war (und die den Besuchern des Sommertheaters zweifellos<br />
gefiel), die dem Stück aber auch etwas von seinem Biss nahm.<br />
Ihr Einstand am 30 Juli am L<strong>ob</strong>ero Theater, Santa Barbara,<br />
wo "Anna Christie" bis zum 2. August lief, liess mit aller<br />
Deutlichkeit das Pr<strong>ob</strong>lem erkennen, <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> <strong>als</strong> heruntergekommene<br />
Hure glaubhaft zu machen. Wie sie sich abgekämpft<br />
in "Johnny the Priest's Bar" in einen Sessel fallen lässt,<br />
spricht sie die unsterblichen Worte: "Gib mir einen Whysky und<br />
Ginger Ale, und sei nicht mickerig, Baby!" Worauf das Publikum<br />
– darunter Lana Turner, Tony Martin, George Raft, Samuel<br />
Goldwyn, Alfred Hitchcock, Olivia de Havilland neben einer<br />
unzählbaren Menge – in Gelächter ausbrach. "Sie erwarteten,<br />
mich sagen zu hören: 'Gib mir ein Glas Milch'", sagte <strong>Ingrid</strong><br />
Jahre später lachend, "aber gut, wir haben das überlebt."<br />
Das Theaterpublikum der drei Städte erlebte diesen August<br />
und September ein tief beeindruckendes Portrait. <strong>Ingrid</strong>s<br />
natürliche Rastlosigkeit und ihr hochgezüchtetes Temperament<br />
fanden ihren Niederschlag in Annas Gr<strong>ob</strong>heit, und im Kern der<br />
Rolle projizierte sie eine gewisse Ruhe, gegen deren Ursache<br />
sie ständig ankämpfte. Auch darin waren sich Anna und <strong>Ingrid</strong>,<br />
wie sie nachdrücklich feststellte, sehr ähnlich: beide versuchten,<br />
den hohen Ansprüchen gerecht zu werden, die andere –<br />
171
im romantischen Sinne - an sie stellten. Da ist auch eine spezielle<br />
aut<strong>ob</strong>iographische Analogie zu einigen ihrer Texte aufgefallen.<br />
"Ich kann mich an meine Mutter überhaupt nicht erinnern.<br />
Wie war sie nur?" und "Kinder ...sie immer brüllen und<br />
schreien hören ...gefangen, wenn man selbst <strong>als</strong> Kind hinausgehen<br />
und alles sehen möchte."<br />
Aber ihr Schlusssatz brachte das Publikum zum Schweigen.<br />
"Hör auf zu grübeln", sagte sie zu ihrem Liebhaber Mat in<br />
einem Ton von gespielter Fröhlichkeit, in dem auch ein Hauch<br />
von Hoffnung mitschwang. "Wir wissen nun alle, was wir zu<br />
<strong>tu</strong>n haben, ich und du, oder etwa nicht?" Sie giesst beiden Bier<br />
ein. "Los komm: auf die See! Wie immer sie sei! Sei ein Kumpel,<br />
lass uns darauf trinken!" Nie zuvor und kaum seither wurden<br />
O'Neills langem, struk<strong>tu</strong>rell pr<strong>ob</strong>lematischem Stück derart<br />
umfassende Realisations-Möglichkeiten geboten. "Sie hat O'-<br />
Neills Drama eine poetische Interpretation und neues Leben<br />
gegeben", lautete etwa ein Standardkommentar, "und damit<br />
hat sie sich ihren Platz in der Theatergeschichte der Vereinigten<br />
Staaten gesichert".<br />
Zur gleichen Zeit strömten die Massen im ganzen Land<br />
in die Kinos, wo "Dr. Jekyll und Mr. Hyde" am 13. August Premiere<br />
hatte und für <strong>Ingrid</strong>s Leis<strong>tu</strong>ng unglaubliche Begeisterungstürme<br />
auslöste. In den zwanzig Monaten seit ihrer Rückkehr<br />
nach Amerika ist sie in zwei Bühnenstücken und drei Filmen<br />
aufgetreten – eine überragende Leis<strong>tu</strong>ng für jede Schauspielerin,<br />
aber nicht genug für <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>, die jeden Erfolg<br />
<strong>als</strong> Herausforderung betrachtete, ihre Möglichkeiten beim<br />
nächsten Projekt noch weiter zu steigern und zu verfeinern.<br />
Zweckorientierte Arbeit bestimmte ihr Leben und die banalen<br />
Erfordernisse des täglichen Lebens langweilten und ärgerten<br />
sie, womit sie sich nach und nach von ihrer Familie, ihren<br />
Freunden und sich selbst entfremdete. Von den Frauenfiguren,<br />
denen sie auf Bühne und Leinwand Leben gab, wurde sie inspiriert;<br />
die Texte, die sie rezitierte, beflügelten ihre Fantasie und<br />
entflammten ihre angeborene Intelligenz.<br />
172
Während das Stück am Curran Theater in San Francisco<br />
lief, erhielt <strong>Ingrid</strong> eine Einladung von Carlotta Monterey O'Neill,<br />
dem Schriftsteller zum Sonntagslunch im Tao House, seinem<br />
Sitz auf einem Felsen hoch über dem Ocean, Gesellschaft zu<br />
leisten. "Er führte mich in sein Arbeitszimmer", erinnerte sich<br />
<strong>Ingrid</strong>, "wo er neun Stücke herumliegen hatte. Er war an seiner<br />
berühmten amerikanischen Familiensaga, die über 150<br />
Jahre führte – einem Zyklus über Amerikas Entwicklung und<br />
vor allem über seine Gier, wie wir unser Leben durch die Gier<br />
ruinieren." O'Neill wollte <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> Mitglied eines Tournée-<br />
Ensembles gewinnen, in welchem jedes Mitglied in der einen<br />
Stadt diese und in der nächsten Stadt eine andere Rolle spielt.<br />
Aber <strong>als</strong> die Rede darauf kam, dass das Projekt eine zeitliche<br />
Bindung während sechs Jahren erforderte, war das Gespräch<br />
zu Ende. Ihre Verpflich<strong>tu</strong>ngen Selznick gegenüber konnte und<br />
wollte sie nicht missachten.<br />
MIT SECHSUNDZWANZIG WAR INGRID EINE FRAU, die<br />
mit Trivialitäten nicht leicht zu befriedigen war. Sie war – andersrum<br />
gesagt – das Musterbeispiel für eine Schauspielerin<br />
<strong>als</strong> kreative Persönlichkeit: Sie 'spielte' nicht einfach ihre Rollen,<br />
sondern diese zogen sie auf eine vertiefte Wahrnehmung<br />
und Konzentration auf das Leben selbst. Ihre natürliche<br />
Schüchternheit, ihre Weigerung, wichtig und grossartig aufzutreten,<br />
ihre rückhaltlose Offenheit – all diese Eigenschaften<br />
verboten es ihr, ihre Kunst in blumiger Rhetorik anzupreisen<br />
oder sich über die Feinheiten des Künstlerlebens auszubreiten.<br />
Für derartige Selbstdarstellungen hatte sie keinerlei Geduld,<br />
gleich woher sie kamen. <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> hatte einen J<strong>ob</strong> zu<br />
erledigen; das war das Ethos, das sie mit Duse und Bernhardt<br />
teilte, deren Biogaphien sie im späteren Jahr noch verschlang,<br />
während sie arbeitslos auf Selznick wartete.<br />
"Es war unerträglich langweilig ohne Arbeit", sagte <strong>Ingrid</strong><br />
von ihrer Zeit in Rochester im Herbst 1941. Man kann ihre<br />
Enttäuschung und Langeweile durchaus nachvollziehen. Hausarbeit<br />
konnte ihrem Talent und ihren Interessen nichts bieten,<br />
173
und ihre einzige Gesellschaft waren Petters Kollegen. "Wenn<br />
die im Haus waren, gab's nur das Thema 'Medizin'. Das war ja<br />
natürlich und auch recht so, aber für mich war es nicht leicht."<br />
Ruth R<strong>ob</strong>erts vertraute sie an: "In unserem über vierjährigen<br />
Eheleben waren wir gerade mal während zwölf Monaten zusammen."<br />
Was Ihre Verpflich<strong>tu</strong>ngen <strong>als</strong> Mutter anbelangt, war sie<br />
schlicht und einfach zu sehr auf ihre Karriere fokussiert, <strong>als</strong><br />
dass sie alles zugunsten eines zweifelhaften Vergnügens der<br />
täglichen Kindererziehung und -fürsorge hätte preisgeben mögen.<br />
Sie liebte ihr Kind, und wenn sie in Rochester war, gab sie<br />
Pia die ganze Zuwendung, die sie brauchte und wollte. Aber<br />
bald fühlte sie sich zuhause nicht nur gelangweilt, sondern<br />
auch überflüssig: Mabel war von Petter, der an <strong>Ingrid</strong>s Methoden<br />
und Stil alles auszusetzen hatte, inzwischen zur Perfektion<br />
erzogen worden. So konnte sich Mama nur mehr denn je zuvor<br />
nach einer Gelegenheit sehnen, an die Arbeit zurückkehren zu<br />
können. Man mag sich fragen, wo der Unterschied zu den vielen<br />
anderen hochbegabten Frauen liegt, die ihre Mutterschaft<br />
nicht <strong>als</strong> die einzig zählende Karriere ansehen mochten.<br />
Kommt hinzu, dass <strong>Ingrid</strong> selbst nie die Zuwendung einer<br />
aufmerksamen Mutter erlebt hat und daher auch die Ansprüche<br />
an diese Aufgabe nicht kennen konnte. Greta Danielsson<br />
war eine geniale Schwesterfigur, bot aber keinerlei Mutterersatz;<br />
Tante Ellen starb sechs Monate nachdem sie <strong>Ingrid</strong> bei<br />
sich aufnahm; und Kay war schliesslich eine Angestellte ihres<br />
Chefs und hatte ihre eigene Lebensaufgabe <strong>als</strong> Frau und Mutter.<br />
In jedem Element ihres Lebens und ihrer Kunst gestaltete<br />
<strong>Ingrid</strong> ihre Rolle in<strong>tu</strong>itiv, w<strong>ob</strong>ei sie sich nie in ein bestehendes<br />
Muster einpressen liess. Pia Lindström, deren Beurteilung von<br />
<strong>Ingrid</strong>s Mutterqualitäten bei diesen Betrach<strong>tu</strong>ngen von zentraler<br />
Bedeu<strong>tu</strong>ng sind, erreichte das Erwachsenenalter bestimmt<br />
mit einem Gewirr von gemischten Gefühlen über ihre Mutter.<br />
Aber sie verstand auch, wie sie sagte, dass "<strong>ob</strong>schon es wunderbar<br />
ist, einen Elternteil immer bei sich zu haben, es auch<br />
schön ist, aufzuwachsen ohne ständig von einem Elternteil<br />
bemuttert zu werden. Ich denke, wir Kinder haben alle begrif-<br />
174
fen, was sie alles zu bewältigen hatte – die Kräfte in ihrem<br />
Leben, die Anforderungen ihres Berufs, ihr Bedürfnis nach einer<br />
zufriedenen Familie, die sie im Set ihrer Filme fand."<br />
Aber von September 1941 bis zum Frühjahr 1942 wartete<br />
sie vergeblich auf einen Anruf mit einem Arbeitsangebot,<br />
von Hollywood oder irgendeiner Bühne. Von ihrer Arbeitslosigkeit<br />
verdrossen, ärgerte sich <strong>Ingrid</strong> zusätzlich über die guten<br />
Leute von Rochester, die die Privatsphäre ihrer lokalen Berühmtheit<br />
Tag und Nacht stürmten. Times Union und Democrat<br />
and Chronicle berichteten, dass sich vor ihrem Haus ständig<br />
Menschenmengen sammelten und das Telephon der<br />
Lindströms dauernd läutete. "Ich habe eine hübsche Tochter,<br />
Miss <strong>Bergman</strong>. Würden Sie sie bitte anschauen und sehen, <strong>ob</strong><br />
sie gut genug ist für einen Filmtest?..." "Miss <strong>Bergman</strong>, ich<br />
habe einen Freund...und ich wüsste gerne, <strong>ob</strong>...." "Miss<br />
<strong>Bergman</strong>, können wir rasch für ein Autogramm rüberkommen,<br />
es ist für meine Cousine..." Das Telefon war unter einer Geheimnummer<br />
registriert, doch Fremde scheuten sich nicht, ihre<br />
Wünsche an der Haustür vorzubringen, sodass die Polizei von<br />
Rochester täglich mehrm<strong>als</strong> vorbeikommen musste, um für<br />
Ordnung zu sorgen. "Es ist nett und komfortabel hier", schrieb<br />
<strong>Ingrid</strong> an Selznick, "wie im Gefängnis".<br />
Ihre Reisen nach New York (zu Kays Appartment in<br />
Manhattan an der East Eighty-sixth Street, zum Theater oder<br />
Museum) begannen sich zu häufen. Und wenn sie in Rochester<br />
war, verleitete sie die Langeweile – wie schon so oft – ihrem<br />
Appetit die Zügel schiessen zu lassen: Glacé, Knäckebröd und<br />
Ziegenkäse – "Ich glaube alles versucht zu haben, um meine<br />
Esslust einzudämmen. Nun, es half nichts." Das Schönste an<br />
Rochester, nach <strong>Ingrid</strong>s Meinung, war der Bahnhof, wo sie die<br />
Züge zur Flucht bestieg.<br />
Wie sie Freunden erzählte, plante sie ihre Tage in Rochester,<br />
<strong>als</strong> wäre sie zurück in der Schule. Sie schrieb am Morgen<br />
ihre Briefe, ging mit Pia spazieren, spielte Klavier, führte<br />
ihr Archiv mit den Presseclips und absolvierte ihre Englischlektionen.<br />
Am Piano und im Englisch war sie dam<strong>als</strong> wirklich ganz<br />
175
gut drauf; ihr musikalisches Repertoire umfasste nun auch<br />
einige Chopin-Préludes, und ihre Beherrschung der neuen<br />
Sprache war nachgerade beeindruckend, ihr Vokabular wuchs,<br />
ihre Briefe waren durchwegs korrekt und nahmen Stil an.<br />
"Nur meine Lektüre und das Stricken retteten mich",<br />
vertraute sie Ruth in einem Brief an.<br />
176<br />
"Ich stricke Pia eine Puppe, Pullover und Röcke. Sie ist<br />
ein aussergewöhnliches Kind. Ich sagte ihr, dass wir zu<br />
Weihnachten alles Spielzeug, das sie nicht mehr mochte<br />
oder mit dem sie glaubte, andern Kindern eine<br />
Freude machen zu können, weggeben würden. Aber<br />
sie selbst sollte auswählen und entscheiden, denn es<br />
waren ihre Sachen und ich hatte da nichts zu bestimmen.<br />
Und Ruth, mir kamen die Tränen. Ich sah zu, wie<br />
sie während einer S<strong>tu</strong>nde alles sehr sorgfältig musterte...sie<br />
war so süss. Sehr schöne Sachen gab sie weg<br />
und sagte: "Ich denke nicht, dass ich damit noch oft<br />
spielen werde". Aber eine alte, schmutzige und abgenutzte<br />
Puppe behielt sie mit den Worten: "Ja, sie ist<br />
schmutzig, aber sie war wirklich ein ganz liebes Mädchen".<br />
Und ihre Mutter schwieg. All das von einer Dreijährigen!"<br />
Weihnachten war nur eine kurze Verschnaufpause auf<br />
dem Lebensweg einer Schnecke. "Ein Heim, einen Mann und<br />
ein Kind zu haben, sollte eigentlich jeder Frau genügen – ich<br />
meine, dafür sind wir doch bestimmt, oder?" fragte <strong>Ingrid</strong> dam<strong>als</strong><br />
Ruth R<strong>ob</strong>erts mit klagendem Unterton, womit sie ein Dilemma<br />
ansprach, das weiter verbreitet war, <strong>als</strong> ihr bewusst<br />
war. "Aber für mich ist nach wie vor jeder Tag ein verlorener<br />
Tag. Als würde ich nur zur Hälfte leben. Die andere Hälfte in<br />
einen Sack gesteckt und erstickt. Was soll ich nur <strong>tu</strong>n? Wenn<br />
ich nur ein Licht sähe."
Blick zurück auf „Casablanca“<br />
177
178<br />
Gary Cooper und Joe Steele auf Besuch im<br />
"Jeanne d'Arc"-Set
1942<br />
"...Er war auch sehr scheu und einsilbig, aber auch sehr nett.<br />
Und wie hübsch! Ihm zuzusehen, war so wundervoll. Es war<br />
unglaublich, dass ich dort mit ihm gearbeitet habe. F<strong>als</strong>ch<br />
war, dass man mir auf der Leinwand mein Glück ansah. Ich<br />
war viel zu glücklich, um Marias tragische Figur ehrlich zu<br />
portraitieren.“<br />
(<strong>Ingrid</strong> über Gary Cooper)<br />
WÄHREND NAHEZU NEUN MONATEN, von Anfang September<br />
1941 bis Ende Mai 1942 war das Stricken <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s<br />
Hauptbeschäftigung. "Herrgott", beklagte sie sich bei<br />
Kay Brown und Ruth R<strong>ob</strong>erts, "ich bin bald in der Lage, jeden<br />
Soldaten dieser Welt mit einem Pullover auszurüsten". Während<br />
sie abwartend in Rochester sass, Damen der lokalen Gesellschaft<br />
zum Tee und die Kollegen ihres Mannes zum Dinner<br />
empfing, ihr kul<strong>tu</strong>relles Leben schrumpfte und ihre Karriere<br />
offensichtlich ins Wanken geriet, begann <strong>Ingrid</strong> die Geduld zu<br />
verlieren; noch nie hatte sie sich so nutzlos gefühlt.<br />
Keine guten Nachrichten auch von David Selznick, der<br />
kurz erwog, sie <strong>als</strong> Nonne für die geplante Filmversion von A.J.<br />
Cronins Novelle "The Keys of the Kingdom" einzukleiden. Dann<br />
änderte er seine Meinung und verkündete, dass sie in einem<br />
Stück namens "She Walks in Beauty", basierend auf der Novelle<br />
"The Wings of the Dove" von Henry James auftreten sollte –<br />
welche Idee ebenfalls in der Versenkung verschwand. John<br />
Houseman schlug Selznick vor, <strong>Ingrid</strong> mit Alfred Hitchcock zusammen<br />
auf einen Film von Stefan Zweigs Novelle "Letter from<br />
an Unknown Woman" anzusetzen, aber Selznick (dem scharfsinnigen<br />
Rat von Kay Brown Folge leistend) antwortete, dass<br />
dies kein Stoff für Hitchcock sei (Houseman produzierte den<br />
Film später selbst).<br />
179
Selznick hatte unverdrossen und hart für <strong>Ingrid</strong>s Einsatz<br />
<strong>als</strong> Maria in "Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt" gekämpft, doch das<br />
neue Jahr brachte die Erkenntnis, dass sich auch diese Hoffnung<br />
in nichts auflöste. Paramount, um Hemingways Forderung<br />
nach Gary Cooper nachzukommen, hatte für dessen Ausleihung<br />
durch Samuel Goldwyn tief in die Tasche greifen müssen,<br />
weshalb sie für die Maria auf eine ihrer Vertrags-<br />
Darstellerinnen zurückgriffen – die norwegische Tänzerin und<br />
Schauspielerin Vera Zorina, eine Veteranin aus verschiedenen<br />
unspektakulären Film-Music<strong>als</strong>, die dam<strong>als</strong> gerade ein Broadway-Engagement<br />
zu Ende brachte. Auch Olivia de Havilland,<br />
ihre Schwester Joan Fontaine, Susan Hayward und eine Reihe<br />
anderer Anwärterinnen wurden für die Rolle getestet, doch<br />
Paramount war auf Sparkurs und entschied sich für Zorina,<br />
eine grosse Schönheit, von der nun auch eine grosse Leis<strong>tu</strong>ng<br />
erwartet wurde.<br />
"Ich bin jetzt wirklich fertig", schrieb <strong>Ingrid</strong> deprimiert<br />
an Selznick, nachdem sie die Sache von Zorina erfahren hatte.<br />
"Seit deinem Telegramm von 1940 betreffend die Verschiebung<br />
von "Joan of Arc" habe ich eine Serie von Aufschüben<br />
und Verzögerungen deiner Pläne erlebt....ich kann nicht so<br />
untätig weitermachen. Speziell in diesen Kriegszeiten fühle ich<br />
mehr denn je, dass man arbeiten sollte, man muss doch etwas<br />
<strong>tu</strong>n. Ich bin sehr traurig."<br />
Irene Selznick kannte <strong>Ingrid</strong>s Pr<strong>ob</strong>lem mit der Untätigkeit:<br />
"Die wenigsten Leute reissen sich um harte Arbeit, für<br />
<strong>Ingrid</strong> ist sie aber eine Notwendigkeit." In der Tat war <strong>Ingrid</strong><br />
diesen Winter durch die Dunkelheit und ihre 'Gefangenschaft'<br />
nahe am Zustand einer klinischen Depression angelangt.<br />
Selbst an sonnigen Tagen sass sie lustlos herum und bat Mabel,<br />
an ihrer Stelle mit Pia auszugehen. Mit ihrer mürrischen<br />
Verweigerung forderte sie auch Petters Ungeduld heraus. Ende<br />
März begaben sie und Petter sich zum Hollywood-Agenten<br />
Charles K. Feldman, und nachdem Petter sich über dessen<br />
Bonität informiert hatte, unterschrieb <strong>Ingrid</strong> bei der Feldman-<br />
Blum-Agen<strong>tu</strong>r in Hollywood. Weil aber <strong>Ingrid</strong>s Karriere ausschliesslich<br />
von Selznick abhängig war, konnte Feldman sie im<br />
180
wesentlichen nur managen und beraten. Nach wie vor kontrollierte<br />
Petter jede jährliche Vertragserneuerung mit Selznick,<br />
beriet er sie bezüglich Garder<strong>ob</strong>e, Gewicht, Benehmen und<br />
Sprache und entschied über Radiorollen, die seiner Frau angeboten<br />
wurden.<br />
Schliesslich begann er <strong>als</strong> ihr de facto-Agent zu operieren,<br />
was vorhersehbare Pr<strong>ob</strong>leme mit Selznick und Feldman<br />
schuf. Am 10. April, beispielsweise, sollte sich <strong>Ingrid</strong> für eine<br />
Radiorolle nach New York begeben, aber Selznick widerrief<br />
seine Erlaubnis dazu; <strong>als</strong> Grund dafür, wie er in einer Notiz an<br />
seinen Vizepräsidenten und Generaldirektor Dan O'Shea vermerkte,<br />
nannte er den Umstand, dass Petter sich weigerte,<br />
ihm die ihm vertraglich zustehende Hälfte des Honorars von $<br />
1750 zu überlassen. Petter seinerseits stellte sich auf den<br />
Standpunkt, dass, weil er selbst den Radio-Deal abgeschlossen<br />
hatte, er auch das Honorar nicht zu teilen brauchte. Ausserdem<br />
schrieb Petter O'Shea: "Wir werden über <strong>Ingrid</strong>s<br />
Wunsch, zum Theater zurückzukehren, spätestens im September<br />
entscheiden" – womit er glaubte, dieser werde entscheiden<br />
und Selznick darüber gebührend informieren. Durch<br />
diese Entwicklung wurde die <strong>Bergman</strong>-Selznick-Lindström-<br />
Beziehung in der Tat ordentlich belastet. Natürlich wusste<br />
Selznick, dass er Petter beschwichtigen musste um <strong>Ingrid</strong>s<br />
Dankbarkeit zu erwirken – daher <strong>als</strong>o sein Versprechen, mit<br />
$ 500 die Kosten für Petters medizinische Lizenz in Kalifornien<br />
zu übernehmen.<br />
ENDLICH, AM 24. APRIL, informierte Selznick <strong>Ingrid</strong><br />
darüber, dass er einen Film für sie hätte. Er konnte mit diesem<br />
Handel nämlich viel Geld machen - $ 125'000 von Warner<br />
Bros., während er <strong>Ingrid</strong> ihr normales Salär von $ 35'000 auszahlte<br />
– und ausserdem wollte er <strong>Ingrid</strong>, vor dem Hintergrund<br />
der deutsch-schwedischen Allianz in Italien, zum Einsatz bringen,<br />
bevor sich in Hollywood eine Aversionsstimmung gegen<br />
eine schwedische Schauspierin, die noch keinerlei Einbürgerungsversuch<br />
in den USA unternommen hat, breitzumachen<br />
181
egann.<br />
So kam es, dass <strong>Ingrid</strong> an den Produzenten Hal Wallis<br />
bei Warner Bros. ausgeliehen wurde und dieses S<strong>tu</strong>dio im Gegenzug<br />
seine Vertrags-Schauspielerin Olivia de Havilland für<br />
einen Selznick-Film zur Verfügung stellte. "Der Film heisst<br />
'Casablanca' und ich weiss wirklich nicht, worum es dabei<br />
geht", schrieb <strong>Ingrid</strong> an Ruth R<strong>ob</strong>erts. Und mit diesem Pr<strong>ob</strong>lem<br />
war sie tatsächlich nicht allein; während der ganzen Produktion<br />
tappten alle Beteiligten völlig im Dunkeln über die<br />
politische und romantische Logik des Films. Am 2. Mai verliess<br />
<strong>Ingrid</strong> Petter und Pia um erstm<strong>als</strong> seit einem Jahr wieder nach<br />
Hollywood zurückzukehren. Selznicks Leute hatten an der<br />
South Spalding Drive 413 in Beverly Hills ein gemütliches kleines<br />
Appartment für sie gefunden, im selben einfachen Komplex,<br />
in dem sie schon früher um die Ecke am Shirley Place<br />
gewohnt hatte.<br />
"Casablanca", "Gone with the Wind" und "Citizen Cane"<br />
fanden wohl weit mehr Beach<strong>tu</strong>ng <strong>als</strong> viele andere amerikanische<br />
Filme. Allesamt begannen sie <strong>als</strong> unsicheres Wagnis gegen<br />
schreckliche kreative Wirrnisse und alle endeten sie ohne<br />
dass eine klare Vorstellung davon vorhanden gewesen wäre,<br />
wie das Endprodukt schliesslich auf den Markt zu bringen war.<br />
"Casablanca" war der Film, mit dem <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> wohl am<br />
häufigsten identifiziert wurde, dessen Herstellung am schwierigsten<br />
war und der zu einer der frustrierendsten Filmerfahrungen<br />
ihres Lebens wurde. Als Klassiker – seiner selbst zum<br />
Trotz, wurde er täglich von verschiedenen authoritären Kompetenzen<br />
improvisiert, und sein Erfolg ist praktisch ausschliesslich<br />
einer Reihe glücklicher Zufälligkeiten zuzuschreiben,<br />
wie das in Hollywood gelegentlich vorkommt.<br />
Die Besetzung war nicht das Pr<strong>ob</strong>lem, das Script war<br />
es. Den Produktionsakten von Warner Bros. ist zu entnehmen,<br />
dass die Brüder Julius und Philip Epstein mehr <strong>als</strong> andere an<br />
dem Stück gearbeitet hatten, aber auch Howard Koch ist <strong>als</strong><br />
Autor erwähnt neben einer ganzen Anzahl weiterer Schriftsteller<br />
(u.a. Willy Kline, Aeneas McKenzie, Casey R<strong>ob</strong>inson und<br />
182
Lenore Coffee), die wesentliche Beiträge geleistet haben.<br />
QAuch Regisseur, Produzent und Darsteller hatten die Möglichkeit,<br />
Dialogbeiträge zu leisten. Im Gegensatz zum akademischen<br />
Verständnis der Filmproduktion ist dieser Vorgang gar<br />
nicht so ungewöhnlich, wie man denken würde.<br />
Der Ursprung von "Casablanca" ist rasch veranschaulicht.<br />
Ende 1938 besuchte der New Yorker Lehrer Murray Burnett<br />
einen französischen Nachtclub namens 'La belle Aurore',<br />
dessen Musik und Atmosphäre ihn an eine Broadway Show<br />
Namens "Everybody's Welcome" erinnerten; dieses Musical<br />
enthielt einen Song von Herman Hupfeld namens 'As Time<br />
Goes By'. Im Sommer 1940 hatten Burnett und seine Autor-<br />
Partnerin Joan Alison ein Stück mit dem Titel "Everybody Comes<br />
to Rick's" geschrieben, das am Ende des folgenden Jahres<br />
noch immer unveröffentlicht war, <strong>als</strong> vom Produzenten Hal<br />
Wallis von Warner Bros. die Filmrechte für $ 20'000 gekauft<br />
wurden – die grösste Summe, die je für ein unveröffentlichtes<br />
Werk die Hand wechselte.<br />
Unter dem Eindruck von Charles Boyers und Hedy<br />
Lamarrs kürzlichem Erfolg in der exotischen Romanze "Algiers"<br />
brachte Wallis das Stück zu den Autoren Julius und<br />
Philip Epstein, gab dem Projekt den Titel "Casablanca" und<br />
liess Anfang 1942 verlauten, dass die Hauptrollen durch Ronald<br />
Reagan, Ann Sheridan und Dennis Morgan besetzt würden.<br />
Ende April erhielten Wallis und Warner eine dritte Version<br />
des Stücks vorgelegt, und Michael Curtiz, der für "Casablanca"<br />
bestimmte ungarische Regisseur, machte sich an die<br />
Arbeit. Er hatte in Schweden mit Victor Sjöström und Mauritz<br />
Stiller zusammengearbeitet und war in Hollywood so gefragt,<br />
dass er zeitweise bis zu fünf Filme gleichzeitig produzierte.<br />
Aber die Pr<strong>ob</strong>leme mit dem Script dauerten an und<br />
beschäfigten <strong>Ingrid</strong> sehr, <strong>als</strong> sie anfangs Mai die vierte Version<br />
zu lesen bekam. Selznick versprach ihr, dass sie mit der endgültigen<br />
Fassung des Stücks für immer zu einer der unvergesslichen<br />
romantischen Filmheldinnen würde und dass ihr<br />
183
nichts Besseres widerfahren konnte, <strong>als</strong> an der Seite von<br />
Humphrey Bogart (der jetzt <strong>als</strong> Hauptdarsteller genannt wurde)<br />
zu spielen – was mehr konnte sie noch wollen? – dass sie<br />
mit der Photographie von Arthur Edeson in den schicken,<br />
schmeichelhaften Kleidern von Orry-Kelly umwerfend in Szene<br />
gesetzt würde. Dennoch konnte <strong>Ingrid</strong> der verschwommenen<br />
Logik des Stücks nicht folgen: bevor sie der weiblichen Hauptrolle<br />
Leben geben konnte, musste sie diese Frau verstehen.<br />
Und diesbezüglich passierte nun etwas ganz ungewöhnliches.<br />
Am 22. und 23. Mai bat <strong>Ingrid</strong> um eine vertrauliche Besprechung<br />
mit Wallis, Curtis, Warner und Selznick, welchen sie<br />
einige Fragen zu "Casablanca" vorlegte. Wer genau war diese<br />
Ilsa Lund? Was war der emotionale Hintergrund dieser Frau,<br />
die sich so leidenschaftlich in zwei so unterschiedliche Männer<br />
verlieben konnte? Wie tief geht der Graben, den sie zwischen<br />
Liebe und Pflichterfüllung spürt? Wie ist dieser Text zu verstehen,<br />
nachdem man jene Passage ein paar Seiten weiter gelesen<br />
hat? Wie kann diese Szene mit jener in Einklang gebracht<br />
werden? Dass sie auf Antworten zu all diesen Fragen beharrte,<br />
zwang Produzent und Regisseur, ihr Script unter den Arm zu<br />
nehmen und die letzte, schwierigste Meile damit in Angriff zu<br />
nehmen. Alle waren noch am Tippen, <strong>als</strong> am 25. Mai in den<br />
Warner S<strong>tu</strong>dios die Aufnahmen begannen.<br />
IM ZENTRUM DER GESCHICHTE VON "CASABLANCA"<br />
steht die Beziehung zwischen dem enigmatischen Ausland-<br />
Amerikaner Rick Blaine (Bogart) und Ilsa Lund (<strong>Ingrid</strong>), seiner<br />
ehemaligen Geliebten, die jetzt aber mit dem Anti-Nazi-<br />
Untergrundkämpfer Victor Laszlo (Paul Henreid, der 1936 einen<br />
lukrativen Vertrag mit UFA zerriss) verheiratet war. Um<br />
sie alle herum wirbelt ein Schwarm von Spionen und Oppor<strong>tu</strong>nisten,<br />
deutschen Offizieren und Vichy-Beamten – ihnen allen<br />
voran der Polizeichef von Casablanca, Louis Renault (Claude<br />
Rains).<br />
"Niemand hatte die leiseste Ahnung, wohin der Film<br />
führen sollte", erinnerte sich <strong>Ingrid</strong>.<br />
184
"Jeden Morgen und jeden Nachmittag wurden uns<br />
neue Dialogblätter ausgehändigt, die wir hopp hopp<br />
Stückchen um Stückchen auswendig zu lernen hatten<br />
– das Rollens<strong>tu</strong>dium war im Eimer! Jedesmal wenn ich<br />
Curtiz fragte, wer ich denn sei in diesem Film, was ich<br />
fühlte, was ich tat, sagte er: "Nun, ich bin mir nicht<br />
ganz sicher, aber machen wir diese Szene jetzt und<br />
morgen werde ich es dir sagen." Wirklich, es war unmöglich!"<br />
Und so taumelte "Casablanca" in diesem heissen<br />
Sommer 1942 unberechenbar seiner Vollendung entgegen, mit<br />
einer Besetzung und Crew, die dauernd Überzeitarbeit leistete<br />
und sich verbissen bemühte, ihr Bestes zu geben. <strong>Ingrid</strong>, die<br />
sich mit ihrer Aufgabe herumzuquälen begann, fühlte sich<br />
während der ganzen Produktion richtig elend, dabei hatte<br />
niemand die entfernteste Ahnung davon, dass dieser Film einer<br />
der populärsten Dauerbrenner der amerikanischen Geschichte<br />
würde.<br />
Zum einen lag das idealistisch-romantische Finale, in<br />
dem Rick seine Liebe zu Ilsa opfert und sie überzeugt, mit<br />
ihrem Ehemann weiterzuziehen und für den Frieden zu kämpfen,<br />
bis zum Produktionsende noch nicht fest. Auf Anweisungen<br />
von Curtiz, Wallis und Jack Warner hatten die Schreiber<br />
das alternative Finale bereits vorliegen, wonach Ilsa bei Rick<br />
bliebe. Diese Version sollte zu einem späteren Zeitpunkt gefilmt<br />
werden; aber die erste Fassung gefiel allen so gut, dass<br />
die zweite in Vergessenheit geriet – speziell im Hinblick auf die<br />
letzten Worte im Film (von Hal Wallis erdacht), die Bogart an<br />
Rains binden und die zwei Wochen nachdem die Mannschaft<br />
entlassen war, aufgezeichnet wurden: "Louis, ich glaube das<br />
ist der Beginn einer schönen Freundschaft". Die berühmtesten<br />
Worte des Films, allerdings, - "Here's looking at you, kid" –<br />
hatte Bogart aufgeschnappt und spontan einfliessen lassen: er<br />
hat sie mitbekommen, <strong>als</strong> Ruth R<strong>ob</strong>erts <strong>Ingrid</strong> während einer<br />
Mittagspause simultan Poker und Slang beibrachte.<br />
185
Eine ganz andere Sache hätte die Popularität des Films<br />
dauerhaft schädigen können. Nach Ende der Aufnahmen verlangte<br />
der Komponist Max Steiner von Wallis, "As Time Goes<br />
By" fallenzulassen. Dieser Entscheid hätte aber bedeutet, dass<br />
alle Szenen in welchen die Melodie gespielt oder gesungen<br />
wird, neu gefilmt werden müssten, denn das war ja der romantische<br />
Draht zwischen Rick und Ilsa. <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> ihrerseits<br />
hatte schon am Tag nach der Fertigstellung von "Casablanca"<br />
die Arbeit an einem neuen Film aufgenommen,<br />
weshalb ihre Rückkehr zur Wiederholung so vieler Szenen eine<br />
logistische Nachtmär gewesen wäre. So blieb "As Time Goes<br />
By" eben drin. Die von Steiner vorgeschlagene Alternative<br />
wäre nach Meinung zahlloser Fans auch eine zu schreckliche<br />
Idee gewesen.<br />
EIN KOMPLEXES SPEKTRUM VON EMOTIONEN verströmend<br />
– wiedererwachte Liebe, Verletzbarkeit, Ehre in Unsicherheit<br />
– brachte <strong>Ingrid</strong> eine Art von fragiler Romantik in den<br />
Film ein, die direkt zu den Herzen des kriegsgebeutelten Publikums<br />
sprach. Dieser Film prägte ihr Filmimage für alle Zeiten,<br />
<strong>ob</strong>wohl es bei dessen Produktion nicht einen einzigen erfreulichen<br />
oder erinnerungswürdigen Tag gab. Ilsa war gebändigtes<br />
Feuer, mit Ergebenheit kollidierte Sehnsucht, vom Kopf<br />
niedergekämpftes Herz – und irgendwann 1942 und jedes Jahr<br />
danach erkannte das Publikum, dass hier eine Frau war, um<br />
die ein moralischer Aristokrat wie Henreid kämpfen konnte,<br />
aber auch eine Frau, die ein zynischer Schlägertyp wie Bogart<br />
nie aus seinem kalten, ungezähmten Herz loswerden konnte.<br />
"Casablanca" brachte <strong>Ingrid</strong> ihre erste grosse Liebesrolle<br />
(wenn nicht ihre erste grosse Rolle schlechthin). Aber<br />
weil ihr die Erinnerung daran immer Mühe bereitete – und dies<br />
mit den Jahren in zunehmendem Masse, <strong>als</strong> der Film Kultsta<strong>tu</strong>s<br />
erreichte und sie mit ihm identifiziert wurde – verliess sie<br />
sich nie darauf, dass dieser Ruf sie weit bringen würde und<br />
wollte sie nie zu dieser schrecklich netten Ikonographie der<br />
Ilsa Lund zurückkehren.<br />
186
WIE ÜBLICH TRIUMPHIERTE SIE über alle andern, und<br />
ihre Leis<strong>tu</strong>ng wird zu Recht bewundert. Während den ersten<br />
zwei Dritteln des Films gab sie Ilsa eine ausserordentliche Ruhe,<br />
wodurch deren romantische Zurückhal<strong>tu</strong>ng ihre Prägnanz<br />
und Reife erhält. "Casablanca" enthält ausserordentlich zahlreiche<br />
und lange Nahaufnahmen auf <strong>Ingrid</strong>, die aber dem<br />
Fortgang der Handlung oder der emotionalen Energie des<br />
Films keinen Abbruch <strong>tu</strong>n. Ihr Freund, die Kamera (wie sie zu<br />
sagen pflegte), erfasste jede Nuance, und im Gegensatz zu<br />
vielen andern Darstellern schuf diese Schauspielerin den Eindruck<br />
von Gefühlsverwirrungen im emotionalen Netzwerk, wie<br />
sie das Innenleben eines jeden erwachsenen Menschen beeinflussen.<br />
Im letzten Drittel des Films dann gab sie Ilsa jene höhere,<br />
verdünnte Leidenschaft, die sich den Weg durch die<br />
Konfusion bahnte. In der Szene, in welcher sie versucht, Bogart<br />
Transitbriefe zu entlocken, um mit Henreid Casablanca<br />
verlassen zu können, fixierte Curtiz die Kamera praktisch ausschliesslich<br />
auf <strong>Ingrid</strong>, die die richtigen Pausen und das wechselweise<br />
Zittern vor Aufregung beherrschte, womit sie die Gefühlsskala<br />
ihrer Figur im emotionalen Spannungsfeld zwischen<br />
Drohungen und einer Liebeserklärung fühlbar werden liess.<br />
Ilsa (<strong>Bergman</strong>): Das ist reines Selbstmitleid, oder etwa<br />
nicht? Da steht so viel auf dem Spiel und<br />
du denkst an nichts anderes <strong>als</strong> an deine<br />
Gefühle. Eine Frau verletzt dich. Und du<br />
nimmst Rache an der ganzen Welt. Du bist<br />
ein – ein Feigling, ein Weichling!<br />
(Sie meint das im Grunde nicht ernst, ihre Augen füllen sich<br />
mit Tränen).<br />
Nein, nein Richard – es <strong>tu</strong>t mir Leid, es <strong>tu</strong>t<br />
mir Leid – aber du bist unsere letzte Hoffnung<br />
(ihre Stimme verkommt zum Geflüster).<br />
Wenn du uns nicht hilfst, wird Victor<br />
Laszlo in Casablanca sterben.<br />
187
Rick (Bogart): Ja und? Ich werde auch in Casablanca<br />
sterben. Es ist ein guter Ort dafür. Nun,<br />
wenn du...<br />
Ilsa: (unterbricht abrupt, zieht einen Revolver)<br />
Also gut – ich versuchte, mit dir zu verhandeln.<br />
Ich versuchte alles. Jetzt will ich<br />
diese Briefe. Geh' sie holen.<br />
Rick: Nicht nötig, ich habe sie hier.<br />
Ilsa: (mit tränenden Augen)<br />
Leg sie auf den Tisch.<br />
Rick: Wenn dir Laszlo und diese Sache so viel<br />
Wert sind, wirst du vor nichts Halt machen.<br />
(Er bewegt sich auf sie zu) Gut. Machen<br />
wir es einfacher für dich. Los schiess.<br />
Du <strong>tu</strong>st mir damit einen Gefallen.<br />
Ilsa: (Zitternd) Richard, ich versuchte wegzu-<br />
bleiben. Ich dachte, dich nie wieder zu sehen.<br />
Dass du weg wärst aus meinem Leben.<br />
(Sie umarmen sich) Am Tag, <strong>als</strong> du<br />
Paris verliessest – wenn du wüsstest, was<br />
ich durchgemacht habe – wenn du wüsstest,<br />
wie sehr ich dich geliebt habe – wie<br />
sehr ich dich immer noch liebe. (Sie küssen<br />
sich.)<br />
Auf dem Papier ist die Szene, wie der grosse Filmautor<br />
Ben Hecht in einem andern Zusammenhang sagte, viel romantisches<br />
Blabla; aber durch <strong>Ingrid</strong>s durchwegs glaubhafte Darstellung<br />
ist sie reine, zitternde Poesie vis-à-vis von Bogarts<br />
stoischer Prosa – es funktioniert perfekt.<br />
Aller Filmromantik zum Trotz gab es keine freundschaftlichen<br />
Verbindungen, welche die Darsteller während der<br />
Produktion gefördert und miteinender verbunden hätten. "In<br />
'Casablanca' küsste ich Bogart", sagte <strong>Ingrid</strong>, "aber ich kannte<br />
ihn nie wirklich. Er kam aus seiner Garder<strong>ob</strong>e, erledigte<br />
188
seine Szene, und verschwand wieder. Es war alles sehr seltsam<br />
und distanziert." Erst sehr viel später erfuhr sie, dass<br />
Bogarts Frau, die exzentrische Schauspielerin Mayo Methot,<br />
auf ihren Ehemann krankhaft eifersüchtig war und ihm regelmässig<br />
mit hässlichster Gewalt drohte, sollte er sich mit einer<br />
Schauspielerin auch nur anfreunden. Bogart, die Ikone des<br />
unabhängigen, selbstbewussten Machos, gehorchte. Vielleicht<br />
hatte er auch einen persönlichen Grund dafür, denn auch er<br />
vertraute Kollegen an (wie vor ihm Spencer Tracy), dass er<br />
das Gefühl habe, <strong>Ingrid</strong> stehle allen andern Darstellern den<br />
Focus des ganzen Films.<br />
Während eines kurzen Urlaubs vom 14. Juni bis zum 4.<br />
Juli besuchte Petter Hollywood (Pia blieb bei Mabel in Rochester)<br />
und begab sich direkt zu den Warner S<strong>tu</strong>dios; bei sich<br />
hatte er – zum Erstaunen aller – zehn Rollen 16-mm-Filme,<br />
die er vom Lindström-Familienleben in Rochester aufgenommen<br />
hatte, vor allem von Pias Kapriolen, die ein anspruchsvoller<br />
kleiner Zwirbel von vier Jahren war. <strong>Ingrid</strong> war entzückt<br />
und lud nach Feierabend einige Leute vom Set ein, sich diese<br />
improvisierten Aufnahmen mitanzusehen.<br />
ALLEN PROFESSIONELLEN SCHWIERIGKEITEN um "Casablanca"<br />
zum Trotz war der Film ein unmittelbarer Erfolg,<br />
der mit einem historischen Zufall begann. Am 8. November<br />
landeten die alliierten Streitkräfte in Casablanca, weshalb Jack<br />
Warner von seinen Publizisten aufgefordert, den Fim in New<br />
York vorzeitig in die Kinos zu bringen. Nach einer ausverkauften<br />
Premiere wurde die letzte Stehplatzkarte für alle bis zum<br />
Jahresende noch folgenden Vorstellungen verkauft. Als Präsident<br />
Roosevelt im Januar 1943 von der Casablanca-Konferenz<br />
zurückkehrte, war der Erfolg des Films zementiert: er erschien<br />
gleichzeitig mit den Schlagzeilen der Weltpresse und Mitte<br />
Februar lief er über die Leinwand von über 200 amerikanischen<br />
Kinos. Tatsächlich war der Präsident selbst unter den<br />
Fans; er orderte eine Kopie des Films, den er seinen Gästen<br />
an der Neujahrs-Party im landeseigenen 'casa blanca' an der<br />
189
Pensylvania Avenue 1600 vorführen wollte.<br />
Vor jedem Kino im Land bildeten sich lange Menschenschlangen,<br />
und es war wohl unausweichlich, dass diese unwiderstehliche<br />
Geschichte um Liebe und Verzicht - <strong>ob</strong>schon sie<br />
von f<strong>als</strong>chen Tatsachen, logischen Fehlern und solchen bei der<br />
Zeichnung der Charaktere durchsetzt war – für acht Academy<br />
Awards nominiert wurde (keiner davon für <strong>Ingrid</strong>). Er gewann<br />
dann deren drei (bester Film, beste Regie und bestes Script<br />
des Jahres 1942), und wurde noch mehr <strong>als</strong> ein halbes Jahrhundert<br />
danach zu den populärsten Filmen aller Zeiten gezählt<br />
– nicht wegen seiner historischen Ak<strong>tu</strong>alität, sondern weil er<br />
auch heute noch erstklassige Unterhal<strong>tu</strong>ng bietet. Aber <strong>Ingrid</strong><br />
<strong>Bergman</strong> selbst konnte nie verstehen, warum. Wenn sie für<br />
ihre Leis<strong>tu</strong>ng Komplimente erhielt, schmunzelte sie geduldig<br />
und meinte lachend: "Na ja, es war eine sehr seltsame Erfahrung.<br />
Ich möchte sagen, wir wussten nie, wie's weitergehen<br />
würde..."<br />
EINES TAGES ENDE JULI bemerkte Paul Henreid <strong>Ingrid</strong><br />
in einer Drehpause in stiller Niedergeschlagenheit. Nun, erklärte<br />
sie, sie sehe überhaupt keine Perspektive für sich. Selznick<br />
gab ihr zu wenig zu <strong>tu</strong>n, ein Leben ohne Arbeit war ihr<br />
unerträglich, und einer massiven Kampagne zum Trotz hatte<br />
sie die Rolle der Maria an Vera Zorina verloren. Und wie sie<br />
davon sprachen, hatten die Dreharbeiten zu "Wem die S<strong>tu</strong>nde<br />
schlägt" in Nordkalifornien begonnen. Sie war ehrlich (und zu<br />
Recht) der Meinung, die Rolle wäre mit ihr besser besetzt gewesen.<br />
"Sie dachte dabei sicher nicht an ihre eigene Schönheit",<br />
sagte Henreid nach Jahren, "sie war nur vom Wunsch<br />
beseelt, in ihrem Beruf die bestmögliche Arbeit einzubringen."<br />
Während <strong>Ingrid</strong> Paul Henreid ihr unglückliches Herz<br />
ausschüttete, konnte sie nicht wissen, dass die Glocken hunderte<br />
von Meilen weg vor Ort die Katastrophe über einer Produktion<br />
einläuteten, die wie "Casablanca" von Pr<strong>ob</strong>lemen er-<br />
190
schüttert wurde, am Ende aber weit weniger populär und erfolgreich<br />
war.<br />
Vorab gab es Pr<strong>ob</strong>leme mit Regisseur Sam Wood,<br />
selbst unter besten Bedingungen kein sehr einfühlsamer Regisseur,<br />
ein Techniker, dem die Aufstellung der Pferde wichtiger<br />
war, <strong>als</strong> die Arbeit mit den Schauspielern. Aber Wood hatte<br />
eben mit Gary Cooper in "Pride of the Yankees" gearbeitet<br />
und war Coopers Kumpan, womit ein Ersatz hier ausser Frage<br />
stand. Ausserdem schätzten weder Cooper noch Wood Vera<br />
Zorina besonders, die zwar eine exquisite Schönheit, aber für<br />
die Rolle der Maria und die harte Arbeit in den kalifornischen<br />
Bergen zu zerbrechlich war. Gemeinsam informierten Cooper<br />
und Wood den Pruduktionsleiter, B.G. de Sylva, dass sie im<br />
Einvernehmen mit Hemingway und Selznick beschlossen hätten:<br />
<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> sei die Richtige für diese Rolle. Zorina<br />
müsse gehen.<br />
Daraus ergab sich allerdings ein delikates Dilemma,<br />
denn Wood hatte Zorina – entgegen seiner echten Meinung –<br />
bereits erklärt, ja, ihr Test sei grossartig verlaufen und dass<br />
die eine Szene, die er mit ihr gefilmt habe, zeige, dass sie eine<br />
zauberhafte Schauspielerin sei. Diese Ausflüchte, die zweifellos<br />
schmeicheln und ermutigen sollten, fielen nun mit lautem<br />
Getöse auf den Urheber zurück, denn die arme Frau hatte sie<br />
für bare Münze genommen. Von Beruf Ballerina und gegenwärtig<br />
die Frau von Choreograph George Balanchine, stand sie<br />
bei Paramount unter Vertrag, ohne über eine nennenswerte<br />
schauspielerische Erfahrung zu verfügen. Als Wood sie ins Visier<br />
nahm, graute ihr vor dem Gedanken, in einer derart grossen<br />
Produktion wie "Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt" aufzutreten.<br />
Woods L<strong>ob</strong>hudelei erfüllte sie mit f<strong>als</strong>chen Hoffnungen – womit<br />
der Paukenschlag der Entlassung umso stärker dröhnte.<br />
Und wie es so geht, soll Zorina dafür Kerzen gespendet haben,<br />
in einem Film nicht in Erscheinung treten zu müssen, der in<br />
seiner endgültigen Fassung zu den allerlangweiligsten Unterhal<strong>tu</strong>ngsflops<br />
in Hollywoods Geschichte zählt.<br />
191
Ende Juli war "Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt" um einige<br />
Wochen im Verzug, weil Cooper (mit Wood in seinem Kielwasser)<br />
gelassen auf die Nachricht wartete, dass "Casablanca"<br />
fertiggestellt und <strong>Bergman</strong> verfügbar sei. Dann, drei Tage vor<br />
Einstellung dieser Produktion wurde Zorina in De Sylvas Büro<br />
beordert. Cooper und Wood hatten ihm das Ultima<strong>tu</strong>m gestellt,<br />
dass entweder <strong>Bergman</strong> eingesetzt werde oder sie beide<br />
die Produktion verlassen würden. Zorina fühlte sich für den<br />
Rest ihres Lebens betrogen, wütend auf das, was sie später<br />
<strong>als</strong> "das von David O. Selznick rücksichtslos konstruierte Ultima<strong>tu</strong>m"<br />
bezeichnete.<br />
Aber das war nicht die Wahrheit, und niemand hatte<br />
den Mut, sie ihr zu gestehen. Das Drehbuch war viel zu lang<br />
und die Pr<strong>ob</strong>leme damit mehrten sich täglich; sie selbst konnte<br />
nicht genügend Wirkung erzeugen, um den Film an Coopers<br />
Seite voranzubringen; und niemand, wie das LIFE-Magazin es<br />
ungewöhnlich sarkastisch ausdrückte, "konnte sie daran hindern,<br />
sich <strong>als</strong> Ballett-Primadonna aufzuführen". Hemingway,<br />
der im Hintergrund starken Einfluss ausübte, war nicht überrascht;<br />
schliesslich war <strong>Ingrid</strong> seine Wahl der ersten S<strong>tu</strong>nde.<br />
Und da rief De Sylva, der es sich nicht leisten konnte,<br />
Cooper, Wood und Hemingways Unterstützung neben all dem<br />
vielen Geld, das er für das Projekt bereits bewilligt hatte, zu<br />
verlieren, Selznick an. Wäre <strong>Ingrid</strong> bereit, den Grossteil ihrer<br />
Haarpracht abzuschneiden? Am 31. Juli unterbreitete Selznick<br />
<strong>Ingrid</strong> diese Frage beiläufig. Notfalls würde sie auch ihren Kopf<br />
abschneiden, rief sie aufgeregt. Glücklich, "Casablanca" hinter<br />
sich zu haben, ahnte sie nicht, wie weit grössere Pr<strong>ob</strong>leme auf<br />
sie zukommen sollten. Auch Selznick zeigte sich ziemlich zufrieden:<br />
er machte mit Paramount einen schnellen, glatten<br />
Deal, wonach ihm für <strong>Ingrid</strong> $ 150'000 bezahlt wurden (wovon<br />
<strong>Ingrid</strong>, inklusive Entschädigung für Überzeitarbeit $ 34'895<br />
erhielt).<br />
AM 5. AUGUST KAMEN INGRID UND RUTH ROBERTS in<br />
Sonora, den Ausläufern der Sierra Nevada beim Stanislaus<br />
192
National Forest an. Tags darauf schrieb Ruth an Dan O'Shea,<br />
<strong>Ingrid</strong> sehe blendend aus und sei zum Zerspringen glücklich.<br />
Sie freute sich auf ihre Traumrolle, auf den Schnitt und die<br />
Tönung ihres Haars und darauf, dass ihre blasse Gesichtsfarbe<br />
etwas auf Olive getrimmt würde. Es war ihr erster Farbfilm<br />
und vor allem freute sie sich auf die neuen Erfahrungen – und<br />
selbstverständlich auf Gary Coopers Gesellschaft, dessen natürlichen<br />
Arbeitsstil sie so sehr bewunderte.<br />
<strong>Ingrid</strong> hätte keine Freude gehabt, wären ihr die von<br />
Petter unbeabsichtigt verursachten Schwierigkeiten zu Ohren<br />
gekommen. Irrtümlicherweise sandte jemand in Selznicks<br />
Rechtsabteilung den Optionsvertrag nach Rochester, den <strong>Ingrid</strong><br />
zur Legalisierung ihres Einsatzes in "Wem die S<strong>tu</strong>nde<br />
schlägt" unterzeichnen sollte. Petter s<strong>tu</strong>dierte die verschiedenen<br />
Klauseln und hatte einige Einwendungen zu machen, was<br />
ein veritables Ping-Pong von Briefen und Telegrammen zwischen<br />
Rochester und Culver City auslöste. Ohne Charles Feldman<br />
zu konsultieren begann Petter einfach in <strong>Ingrid</strong>s Namen<br />
zu verhandeln, um höhere Boni, mehr Freizeit und andere<br />
Konzessionen, die <strong>Ingrid</strong> nie verlangt hat und die Selznick <strong>als</strong><br />
überrissen bezeichnete. "Das Einzige, was <strong>Ingrid</strong> noch von<br />
ihrem grossen Glück und Erfolg trennen kann, ist Ihr wirrer<br />
Versuch, sie zu managen", schrieb Selznick in seinem Brief<br />
vom 6. August an Lindström.<br />
Zwei Wochen später schrieb Petter an O'Shea: "Ich bedaure<br />
meine Zusage, Ihnen den Vertrag schnellstens wieder<br />
zurückzusenden . . . .Ich kann <strong>Ingrid</strong> nicht veranlassen, einen<br />
Vertrag zu unterzeichnen, den ich nur eine halbe S<strong>tu</strong>nde lang<br />
sehen konnte . . . Ich werde Sie heute Abend anrufen." Selznick<br />
war wütend und beklagte sich bei Feldman: "Lindström<br />
versucht wieder Tricks und will aus <strong>Ingrid</strong>s künftig höherem<br />
Marktwert durch "Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt" ..seinen Vorteil<br />
schlagen. Wenn Lindström auf seinem Standpunkt beharrt und<br />
versucht, <strong>Ingrid</strong>s Freunde, Produzenten und Agenten für<br />
dumm zu verkaufen, wird <strong>Ingrid</strong> die Zeche zu bezahlen haben."<br />
Ihr Vertrauen in ihren Ehemann und ihre Bereitschaft,<br />
ihn selbst ihre privaten Geldangelegenheiten verwalten zu las-<br />
193
sen, hat ihr bereits einige Sorgen eingetragen: "Sie wagte<br />
nicht einmal, ohne seine Zustimmung ein Kleid zu kaufen",<br />
sagte Michel Bernheim, ein französischer Filproduzent und<br />
Freund der Lindströms.<br />
"Ich persönlich hätte Dr. Lindström nachhause geschickt",<br />
sagte Selznick zu seinem PR-Chef Whitney Bolton,<br />
der sich darüber beklagte, dass Lindström zu jedem Aspekt<br />
von Selznicks Management von <strong>Ingrid</strong> Kritik anzubringen hatte.<br />
Selznick hatte einen persönlichen Grund für die Ablehnung<br />
von Petters Managementstil, weil dieser während seines Juni-<br />
Besuchs in Hollywood mit Selznick ziemlich undiplomatisch<br />
umgesprungen war. "David war scheinbar nicht sehr gut auf<br />
mich zu sprechen", schrieb Petter an Davids Frau Irene, "vielleicht<br />
hat er mir die Bemerkung übelgenommen, seine Frau<br />
und sein Schwiegervater seien seine wertvollsten Aktiven." Mit<br />
solcher Offenheit konnte Petter keine Verbündeten gewinnen.<br />
VORDERHAND SOLLTE INGRID von dieser Entwicklung<br />
der Dinge nichts erfahren, was vor allem Selznick so wollte; er<br />
wusste, dass sie jetzt in der Sierra Nevada <strong>ob</strong>en mit viel Arbeit<br />
hart gefordert wurde.<br />
Das Leben von Anfang August bis Ende September war<br />
dort <strong>ob</strong>en in mancherlei Hinsicht recht rauh, in anderer Beziehung<br />
aber auch enorm angenehm. Wie schon so oft, machte<br />
<strong>Ingrid</strong> im ersten Fall aus der Not eine Tugend, während sie<br />
den zweiten Fall glücklich auszukosten wusste.<br />
Erstens herrschten dort Lebensbedingungen, die nur<br />
von wenigen Stars klaglos hingenommen worden wären. Nahe<br />
beim Stanislaus River wurde ihr und Ruth eine kleine Ferienhütte<br />
zugewiesen, die Paramount von einer kalifornischen Familie<br />
gemietet hatte. Im malerischen Bach hinter der Veranda<br />
schwammen Forellen, und wenn sie Zeit dazu fanden, angelten<br />
sich <strong>Ingrid</strong> und Ruth eine für Gary Cooper oder Sam<br />
Wood. Das war aber kein Hollywood-Bungalow: es gab da nur<br />
wenig Wasser und weder Elektrizität, noch Heizung oder Tele-<br />
194
fon. Der Produktions-Direktor fürchtete sich vor dem Zorn der<br />
Hauptdarstellerin, war dann aber überrascht zu sehen, wie sie<br />
das rustikale Leben genoss. Ihre Garder<strong>ob</strong>e für die Rolle erforderte<br />
wenig mehr <strong>als</strong> ein Herrenhemd, eine alte Hose und<br />
ein Paar Espadrilles, worin sie sich auch in der Freizeit am<br />
wohlsten fühlte. Es war eine neue Erfahrung, ein einfacheres<br />
Leben, das sie mit Humor führte ohne irgendwelche Wünsche<br />
zu haben. "Ich bin gerne draussen an der Sonne", schrieb sie<br />
am 23. August an Irene Selznick, "und mit dem Klettern und<br />
Reiten fühle ich mich so viel besser, <strong>als</strong> beim Herumsitzen in<br />
einem bequemen Garder<strong>ob</strong>es<strong>tu</strong>hl."<br />
Dann kamen die Anstrengungen der Dreharbeiten. Der<br />
gesamte Film war von William Cameron Menzies entworfen,<br />
der für das Aussehen jeder Szene in "Gone With the Wind",<br />
"Our Town", "Kings Row" und "Pride of the Yankees" verantwortlich<br />
war, und er wählte alles, was am ehesten dem zerklüfteten<br />
spanischen Terrain gleichsah. Dies bedeutete meistens,<br />
dass sich Darsteller und Mannschaft etwa 15 Meilen weiter<br />
in die Berge hinauf begeben mussten, zwischen blanke<br />
Granitklötze auf achttausend bis neuntausend Fuss über Meer.<br />
Am frostigen Morgen kam die Gesellschaft dort an, arbeitete<br />
während des heissen Tages durch, um sich dann abends mit<br />
warmem Kaffee gegen die Kälte zu wappnen, bevor sie in Wagen<br />
verfrachtet wieder in die Stadt zurückfuhren. <strong>Ingrid</strong> liebte<br />
jede Minute dieses Lebens.<br />
Allerdings nicht, weil sie wusste, dass sie an einem<br />
Meisterwerk arbeitete. Dem naivsten Crew-Mitglied war sehr<br />
bald klar, dass "Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt" mit seinen endlosen<br />
Dialogen und seinen ebenso endlosen Nahaufnahmen auf dem<br />
besten Weg war, zu einem vernichtend langweiligen und emotionell<br />
flachen Film zu werden, der mit Leben und Liebe (vom<br />
wichtigen politischen Aspekt nicht zu reden) in der Hemingway-Novelle<br />
nichts mehr gemein hatte. Es war das Jahr 1942,<br />
und Hollywood-Produktionen hatten in erster Linie politisch<br />
korrekt zu sein: der spanische Faschismus wurde nicht verurteilt,<br />
Franco und seine Streitkräfte nicht erwähnt, über die<br />
Guerillas nur sehr wenig Hintergrundinformation geboten, und<br />
195
nur mit den höflichsten Andeu<strong>tu</strong>ngen wurde die pr<strong>ob</strong>lematische,<br />
leidenschaftliche Affäre zwischen dem Friedenskämpfer<br />
R<strong>ob</strong>ert Jordan und dem ungebildeten Bauernmädchen Maria<br />
beleuchtet. (Fünfzig Jahre später wurden einige Schnitte für<br />
den Heimvideomarkt überarbeitet: Der Film wurde so weniger<br />
langfädig ohne die Liebesgeschichte zu beeinträchtigen, aus<br />
weniger wurde etwas mehr.)<br />
Aber es waren nicht nur die Motion Pic<strong>tu</strong>re Code's-<br />
Zensoren, die die Geschichte verdünnten: Sam Wood ging<br />
jedes Gefühl für das Tempo ab, und er interessierte sich für<br />
keinen der Darsteller ausser für seinen Freund Gary Cooper.<br />
Der Film ist aber deshalb von besonderem Interesse, weil es<br />
<strong>Ingrid</strong> offensichtlich gelungen ist, den sonst hölzernen Cooper,<br />
der von ihrer Nähe scheinbar mehr beeindruckt war, <strong>als</strong> normalerweise<br />
von anderen weiblichen Co-Stars, zu einer lebendigeren<br />
Darstellung zu bringen. Da und dort deuten spontane<br />
Fröhlichkeit und Lacher seine Sympathie zu ihr an und ein<br />
Aufblühen in den Liebesszenen, wie man es bei Cooper sonst<br />
nicht kennt. Betrachtet man seine Filme Jahrzehnte später,<br />
wird sofort klar, dass seine Popularität genau in seiner Distanziertheit<br />
und und seinem fein ziselierten Spiel begründet ist –<br />
Qualitäten, die oft mit Talent verwechselt werden. Aber Gary<br />
Cooper war immer Gary Cooper, gross im Sattel aber klein im<br />
Bereich seiner schauspielerischen Fähigkeiten.<br />
Wood hatte wirklich Glück in diesen seltenen Momenten,<br />
wo "Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt" Feuer fing; aber für sie und<br />
die Talente von Bill Menzies, Katina Paxinou und ein Team von<br />
erfahrenen Schauspielern in Nebenrollen mochte der Film<br />
überhaupt keine Bedeu<strong>tu</strong>ng haben. Paxinou alleine unter acht<br />
Nominationen für den Film, erhielt den Oscar <strong>als</strong> beste Nebenrolle<br />
des Jahres. <strong>Ingrid</strong> war auch nominiert <strong>als</strong> beste Schauspielerin<br />
des Jahres. Aber am Ende erwies sich "Wem die<br />
S<strong>tu</strong>nde schlägt" <strong>als</strong> dicker Technicolor-Ferienprospekt für die<br />
kalifornischen Berge, ein absurd aufgeblasener Gähner, der<br />
selbst den hyperaktiven, pillenschluckenden Selznick hätte<br />
narkotisieren können.<br />
196
Die Produktion wurde unbeabsichtigt verbrämt im Geiste<br />
von Disneys "Piraten der Karibik". Indem Menzies Woods<br />
Anweisungen unbesehen folgte, verherrlichte er den Film in<br />
der Weise, dass jede Szene zu einem Gemälde wurde, das zu<br />
schön war, um zur rohen Geschichte zu passen. Beispielsweise<br />
in den Winterszenen ist der Film so attraktiv wie ein Paket<br />
Hallmark-Weihnachtskarten; nur der alte St. Niklaus fehlt, der<br />
auf dem Schlitten um den Berg kurvt. Auch Victor Youngs romantischer<br />
Ablauf stimmt nicht immer – sein Hauptmotiv wird<br />
eindeutig zu oft wiederholt und jede Szene mit Handlung wird<br />
von aufdringlicher Musik untermalt. In einer Szene, in der ein<br />
Republikaner Pablo angreift, unterstreicht Young jeden Schlag,<br />
den der Mann dem Verräter verpasst, mit einem explosiven<br />
Akkord. In solchen Momenten nähert sich der Film gefährlich<br />
der Satire. In der Schlussanalyse erschien der Krieg nirgendwo<br />
so attraktiv, wie in Paramounts Spanien.<br />
Selbst in einer der beiden Hauptrollen konnte die sonst<br />
einfallsreiche <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> keine Gelegenheiten finden, ihr<br />
Talent einzusetzen. Obschon sie in ihren Memoiren auf die<br />
erfreuliche Zusammenarbeit mit Cooper Bezug nimmt, vertraute<br />
sie Jahre später Freunden an, dass die Monate der Arbeit<br />
an diesem Film für sie zu den frustrierendsten und<br />
enttäuschendsten Erlebnissen ihrer Karriere zählten: "Ich<br />
hasste jeden Moment davon", sagte sie tonlos, denn sie wusste<br />
von Anfang an, dass ihr das Script nichts geben würde, woran<br />
sie hätte arbeiten können – selbst ihre beiden dramatischen<br />
Monologe ergaben keinen Kontext, der beim Publikum<br />
ein logisches Einfühlungsvermögen generiert hätte.<br />
<strong>Ingrid</strong>s beste Leis<strong>tu</strong>ngen entstanden in der Zusammenarbeit<br />
mit erstklassigen Darstellern und inspirierten Regisseuren,<br />
die eine Atmosphäre schufen, in der sie ihr Talent entfalten<br />
konnte. Cooper, die perfekte Verkörperung des Charakters<br />
von Jordan, bot ihr nichts, woran sie hätte arbeiten können,<br />
ausser seinem Charme, und für "Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt"<br />
war das bei weitem zu wenig. Letztlich spielte Cooper Cooper<br />
(wie nur Cooper es kann), und durch seine Unfähigkeit, seine<br />
Diktion anzupassen, wirkte sein überspannter, repetitiver<br />
197
Schlussmonolog an <strong>Ingrid</strong> auf das Publikum dam<strong>als</strong> und heute<br />
nur ärgerlich: "Du musst gehen, weil du ich bist und ich du<br />
bin, und wohin du gehst, gehe auch ich – verstehst du? – und<br />
wenn du bleibst, kann ich nicht gehen, weil wir uns nie trennen<br />
können, weil ich nur gehe, wohin du gehst und wenn du<br />
gehst, dann bin ich frei zu gehen, <strong>ob</strong>wohl ich bleibe – weil ich<br />
du bin und du ich bist."<br />
Der Geist gerät ins Torkeln bei dieser Art von Humbug-<br />
Mystik, in Zweitklässler-Syllogismus von der Sorte verpackt,<br />
mit der Primarschüler ihre Kumpel zu überrumpeln versuchen,<br />
so wenig überzeugend, wie das Versprechen eines Politikers,<br />
die Steuern senken zu wollen. Abgesehen davon enthält der<br />
Text einen gravierenden logischen Fehler: wenn sie er ist und<br />
er sie, dann müsste sie eigentlich bleiben und mit ihm umkommen<br />
– weil sie er ist! Doch was soll's. Cooper murmelt die<br />
Szene herunter, <strong>als</strong> litte er eher an Gehirnerweichung <strong>als</strong> an<br />
einem gebrochenen Bein.<br />
Was <strong>Ingrid</strong> anbelangt, so war sie in "Walpurgis Night",<br />
"A Woman's Face", "Dr. Jekyll and Mr. Hyde" und "Casablanca"<br />
so souverän, dass sie hier ausnahmsweise der Oberfläche<br />
von Marias Charakter entlang schlittern konnte. Ohne jede<br />
Führung durch das Script, die Regie oder den Co-Star, muss<br />
Marias quälende Vergangenheit und die Ungewissheit ihrer<br />
Zukunft zum Durcheinander geraten. <strong>Bergman</strong>s Spiel in diesen<br />
Schlüsselszenen wiederspiegelt einen uncharakteristisch <strong>ob</strong>erflächlichen<br />
Kummer, der in keiner Relation zur brutalen Wirklichkeit<br />
einer Frau steht, die monströsen Verrat überlebt hat.<br />
Sie wendet sich ab von ihrem Freund, der Kamera, zupft an<br />
ihren geschorenen Locken und umarmt einen Baumstamm,<br />
um ihrem Kummer Ausdruck zu geben. Aber selbst die rastlose<br />
Folge dieser Szenen kann ihre emotionale Leere nicht verbergen<br />
– und niemand empfand das quälender, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong><br />
selbst.<br />
Es ist unmöglich, Sam Wood freizusprechen, denn er<br />
hatte nicht das Format, seine Darsteller ins tiefere Wasser zu<br />
führen; statt dessen verherrlichte der Film den Krieg, den<br />
198
Hemingway verdammte. Ein Film muss die Schrecknisse des<br />
Krieges herüberbringen, um den Segen des Friedens spürbar<br />
zu machen; "Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt" homogenisiert beides.<br />
<strong>Ingrid</strong>s hübsch gestylter Haarschnitt und sorgfältiges Pfannkuchen-Makeup<br />
wurden dadurch wirkungslos, und so erschien<br />
sie letztlich nordischer <strong>als</strong> je zuvor – wohl weil sie sich in Maria<br />
nicht verlieren konnte. Ihr erster Technicolor-Film zeigt sie<br />
hinreissend verwahrlost, wie alle ihre Mitspieler, unter welchen<br />
es nicht einen einzigen Spanier hatte. Sam Wood, dem die<br />
Szenerie und die Pferde viel wichtiger waren <strong>als</strong> die Story und<br />
die Schauspieler, präsentierte ein Fantasieland, in dem die<br />
Glocken des Patriotismus laut aber leer tönten. "Es war alles<br />
sehr schwierig", sagte <strong>Ingrid</strong> Jahre später, "mit Sam Wood,<br />
der aufgeregt herumschrie und brüllte. So oft hatte er die<br />
Kontrolle über sich völlig verloren – wirklich, ich habe sowas<br />
noch nie zuvor erlebt."<br />
Die Kritiker äusserten sich respektvoll, aber enttäuscht.<br />
Sie bot wirklich gutes Spiel, wurde immerhin festgehalten,<br />
aber sie schuf nicht mehr <strong>als</strong> eine flüchtige Ähnlichlichkeit mit<br />
einem echten menschlichen Wesen. Ein Mädchen, das von<br />
einer Gang vergewaltigt wurde und Massenmord mitansehen<br />
musste, kann nicht wie aus einer Palmolive-Anzeige entflohen<br />
in die Szene springen. Ueber Gary Cooper äusserte sich James<br />
Agee ganz im Sinne vieler anderer: er sah gut aus, "aber generell<br />
etwas blass".<br />
<strong>Ingrid</strong>s einzige glücklichen Erinnerungen an den Film<br />
hatten einen einzigen Grund. S<strong>tu</strong>nden nachdem sie zum Team<br />
gestossen war, war sie über beide Ohren in Gary Cooper verliebt.<br />
Immer diskret, sprach <strong>Ingrid</strong> meistens von seinen<br />
schauspielerischen Fähigkeiten. "Er war einer der natürlichsten<br />
Schauspieler überhaupt", sagte sie später,<br />
"so natürlich, dass du nicht wusstest <strong>ob</strong> er spielte –<br />
du musstest im Script nachsehen, <strong>ob</strong> er seinen Text<br />
sprach oder einfach plauderte. Er war auch sehr scheu<br />
und einsilbig, aber auch sehr nett. Und wie hübsch!<br />
199
200<br />
Ihm zuzusehen, war so wundervoll. Es war unglaublich,<br />
dass ich dort mit ihm gearbeitet habe. F<strong>als</strong>ch<br />
war, dass man mir auf der Leinwand mein Glück ansah.<br />
Ich war viel zu glücklich, um Marias tragische Figur<br />
ehrlich zu portraitieren."<br />
Auf <strong>Ingrid</strong>s Bemerkungen, die gewiss für ihre romantische<br />
Verliebtheit sprechen, aber keinen eindeutigen Hinweis<br />
für eine gelebte Affäre boten, wurde nach ihrem Tod verwiesen,<br />
um eben dieses zu belegen. Aber gibt es einen Beweis für<br />
diese Annahme?<br />
Wir wissen dass Cooper, dam<strong>als</strong> 41-jährig, in einer wenig<br />
glücklichen Ehe mit einer Frau lebte, die ihm die Scheidung<br />
verweigerte und dass sein Leben mit einer Serie stürmischer<br />
Liebesaffären stark gepfeffert war. Er hatte Beziehungen<br />
zu einigen der verführerischsten und leichtlebigsten Frauen<br />
Hollywoods dokumentiert, so unter andern zu Clara Bow, Marlene<br />
Dietrich und Lupe Velez, deren Liste der Er<strong>ob</strong>erungen ein<br />
kleines Telefonbuch hätte füllen können. (Patricia Neal, wäre<br />
noch beizufügen, hatte auch eine lange intime Beziehung zu<br />
Cooper, nur passte sie nicht ins Muster der andern Männer<br />
verschleissenden Persönlichkeiten.)<br />
Die weniger skrupellosen Märchentanten Hollywoods<br />
wollten nach Coopers und <strong>Bergman</strong>s Tod sicher wissen, dass<br />
sie den schlacksigen, lakonischen Mann mit seinem intensiven<br />
Sex Appeal, den er sowohl seiner offenkundigen Schüchternheit,<br />
wie auch seiner Länge von 6 ½ Fuss nebst seinen leuchtend<br />
blauen Augen verdankte, unwiderstehlich fand. Das Geschwätz,<br />
mit andern Worten, wusste allzu oft, was es wissen<br />
wollte, und auf dieser Gier nach Skandal wuchs die verbreitete<br />
Meinung, dass die Affäre weil möglich, auch wirklich war –<br />
<strong>ob</strong>schon weder einer der Vorgesetzten noch irgend eine andere<br />
mit den beiden Filmen, die sie miteinander gemacht haben,<br />
verbundene Person je den geringsten Hinweis auf eine wirkliche<br />
Romanze der beiden machen konnte. Klar, dass in jenen<br />
Tagen 1943 niemand sein intimes Leben publizierte, und momentane<br />
Intrigen wurden nicht in Nachmittags-Talk-Shows
eitgeschlagen. Aber es ist auch bezeichnend, dass weder<br />
Cooper noch <strong>Bergman</strong> Freunden gegenüber je eine solche Beziehung<br />
erwähnten, wie das in anderen Fällen geschah.<br />
Es ist möglich, dass die Liebe diesen Sommer in der Sierra<br />
Nevada loderte, und wenn es so war, hatte es keine Bedeu<strong>tu</strong>ng.<br />
Es könnte auch durchaus sein, dass die beiden sich<br />
gegenseitig etwas Wärme und Trost spendeten gegen den<br />
Mangel an Charme dieser Produktion und die Auswirkungen<br />
ihrer beider Ehen. Coopers Liebesgeflüster zu <strong>Bergman</strong> vor<br />
der Kamera und seine beharrlich liebenswürdige Aufmerksamkeit,<br />
die er ihr auch schenkte, nachdem die Kamera längst<br />
gestoppt hatte, können tatsächlich auf ein kurzes Feuer hinweisen.<br />
Ausserdem vermisste <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> temperamentvolle<br />
Siebenundzwanzigjährige sowohl die Gesellschaft <strong>als</strong> auch ein<br />
einvernehmliches Verhältnis mit ihrem Ehemann. Als weiteren<br />
Hinweis mag man eine Bemerkung sehen, die <strong>Ingrid</strong> im folgenden<br />
Winter Ruth gegenüber beim Besuch einer Farm im<br />
mittleren Westen machte (zwischen den beiden Filmen, die sie<br />
mit Cooper drehte): "Du solltest die Söhne dieses Farmers<br />
sehen. Wäre es nicht wegen Petter und Gary Cooper, denke<br />
ich, möchte ich eine Farmersfrau werden." Die – allerdings<br />
sehr <strong>ob</strong>erflächliche - Andeu<strong>tu</strong>ng schien zu signalisieren, dass<br />
wenn sie sich nicht diesen beiden Männern verpflichtet fühlte,<br />
sie einen Wechsel in ihrem Leben oder doch wenigstens eine<br />
neue Romanze durchaus ins Auge fassen würde.<br />
Aber <strong>Ingrid</strong> hatte ihr Leben lang ein "byronsches" Verhältnis<br />
zu Hauptdarstellern und Regisseuren, und diese Hal<strong>tu</strong>ng<br />
war generell Teil ihrer sentimentalen Einstellung Männern<br />
gegenüber – das heisst, ihre Intimitäten waren wie gallische<br />
Idylle, zärtliche und romantische Verbindungen, manchmal<br />
erotisch, aber meistens nicht. Ob sie und Cooper 1942/43 ein<br />
Liebespaar waren, ist letztlich weniger wichtig <strong>als</strong> die Tatsache,<br />
dass ihre Verliebtheit in ihn in ihrer Na<strong>tu</strong>r etwas freisetzte.<br />
201
MEHR NOCH ALS ZUM SCHWERFÄLLIGEN Victor Fleming<br />
fühlte <strong>Ingrid</strong> in der kalifornischen Wildnis eine leidenschaftliche<br />
Verbundenheit zu Cooper, was ihr Selbstvertrauen<br />
erheblich stärkte und ihre Leis<strong>tu</strong>ngen belebte. Für alle Zeit war<br />
sie ihm dankbar dafür, dass er ihr die Gelegenheit bot, sich<br />
(keusch oder nicht) in ihn zu verlieben – eine Voraussetzung,<br />
die sie brauchte, um Maria spielen zu können und eine, die sie<br />
seit Victor Fleming für keinen Mann mehr empfand.<br />
Wie immer die Beziehung war oder für wie lange sie<br />
immer gedauert haben mag, ist <strong>Ingrid</strong>s letzter Kommentar<br />
ernst zu nehmen: "Ich schaffte es nie, eine wirklich vertraute<br />
Freundin Gary Coopers zu sein." Aus ihren speziellen Gründen<br />
mögen die Sentimentalisten und die Moralisten dies ignorieren<br />
und auf eine klare sexuelle Affäre erkennen. Aber der Historiker<br />
braucht solidere Grundlagen <strong>als</strong> die schnellen Gerüchte,<br />
und im vorliegenden Fall gibt es einfach keinen brauchbaren<br />
Hinweis auf eine Affäre zwischen <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> und Gary<br />
Cooper, <strong>ob</strong>schon sie diese im Geiste vielleicht hatten. Wie so<br />
oft bei solchen Geschichten hat die simple Wiederholung der<br />
einfachsten Version diese zur Tatsache erh<strong>ob</strong>en.<br />
Die Romanze wurde ausserdem von jenen zur physischen<br />
Realität erklärt, die wissen wollten, dass <strong>Ingrid</strong> während<br />
den Aufnahmen zu "Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt" Selznick darum<br />
gebeten habe, sie im kommenden Frühjahr wieder an Warner<br />
Bros. auszuleihen, wo Cooper und Wood einen Film auf Basis<br />
der Novelle "Saratoga Trunk" von Edna Ferber zu drehen beabsichtigten.<br />
Aber sie wusste nicht, dass ihr Co-Star und Regisseur<br />
sie <strong>als</strong> nur eine Anwärterin auf die Liste der möglichen<br />
Hauptdarstellerinnen gesetzt hatten, neben Vivien Leigh, Olivia<br />
De Havilland, Hedy Lamarr und andern.<br />
IM OKTOBER WURDE DIE PRODUKTION in die Paramount-S<strong>tu</strong>dios<br />
in Hollywood verlegt, wo Dutzende (und Dutzende)<br />
von Szenen und Prozess-Aufnahmen, bei welchen gefilmte<br />
Hintergründe mit Schauspielern kombiniert wurden,<br />
gefilmt wurden. Seit dem 16. Juli hatte Petter mit Selznick und<br />
202
Kay Brown einen lebhaften Briefwechsel über <strong>Ingrid</strong>s Optionen<br />
für das kommende Jahr und das künftige Einkommen seiner<br />
Frau losgetreten. Petter sah sich zunehmend in der Pflicht,<br />
<strong>Ingrid</strong> vor den Industrie-Wölfen zu schützen – bis hin zum<br />
Punkt, wo er sich nun anschickte, sich selbst rechtens zu ihrem<br />
de facto-Anwalt aufzuschwingen. Am 7. November forderte<br />
Petter Selznick ostentativ auf, ihm die Kosten seiner Bahnreise<br />
von Rochester nach New York nebst seinen Hotelspesen<br />
dort zu vergüten, wo <strong>Ingrid</strong>s Vertrag Gegenstand einer Besprechung<br />
mit Ernest I. Scanlon, Selznicks Finanzchef, war.<br />
Zu Beginn der Feiertage war Petter in Festlaune: er<br />
hatte von der Universität Rochester seinen amerikanischen<br />
Doktortitel der Medizin mit Auszeichnung verliehen erhalten<br />
(offiziell im Januar 1943). Und so beschloss er, eine kleine<br />
Gesellschaft von Filmleuten zur Feier im Appartment am Shirley<br />
Place einzuladen.<br />
"Er war natürlich der perfekte Gastgeber", erinnerte<br />
sich der Künstler Dietrich, der dam<strong>als</strong> bei Paramount arbeitete<br />
und <strong>als</strong> Mitglied der Schwedisch-Amerikanischen Gemeinde<br />
des öftern bei den Lindströms zu Gast war. "Aber er war<br />
schrecklich gr<strong>ob</strong> zu <strong>Ingrid</strong>, Sie kam von einem S<strong>tu</strong>dio-<br />
Arbeitstag nachhause, müde aber glücklich – da sagte er:'So,<br />
kannst du jetzt etwas Brauchbares <strong>tu</strong>n?' Was immer sie zur<br />
Antwort gab, sie schien zu sagen: 'Nein, es wäre besser, du<br />
würdest dieses oder jenes <strong>tu</strong>n'. Ich wunderte mich, wie er so<br />
zu ihr sein konnte. Schliesslich hatte er noch keine Praxis,<br />
denn sie war es ja, die das ganze Geld einbrachte."<br />
Alfred Hitchcock, der sich ständig bemühte, das richtige<br />
Projekt aufzutreiben, für welches ihm Selznick <strong>Ingrid</strong> nicht<br />
verweigern konnte, blies ins selbe Horn. "Es war entzückend<br />
bei den Lindströms, aber da war immer ein gespannter Unterton<br />
in der Luft. Man dachte, jemand sollte kommen und <strong>Ingrid</strong><br />
retten." Beruflich hätte er sich in dieser Rolle gesehen, romantisch<br />
– zu seinem Leidwesen – müsste es jemand anderer<br />
sein.<br />
Nach den Festtags-Parties kehrten <strong>Ingrid</strong>, Petter, Pia<br />
203
und Mabel nach Rochester zurück, um das Haus in Betrieb zu<br />
nehmen. Petter setzte sein Medizinpraktikum am Spital fort,<br />
während er sich nach einem Lehrauftrag an einer kalifornischen<br />
Universität umsah.<br />
204
1944 - in "Gaslicht"<br />
205
206<br />
1944 - in "Gaslicht" - ein Verdacht kommt auf...
1943<br />
"Wenn sie weniger das Geld im Auge hätten, das sie für Set,<br />
Kostüme und Kosmetik ausgeben können, sondern mehr, wie<br />
realistische, glaubhafte menschliche Wesen zu produzieren,<br />
wäre vieles besser".<br />
(<strong>Ingrid</strong> über Hollywood im Allgemeinen und<br />
"Saratoga Trunk" im Besonderen)<br />
"WENN SCHWEDEN VON DEN NAZIS überrollt werden<br />
sollte", sagte <strong>Ingrid</strong> den Presseleuten, "hoffe ich, das amerikanische<br />
Volk würde sich nicht gegen mein Volk wenden. Schweden<br />
– wie die Schweiz – ist umzingelt, abgeschnitten, vom<br />
Feind hilflos gemacht. Es könnte sehr wenig <strong>tu</strong>n. Wenn es<br />
wirklich zu diesem tragischen Angriff kommen sollte, hoffe ich,<br />
die Amerikaner würden das nicht vergessen."<br />
Ihr Plädoyer wurde 1943 von keinem Geringeren <strong>als</strong><br />
vom "Overseas Bureau of the Office of War Information" erhört,<br />
das den Auftrag hatte, die Kunde von den Bestrebungen<br />
zu verbreiten, mit welchen die verschiedenen Ethnien des<br />
Schmelztiegels sich vereint gegen den Feind rüsteten. Im<br />
Dienste dieser Bestrebungen produzierte der Dokumentarfilmer<br />
Irving Lerner während des Krieges verschiedene fremdsprachige<br />
Kurzfilme für den Export an alliierte und neutrale Staaten.<br />
Dieses gesamte Propaganda-Programm stand unter der Lei<strong>tu</strong>ng<br />
von R<strong>ob</strong>ert Riskin, dem Oscar-Gewinner aus Frank Capras<br />
Spinnerkomödie "It Happened One Night" - einem Mann, der<br />
nun mit ernsteren Realitäten konfrontiert war.<br />
So geschah es, dass <strong>Ingrid</strong> im Januar 1943 via Selznick<br />
diplomatische Post aus Washington mit einer Einladung erhielt,<br />
207
in ein paar Wochen eine Reise zu den schwedischen Gemeinden<br />
in Minnesota zu unternehmen. Dort würde sie beim Besuch<br />
von Farmen und Heimen von typischen Einwanderern gefilmt.<br />
Zurück in Hollywood, würde sie dann (schwedisch für den Export<br />
und englisch für die Archive des Büros) über den Patriotismus<br />
ihrer Landsleute in der neuen Welt berichten. Damit<br />
könnte den Schweden im Ausland die n<strong>ob</strong>le Hal<strong>tu</strong>ng der<br />
'Schweden in Amerika' (so auch der Filmtitel) vor Augen geführt<br />
werden.<br />
Am 2. Februar 1943 verliessen <strong>Ingrid</strong>, Pia und Mabel<br />
Rochester per Bahn (Petter blieb noch mit Auspackarbeiten<br />
beschäftigt zurück); nach einem kurzen Zwischenhalt in Chicago<br />
langten sie tags darauf im eisigen Minnesota an, wo sich die<br />
Tempera<strong>tu</strong>ren so um die zwanzig Grad unter null bewegten.<br />
Empfangen wurden sie von Selznicks neuem Publicity Director<br />
Joseph H. Steele, der auf der Stelle zu einem der grössten Bewunderer<br />
<strong>Ingrid</strong>s wurde. Gross, schlank und intelligent, alles<br />
andere <strong>als</strong> der bekannte Typ des primitiven Hollywood "flacks"<br />
(der Branchenbegriff für einen Werber), verliebte sich Joe sofort<br />
in <strong>Ingrid</strong> – allerdings platonisch, denn er war verheiratet<br />
und <strong>Ingrid</strong> hatte kein romantisches Interesse an ihm.<br />
Aber sie bewunderte Joes Sprachbegabung sehr. Sein<br />
Vater war Missionar in der Türkei und Joes Kindheit verlief<br />
peripatetisch: mit sechs Jahren sprach er Türkisch, Arabisch,<br />
Armenisch und Englisch, wozu später noch Französisch und<br />
Italienisch kamen. Sie war aber auf diesem Gebiet auch geschickt:<br />
ihr Englisch wurde merklich fliessender und sie übte<br />
fleissig Französisch; diese Sprachen neben Schwedisch und<br />
Deutsch wurden nach und nach ergänzt durch fliessendes Italienisch.<br />
<strong>Ingrid</strong> schätzte an Joe auch seine Manieren sehr, seine<br />
Ethik und seine Bewunderung für sie, seine Weigerung, sie der<br />
zunehmend unersättlichen Presse und Oeffentlichkeit auszuliefern.<br />
Zuerst stürzte ihn ihre sanfte Abwehr seiner subtilen Annäherungsversuche<br />
in romantischen Trübsinn, so etwa wie bei<br />
einem unglücklich verliebten Schuljungen, doch sehr schnell<br />
erkannte er, dass eine dauerhafte kameradschaftliche Verbindung<br />
– die er auch lebenslang danach zu ihr hatte – besser<br />
208
war <strong>als</strong> eine kurze Affäre. In andern Worten: er war ein Mann<br />
mit Charakter und einer gewissen Reife.<br />
Am nächsten Morgen, 4. Februar, holte Joe <strong>Ingrid</strong> im<br />
Nicollet-Hotel ab und fuhr sie in zwei S<strong>tu</strong>nden nach Chisago<br />
County. Dort verbrachte sie zwei Tage und wurde bei der Familie<br />
C.E. Swanson gefilmt, einer Immigranten-Familie, die je<br />
nach Saison Land- und Milchwirtschaft betrieb, Schafe schor<br />
und Wolle spann. <strong>Ingrid</strong> stürzte sich ins Überkleid und packte<br />
überall zu. Sie schaufelte Schnee und baute für Pia Schneemänner.<br />
Sie half gefrorenes Heu stampfen, liebkoste kleine<br />
Schweinchen und sass mit den alten Damen am Webs<strong>tu</strong>hl.<br />
Auch das Magazin LOOK dokumentierte den Bericht (Selznick<br />
hatte Ideen, <strong>als</strong> er davon hörte), doch Steele spürte, dass <strong>Ingrid</strong><br />
hier den guten Zweck im Auge hatte. Sie suchte keinen<br />
Star-Komfort und interessierte sich für alles, was für die<br />
schwedischen Einwanderer hätte von Interesse sein können.<br />
Und zufälligerweise endete die viertägige Tour ausgerechnet in<br />
einer Stadt namens Lindstrom, Minnesota.<br />
AM 8. FEBRUAR BEGLEITETE JOE <strong>Ingrid</strong>, Pia und Mabel<br />
per Bahn nach Los Angeles, wo der Star zu Makeup- und Garder<strong>ob</strong>e-Tests<br />
für "Saratoga Trunk" erwartet wurde. Selznick<br />
hatte dem allem nur zugestimmt, weil er (wie alle in Hollywood,<br />
die den Set zum Film nicht gesehen hatten) glaubte,<br />
<strong>Ingrid</strong>s Zusammenarbeit mit Wood und Cooper in "Wem die<br />
S<strong>tu</strong>nde schlägt" werde ein enormer Erfolg beschieden sein -<br />
und weil er für <strong>Ingrid</strong>s Ausleihe eine Entschädigung von<br />
$ 15'625 die Woche während 8 Wochen ausgehandelt hatte,<br />
während er ihr während dieser Zeit das übliche Salär von<br />
$ 2'250 bezahlte. Das Trio Cooper-<strong>Bergman</strong>-Wood könne nur<br />
gewinnen, meinte Selznick, während man eher sagen möchte,<br />
dass vor allen andern er nicht verlieren könne.<br />
Tatsächlich verloren alle an diesem Geschäft, ausser<br />
Selznick. "Saratoga Trunk" war der teuerste Warner Bros.-Film<br />
209
is dahin, mit 96 Sets, über 11'000 Requisiten, Dutzenden von<br />
19.-Jahrhundert-R<strong>ob</strong>en für <strong>Ingrid</strong>, zweihundert S<strong>tu</strong>ntmen für<br />
eine einminütige Nachtszene von einem Zugsunfall und einer<br />
Menge Krinolinen, Wagen, und Gaslampen, welche die Film-<br />
Magazine zum Bersten brachten. Spektakulär würde er sicher<br />
werden, und das war auch das Haupt-Verkaufsargument, denn<br />
er war im übrigen ein überladener Schmarren, auf den effektiv<br />
niemand stolz sein konnte ausser den S<strong>tu</strong>dionäherinnen.<br />
Sein Ursprung war nicht einfach – eine wortreiche Edna<br />
Ferber-Liebesgeschichte von einer glanzvollen, unehelichen<br />
Hexe namens Clio Dulaine (<strong>Ingrid</strong>), die von Paris zurückkehrt,<br />
um sich für das ihrer Familie von der Gesellschaft zugefügte<br />
Unrecht, das die vornehmen Kreise entlang der ganzen Ostküste<br />
schockierte, zu rächen. Geld ist ihr Gott, Männer sind ihr<br />
Mittel zum Zweck. Sie missbraucht ihr Mulattenmädchen<br />
(weisse Flora R<strong>ob</strong>son <strong>als</strong> anstössige Farbige), bellt ihren Diener,<br />
einen übellaunigen Zwerg namens Cupido (Jerry Austin),<br />
mit ihren Befehlen herum, beutet einen anständigen Mann aus<br />
(John Warburton) und akzeptiert schliesslich einen schlaksigen<br />
Texaner namens Clint Maroon (Cooper).<br />
Aber der Senior-Autor Casey R<strong>ob</strong>inson ("Captain Blood",<br />
"Dark Victory", "Kings Row" und "Now, Voyager") konnte die<br />
erzählerischen Pr<strong>ob</strong>leme nicht meistern und die Pappe erträglich<br />
oder gar interessant machen. Eine Analyse zeigt, dass der<br />
Film auf der Suche nach einem Zusammenhang ist: einmal ist<br />
"Saratoga Trunk" ein Thriller, dann ist er auch eine Gesellschaftskomödie,<br />
dann ein Liebesfilm und schliesslich ein Westernknüller.<br />
<strong>Ingrid</strong> hatte Selznick um diese Rolle gebeten, zu ihrem<br />
Entsetzen aber die letzten zweihundert Seiten der Geschichte<br />
erst einen Tag vor Beginn der Aufnahmen gelesen, worauf sie<br />
prompt in Tränen ausbrach und in Ruth R<strong>ob</strong>erts Arme fiel.<br />
Dass nun brennende Erinnerungen an "Casablanca" in ihr aufstiegen,<br />
war eines; aber sie konnte es drehen und wenden wie<br />
sie wollte, von ihren bisher sechs amerikanischen Filmen konnte<br />
sie gerade auf einen stolz sein: "Dr. Jekyll und Mr. Hyde".<br />
210
Von ihrer Wohnung am Shirley Place, Beverley Hills, fuhr sie<br />
nun während 6 Tagen die Woche schweren Herzens nach Burbank<br />
zu den Dreharbeiten, die von Ende Februar bis Mitte Mai<br />
dahinkrochen. Die Romanze mit Cooper, welcher Art sie auch<br />
immer gewesen sein mag, war offensichtlich vorbei, und zum<br />
Missvergnügen der Garder<strong>ob</strong>eabteilung nahm <strong>Ingrid</strong> während<br />
der Produktion um elf Pfunde zu. Grössere Büstiers und voluminösere<br />
Lagen von Seide mussten in einige ihrer Kleider eingenäht<br />
werden, denn sie war in noch keinem Film so schwer,<br />
wie in diesem.<br />
Als die gereizte, oft hysterische Clio wurde <strong>Ingrid</strong> in<br />
schwere brünette Perücken gezwängt, und die Makeup-<br />
Abteilung war angewiesen, ihr dick Eyeliner aufzutragen und<br />
die Lippen mit dicker Farbe über die Lippenlinie hinaus nachzuziehen.<br />
Manchmal sah es so aus (wie Vivien Leigh einmal Laurence<br />
Oliviers groteskes Makeup für "Macbeth" schilderte), <strong>als</strong><br />
träte auf der Leinwand zuerst ihr Makeup, dann ihr Kostüm<br />
und zuletzt sie selbst in Erscheinung, mehr oder weniger unkenntlich<br />
unter der Sauce. "Wenn sie weniger das Geld im Auge<br />
hätten, das sie für Set, Kostüme und Kosmetik ausgeben<br />
können, sondern mehr, wie realistische, glaubhafte menschliche<br />
Wesen zu produzieren, wäre vieles besser", sagte sie einige<br />
Jahre später. Sie mag dabei wohl an "Saratoga Trunk" gedacht<br />
haben. Ihre Rezepte für gute Filme und ihre bittere Kritik<br />
an diesen Exzessen haben Jahrzehnte danach noch volle Gültigkeit.<br />
Um sich von den Schrecknissen der Produktion dieses<br />
teuersten Schlafmittels von Film abzulenken, kaufte <strong>Ingrid</strong> eine<br />
neue 8mm-Filmkamera um ihre Fertigkeit <strong>als</strong> Amateurfilmerin<br />
weiterzuentwickeln, und dokumentierte so alles, was Sam<br />
Wood mit den Massenszenen arrangierte (woraus für ihre<br />
Freunde – die das Material zu sehen bekamen - leicht erkennbar<br />
war, dass sie <strong>als</strong> Regisseurin einiges besser gemacht hätte).<br />
Aber wie gross ihr Kummer auch gewesen sein mag, ihre<br />
kollegiale Einstellung blieb in jeder Hinsicht unangetastet. <strong>Ingrid</strong>s<br />
Ersatz, Betty Brooks, musste für die komplizierten Belich<strong>tu</strong>ngstests<br />
massive Überzeitarbeit in Kauf nehmen, w<strong>ob</strong>ei sich<br />
211
<strong>Ingrid</strong> laut reklamierend für die junge Frau einsetzte, bis sie<br />
mit einem angemessenen Bonus für ihre ermüdende Arbeit<br />
entschädigt wurde.<br />
Sie war auch bereit, Joe Steele jeden Sonntag zu treffen,<br />
um mit ihm Anlässe und Aktivitäten zu besprechen, die<br />
Selznick zur Genehmigung vorgelegt werden sollten. Diese<br />
Erweiterung ihres Arbeitspensums veranlasste Selznick, Steele<br />
am 17. Mai einen bedeutsamen Brief zu schreiben:<br />
212<br />
"Ich schätze Ihre Arbeit mit <strong>Ingrid</strong> am Sonntag, aber<br />
trotzdem sie sich nicht darüber beklagt hat, möchte<br />
ich Sie bitten, sie an Sonntagen für Publicityfragen<br />
....bis zur Beendigung von "Saratoga Trunk" nicht in<br />
Anspruch zu nehmen.<br />
<strong>Ingrid</strong> ist so ausserordentlich kooperativ, dass ich<br />
meine, wir müssen an uns halten, ihre Gutmütigkeit<br />
nicht auszunützen; wir wollen ihren wundervollen Charakter<br />
nicht herausfordern (sic) und es nicht darauf<br />
ankommen lassen, dass sie sich eines Tages gegen<br />
uns wendet, wie es mit Garbo bei Metro <strong>als</strong> Folge eines<br />
unbedachten Vorgehens der Werbeabteilung geschah.<br />
Während all den Jahren, die ich im Filmgeschäft verbracht<br />
habe, habe ich von keiner jungen Frau gehört,<br />
die so klaglos ein Arbeitsprogramm bewältigt hat, wie<br />
<strong>Ingrid</strong> in den letzten Monaten, und <strong>ob</strong>wohl dies alles<br />
ihr eigener Wille ist, denke ich, sollten wir auf jeden<br />
Fall darauf achten, dass sie ihre Sonntage zur Erholung<br />
und für ihr Kind nutzen kann..... "Saratoga Trunk"<br />
war für sie auch in der Beziehung aussergewöhnlich,<br />
<strong>als</strong> sie während über zehn Wochen ohne einen einzigen<br />
arbeitsfreien Tag gearbeitet hat .......Ich versuchte<br />
so dezidiert wie erfolglos, sie zu Arbeitspausen zu<br />
zwingen; so müssen wir allerwenigstens dafür sorgen,<br />
dass ihr die Sonntage erhalten bleiben.<br />
Übrigens ist auch zu berücksichtigen, dass <strong>Ingrid</strong><br />
selbst den einen freien Tag, der weiblichen Stars pro
Monat zusteht, nicht in Anspruch nimmt – und wie Sie<br />
wissen, gibt es welche, die sich gut und gerne zwei<br />
und drei Tage herausnehmen."<br />
Sie suchte die Rolle der Clio Dulaine <strong>als</strong> Gelegenheit,<br />
nach der verliebten Ilsa und der leidgeprüften Maria eine amoralische<br />
Intrigantin zu spielen. Stattdessen musste sie nun in<br />
einem aufgeblasenen Film ohne jeden Anspruch an einen Charakterdarsteller<br />
spielen. Jack Warner erkannte diesen Mangel,<br />
<strong>als</strong> er im Juni 1943 den endgültigen Schnitt sah, der zur Unterhal<strong>tu</strong>ng<br />
der amerikanischen Truppen (die vor der Leinwand<br />
vielleicht ihren ersten tiefen Schlaf seit Monaten gefunden haben)<br />
nach Übersee geliefert wurde; in die amerikanischen Kinos<br />
kam der Film erst anfangs 1946. "Mein Herz singt vor<br />
Freude" hatte <strong>Ingrid</strong> gesagt, <strong>als</strong> Selznick ihr seine Zustimmung<br />
zu diesem Film gab. Über das Endprodukt hüllte sie sich<br />
dann in Schweigen, und selbst in ihrer Aut<strong>ob</strong>iografie fast vierzig<br />
Jahre später beklagte sie lediglich, in ihren hochgestylten<br />
Aufmachungen kaum erkennbar gewesen zu sein. Das Lied in<br />
ihrem Herzen muss abrupt zum flachen Echo zusammengefallen<br />
sein.<br />
So ist es verständlich, dass <strong>Ingrid</strong> dann zur Sommerzeit<br />
verzweifelt war; während den letzten Drehwochen war sie so<br />
deprimiert, dass sie tatsächlich erstm<strong>als</strong> seit Beginn ihrer Karriere<br />
krank wurde (wohl nicht von ungefähr an Lanryngitis),<br />
sodass ihre Ärzte sie für eine Woche von der Arbeit fernhielten.<br />
Dann verschwand Gary Cooper, der seine Arbeit beendet hatte,<br />
aus ihrem Leben, und Petter zog nach San Francisco, um seine<br />
Stelle in der Chirurgie des Stanford University Hospit<strong>als</strong> anzutreten.<br />
Coopers Abwesenheit liess sie lediglich den Begleiter zu<br />
den Parties vermissen *) . Nachdem "Saratoga Trunk" vollendet<br />
war, wollte Selznick sie in etwas bringen, was "Valley of Deci-<br />
*) In den späten Siebzigerjahren, lange nach Coopers Tod, schrieb ihm ein<br />
Gerücht folgende Bemerkung zu: "Niemand liebte mich mehr <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong><br />
<strong>Bergman</strong>. Nach dem Ende der Dreharbeit konnte ich sie aber nicht einmal<br />
am Telefon erreichen." Eine derart offene Aussage wäre uncharakteristisch<br />
für Cooper, und in ihrer Gr<strong>ob</strong>heit wäre sie unvereinbar mit<br />
<strong>Ingrid</strong>s Art.<br />
213
sion" hiess, wo sie eine mutige, selbstaufopfernde, vir<strong>tu</strong>ose<br />
Langweilerin spielen sollte - "Immer so lieb und gut, dass es<br />
dich krank macht", kommentierte <strong>Ingrid</strong> die Rolle. Für solcher<br />
lei Seifenoper-Karika<strong>tu</strong>ren hatte sie nur eine Antwort: "Reicht<br />
mir das Gewehr". Stattdessen überzeugte sie Selznick, dass ihr<br />
Elend in dieser Rolle sie lebenslang unglaubwürdig machen<br />
würde.<br />
<strong>Ingrid</strong> war klug genug, auf all diese Angebote nicht einfach<br />
einzugehen, um Arbeit zu haben. Metro hatte George Cukor<br />
<strong>als</strong> Regisseur verpflichtet und Charles Boyer <strong>als</strong> Co-Star für<br />
die zweite Filmversion von Patrick Hamiltons Bühnen-Thriller<br />
"Angel Street", und die S<strong>tu</strong>dioverantwortlichen verhandelten<br />
mit Selznick um <strong>Ingrid</strong> für die schwierige Hauptrolle. (Cukor<br />
wollte <strong>Ingrid</strong> auch für die amerikanische Version von "A<br />
Womans Face", aber Metro bestand auf Joan Crawford.) Selznick<br />
lehnte zuerst ab, weil Boyer im Vorspann an erster Stelle<br />
aufgeführt werden sollte. Als <strong>Ingrid</strong> davon erfuhr, stürmte sie<br />
schluchzend in Selznicks Büro, er behindere ihre Karriere. Es<br />
sei ihr völlig egal, <strong>ob</strong> ihr Name an erster oder an achter Stelle<br />
stehe; das sei eine wunderbare Rolle und er solle die Sache<br />
nicht durch seine unvernünftigen Forderungen sabotieren.<br />
Selznick gab widerstrebend nach (und strich an dem Handel $<br />
253'750 ein), und anfangs Juli meldete sich <strong>Ingrid</strong> bei Metro<br />
für die Testaufnahmen zu "Gaslight".<br />
Hamiltons Bühnenstück war in London und New York<br />
äusserst erfolgreich, und eine britische Filmversion wurde<br />
ebenfalls sehr gel<strong>ob</strong>t. Columbia Pic<strong>tu</strong>res kaufte die Remake-<br />
Rechte in der Absicht, Irene Dunne in der Rolle der Frau einzusetzen,<br />
deren Ehemann versuchte, sie in den Wahnsinn zu<br />
treiben, um an die versteckten Juwelen ihrer Tante zu kommen,<br />
die er ermordet hatte. Aber Louis B. Mayer mischte sich<br />
mit einem besseren Angebot ein, in der Absicht, Hedy Lamarr<br />
für die Metro-Version ins Spiel zu bringen. Gleichzeitig kaufte<br />
Mayer das Negativ und alle noch irgendwie vorhandenen Kopien<br />
des Films auf, was er alles vernichtete, um damit jede<br />
Konkurrenz zu Metros neuem "Gaslight" auszuschalten.<br />
214
Aber der Film wäre so oder so nicht zur Konkurrenz geworden,<br />
denn die fertige Geschichte im nebelverhangenen viktorianischen<br />
London (alles in Culver City gedreht) stellte eine<br />
glänzende Leis<strong>tu</strong>ng aller Beteiligten dar – in andern Worten:<br />
der Film hatte alles, was in "Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt" und "Saratoga<br />
Trunk" vermisst wurde. Das Script (von John Van<br />
Druten, Walter Reisch und John L. Balderston) baute die Spannung<br />
systematisch auf und entfaltete seine Charaktere mit<br />
raffinierter Sparsamkeit. Cukor, vor allem an Haute Cou<strong>tu</strong>re-<br />
Komödien gewöhnt oder stimmungsvolle Geschichten für etablierte<br />
Hollywood-Damen, führte seine Truppe ruhig aber mit<br />
peinlicher Detailtreue. Boyer verlieh der Person des bösartigen<br />
Ehemanns einen ölig-dumpfen Charme von frostiger Glaubwürdigkeit.<br />
Joseph Cotten unterspielte auf sympathische Art<br />
die Rolle eines Detektivs. Und in ihrem Filmdebüt verwandelte<br />
die dam<strong>als</strong> siebzehnjährige Angela Lansbury die Rolle des kessen<br />
Hausmädchens in eine glänzende Minia<strong>tu</strong>r von frecher<br />
Bosheit.<br />
Aber <strong>Ingrid</strong> hatte den dornenvollsten J<strong>ob</strong>, denn die Rolle<br />
der Paula Alquist musste sorgfältig nuancieren zwischen<br />
glaubhafter und sympathischer Wirkung, nicht nur melodramatisch<br />
in ihrer Hysterie und irritierend in ihrer Fragilität. Vom<br />
ersten Tag an realisierte <strong>Ingrid</strong>, dass diese Frau nicht <strong>als</strong> eine<br />
willige Komplizin ihrer eigenen Qual dargestellt werden konnte<br />
– die sie ja nicht war. Es brauchte Rückblendungen auf die<br />
junge Paula, das Mädchen das gerne tanzte und sang und das<br />
sich im Gesangsunterricht verzehrend in seinen Korrepetitor<br />
verliebte. Sie musste das psychische Leiden in eine etablierte,<br />
starke Frau einbringen, die sich an ihr früheres Glück erinnerte<br />
– nur so konnte ihre Notlage quälender und ihr schliesslicher<br />
Triumph erhebender zum Ausdruck kommen.<br />
In dieser Beziehung hatte <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Na<strong>tu</strong>r eine<br />
betont mutige Seite. Vielleicht teilweise bedingt durch ihre<br />
wiederholten Kindheitserlebnisse um menschlichen Verlust und<br />
den daraus resultierenden Zwang, auf die eigenen Beine zu<br />
stehen, wurde sie zu einer Frau, der blosse Gegnerschaft<br />
nichts anhaben konnte. Bei der Lektüre der Geschichte jener<br />
215
Frau, die den Mann anbetet, der an ihrer Zerstörung arbeitet,<br />
mag <strong>Ingrid</strong> wohl der eine oder andere Gedanke an ihre eigene<br />
emotionale Geschichte gekommen sein. Wie Paula, hatte auch<br />
sie ihre Mutter <strong>als</strong> Kind verloren, ihr Vater starb, <strong>als</strong> sie ein<br />
junges Mädchen war, und aufgezogen wurde sie von einer Tante.<br />
Ebenfalls wie Paula, genoss auch <strong>Ingrid</strong> Gesangsunterricht.<br />
Und wie die Heldin, die sie portraitierte, hatte auch <strong>Ingrid</strong> Geld<br />
von ihrer Tante Hulda, Otto <strong>Bergman</strong>s Witwe, geerbt (es handelte<br />
sich um ein paar tausend Dollars, aber dessen ungeachtet<br />
war es ein Testament ihrer Familie). Sie fand einiges von<br />
sich selbst in dieser Figur. Und weil sich die Makeup-Abteilung<br />
freute, <strong>Ingrid</strong> <strong>Ingrid</strong> sein zu lassen, fühlte sie sich vor ihrem<br />
alten Freund, der Kamera, freier, <strong>als</strong> sie sich im vergangenen<br />
Jahr je fühlen konnte.<br />
Ebenfalls wie Paula, wusste <strong>Ingrid</strong> wie man sich fühlt,<br />
wenn man von jenen beleidigt wird, die man liebt – wusste sie<br />
auch, was es für eine Frau bedeutet, sich so nahe ans Feuer zu<br />
setzen, dass Gefahr droht. Um das gleich vorwegzunehmen: In<br />
den Charakteren und Handlungsweisen von Petter Lindström<br />
oder Gary Cooper gab es keinen Hauch von Grausamkeit. Aber<br />
sehr wahrscheinlich hat keiner von beiden je das Ausmass ihrer<br />
Gefühlswelt, das Verhältnis zwischen ihrer Abhängigkeit<br />
und ihrer Selbstsicherheit, ihrer verzagten Unsicherheit und<br />
ihrem bedingungslosen Vertrauen in ihre Begabung begriffen.<br />
Ihre rückhaltlose Offenheit zu diesen Männern, ihr Bedürfnis<br />
nach deren Unterstützung, ihr Vertrauen in deren Kooperation<br />
und ihr verletzbarer Verlass auf deren Entscheidungen – diese<br />
Gefühle bestimmten ihre Sensibilität <strong>als</strong> Frau und <strong>als</strong> hochgradig<br />
kreative Künstlerin.<br />
Diesen Sommer lebte <strong>Ingrid</strong> noch immer unter dem Einfluss<br />
einer Ehe, die zu einer distanziert-höflichen Belas<strong>tu</strong>ng<br />
verkommen war, und sie hatte eben die emotionalen und professionellen<br />
Demütigungen des Cooper/Wood-Films hinter sich<br />
gelassen. Enttäuschung und Distanzierung können verbittern,<br />
oder auch klären und adeln, und genau das ist es, was <strong>Ingrid</strong><br />
zur Personifizierung der Paula Alquist brachte. "Gaslight" war<br />
ihr Weg, sich über die Flammen zu erheben – auf eine Art zum<br />
216
siegreichen Soldaten zu werden. Wie ihre Freunde wussten,<br />
war Jeanne d'Arc nie häufiger in ihren Gedanken, kam sie in<br />
Gesprächen nie häufiger über ihre Lippen, <strong>als</strong> in dieser Saison.<br />
<strong>Ingrid</strong> betrachtete sich nie <strong>als</strong> Märtyrerin (noch weniger <strong>als</strong><br />
eine Heilige), aber sie verstand die schreckliche Einsamkeit<br />
einer Frau, deren Ideale sich eben erst so unerreichbar erwiesen.<br />
Weder zum ersten noch zum letzten Mal in ihrem Leben,<br />
brachte sie etwas in Bewegung – nein, nicht nur in Bewegung,<br />
zum Blühen.<br />
Bei den Vorberei<strong>tu</strong>ngen war sie so sorgfältig und präzise<br />
wie immer. Nach dem S<strong>tu</strong>dium einer enormen Zahl von Büchern<br />
und Artikeln über Halluzinationen, Illusionen und vererbter<br />
Schizophrenie, bestand <strong>Ingrid</strong> darauf, dass Metro und Cukor<br />
ihr Gelegenheit bieten würden, eine psychiatrische Klinik<br />
zu besuchen. Sie erhielt dann irgendwie die Bewilligung, wiederholt<br />
eine einsame Patientin zu besuchen, die trotz gelegentlichen<br />
Perioden von klarem Bewusstsein an der schlimmsten<br />
Form von Demenz litt. <strong>Ingrid</strong> be<strong>ob</strong>achtete die Augen der Frau,<br />
die abwechslungsweise voller Hoffnung und handkehrum von<br />
Furcht getrübt waren, deren Verhalten warme Zugänglichkeit<br />
und gleich wieder finsterste Angst zum Ausdruck brachte. Aber<br />
die Schauspielerin war keine aufdringliche Neugierige; sie<br />
brachte Spiele und Unterhal<strong>tu</strong>ng für die Patientin und wurde<br />
für diese zu einer verlässlichen Freundin, bis die arme Frau im<br />
darauffolgenden Jahr an Tuberkulose starb.<br />
INGRIDS LEISTUNG IN DIESEM FILM war von so vielen<br />
Eindrücken inspiriert. Anstelle von wilden Augen und hysterischen<br />
Ausbrüchen wandte sie einfach ihren Blick, zwinkerte<br />
mit den Augenlidern, befeuchtete die Lippen ihres trockenen<br />
Mundes und stotterte gelegentlich. Cukor hatte keine Pr<strong>ob</strong>leme<br />
mit ihr, denn sie war immer empfänglich und ging auf seine<br />
Reaktionen ein. Er wusste auch, wann ihre klagenden Augenbrauen<br />
und ihr ahnungsloser Blick durch eine Nahaufnahme<br />
einzufangen waren. Wenn Gregory (Boyer) darauf besteht,<br />
dass sie vergesslich und verwirrt werde, ist etwas in ihrem<br />
217
Verhalten, das der Diagnose widerspricht, <strong>ob</strong>schon sie aufgeschreckt<br />
ist, es könnte etwas daran sein. Ihr unterdrückter<br />
Ausbruch an der musikalischen Soiree, wo ihr weisgemacht<br />
wird, sie habe die Uhr ihres Mannes geklaut, ist ein Meisterwerk<br />
der Improvisation – ein abgedämpfter Schluchzer, ein<br />
kurzer Aufschrei ihres Kummers, die gezügelte Angst und dann<br />
der entsetzliche Zusammenbruch, alles durch ihren tapferen<br />
Widerstand umso wirkungsvoller.<br />
Mehr <strong>als</strong> ein halbes Jahrhundert danach ist <strong>Ingrid</strong>s Paula<br />
nach wie vor ein ergreifendes Portrait einer zwischen der<br />
Angst vor dem Wahnsinn und dem Bewusstsein ihrer Gesundheit<br />
aufgeriebenen Frau. In ihrer letzten grossen Szene – <strong>als</strong><br />
sie ihren gefangenen Peiniger mit der Behaup<strong>tu</strong>ng verhöhnt, er<br />
sei so verrückt, wie er sie haben wollte – m<strong>ob</strong>ilisierte <strong>Ingrid</strong><br />
alles, was ihr Na<strong>tu</strong>rell an Subtilität zu bieten hatte. Nichts war<br />
übertrieben; nichts schien auskalkuliert zu sein. Als sie die<br />
Szene beendet hatte, hallte der Applaus der Crew von über<br />
den Laufstegen bis hinter die Kamera. "Ja gut, vielleicht war's<br />
recht so," sagte sie. Diesen Winter wurde sie von der Akademie<br />
<strong>als</strong> eine der besten Schauspielerinnen des Jahres nominiert,<br />
und "Gaslight" erhielt noch sechs weitere Nominationen<br />
dieser Art – für den besten Film, Schauspieler (Boyer), weibliche<br />
Nebenrolle (Lansbury), Script, Kamera (Joseph<br />
Ruttenberg) und Regie (Cedric Gibbons, William Ferrari, Edwin<br />
B. Willis und Paul Huldschinsky).<br />
Mit Bezug auf <strong>Ingrid</strong> durchforsteten die Kritiker ihre Vokabularien<br />
nach Superlativen: "Miss <strong>Bergman</strong> ist grossartig in<br />
ihrer entnervenden Rolle. Ihr sympathisches und gefühlvolles<br />
Spiel hält den Zuschauer in dauernder Spannung", lautete etwa<br />
der Tenor. Das Publikum stimmte zu: "Gaslight" habe sie<br />
<strong>als</strong> erstklassige Schauspielerin bestätigt, und aus Umfragen<br />
der Filmzeitschriften ging sie <strong>als</strong> Amerikas beliebteste Schauspielerin<br />
hervor. So brachte es TIME Magazine vom 2. August<br />
auf den Punkt, wo sie die Titelseite zierte: "<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong><br />
(<strong>als</strong> Maria) – wem immer in Hollywood die S<strong>tu</strong>nde schlug, sie<br />
läutete sie".<br />
218
Die Ausgabe enthielt einen hymnischen Artikel mit den<br />
Eckpfeilern ihres Lebenslaufs und ihrer bisherigen Karriere,<br />
gipfelnd: "Nicht nur, dass <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> keinen einzigen<br />
Feind in der ganzen Gemeinde hat: das Publikum liebt auch<br />
ihre Art zu arbeiten....ihre besondere Schönheit kommt von<br />
innen heraus; es ist die Schönheit eines Individuums.... sie ist<br />
eine ungewöhnlich ausgeglichene und charmante Frau mit Hal<strong>tu</strong>ng,<br />
Aufrichtigkeit, Zurückhal<strong>tu</strong>ng, Sensibilität, Charme und<br />
Talent." Und so ging's mit dem L<strong>ob</strong>, Seite über Seite, einschliesslich<br />
der unverdünnten L<strong>ob</strong>hudeleien der beiden Hexen<br />
Hedda Hopper und Louella Parsons. Kein lebender Mensch<br />
könnte einen derartigen Heiligsprechungsprozess lange überleben;<br />
allen voran ihm misstraute <strong>Ingrid</strong>.<br />
DIE PRODUKTION VON "GASLICHT" dauerte von Anfang<br />
Juli bis Ende Okt<strong>ob</strong>er und war nicht eine pausenlos ernste Angelegenheit,<br />
wie leidenschaftlich immer die Vorberei<strong>tu</strong>ngen<br />
und Pr<strong>ob</strong>en oder wie hoch die emotionalen Anforderungen jeder<br />
Szene gewesen sein mögen. Eines Abends hatte Selznick<br />
eine stattliche Zahl von potenziellen Investoren zu einer Party<br />
geladen, an der seine wichtigsten Vertrags-Stars teilnehmen<br />
sollten. Joseph Cotten erhielt den Auftrag, <strong>Ingrid</strong> zum Selznick-Mansion<br />
zu begleiten. Beide waren erschöpft, hatten einen<br />
frühen Arbeitsbeginn am nächsten Tag vor sich und waren<br />
nicht mehr in der Laune, zum Nutzen ihres Chefs einen höflichstilvollen<br />
Auftritt zu inszenieren.<br />
Spontan entwickelte <strong>Ingrid</strong> den Plan zu einem harmlosen<br />
Streich; so eilten sie zu Metros Garder<strong>ob</strong>e-Abteilung. Für<br />
sie fanden sie ein komplettes Kostüm für eine Serviererin<br />
(schwarzer Rock, weisse Schürze, weisse S<strong>tu</strong>lpen und Häubchen)<br />
und für ihn eine Butler-Uniform. Eine S<strong>tu</strong>nde danach<br />
schlüpften sie beide durch Selznicks Dienstboten-Eingang, beschworen<br />
den Majordomus, nichts zu verraten, behändigten<br />
ein Hors d'Oeuvre-Tablett und ein Tablett voller Getränke und<br />
begannen, mit dem <strong>ob</strong>ligaten Hollywood-Ach<strong>tu</strong>ngsgebaren ihren<br />
Weg durch die protzige Versammlung zu nehmen. "Das<br />
219
Mädchen dort hat eine auffallende Ähnlichkeit mit <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>",<br />
flüsterte Irene Selznicks Schwester, Edie Goetz.<br />
Kurz danach drehten die beiden noch etwas auf. Sie<br />
vereinbarten, auf offener Szene einige Gläser Champagner<br />
schwungvoll hinunterzustürzen und dann den Schwips vorzutäuschen.<br />
Dann, zwar mit schwerer Zunge aber immer korrekt,<br />
rief Butler Cotten zu <strong>Ingrid</strong> hinüber: "Komm Martha, wir haben<br />
nur eine S<strong>tu</strong>nde Arbeitszeit vereinbart! Unsere Kinder warten<br />
auf uns!" Aller Augen nun auf <strong>Ingrid</strong> gerichtet, stürzte sie zwei<br />
weitere Gläser hinunter und kicherte so unkontrolliert, dass<br />
Selznick auf die Szene aufmerksam wurde und sie sofort erkannte.<br />
Leider genossen nur die Spassvögel den Scherz.<br />
ENDLICH KONNTE INGRID DIESEN HERBST etwas zur<br />
Ruhe kommen. Sie verbrachte mehr Zeit mit ihrer Tochter,<br />
jetzt ein hübsches, lebhaftes Kind von fünf Jahren, und sie<br />
schrieb Petter, was er wohl zu ihrer Idee sagen würde, über<br />
den Kauf eines Hauses in Beverly Hills nachzudenken – mit viel<br />
Platz für Pia und den Räumen zur Unterhal<strong>tu</strong>ng von Freunden<br />
und Kollegen. Schliesslich betrugen ihre Bruttoeinkünfte 1943<br />
fast $ 100'000, wovon ihr nach Steuern und Abgaben fast $<br />
25'000 bleiben würden – sicher genug für eine grössere Anzahlung<br />
für ein hübsches Haus nördlich des Sunset Boulevards. Ihr<br />
Ehemann antwortete, sie wollten zu suchen beginnen, s<strong>ob</strong>ald<br />
er für seinen Urlaub nach Los Angeles zurückgekehrt sei.<br />
Jahre später gestand Petter, dass die emotionale Distanz,<br />
die sie zu dieser Zeit zunehmend trennte, sowohl durch<br />
seine Karriere wie durch die ihre verursacht wurde. Die Ehe<br />
war brüchig, sagte er, weil "nicht nur <strong>Ingrid</strong>, sondern auch ich<br />
zu sehr auf meine berufliche Arbeit fokussiert war – ich hätte<br />
nicht gezögert, von Kalifornien wegzuziehen, wenn mich das<br />
beruflich vorwärts gebracht hätte." Noch ein paar Jahre später<br />
war er in einem Brief an <strong>Ingrid</strong> noch offener: "Die einfache<br />
Wahrheit ist, dass ich kein guter Ehemann und zu sehr von<br />
meiner eigenen anspruchsvollen Arbeit absorbiert war; darüber<br />
hinaus war unsere Ehe nicht ideal, <strong>ob</strong>wohl wir uns in den ers-<br />
220
ten Jahren – wie ich glaube – gegenseitig ehrlich begegnet<br />
sind und voll vertraut haben." In dieser Hinsicht war seine Offenheit<br />
so bewunderungswürdig, wie die ihre; die fortschreitende<br />
Auflösung des Bandes zwischen ihnen kann kaum <strong>als</strong> die<br />
Folge eines sogenannten Hollywood-Lifestyles bezeichnet werden.<br />
Tatsache bleibt aber, dass Petters Arbeit sehr wohl die<br />
seiner Frau einschloss, und 1943 war er – der hohen Inanspruchnahme<br />
seiner Zeit und Energie zum Trotz – mehr <strong>als</strong> je<br />
zuvor mit der vollständigen Kontrolle von <strong>Ingrid</strong>s Karriere beschäftigt,<br />
was all jene mit Sorge erfüllte, die dieses Management<br />
mit grossem Missbehagen betrachteten. "Er wusste, dass<br />
er am Lenkrad sass und die uneingeschränkte Kontrolle über<br />
den heissesten Star der Filmgeschichte ausübte", sagte Joe<br />
Steele, der Petter <strong>als</strong> barsch und hartnäckig beschrieb, <strong>als</strong> einen<br />
Mann, dessen freudlose Nüchternheit ihren Ursprung in<br />
seinem ungeheuerlichen Misstrauen allem und jedem gegenüber<br />
hatte.<br />
IM INTERESSE DER PUBLIZITÄT liehen die S<strong>tu</strong>dios ihre<br />
Stars oft an Radio-Gesellschaften aus, die Zusammenfassungen<br />
von populären Filmen ausstrahlten. So kam es, dass Selznick<br />
<strong>Ingrid</strong> im September das Script zu einer Radio-Version<br />
von "Casablanca" sandte. Sie nahm es mit zu einem ihrer<br />
häufigen Besuche bei Petter in San Francisco; er überlas es<br />
rasch und brachte sogleich und zu <strong>Ingrid</strong>s Überraschung einige<br />
Änderungen am Dialog an. "Ich habe das Script so gut wie<br />
möglich geändert", schrieb Petter an Dan O'Shea, <strong>als</strong> er das<br />
Script am 20. September zurücksandte. Man kann sich das<br />
allgemeine Augenbrauenheben entlang den Korridoren von<br />
Selznick International Pic<strong>tu</strong>res etwa vorstellen. Ein Star könnte<br />
Änderungen vorschlagen, ein Agent könnte Anfragen stellen,<br />
ein Direktor kann Einwendungen registrieren. Aber ein derart<br />
plumpes Vorgehen wie dieses war schlicht jenseits von Petters<br />
Kompetenz.<br />
221
Vielleicht hat er sich zur selbstherrlichen Ausdehnung<br />
seines Einflusses auf <strong>Ingrid</strong>s Karriere durch eine Verhandlung<br />
berechtigt gefühlt, die er früher in diesem Jahr mit Selznick<br />
geführt hatte. Um sein kleines S<strong>tu</strong>dienstipendium aufzubessern,<br />
bot Petter Selznick seine Sprachkenntnisse und seine<br />
Beziehungen <strong>als</strong> Schwede an. In einem von Selznick und Petter<br />
unterzeichneten Vertrag vom 2. Mai, wurde Petter bei einem<br />
Jahresgehalt von $ 5'000 beauftragt, "Zusammenfassungen<br />
von ak<strong>tu</strong>eller schwedischer Litera<strong>tu</strong>r, die sich für Filme mit<br />
Miss <strong>Bergman</strong> eignen würde, zu liefern, Herausgeberlisten von<br />
schwedischer Belletristik zu beschaffen und alte Filme mit Miss<br />
<strong>Bergman</strong> aufzukaufen." Niemand erwartete, dass diese Aufgaben<br />
erfüllt würden, aber solche Vereinbarungen waren in Hollywood<br />
an der Tagesordnung, wodurch Ehepartner, Freunde<br />
und Liebhaber von Stars an die Geldtruhen der S<strong>tu</strong>dios gelangten.<br />
Ende Jahr unternahm Petter einen Schritt, der seine<br />
Frau, David Selznick, Charles Feldman, Kay Brown und jeden,<br />
der davon hörte, in Staunen versetzte. In einem Brief vom 30.<br />
Dezember an O'Shea sprach er wieder für sie und akzeptierte,<br />
dass "in Anbetracht Ihrer Zahlung des vollen Betrags an <strong>Ingrid</strong><br />
für ihren vierten Film (innerhalb von achtzehn Monaten) ich<br />
mich damit einverstanden erkläre, dass das im Vertrag stipulierte<br />
Da<strong>tu</strong>m vom 6. Januar 1944 um 5 Wochen nachversch<strong>ob</strong>en<br />
wird". Dann kam die erstaunliche Unterschrift: "Petter<br />
Lindström, Attorney-In-Fact for <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>". Wie Selznick<br />
und Co. schlagartig zur Kenntnis nahmen, hatte sich Petter<br />
selbstherrlich zum offiziellen Rechtsvertreter seiner Frau ernannt<br />
– und damit trug er zweifellos selbst mindestens soviel<br />
zur späteren Auflösung seiner Ehe bei, wie jede von <strong>Ingrid</strong> dazu<br />
ergriffene Massnahme. Eine Woche später wies er Selznick<br />
an, sämtliche Korrespondenz und Verträge für <strong>Ingrid</strong> an ihn zu<br />
adressieren <strong>als</strong> "Attorney-In-Fact, at 414-C Shirley Place, Beverly<br />
Hills". <strong>Ingrid</strong> erfuhr davon durch Selznick.<br />
222<br />
Ebenfalls im Dezember veranlasste Petter seine Frau,
weil sie nach "Gaslight" ja kein unmittelbares Projekt hatte,<br />
etwas für die amerikanische Kriegführung zu <strong>tu</strong>n. Sie stimmte<br />
zu, und er traf für sie ein Arrangement, wonach sie zur Unterhal<strong>tu</strong>ng<br />
der amerikanischen Truppen der Armeebasen in Alaska<br />
eingesetzt würde. Während fünf Wochen hüpfte sie von einem<br />
entlegenen Aussenposten zum andern mit dramatischen Lesungen,<br />
schwedischen Volksliedern und Fotos signieren für<br />
nicht im Einsatz stehende oder genesende Soldaten.<br />
"Wie wir alle", erinnerte sich später ein Veteran, "hatte<br />
sie Tempera<strong>tu</strong>ren von minus 20 Grad und tiefer auszuhalten,<br />
wurde in Uniform gekleidet und verbrachte die Nächte oft am<br />
Boden im Schlafsack. Einmal war es so kalt, dass ihr Eau de<br />
Cologne zu Eis wurde! Während den Busreisen gab es keinen<br />
Komfort, und während Wochen war kein Bad in Sicht. Aber<br />
<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> beklagte sich nie und war nie zu müde, die<br />
Soldaten zu unterhalten."<br />
"Wir tanzten mit den Soldaten", erinnerte sie sich, "wir<br />
assen zusammen und machten Spitalbesuche. Sie sind so<br />
dankbar für alles, was du für sie <strong>tu</strong>st." Aber dann ereilte sie<br />
eine schreckliche Erkäl<strong>tu</strong>ng mit hohem Fieber, und am 20. Januar<br />
wurde sie in ein Spital nach Seattle geflogen, wo die Ärzte<br />
eine doppelte Lungenentzündung diagnostizierten. Sowie ihr<br />
ein weiterer Flug zugemutet werden konnte, wurde sie nach<br />
Los Angeles zurückverlegt, wo sie für einen Monat Bettruhe<br />
verordnet erhielt. Dank der Fürsorge durch Mabel, Petter und<br />
ihren Hausarzt Dr. Culley verlief der Heilungsprozess dann ohne<br />
Komplikationen.<br />
223
224<br />
In Alaska
1944 - in "Gaslicht" mit Charles Boyer<br />
225
226<br />
1944 - kein einfaches Jahr - aber eines mit Aussichten
1944<br />
„Ich glaube, ich wartete einfach auf jemanden, der mich<br />
aus dieser Ehe herausholte. Allein hatte ich die Kraft dazu<br />
nicht mehr."<br />
(<strong>Ingrid</strong> über ihren Seelenzustand)<br />
WÄHREND DER ERSTEN MONATE DES NEUEN JAHRES<br />
war <strong>Ingrid</strong> erschöpft. Pia, die nachmittags vom Kindergarten<br />
nachhause kam, wurde oft aus Mamas Zimmer gescheucht,<br />
was ihre Freundinnen Ruth R<strong>ob</strong>erts und Kay Brown gelegentlich<br />
beunruhigte: Die Krankheit machte <strong>Ingrid</strong> ungewöhnlich<br />
müde, weshalb sie viel Schlaf brauchte.<br />
Ihre ganze Umgebung riet ihr, nun nicht gleich wieder<br />
in ihren normalen Arbeitsgalopp zurückzufallen, was sie auch<br />
einsah und eine persönliche Art der Entspannung für sich fand:<br />
Sie fuhr hinaus zur Küste – sei es zum Strand von Malibu oder<br />
zu den steilen Klippen der Santa Monica Palisades – und setzte<br />
sich irgendwo hin zum Lesen und um Scripts zu s<strong>tu</strong>dieren, wie<br />
sie es in ihrer Mädchenzeit dem Strandvägen entlang getan<br />
hatte. Ihr ganzes Leben lang übte das Meer eine belebende<br />
und ausgleichende Wirkung auf sie aus.<br />
Aber meistens war sie in Eile.<br />
"Alle sagen mir 'take it easy', aber ich möchte ständig<br />
etwas <strong>tu</strong>n", sagte sie<br />
Drum hasse ich die Sonntage. Andere Leute freuen<br />
sich auf den Sonntag, weil sie segeln gehen, Poker<br />
spielen oder zur Jagd gehen. Aber ich habe kein H<strong>ob</strong>by.<br />
Ich kann nicht bis Montag warten. So ist das im-<br />
227
228<br />
mer mit mir. Ich muss arbeiten, ich kann mich nicht<br />
entspannen, und ich bin unglücklich, wenn ein Film zu<br />
Ende gedreht ist – so lese ich eben ständig Scripts<br />
oder nehme irgendwelche Unterrichtss<strong>tu</strong>nden. Französisch,<br />
Tennis, Schwimmen, Reiten – nicht zur Ertüchtigung,<br />
sondern nur um etwas zu lernen, was ich möglicherweise<br />
einmal in einem Film gebrauchen kann, und<br />
dann verliere ich das Interesse daran. Ich lese auch<br />
viele Bücher, Stücke, Fiktion und Biographien. Wenn<br />
man mir die Bühne wegnähme, würde mir der Atem<br />
wegbleiben. Ich hoffe, sie werden später einmal auf<br />
meinen Grabstein schreiben: "Ihr Leben war das<br />
Schauspiel bis zum letzten Tag. Hier ruht eine gute<br />
Schauspielerin."<br />
Diesen Winter ging die Kontrolle über <strong>Ingrid</strong>s Leben stetig<br />
und zunehmend in die Hände ihres Ehemanns über. "Er<br />
sagte mir, was ich <strong>tu</strong>n und was ich sagen solle, und ich verliess<br />
mich in allen Dingen auf ihn. Er meinte es gut. Er nahm Lasten<br />
von meinen Schultern." Er korrigierte auch ihre Figur, beriet<br />
sie hinsichtlich ihrer Frisur und schalt sie für ihren unvernünftigen<br />
Kalorienhaushalt aus. "Natürlich half mir, was er sagte, in<br />
all den Jahren sehr viel. Petters Nörgelei unterstützte mich<br />
auch, aber in jenen Tagen ging er mir damit über alle Massen<br />
auf die Nerven."<br />
1944 war er mehr Mentor und Manager <strong>als</strong> Ehemann,<br />
und in <strong>Ingrid</strong> wuchs ein stilles Ressentiment heran. Einmal<br />
hielt sie es für überflüssig, nach der Genesung von ihrer Lungenentzündung<br />
auf ihre Diät zu achten, wo es doch dieses<br />
Frühjahr keine Arbeit gab.<br />
Petter wollte mich sehr schlank bis dünn sehen. Er<br />
konnte nie verstehen, wie ich bei all diesen Diätprogrammen,<br />
denen ich unterworfen war, nicht an Gewicht<br />
verlor. Was er nicht wusste, war, dass ich – <strong>ob</strong>schon<br />
abends bei Tisch mit Fruchtsaft und etwas Salat<br />
sehr vernünftig – in meinem Schlafzimmer eine Schale<br />
mit Gebäck stehen hatte, das ich nach dem Abendes-
sen fein säuberlich bodigte. Und dass ich mitten in der<br />
Nacht zum Kühlschrank hinunter ging und alles ass,<br />
was sich zur Ergänzung meines schmalen Abendessens<br />
anbot.<br />
Die Geschichten berühmter Frauen, die in Diätkuren gequält<br />
oder gedemütigt wurden, sind natürlich Legion; dies gab<br />
der Ehe nicht den fatalen Schlag, aber es waren, wie sie es<br />
ausdrückte, "alle die kleinen Dinge", die sich kumulierten und<br />
den Respekt verblassen liessen und mit dieser Erosion – auch<br />
die Liebe. <strong>Ingrid</strong> gab ihre Fehler unumwunden zu, und immer<br />
wenn sie um Verzeihung bat, erinnerte sie ihren Mann daran,<br />
dass auch er nur ein Mensch sei. "Ich begehe Fehler? Ich, Fehler?",<br />
pflegte er zu fragen,"Nein, sicher nicht. Ich überdenke<br />
alles sehr sorgfältig, bevor ich handle!" Petter Lindström war in<br />
mancherlei Hinsicht sehr ehrbar, so sei ihm seine ungeheuerliche<br />
Selbstgerechtigkeit verziehen.<br />
<strong>Ingrid</strong>s Taschengeld wurde von ihrem Ehemann so klein<br />
bemessen, dass sie nicht in der Lage war, bei Bedarf ein passendes<br />
Kleidungsstück zu kaufen. Mehr <strong>als</strong> einmal war Joe<br />
Steele entsetzt darüber, wenn <strong>Ingrid</strong> Petter anrufen musste,<br />
um seine Erlaubnis zu einem Interview einzuholen oder um<br />
Geld für einen Rock oder ein Kleid zu bitten. "Sie war immer<br />
die unterwürfige Ehefrau", meinte Selznick <strong>als</strong> Echo der Eindrücke<br />
von Michel Bernheim. "Lindström verwaltete das Geld,<br />
und sie selbst konnte keinen Penny für sich oder das Haus<br />
ausgeben, ohne zuerst seine Einwilligung eingeholt zu haben."<br />
Auch Joe Steele wusste das: "Ihr Mann kontrollierte die Finanzen."<br />
Das war wohl in den meisten amerikanischen Familien<br />
so, nur lebten die meisten amerikanischen Familien nicht ausschliesslich<br />
vom Einkommen der Frau.<br />
Petters Überwachung und Organisation ihres Lebens<br />
dehnten sich nun weit über die vertraglichen Details und Abschlüsse<br />
mit Selznick aus. "Oft kritisierte er an meinen Interviews,<br />
ich hätte nicht die richtigen Dinge gesagt", erinnerte<br />
sich <strong>Ingrid</strong>. "Und auch schon, wenn wir von einer Party nachhause<br />
kamen, sagte Petter: 'Du solltest nicht so viel reden. Du<br />
229
hast ein intelligentes Gesicht, so lass doch die Leute denken,<br />
du seiest auch intelligent. Sowie du zu plaudern beginnst, redest<br />
du jeden Unsinn'."<br />
Ungeachtet dessen, wie sehr er ihren Charme und ihre<br />
Intelligenz stets herunterzuspielen bestrebt war, hielt er ihre<br />
Ausstrahlung doch für stark genug, um mit allen ihren Hauptdarstellern<br />
Affären zu haben. "Einige mochte ich wirklich gut,<br />
und ich denke, bei einigen beruhte es auf Gegenseitigkeit",<br />
sagte sie, "aber da gab es sicher keine Liebesaffären." Ohne<br />
einen Beweis für das Gegenteil (und wir haben keinen), und<br />
weil <strong>Ingrid</strong> in ihrem späteren Leben mit Bezug auf die Männer<br />
sehr offen war, gibt es keinen Anlass, sie anzuzweifeln. Aber<br />
Petter glaubte aus rein persönlichen Gründen, was er glauben<br />
wollte.<br />
Jahre später gestand sich <strong>Ingrid</strong> selbst ein, dass sie<br />
dam<strong>als</strong> trotz ihres Vertrauens in ihr Talent, wie viele Frauen<br />
ihrer Zeit, durch ihren Ehemann völlig eingeschüchtert wurde.<br />
In einer Kul<strong>tu</strong>r aufgewachsen, die von der männlichen Überlegenheit<br />
und der na<strong>tu</strong>rgegebenen Abhängigkeit der Frauen von<br />
den höheren Fähigkeiten der Männer ausgeht, hinterfragte<br />
<strong>Ingrid</strong> diese Ordnung nie. Viele Konflikte in ihrer ersten und<br />
zweiten Ehe beruhten auf ihrer Unfähigkeit, die Kraft ihres beruflichen<br />
Selbstvertrauens und ihre klare Urteilsfähigkeit bezüglich<br />
ihrer Fähigkeiten und Karrieremöglichkeiten in ihr Privatleben<br />
hinüberzubringen. "Um ehrlich zu sein, ich hatte<br />
Angst vor ihm – und es war Wahnsinn, jemanden zu heiraten,<br />
vor dem ich mich ängstigte."<br />
Irene Selznick erfasste <strong>Ingrid</strong>s Dilemma klar. Sie erinnerte<br />
sich an Petter lebenslang <strong>als</strong> an einen rechthaberischen<br />
und strengen Mann, der das Leben der Lindströms in Hollywood<br />
so dominierte, wie er es in Schweden tat. Irene versuchte<br />
einst, <strong>Ingrid</strong> für eine wichtige Premiere zum Kauf eines passenden<br />
Kleides zu bewegen, sie aber konnte Petter nicht davon<br />
überzeugen, dass das nötig wäre.<br />
Was Pia anbelangt, wäre es ein Leichtes, <strong>Ingrid</strong> das<br />
Versagen <strong>als</strong> Mutter vorzuwerfen, weil ihr ihre Karriere von<br />
230
zentraler Bedeu<strong>tu</strong>ng war. "Aber wenn wir zusammen waren",<br />
erzählte Pia später, "verbrachten wir glückliche S<strong>tu</strong>nden mit<br />
Kinderspielen, Kissenschlachten, in die Nacht hinein plaudernd."<br />
Pia hatte keine Neigung zu Mutters Beruf. Wenn ein<br />
Besucher sie fragte, <strong>ob</strong> sie auch einmal Schauspielerin werden<br />
möchte, fragte sie: "Muss ich das?"<br />
Im Rückblick bezeichnete Pia ihre Kindheit <strong>als</strong> gütige<br />
Vernachlässigung. "Meine Mutter unterwarf sich den Anforderungen<br />
ihrer Karriere und Vater war hinter der seinen her, sodass<br />
ich sehr oft alleine war – und einsam. Ich habe keine lebendigen<br />
Erinnerungen an die glückliche Familie."<br />
Später ging <strong>Ingrid</strong> wegen dieser Zeit härter mit sich ins<br />
Gericht: "Ich fühlte mich schuldig, aber nicht schuldig genug,<br />
um den Beruf aufzugeben.<br />
Ich war <strong>als</strong> Mutter zu jung – nicht so sehr nach Jahren,<br />
<strong>als</strong> eher unreif. Ich war so sehr absorbiert von meiner<br />
Karriere, von Hollywoods Starsystem und all dem,<br />
dass ich für das kleine Mädchen in meinem Haus keine<br />
Zeit fand. Es wartete den ganzen Tag lang auf meine<br />
Heimkehr vom S<strong>tu</strong>dio, und dann, wenn ich zuhause<br />
war – oft viel später <strong>als</strong> erwartet, war ich entweder zu<br />
müde, um mich mit dem Kind abzugeben oder hatte<br />
mich gleich umzuziehen für einen Anlass oder was<br />
immer. Es gibt keinen Zweifel darüber, dass ich sie<br />
vernachlässigt habe, und dafür habe ich ein lebenslanges<br />
Schuldgefühl."<br />
Irene Selznick hielt <strong>Ingrid</strong>s Reue für unbegründet. "Ich<br />
konnte nie verstehen, warum sich <strong>Ingrid</strong> wegen ihres Kindes<br />
derart in der Schuld fühlte, nur weil sie berufstätig war", erinnerte<br />
sich Irene Selznick. "Was immer <strong>Ingrid</strong> mit ihr oder für<br />
sie getan hat, es schien ihr nie genug zu sein. Ich kannte niemanden,<br />
der so besorgt war." Tatsächlich unterhielt <strong>Ingrid</strong><br />
<strong>Bergman</strong> ihre Familie, und Millionen von Frauen hatten dam<strong>als</strong><br />
und später wenig Zeit für ihre Kinder aus genau denselben<br />
Gründen.<br />
231
Vielleicht sind <strong>Ingrid</strong>s Gefühle verständlich, weil sie<br />
selbst den Mangel an mütterlicher Fürsorge in ihrer eigenen<br />
Kindheit erlebt hatte und nicht wollte, dass ihre Tochter mit<br />
denselben Kindheitserinnerungen aufwachsen musste. Aber<br />
unter bestimmten Umständen wird der Tod der Mutter von<br />
einem Kind vielleicht besser verkraftet, <strong>als</strong> ihre gelegentliche<br />
Anwesenheit für einen oder zwei Gänge beim Abendessen.<br />
Wenn <strong>als</strong>o <strong>Ingrid</strong> ihre Tochter zu vernachlässigen glaubte,<br />
mag dieses strenge Urteil auch eine andere Ursache haben<br />
– dieselbe emotionale Anfälligkeit, die sie dazu veranlasste,<br />
ihre abschätzige Beurteilung durch Petter allzu leichtfertig für<br />
bare Münze hinzunehmen. Tatsache ist, dass Pias Los in den<br />
1940er-Jahren nicht viel anders war, <strong>als</strong> das vieler anderer<br />
Kinder dam<strong>als</strong> und jederzeit (mag man beifügen: Speziell in<br />
Hollywood). Im Wohlstand lebenden Kindern blieb oft die nötige<br />
elterliche Zuwendung versagt, was aber nicht unbedingt<br />
fatal ist und auch keine erkennbare Schädigung verursachte;<br />
viele weniger wohlhabende Familien erleben weniger "Gemeinsamkeit",<br />
<strong>als</strong> uns die "happy family"-Märchen garantieren wollen,<br />
und Kinder aus diesen Verhältnissen sind oft erstaunlich<br />
lebenstüchtig (<strong>Ingrid</strong> selbst war eines von ihnen).<br />
Andererseits kann man sich sehr leicht vorstellen, welche<br />
Ressentiments gegen Kinder in einer Mutter entstehen<br />
könnten, welche die Gelegenheit zu einer bedeutenden Berufstätigkeit<br />
gehabt hätte, aber darauf verzichten musste (oder<br />
wollte), weil sie zuhause dringend gebraucht wurde. Gewisse<br />
Eltern und Kinder haben tatsächlich dieses überwältigende Bedürfnis;<br />
andere wiederum können sich den Luxus, diesem Bedürfnis<br />
nachzuleben, aus wirtschaftlichen Gründen nicht leisten;<br />
und wieder andern Eltern und Kindern geht es deutlich<br />
besser ohne den ständigen Kontakt zueinander. Im Gegensatz<br />
zu andern Ländern hat Amerika – allerdings erst seit dem 2.<br />
Weltkrieg – den Mythos der wunderbaren Mutter verbreitet, die<br />
Dick und Jane betreute, sie und ihren Hund zum Abendessen<br />
nachhause rief und mit links den unmöglichen Spagat zwischen<br />
ihren Pflichten <strong>als</strong> Köchin, Dienstmädchen, Kinderschwester<br />
und Lehrerin schaffte. Kein Wort über ihre Verpflich<strong>tu</strong>ngen <strong>als</strong><br />
232
treue, verlässliche Ehefrau: das alles versteht sich selbstredend<br />
<strong>als</strong> ganz "natürlich".<br />
Zugegeben: Für viele war es das auch. Aber für eine<br />
grosse Mehrheit war das der Lesestoff für Primarschulen. In<br />
dieser Beziehung machen wir die interessante Be<strong>ob</strong>ach<strong>tu</strong>ng,<br />
dass die amerikanische Kul<strong>tu</strong>r davon ausging, dass Väter meistens<br />
von zuhause abwesend waren, um ihre Familie zu ernähren,<br />
oft auf der Geschäftsreise oder damit beschäftigt, sich die<br />
Erfolgsleiter des Unternehmens hochzuarbeiten und ihren Kindern<br />
deshalb nur sehr wenig Zeit opfern konnten. Das war erhaben<br />
– und auch "natürlich". Mütter hatten brillante Schoko-<br />
Chip-Kuchen-Bäckerinnen zu sein, das Mädchen für alles, immer<br />
bereit mit Heftpflastern, Milchgläsern, Antworten auf geographische<br />
und arithmetische Fragen und endloser Geduld für<br />
die Bedürfnisse der Kiddies.<br />
Aber gleichzeitig hatten gewisse Industriezweige (wie<br />
z.B. die Filmindustrie) immer anspruchsvolle J<strong>ob</strong>s für Frauen<br />
bereit, und die Gesellschaft akzeptierte es auch, dass diese<br />
angenommen wurden. Wie, <strong>als</strong>o, soll eine Frau eine solche<br />
Aufgabe übernehmen und gleichzeitig die Idealrolle der Vollzeit-Hausmutter<br />
mit Schürze und Kochlöffel spielen? Speziell<br />
während des Krieges war das nur wenigen möglich. In den<br />
1940er-Jahren waren viele Frauen gezwungenermassen von<br />
ihren Kindern getrennt: Die Frauen vieler im Ausland kämpfender<br />
Soldaten hatten lange Arbeitszeiten zu bewältigen; viele<br />
von ihnen arbeiteten in Flugzeugwerken und Munitionsfabriken;<br />
und "Nieten-Rosies" – die damalige Bezeichnung für die in<br />
Rüs<strong>tu</strong>ngsbetrieben tätigen Frauen – waren in jeder amerikanischen<br />
Stadt und jedem Dorf massenhaft zu finden.<br />
Pia Lindström war kein missbrauchtes Kind. Aber dass<br />
sie tatsächlich unter einem Mangel an Zuwendung litt, unterliegt<br />
keinem Zweifel, und der Mangel an Geschwistern machte<br />
sie in ihrem jungen Leben umso einsamer. Zwei Faktoren<br />
stützten die Vorwürfe, die ihr andere und <strong>Ingrid</strong> sich selbst<br />
machten: die heuchlerische Verdammung, mit der Amerika sie<br />
1949 und 1950 abstrafte, und der in den 50er-Jahren wach-<br />
233
sende Wohlstand der Mittelschicht. Dam<strong>als</strong> waren viele Mütter<br />
nicht mehr erwerbstätig und konnten sich zuhause abschinden<br />
- wo die S<strong>tu</strong>nden länger und das Einkommen kleiner waren.<br />
Mag sein, dass die Gestalt des omnipotenten, allwissenden<br />
Mamis weitgehend die Erfindung der Autoren von "Fun with<br />
Dick and Jane" - mit etwas Schützenhilfe durch Dr. Benjamin<br />
Spock war. Vor allem verbreitete aber das Fernsehen die<br />
Stimmung der Zeit: Mami war die wichtigste Person im Leben<br />
eines Kindes, und solange sie sich nach den Regeln (welche<br />
immer das waren) verhielt, konnte nichts danebengehen. So<br />
war jedenfalls das Heim der Braven, und wie Dr. Lindström<br />
hatte nie-mand einen Fehler zu machen.<br />
Letztlich ist im Zusammenhang mit <strong>Ingrid</strong>s Verantwor<strong>tu</strong>ngsgefühl<br />
für ihre Familie immer im Auge zu behalten, dass<br />
sie für ihr eigenes Leben, das ihres Ehemannes und das ihrer<br />
Tochter selbst aufkam. Petters Einnahmen beschränkten sich<br />
auf das kleinste Stipendium für einen S<strong>tu</strong>denten, das nicht<br />
einmal ansatzweise ausgereicht hätte, eine Familie zu erhalten;<br />
ihren Lebensstil und Komfort verdankten sie alle ausschliesslich<br />
<strong>Ingrid</strong>s Einkommen. So ist nicht einfach einzusehen,<br />
warum sie <strong>als</strong> eine vernachlässigende Mutter betrachtet<br />
wurde, nur weil sie Filmstar und nicht ein hohes Tier in der<br />
Wirtschaft oder Ärztin war.<br />
SELZNICK ERWARTETE <strong>Ingrid</strong>s und Petters Teilnahme<br />
an der Verleihung der Academy Awards, die am 2 März im<br />
Graumans Chinese Theatre in Hollywood stattfand, umsomehr<br />
<strong>als</strong> sie für ihre Leis<strong>tu</strong>ng in "For whom the Bell Tolls" nominiert<br />
war. Jean Arthur, Joan Fontaine, Greer Garson und Jennifer<br />
Jones waren ebenfalls im Rennen. Als Jones gewann, eilte <strong>Ingrid</strong><br />
zu ihr, um ihr zu gra<strong>tu</strong>lieren. "Tut mir leid, <strong>Ingrid</strong>", sagte<br />
sie, "du hättest Anrecht auf den Titel gehabt." Aber <strong>Ingrid</strong> war<br />
anderer Meinung: "Nein, Jennifer, deine Bernadette war besser<br />
<strong>als</strong> meine Maria." Sie hatte Recht und wusste es auch.<br />
Diesen Monat beendete Petter sein Chirurgie-Praktikum<br />
im Stanford und begann ein dreimonatiges Praktikum <strong>als</strong> As-<br />
234
sistenzarzt in Otorhinolaringologie (H<strong>als</strong>, Nasen Ohren) im<br />
County Hospital Los Angeles. Danach folgte ein Praktikum <strong>als</strong><br />
Assistenzarzt in Neurochirurgie, das er 1947 abschloss, um<br />
sich danach lebenslang seiner Karriere <strong>als</strong> Neurochirurg zu<br />
widmen.<br />
Das alles hielt ihn aber nicht davon ab, sich um <strong>Ingrid</strong>s<br />
Karriere zu kümmern, und für einmal hatte nun David Selznick<br />
einen seiner langen Brief an Petter zu diktieren, um die harsche<br />
Kritik, die dieser in einem Brief vom 6. April über <strong>Ingrid</strong>s<br />
Chef zum Ausdruck brachte, zu kontern.<br />
Petter beanstandete, (a) dass <strong>Ingrid</strong> bei einem andern<br />
Produzenten, der sie besser beschäftigt (und wohl auch reicher<br />
gemacht) hätte, besser aufgeh<strong>ob</strong>en wäre; (b) dass sie nur für<br />
mittelmässige Filme ausgeliehen worden sei; (c) dass ihre Originalverträge<br />
aus den Jahren 1939 und 1940 zahllose Änderungen<br />
erfahren hätten; (d) dass Selznick sein Versprechen,<br />
mit <strong>Ingrid</strong> Jeanne d'Arc zu verfilmen, noch immer nicht eingehalten<br />
habe; (e) dass diese Umstände <strong>Ingrid</strong> nun veranlassten,<br />
sich für die Zeit nach Auslauf des Vertrags mit ihm nach einem<br />
andern Produzenten umzusehen, "dass sie aber nichts unterzeichnen<br />
würde, bevor sie ihn (Selznick) verständigt hätten".<br />
Petter: "Natürlich kam der Brief in <strong>Ingrid</strong>s Hände, worauf sie<br />
mich mit ihrem üblichen gesunden Menschenverstand ausschimpfte."<br />
Selznicks Antwort umfasste sieben Seiten; eine nach<br />
der andern beantwortete er Petters Vorhal<strong>tu</strong>ngen.<br />
"Du hast die Tendenz", begann er scharf aber korrekt,<br />
"unser dem deinen überlegenes Fachwissen im Filmgeschäft zu<br />
ignorieren. Ich würde mir nicht gestatten, dir zu sagen, du<br />
seiest im Stanford besser dran <strong>als</strong> im County Hospital, oder in<br />
der Columbia-Universität besser <strong>als</strong> in Rochester. Ich gehe<br />
davon aus, dass du deine Medizin verstehst und weisst, was du<br />
<strong>tu</strong>st. Du aber willst nicht akzeptieren, dass ich mein Geschäft<br />
kenne und dass auch ich weiss, was ich <strong>tu</strong>." Er wusste am besten,<br />
was für <strong>Ingrid</strong> gut war, <strong>Ingrid</strong> und Dan O'Shea wussten<br />
das "am zweitbesten". Aber Petter war "ein schlimmer Dritter".<br />
235
Mit Petters Einwand bezüglich mittelmässiger Filme<br />
wurde der Produzent leicht fertig. Er verwies ganz einfach auf<br />
die grosse Popularität und die Einnahmen aus "Dr. Jekyll and<br />
Mr. Hyde“, "Casablanca" und "For Whom the Bell Tolls" (der<br />
ungeachtet seiner Kritiken auf nationaler Ebene zahllose Massen<br />
anzog); ausserdem sollte "Gaslight" im Mai in die Kinos<br />
kommen, wofür alle Prognosen mehr <strong>als</strong> ermutigend lauteten.<br />
Auch die dritte Klage sei fadenscheinig, stellte Selznick<br />
fest: alle die Vertragsänderungen, vorgezogen wie sie waren<br />
(meist auf Petters Verlangen hin), brachten <strong>Ingrid</strong> einen höheren<br />
Pro-Film-Ertrag und höhere Boni – wo <strong>als</strong>o lag das Pr<strong>ob</strong>lem?<br />
Was Jeanne d'Arc anbelangte, war das während des<br />
Krieges praktisch ausgeschlossen. "Zeitweise waren die Gefühle<br />
unseres Landes für die Franzosen nicht die allerbesten, und<br />
wenn schon, dann waren wir nie sehr sicher, <strong>ob</strong> wir nicht tatsächlich<br />
mit Vichy kämpften (die kollaborierende französische<br />
Strohpuppen-Regierung während der deutschen Besetzung des<br />
Landes). Selbst heute noch ist die Si<strong>tu</strong>ation so delikat für einen<br />
Film, der Frankreich auf Kosten Englands (und/oder der katholischen<br />
Kirche: jemand verbrannte sie ja!) glorifiziert, dass<br />
man sich das kaum vorzustellen wagt.<br />
Aber die Drohung, <strong>Ingrid</strong> würde fremdgehen, wurmte<br />
Selznick. "Das ist etwa gleichbedeutend wie das militärgerichtliche<br />
Urteil für den Angeklagten, er werde im Morgengrauen<br />
nicht erschossen ohne zuvor darüber verständigt worden zu<br />
sein....Dein ganzer Brief, Petter, erschüttert mich im Hinblick<br />
auf <strong>Ingrid</strong>s Zusage, bei mir zu bleiben, solange sie im Filmgeschäft<br />
tätig sei." Selznick endete im Ton, mit dem er begann:<br />
"Meine Verbindung mit <strong>Ingrid</strong> ist eine helle Freude, getrübt nur<br />
durch deine hartnäckige Weigerung, das Fachwissen zu anerkennen,<br />
das ihre Führung erfordert.....Ich meinerseits habe<br />
das vollste Vertrauen in deinen grossen Erfolg – <strong>als</strong> Arzt."<br />
Selznicks sachliche Antwort traf ins Schwarze. Am 13.<br />
Mai antwortete Petter:<br />
236
1944 - in "Gaslicht", unten mit Charles Boyer<br />
237
238<br />
"Wie ich im Dezember sagte, denken wir, <strong>Ingrid</strong> sollte<br />
für einige Zeit keine neuen Verträge ins Auge fassen.<br />
Ich wollte dir aber sagen, dass ich deinen letzten Brief<br />
mit Freude gelesen habe.<br />
<strong>Ingrid</strong> ist fest entschlossen, ihre Filme mit dir zu machen.<br />
In den Pausen, wenn du sie in deinen Produktionen<br />
nicht benötigst, werden wir uns bemühen, ihr Arbeit<br />
zu verschaffen und zu wissen, ungefähr wann sie<br />
frei und wann sie an der Arbeit ist.<br />
<strong>Ingrid</strong> hat sich mit dir über diese "Extra-Verpflich<strong>tu</strong>ngen"<br />
schon kurz unterhalten.....deshalb wollte ich das<br />
Da<strong>tu</strong>m dafür festlegen: 1. Januar 1945. Es war nie<br />
meine Absicht, sie einen Exklusivvertrag mit einem<br />
Aussenseiter unterzeichnen zu lassen, weder vor noch<br />
nach diesem Da<strong>tu</strong>m."<br />
Wo beim Teufel (resp. in Beverly Hills) war denn Charles<br />
Feldman, wollte Selznick wissen? Hatte denn <strong>Ingrid</strong>s Agent<br />
hier keinen Einfluss? Die einzige Antwort darauf lautete: Mochte<br />
er es auch versucht haben, er hatte keinen.<br />
"Es ging bis zu meiner vollständigen Unterwerfung",<br />
sagte <strong>Ingrid</strong> später. "Petter bestand darauf, alle meine geschäftlichen<br />
Angelegenheiten zu regeln, und das Vertrauen zu<br />
andern lag nicht in seiner Na<strong>tu</strong>r, speziell nicht das zu Geschäftspartnern.<br />
Er behauptete oft, kein Mann habe seiner<br />
Frau je soviel Freiheit gelassen, wie er. Das war so. Aber frei<br />
fühlte ich mich immer weg von ihm, nicht bei ihm."<br />
UNTER ETWAS ANDERN UMSTÄNDEN hätte Selznick die<br />
Frage von Petters Management gerne noch weiterverfolgt.<br />
Aber dieses Frühjahr wollte er nur <strong>Ingrid</strong> unterstützen. Alfred<br />
Hitchcock war mit Autor Ben Hecht an der Arbeit mit einem<br />
Projekt für <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> und Gregory Peck, der nun auch<br />
bei Selznick unter Vertrag stand. Pecks beide ersten Filme hatten<br />
ihn postwendend zum grossen Star gemacht. "Ich möchte<br />
betonen", schrieb Selznick seiner Autorin Magareth McDonell,
"dass ich verzweifelt darauf warte, diese psychologische oder<br />
psychiatrische Geschichte mit Hitch zu realisieren." Übrigens<br />
waren beide, Selznick und Hecht, zu jener Zeit in einer Psychoanalyse.<br />
Hitchcock betrachtete Selznicks Drängen auf psychiatrischen<br />
Jargon und Freudsche Traumdeu<strong>tu</strong>ng eher <strong>als</strong><br />
Vorwand für eine Liebesgeschichte.<br />
Die Grundlage dazu bildete die 1927 veröffentlichte Novelle<br />
"Das Haus von Dr. Edwardes" von John Leslie Palmer<br />
und Hilary Aidan St. George Saunders (die unter dem gemeinsamen<br />
Pseudonym Francis Beeding schrieben), ein bizarres<br />
Märchen von Hexenmeisterei, satanischem Kult und Mord, was<br />
sich alles in einer schweizerischen Psychiatrischen Klinik abspielte.<br />
Hitchcock hatte Selznick davon überzeugt, dass dieses<br />
eigenwillige Stück (dessen Recht Hitchcock für einen Pappenstiel<br />
eingekauft und mit einem stattlichen Gewinn an Selznick<br />
weiterverkauft hatte) so bearbeitet werden konnte, dass daraus<br />
ein Thriller entstünde, in dem eine Psychiaterin einen<br />
Kriminalfall löste und damit ihrem Patienten – in den sie sich<br />
verliebt hatte – das Leben rettete.<br />
Wie <strong>Ingrid</strong> hatte auch Hitchcock (der Selznick eben den<br />
Oscar für "Rebecca" eingebracht hatte) erst einen Film für<br />
Selznick gedreht, bevor er an andere S<strong>tu</strong>dios ausgeliehen wurde,<br />
wo er durch eine Anzahl populärer und erfolgreicher Filme<br />
auf sich aufmerksam machte (darunter "Foreign<br />
Correspondent", "Suspicion", "Shadow of a Doubt" und<br />
"Lifeboat"). Hecht war Journalist, Stückeschreiber, Romancier<br />
und wahrscheinlich der schnellste Screenwriter, den Hollywood<br />
je sah. Die meisten seiner siebzig Filme waren in weniger <strong>als</strong><br />
drei Wochen geschrieben, und an jenen, an welchen er<br />
herumzubeissen hatte, arbeitete er gerne auch ohne eine Entschädigungszusage<br />
in Höhe von $ 125'000 (eine Summe, welche<br />
zu Hechts Zeiten das Zehnfache der den Filmautoren normalerweise<br />
bezahlten Entschädigungen ausmachte). Unter<br />
seinen bekanntesten Filmen (oder jenen, deren Pr<strong>ob</strong>leme er<br />
lösen half, ohne dafür verantwortlich gewesen zu sein) waren<br />
"Twentieth Cen<strong>tu</strong>ry", "Nothing Sacred", "Gunga Din", "Wuthering<br />
Heights", "Queen Christina" und "Gone With the Wind".<br />
239
Die Hitchcock-Hecht-Kooperation war erspriesslich. Beide<br />
teilten das Interesse an den finstern Gängen in der menschlichen<br />
Seele, beide wollten ein kräftiges Garn spinnen, beide<br />
wollten eine Liebesgeschichte weben. Als Selznick den definitiven<br />
Entwurf (mit ein paar Änderungen durch die Psychiaterin<br />
Dr. May E. Romm) las, war er begeistert.<br />
Begonnen <strong>als</strong> "The House of Dr. Edwardes", wurde der<br />
Film später umbenannt in "Spellbound". Die Erzählung beginnt<br />
damit, dass Dr. Murchison (Leo G. Caroll), der Direktor der<br />
Psychiatrischen Klinik 'Green Manors', einen Zusammenbruch<br />
erleidet und danach durch den bekannten Dr. Antony Edwardes<br />
(Gregory Peck) ersetzt werden soll, der sich auf der Stelle in<br />
seine neue Kollegin Dr. Constance Petersen (<strong>Ingrid</strong>) verliebt.<br />
Aber dann fällt Edwardes durch sein absonderliches Verhalten<br />
auf; emotionale Ausbrüche werden bei ihm immer ausgelöst,<br />
wenn sein Blick auf parallele Linien auf weissem Untergrund<br />
fällt. Constance entdeckt, dass Edwardes nicht Edwardes ist,<br />
sondern ein von Gedächtnisschwund befallener Schwindler, der<br />
wie die Polizei selbst davon überzeugt ist, den echten Dr. Edwardes<br />
umgebracht zu haben. Das Gesetz ist ihm auch bald<br />
auf den Fersen.<br />
Unfähig zu akzeptieren, dass der Mann, den sie liebt,<br />
ein Verbrecher ist, versteckt sie ihn vor der Polizei bei ihrem<br />
ehemaligen Doktorvater Prof. Dr. Alex Brulov (Michael Chekhov),<br />
und gemeinsam versuchen die beiden Psychiater nun die<br />
seltsamen Träume ihres Patienten zu entwirren. Dabei stellt<br />
sich heraus, dass der junge Mann seine Erinnerungen an den<br />
Unfalltod seines kleinen Bruders in der Kinderzeit verdrängte,<br />
weil er sich daran schuldig fühlte. Schliesslich stellte sich heraus,<br />
dass nicht der junge Mann, sondern der kranke Dr. Murchison<br />
selbst den wirklichen Dr. Edwardes ermordet hatte, um<br />
seine Position in der Klinik zu retten. Als Constance am Schluss<br />
alle diese Zusammenhänge offenbart, begeht Murchison<br />
Selbstmord. Sie und ihr Patient, der nun von jeder rechtlichen<br />
und eingebildeten Schuld befreit ist, können nun heiraten.<br />
240
<strong>Ingrid</strong> gefiel die Beschreibung von Dr. Petersen im Roman<br />
("Constance betrachtete sich selbst nüchtern und vorurteilslos.....sie<br />
war vor allem stolz darauf, klar zu denken") und<br />
sie mochte besonders Constances grosszügige Loyalität. Aber<br />
sie fand die Vermischung von professioneller Psychiatrie mit<br />
der Romanze unglaubhaft: "Ich werde diesen Film nicht machen,<br />
weil ich die Liebesgeschichte unmöglich finde", sagte sie<br />
zu Selznick. "Die Heldin ist eine intellek<strong>tu</strong>elle Frau, und eine<br />
Intellek<strong>tu</strong>elle kann sich einfach nicht so abgrundtief verlieben."<br />
Um ihre Bedenken zu zerstreuen, trafen sich Selznick,<br />
Hitchcock und Hecht mit ihr. Letztlich gehe es doch darum,<br />
sagte Hitchcock, dass jedermann eine gute Liebesgeschichte<br />
schätzt, und dass wenn sie sich der Realität verschreiben wollten,<br />
sie eben Dokumentarfilme machen müssten. Dieses Argument<br />
hatte für sie nicht halb soviel Gewicht wie Hitchcocks<br />
durch und durch professionelle Überzeugungskraft, seine Fähigkeit,<br />
die Komplexität einer Sache offenzulegen und gleichzeitig<br />
zu unterhalten und sein ausserordentliches Talent, sie<br />
den Film "sehen" zu lassen, während er erzählte. <strong>Ingrid</strong> hatte<br />
von Hitchcocks Zaubereien natürlich gehört, und ganz besonders<br />
hatte es ihr sein Film "Shadow of a Doubt" angetan, in<br />
dem ihre Freundin Theresa Wright die Hauptrolle spielte.<br />
Überdies würden die Liebesgeschichte und die technischen<br />
Innovationen, die Hitchcock für "Spellbound" geplant<br />
hatte, ihre wirklichen Herausforderungen darstellen. Wegen<br />
des psychiatrischen Jargons erinnerte Hitchcock <strong>Ingrid</strong> daran,<br />
dass das Publikum wenig Erfahrung und Wissen um Filme aus<br />
dem psychiatrischen Umfeld habe. Siegmund Freud war vor<br />
fünf Jahren verstorben und seine Terminologie (Schuldkomplex,<br />
Vaterfixierung, Traumsymbolik) war nicht verbreitet und<br />
wurde vom Durchschnittspublikum auch kaum verstanden.<br />
Was im Script <strong>als</strong> eine vereinfachte Lösung des Geheimnisses<br />
der Geschichte durch eine kindische Interpretation von Traum-<br />
bildern erschien, war 1944 etwas Neues und Faszinierendes.<br />
241
NACH ZWEISTÜNDIGER DISKUSSION war <strong>Ingrid</strong> gewonnen.<br />
Am 20. Juni trat sie in den Selznick-S<strong>tu</strong>dios an für<br />
Makeup- und Garder<strong>ob</strong>e-Tests, und die ersten Szenen wurden<br />
am 10. Juli, <strong>Ingrid</strong>s siebentem Hochzeitstag, geschossen. Zur<br />
Feier des Tages liess Hitchcock nach des Tages Arbeit einen<br />
riesigen Geburtstagskuchen für Schauspieler und Crew auffahren.<br />
Zweifellos war <strong>Ingrid</strong> bei den Gedanken an die bevorstehende<br />
Arbeit eher ums Festen zumute, <strong>als</strong> bei den Gedanken<br />
an ihre Ehe.<br />
"Ich erinnere mich, wir hatten einige Meinungsverschiedenheiten<br />
während der Dreharbeiten", erinnerte sich <strong>Ingrid</strong><br />
Jahre später.<br />
242<br />
Ich sagte: "Ich glaube nicht, dass ich euch dieses Mass<br />
an Emotionen liefern kann". Hitchcock sass da und<br />
sagte: "<strong>Ingrid</strong> - <strong>tu</strong> <strong>als</strong> <strong>ob</strong>!" Also: das war der nützlichste<br />
Rat, den ich in meinem ganzen Leben bekommen<br />
habe, denn in all den kommenden Jahren gaben mir<br />
Regisseure immer wieder Anweisungen, die ich <strong>als</strong><br />
unmöglich durchführbar empfand, und sonstwie extrem<br />
schwierige Aufgaben, und immer wenn ich Atem<br />
holte um mit ihnen zu diskutieren, hörte ich die Stimme<br />
zu mir durchdringen, die sagte: "<strong>Ingrid</strong> - <strong>tu</strong> <strong>als</strong><br />
<strong>ob</strong>!". Das ersparte mir viele Unannehmlichkeiten und<br />
Zeitverluste.<br />
Mit "Spellbound" begannen <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> und Alfred<br />
Hitchcock eine historische Zusammenarbeit, die drei Filme hervorbrachte<br />
und eine lebenslange Freundschaft bis zu Hitchcocks<br />
Tod 1980 zur Folge hatte. Aber wie lohnend sie für beide<br />
gewesen sein mag, war diese Beziehung eine der pr<strong>ob</strong>lematischsten<br />
im Leben beider, denn Hitchcock verliebte sich sehr<br />
schnell und hoffnungslos in seine erste Dame. Aber er konnte<br />
in ihr keine Gegenliebe entzünden: sie bewunderte sein Genie<br />
und empfand eine enorme Zuneigung für ihn <strong>als</strong> ihren Mentor,<br />
<strong>als</strong> Vater-Figur und Freund, doch hier endeten ihre Gefühle. So<br />
wurde ihre Zusammenarbeit – während eines Zeitraums von<br />
vier Jahren – für beide sehr erfreulich, für Hitchcock allerdings
auch zu einer schmerzlichen Plage.<br />
Während den Diskussionen in der Vorproduktion von<br />
"Spellbound" war er zunächst einfach fasziniert von <strong>Ingrid</strong>;<br />
aber <strong>als</strong> die Aufnahmen begannen war Hitch liebeskrank – daher<br />
die ausserordentliche Subtilität seiner Regie an ihr und die<br />
weit grössere Genialität ihres nächsten Films, "Notorious". So<br />
wie <strong>Ingrid</strong> in einer Scheinwelt leben musste, um glaubhafte<br />
Gefühle für ihre Figuren zu finden, so verdankten Hitchcocks<br />
Meisterwerke ihre Kraft seinem unerreichten Genie <strong>als</strong> "visueller"<br />
Geschichtenerzähler, der mit dem Rohmaterial seiner eigenen<br />
Fantasie arbeitete. Sein langes kreatives Leben brachte<br />
er im Käfig des gequälten abgeblitzten Liebhabers zu: Seine<br />
frustrierte Leidenschaft für einige seiner Hauptdarstellerinnen<br />
verursachte ihm grossen Kummer. Aber es war gerade dieses<br />
Leiden, das der Welt grösste künstlerische Leis<strong>tu</strong>ngen verschaffte,<br />
die im Ofen ungestillter menschlicher Leidenschaft<br />
entstanden sind. In dieser Beziehung hinterliess er uns ein<br />
profundes geistiges Testament in einer Reihe von bemerkenswert<br />
offenherzigen, selbstverräterischen Filmen.<br />
"Irgend etwas muss Hitchcock dieses Jahr belastet haben",<br />
sinnierte Gregory Peck, dessen Leis<strong>tu</strong>ng <strong>als</strong> verletzlicher<br />
Patient dem Film einen grossen Teil seiner Kraft verlieh, "aber<br />
es war nicht herauszufinden, woran er litt". Er konnte nicht<br />
wissen, dass es des Regisseurs akute, unerwiderte Leidenschaft<br />
für <strong>Ingrid</strong> war.<br />
Hitchcock, der diesen Sommer 45 wurde, war seit 1926<br />
mit Alma Reville, seiner engsten Mitarbeiterin, verheiratet. Von<br />
ihrer Meinung, Zustimmung und Führung vollkommen abhängig,<br />
hätte er eine Scheidung niem<strong>als</strong> in Erwägung gezogen.<br />
Sein Gefühlsleben war wirr und kompliziert, seine Verdrängungen<br />
tiefgreifend und sein Geist zermartert. Aber irgendwie hat<br />
er seine privaten Ängste und Gefühle in Liebesgeschichten eingebracht,<br />
die weltweit Millionen Menschen berührten, und das<br />
noch lange nach seinem Tod. So gesehen liegt auch die Annahme<br />
nahe, dass, hätte er seine Leidenschaften ausleben<br />
können, er womöglich unfähig gewesen wäre, damit umzuge-<br />
243
hen – und noch weniger, sie in Kunst umzusetzen.<br />
Während seines ganzen weiteren Lebens vertraute<br />
Hitchcock seinen Freunden ein deftiges Märchen an, das in der<br />
Schmiede seiner überbordenden Fantasie entstand: Es war die<br />
fantastische Erzählung von <strong>Ingrid</strong>s hysterischer Weigerung,<br />
nach einer Party in seinem Heim sein Schlafzimmer zu verlassen,<br />
bevor er sie befriedigt hatte. Wäre diese Erfindung nicht<br />
so pathetisch, wäre sie amüsant, aber Hitchcock schilderte<br />
damit, was er <strong>als</strong> die emotionale (wenn nicht buchstäbliche)<br />
Wahrheit ihrer Beziehung betrachtete. Er und <strong>Ingrid</strong> (glaubte<br />
er von ganzem Herzen) wären das perfekte Paar, wenn nur –<br />
na ja, schliesslich lässt er sie in "Spellbound" sagen: "Wir sind<br />
alle nur Bündel von Hemmungen".<br />
WÄHREND DER GANZEN FILMARBEIT tat sie natürlich<br />
nichts, was seinen amourösen Neigungen hätte Vorschub leisten<br />
können, aber ihre Zurückhal<strong>tu</strong>ng hatte den gegenteiligen<br />
Effekt. Er verstand das <strong>als</strong> vorsichtige Diplomatie und verdoppelte<br />
seine Anstrengungen, sie fest in sein Leben einzubinden.<br />
Dazu entwickelte er ihr die Grundzüge von "Notorious" und sie<br />
ging spontan darauf ein. Als Selznick davon erfuhr, erinnerte<br />
er beide höflich daran, dass sie bei ihm unter Kontrakt stünden<br />
und dass Entscheide über Projekt und Besetzung in seinem<br />
Zuständigkeitsbereich lägen – <strong>ob</strong>schon auch er Hitchcocks<br />
Ideen sehr zugetan war.<br />
"Hitchcock war einer der wenigen Regisseure, die sich<br />
Selznick gegenüber behaupten konnten", erinnerte sich <strong>Ingrid</strong>,<br />
244<br />
"und Selznick liess ihn in der Regel gewähren. Wenn er<br />
zum Set herunterkam, stoppte der Kameramann plötzlich<br />
und Hitchcock sagte, der Kameramann könne nicht<br />
weiterfahren. Er wisse nicht was los sei, sagte er Selznick:<br />
'Sie arbeiten daran, sie arbeiten daran.' Schliesslich<br />
ging Selznick seines Wegs und wie durch ein Wunder<br />
bewegte sich die Kamera plötzlich wieder. Das war<br />
Hitchs Art, mit Störungen umzugehen, und trotzdem
ich annehme, dass Selznick den Bluff durchschaute,<br />
sagte er nichts dazu. Danach liess ihn Selznick in Ruhe.<br />
Sie waren beide starke Männer und hatten grossen<br />
Respekt vor einander."<br />
Gregory Peck stimmte dem zu und fügte bei: "Selznick<br />
pflegt seine Schauspieler wie kleine Zinngötter zu behandeln,<br />
aber mit den Regisseuren verfährt er etwas streng. Hitchcock,<br />
denke ich, hat den Dreh gefunden."<br />
Während der Produktion von "Spellbound" war Hitchcock<br />
höflich und aufmerksam zu seiner Hauptdarstellerin aber<br />
nie überschwänglich in Gegenwart anderer. Indem er sich jede<br />
Äusserung seiner tiefsten Gefühle versagte und diese, wie so<br />
oft, ins Script entlud, verfügte er im letzten Moment eine Dialogänderung<br />
für <strong>Ingrid</strong> und Emery, in der Rolle eines Kollegen,<br />
dessen Verliebtheit (wie bei Hitchcock) unerwidert bleibt:<br />
Dr. Fleurot (Emery):<br />
Constance (<strong>Bergman</strong>):<br />
Sie sind im Grunde genommen eine süsse,<br />
lebendige, anbe<strong>tu</strong>ngswürdige Frau. Ich denke<br />
es jedesmal, wenn ich in ihre Nähe komme.<br />
Das sind nur Ihre eigenen Gefühle und Empfindungen<br />
– ich versichere Ihnen, meine sind<br />
völlig anders.<br />
Die Grundidee von "Spellbound" - eine liebestolle Psychiaterin<br />
spielt Detektiv, um die Unschuld ihres eines Verbrechens beschuldigten<br />
Patienten zu beweisen – wurde von Hitchcock während<br />
der Dreharbeiten ständig verfeinert, um Constances<br />
Wandlung von der weltfremden Wissenschafterin zur heiss Verliebten<br />
zunehmend deutlicher zu machen. Ganz konkret wurde<br />
"Spellbound".zur Geschichte einer doppelten Verwandlung –<br />
die Behandlung des verstörten Peck/Hitchcock durch <strong>Ingrid</strong><br />
und, folgerichtig, die Erlösung, zu ihren innersten weiblichen<br />
Gefühlen für diesen geschundenen Mann stehen zu dürfen. Bis<br />
zu diesem Moment in ihrer Karriere erlebte Constance die ver-<br />
245
trauensvollste Beziehung zu ihrem ehemaligen Doktorvater Dr.<br />
Brulov (eine Art Petter Lindström); nun braucht sie ihren gequälten<br />
Patienten für ihre Befreiung zur Leidenschaft. In<br />
"Spellbound" müssen die von <strong>Bergman</strong> und Peck gespielten<br />
Figuren demnach zuerst einer gewissen emotionalen Blockierung<br />
entkommen, um eine Liebesbeziehung aufbauen zu können.<br />
Einer der Aufhänger, mit welchen Hitchcock das Interesse<br />
des Publikums für diese bizarre Si<strong>tu</strong>ation ankurbeln wollte,<br />
bestand aus einer Serie von Traumbildern, die in Zusammenarbeit<br />
mit dem Surrealisten Salvador Dalí entstanden. Sie<br />
gaben Hitchcock den gewünschten De Chirico-Effekt, aber wie<br />
provokativ diese Bilder auch immer wirken, sie waren nur ein<br />
Teil von dem, was Dalí beisteuerte. Während Jahren erzählte<br />
Hitchcock nur von "einer Sta<strong>tu</strong>e, die wie eine Schale zerbersten<br />
würde, mit Ameisen, die sich krabbelnd über die ganze<br />
Szene verbreiteten – und dann anstelle der Sta<strong>tu</strong>e <strong>Ingrid</strong><br />
<strong>Bergman</strong>n stand." Der grösste Teil dieser Sequenz wurde gefilmt,<br />
und Still-Aufnahmen davon haben überlebt. Aber Selznick<br />
verlangte, dass vor Fertigstellung des Films die ganze<br />
Szene weggeschnitten werde.<br />
246<br />
<strong>Ingrid</strong> erinnerte sich sehr genau daran:<br />
"Es war eine wundervolle zwanzigminütige Sequenz,<br />
die wirklich ins Museum gehörte. Die tragende Idee<br />
war, dass ich in Gregory Pecks Geist zur Sta<strong>tu</strong>e würde.<br />
Um das darzustellen schossen wir den Film in umgekehrter<br />
Reihenfolge. Ich erhielt einen Strohhalm in den<br />
Mund gesteckt, damit ich atmen konnte, und dann<br />
wurde um mich herum die Sta<strong>tu</strong>e gebildet. Ich war in<br />
ein griechisches Faltengewand gekleidet mit einer Krone<br />
auf dem Kopf und einem Pfeil, der so positioniert<br />
war, dass er meinen H<strong>als</strong> zu durchbohren schien. Dann<br />
begannen die Kameras zu drehen. Ich war in der Sta<strong>tu</strong>e,<br />
die ich nun aufbrach, während die Szene weiterlief.<br />
Wir spielten den Film rückwärts ab, sodass es<br />
schien, dass ich zur Sta<strong>tu</strong>e würde. Es war grossartig,
1944 - "Spellbound": Bei den Aufnahmen zu den<br />
(geschnittenen) Traumbildern mit der Sta<strong>tu</strong>e<br />
247
248<br />
aber jemand ging zu Selznick und fragte: "Was soll der<br />
Unsinn?", und so wurde die Szene eben geschnitten.<br />
Es war so schade. Es hätte diesen Touch von wirklicher<br />
Filmkunst haben können."<br />
Ihre Proteste verhallten dam<strong>als</strong> ungehört. Sie war der<br />
Auffassung, dass was auf dem Boden des Schneideraums landete<br />
mehr war <strong>als</strong> nur Spielerei: Denn der Pfeil in Constances<br />
H<strong>als</strong> soll nur veranschaulichen, wie weit des Patienten Wut und<br />
Schuld seiner eigenen Auffassung nach gehen konnte: Hier ist<br />
ein klarer Zusammenhang zwischen seinem Glauben an seine<br />
kriminelle Energie <strong>als</strong> Mörder und seinen gemischten Gefühlen<br />
für Constance <strong>als</strong> Heilerin und Geliebte zu erkennnen. Die Sta<strong>tu</strong>e<br />
versinnbildlicht auch das Gefühl, das er für sie <strong>als</strong> Mutter-<br />
Göttin empfand (daher das Venus/Cybele-Kostüm), mit dem<br />
Pfeil <strong>als</strong> Reminiszenz an den mit Pfeilspitzen gekrönten Zaun,<br />
der seinen kleinen Bruder in ihrer Kindheit das Leben kostete.<br />
Constance <strong>als</strong> Sta<strong>tu</strong>e suggeriert auch, dass er sie <strong>als</strong> klassisch<br />
kalt, künstlich, fern, unberührbar sieht. Das unveröffentlichte<br />
Original, wie <strong>Ingrid</strong> richtig erfasst hatte, hätte die paradoxkompatibeln<br />
Gefühle von Hass und Liebe, von Wunsch nach<br />
Hilfe und Misstrauen dem Helfenden gegenüber und der alles<br />
überspannenden Angst vor Entdeckung womöglich noch weit<br />
besser zum Ausdruck gebracht.<br />
"SPELLBOUND" VERDANKT SEINE NACHHALTIG emotionale<br />
Wirkung keineswegs seiner verwickelten Handlung, sondern<br />
vornehmlich dem absolut natürlichen und unprätentiösen<br />
Spiel von <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> und Gregory Peck, die beide ihre<br />
Entdeckung von bislang unbekannten Geisteswelten in einer<br />
Art neugierigem Erstaunen portraitieren. Beide begeben sich<br />
auf eine erschreckende Reise zur Selbstverwirklichung – und<br />
dass diese doppelte Reise so unwahrscheinlich ist, war genau<br />
Hitchcocks Punkt. Er schuf die richtige Atmosphäre, in welcher<br />
diese schauspielerischen Leis<strong>tu</strong>ngen zur Gel<strong>tu</strong>ng kommen<br />
konnten, und mit Filmen wie "Spellbound" wurde klar, wie gut<br />
er Schauspieler zu führen verstand.
Die Natürlichkeit und Feinheit, mit der <strong>Ingrid</strong> Constance<br />
portraitierte, die Art, wie sie den Kopf drehte, ihre Hände faltete<br />
und ein Schluchzen unterdrückte war buchstäblich wie ein<br />
Handbuch für ausdrucksvolles, erstklassiges Filmschauspiel.<br />
Von allem, was Hitchcock ihr beibrachte, war die Bedeu<strong>tu</strong>ng<br />
von Nahaufnahmen ihres Blicks vielleicht die wertvollste Lektion:<br />
ihr wechselnder Blick nach unten, oder nach rechts, nach<br />
links liess ihre Nachdenklichkeit, ihre Beklemmung oder einen<br />
Moment intensivster Konzentration erkennen.<br />
Ein schönes Beispiel dafür haben wir in der Szene, wo<br />
<strong>Ingrid</strong> mit einem Buch von Dr. Edwardes in Pecks Zimmer erscheint.<br />
Lesend in seinen Fauteuil hingelümmelt, sieht er plötzlich<br />
<strong>Ingrid</strong> vor sich stehen. Sie gesteht ihm, dass sie nicht zu<br />
ihm kam, um das Buch zu diskutieren, sondern über das zu<br />
reden, was heute mit ihnen geschehen sei. Ihre anschliessende<br />
Umarmung und ihr Kuss sind voll von überwältigenden Gefühlen,<br />
wirken aber dennoch <strong>als</strong> etwas verhaltene, von Verunsicherung<br />
gezeichnete Gesten – ein Effekt, der für spätere Aufführungen<br />
auf Selznicks Insistieren hin durch eine symbolische<br />
Szene überlagert und dadurch etwas reduziert wurde. Die Szene<br />
zeigt während des Kusses einen Flur, in dem sich hintereinander<br />
eine Reihe von Türen öffnen.<br />
Noch berührender ist Constances Abschied von ihrem<br />
ehemaligen Lehrer, Dr. Alex Brulov. Wie <strong>Ingrid</strong>, völlig in ihrer<br />
Rolle aufgehend, schluchzend über ihrem misslungenen Ret<strong>tu</strong>ngsversuch<br />
für ihren Liebsten zusammenbricht, wird sie von<br />
Brulov getröstet: "Es ist sehr schwer, jemanden zu lieben und<br />
zu verlieren", sagt er (kurz bevor das Finale den Tag rettet).<br />
"Aber du wirst bald vergessen und die Fäden deines Lebens<br />
dort wieder in die Hand nehmen, wo sie dir vor kurzem entglitten<br />
sind. Und du wirst hart arbeiten. In harter Arbeit findest du<br />
so viel Glück – vielleicht mehr <strong>als</strong> irgendwo sonst." Alfred<br />
Hitchcock präsentierte sich hier – wie so oft – selbst. Es liegt<br />
enorm viel Zärtlichkeit in dieser Szene, die zur perfekten Metapher<br />
für das delikate Verhältnis zwischen <strong>Ingrid</strong> und ihrem<br />
Regisseur wurde.<br />
249
"Spellbound" wurde zu einem weit grösseren Erfolg, <strong>als</strong><br />
je einer der daran Beteiligten vorauszusagen gewagt hätte.<br />
Seine Produktion kostete $ 1,7 Mio., während seine erste Veröffentlichung<br />
$ 8 Mio. einspielte, womit er einer der zwei drei<br />
lukrativsten Filme der 1940er-Jahre war. Er erhielt 6 Oscar-<br />
Nominationen – bester Film, beste Regie, Nebendarsteller,<br />
Kamera, Spezialeffekte und Score; nur Miklos Rosza konnte die<br />
Sta<strong>tu</strong>ette für die Musik nachhause tragen. Es war auch der<br />
erste amerikanische Film, in dessen Vorspann <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong><br />
an <strong>ob</strong>erster Stelle erschien.<br />
KURZ NACH BEGINN IHRER ARBEIT an "Spellbound" im<br />
Juli fanden <strong>Ingrid</strong> und Petter ein ihnen zusagendes Haus, nach<br />
dem sie schon während einiger Zeit gesucht hatten. 1220 Benedict<br />
Canyon Drive, nördlich des Sunset Boulevards in Beverly<br />
Hills, war im Stile eines Chalets oder einer Berghütte gebaut.<br />
Das 1920 aus gemeisseltem Stein und Holz erstellte<br />
Haus lag am Ende einer kurzen, steilen Zufahrt und war umgeben<br />
von üppiger Bepflanzung und alten Bäumen. Es bestand<br />
aus einem riesigen Wohn-Essraum mit gewölbter Balkendecke<br />
und einem steinernen Cheminée; einer antiken Kupferbar; einer<br />
Master-Suite; einer grossen rustikalen Küche mit Office;<br />
einem kleinen Schlafzimmer für Pia und einem kleinen Gäste-<br />
Cottage. Bei Gelegenheit wurde dem Besitz ein Swimmingpool<br />
hinzugefügt und Erwei<strong>tu</strong>ngspläne um zusätzliche Räume wurden<br />
auch besprochen.<br />
"Stell dir vor! Wir sind gestern eingezogen", schrieb <strong>Ingrid</strong><br />
ihrem Schwiegervater in Schweden am 3. August.<br />
250<br />
"Wie glücklich wir sind. Ich konnte kein Auge schliessen,<br />
wanderte nur umher und tätschelte meine Möbel<br />
und herumstehenden Koffer. Ich bin so glücklich, und<br />
ich denke nicht, dass Petter in vielen, vielen Jahren so<br />
glücklich war, wie jetzt. Wir konnten das Haus zum<br />
Glück mit einem Grossteil des M<strong>ob</strong>iliars kaufen, genau<br />
die Art, die ich wollte und die heutzutage neu so<br />
schwer zu finden ist. Aber weil ich keinen Schlaf fand,
eklagten sie sich heute, ich sei nicht schön genug für<br />
die Nahaufnahmen, die sie heute schiessen wollten...<br />
S<strong>ob</strong>ald es geht, werden wir noch einen Swimmingpool<br />
und einen Tennisplatz einrichten. Als Erstes will Petter<br />
jetzt eine Sauna bauen...<br />
Ich habe meinen neuen Film begonnen und alles läuft<br />
nach Wunsch. Ich spiele eine Ärztin, was wieder völlig<br />
anders ist, <strong>als</strong> in den Filmen, in welchen ich bisher<br />
mitwirkte. Es macht Spass, in so unterschiedlichen<br />
Rollen zu spielen. Das ist bei Hollywood-Schauspielern<br />
eher ungewöhnlich – die spielen in der Regel immer<br />
und immer wieder denselben Menschentyp bis sie<br />
sterben.<br />
Pia geht es wieder gut und sie ist froh, ihre Mandeln<br />
loszusein... sie wird im Herbst mit der Grundschule<br />
beginnen. Ich kann es kaum glauben, dass auch wir<br />
älter werden – ich fühle mich keinen Tag älter <strong>als</strong> 19.<br />
Aber Petter arbeitet zu viel. Er sieht so abgekämpft<br />
aus, und wir haben für lange Zeit keine Aussicht auf<br />
Ferien."<br />
Am 10. Okt<strong>ob</strong>er schrieb sie ihrem Schwiegervater<br />
wieder:<br />
"Ich habe meinen Film beendet und denke,<br />
"Spellbound" wird ein interessanter Film sein. Ich habe<br />
es wirklich genossen, mit Alfred Hitchcock zusammenzuarbeiten<br />
und freue mich nun sehr darüber, auch in<br />
seinem nächsten Film mit dabei zu sein. Es ist eine<br />
Spionagegeschichte...<br />
An sich hätte ich vor diesem einen andern Film vorgezogen,<br />
aber es scheint sich momentan nichts geeignetes<br />
anzubieten. So plane ich eine Tour durch Amerika,<br />
um Geld- und Blutspenden für die Verwundeten zu generieren.<br />
Man redet und redet und redet, und ich hoffe,<br />
es gehe nicht nur zum einen Ohr rein und zum andern<br />
raus."<br />
251
Die "Tour durch Amerika" führte sie in Beglei<strong>tu</strong>ng von<br />
Joe Steele nach Indiana, Penssylvania, Wisconsin und Kanada.<br />
Steele hatte den Eindruck, <strong>Ingrid</strong> sei "wie ein Rennpferd am<br />
Start, begierig darauf, von ihrer eingefleischten Rastlosigkeit<br />
wegzukommen". Bezüglich ihres Ehemanns stellte Steele fest,<br />
dass Petter gegen <strong>Ingrid</strong>s Abreise einmal mehr nichts einzuwenden<br />
hatte. Steele glaubte den Grund für diese stille Übereinstimmung<br />
darin zu sehen, dass es für die Lindströms immer<br />
schwieriger wurde, zusammenzusein. 1944 gab es praktisch<br />
kein Eheleben mehr.<br />
Bei jedem Halt auf dieser Werbetour (die sie auf Einladung<br />
des War Department unternahm), verlas <strong>Ingrid</strong> Reden,<br />
die in Hollywood von vom War Department eingesetzten<br />
Schreibern verfasst wurden – ausgedehnte, grandiose Elaborate,<br />
die in keiner Weise zu ihrer Persönlichkeit passten. Oft legte<br />
sie diese langweiligen Passagen einfach zur Seite und sprach<br />
aus dem Stegreif zu ihrem Publikum – in Schulen, Baseball<br />
Parks und Ballräumen, wo sie den Leuten von Ihrem Leben in<br />
Schweden und von ihrer Dankbarkeit, in Amerika arbeiten zu<br />
dürfen, erzählte. Dann folgte eine kurze dramatische Lesung<br />
aus einer kleinen Sammlung von Geschichten und Versen, die<br />
sie zusammengestellt hatte: Auszüge aus Paul Gallicos "The<br />
Snow Goose", Gedichte von Paul Sandburg oder eine Geschichte<br />
von Ben Hecht.<br />
Mit ihrer eindrücklichen, fliessenden Rede und ihrer Aura<br />
von Wärme und Aufrichtigkeit er<strong>ob</strong>erte sie jede dieser Zuhörergruppen<br />
und brachte damit jedesmal einen wertvollen Geldbetrag<br />
ein. Neben diesen Veranstal<strong>tu</strong>ngen wurden auch zivile<br />
Luncheons, Cocktail-Parties, Spitalbesuche, Radio-Interviews<br />
und Presse-Konferenzen im Interesse der Sache durchgeführt.<br />
So brachte sie lange Tage hinter sich, um danach in eine andere<br />
Stadt weiterzuziehen, wo noch längere Tage auf sie warteten,<br />
aber – nach Steele – war von <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> nie ein<br />
Hauch von Klage zu vernehmen, nur "eine erstaunliche, unermüdliche<br />
Begeisterung für die Arbeit, die noch vor ihr lag"<br />
festzustellen.<br />
252
An Thanksgiving besuchten <strong>Ingrid</strong> und Steele nochm<strong>als</strong><br />
die schwedischen Einwanderer, die sie bei der Produktion von<br />
"Swedes in America" in Minnessota kennengelernt hatten, und<br />
dann war sie noch vor Weihnacht wieder zuhause und mit den<br />
Einkäufen für Pia und den Hausdekorationen beschäftigt. Wegen<br />
Petters Sparsamkeitsfimmel kaufte <strong>Ingrid</strong> Selznick einen<br />
Teil ihrer "Spellbound"-Garder<strong>ob</strong>e ab, wofür sie einen Check in<br />
Höhe von $ 122.77 auszustellen hatte. Schliesslich sei Petters<br />
Kleiderschrank auch nicht extravagant gefüllt, stellte er fest,<br />
und er komme pro Saison gut mit einem bis zwei Anzügen aus.<br />
Wenn es sich allerdings darum handelte, das Leben in<br />
ihrem neuen Heim angenehmer zu gestalten, war von solchen<br />
Sparübungen nichts zu hören. Innerhalb eines Jahres hatten<br />
die Lindströms zusätzlich zu Mabel Pias Nanny Mary Jackson<br />
und eine Teilzeit-Sekretärin namens Doris Collup eingestellt.<br />
Das Haus (von seinen vorhergehenden Eigentümern Hillhaven<br />
Lodge genannt) kostete $ 65'000; das Geld hierfür und für alle<br />
Zusatzkosten wie auch für das Hauspersonal stammte alles aus<br />
<strong>Ingrid</strong>s Einkommen: Petter schloss sein Neurochirurgie-<br />
Praktikum erst 1947 ab, sodass er erst danach eine Praxis eröffnen<br />
und ein respektables Gehalt erwirtschaften konnte.<br />
Das Zentrum im neuen Heim der Lindströms bildete ein<br />
grosser runder Tisch vor dem eingebauten Sofa, das dem<br />
Wohnzimmer-Cheminée gegenüber lag. Wenn Freunde und<br />
Kollegen während der Weihnachtsfeiertage hereinschauten,<br />
kümmerte sich <strong>Ingrid</strong> ungezwungen um die Gäste (in der Regel<br />
in einen einfachen Pullover und einen Tweedrock gekleidet).<br />
Nach deren Begrüssung eilte sie in die Küche, um ein Tablett<br />
mit Snacks, Käse und Cocktails bereitzustellen. Doch oft hatten<br />
sich die Gäste etwas zu gedulden, denn ihre Inkompetenz an<br />
der Bar und in der Küche zwang sie regelmässig, die Hilfe von<br />
Angestellten in Anspruch zu nehmen – wie ungern sie das auch<br />
immer tat.<br />
Wegen seiner langen Arbeitszeiten traf Petter gewöhnlich<br />
spätabends zuhause ein, aber dann entpuppte er sich <strong>als</strong><br />
guter Gastgeber. Er drehte den Grammophon an, Pop-Musik<br />
253
erfüllte das Haus und Petter führte die Gäste in einen energiegeladenen<br />
Tanzabend. Bei solchen Gelegenheiten war er die<br />
Seele der Party und machte eine blendende Figur; keine Dame<br />
lehnte eine Runde mit dem unermüdlichen Dr. Lindström ab.<br />
Die Gästeliste war am Anfang noch ein Pr<strong>ob</strong>lem. <strong>Ingrid</strong><br />
glaubte, ein Abend mit Freunden sei nichts anderes, <strong>als</strong> eben<br />
das – und so lud sie Irene und David Selznick, Ruth R<strong>ob</strong>erts,<br />
Alma und Alfred Hitchcock, den französischen Regisseur Jean<br />
Renoir und seine Frau, Teresa Wright und Ihren Mann, Ben<br />
Hecht und eine Anzahl Leute von der "Spellbound"-Crew ein,<br />
die sie besonders gut mochte. "Das ist unmöglich – absolut<br />
unmöglich", meinte Irene Selznick, <strong>als</strong> sie die Liste sah; in der<br />
hochgradig klassenbewussten Filmwelt-Aristokratie konnte<br />
man unmöglich Stars mit Technikern und Sprachtrainern und<br />
Produzenten zusammenbringen. (<strong>Ingrid</strong> wird sich wohl daran<br />
erinnert haben, wie Kay Brown, nachdem diese sie 1939 zu<br />
Selznicks gebracht hatte, vom Willkommensessen am selben<br />
Abend kalt ausgeschlossen wurde.)<br />
Soviel <strong>als</strong>o zum Mythos des klassenlosen Amerika. "Das<br />
war ein grosser Schock", sagte <strong>Ingrid</strong>, und <strong>als</strong> sie die Sache<br />
Hitchcock erzählte, lächelte sie dieser nur an und hiess sie in<br />
Hollywoods Gesellschaftsleben willkommen. "Gottseidank gab's<br />
noch die Hitchcock-Gruppe", sagte <strong>Ingrid</strong> später. "Hitch und<br />
Alma verkehrten oft mit Schauspielern ohne zu fragen, <strong>ob</strong> sie<br />
Stars seien oder nicht." Nachdem sie für diese erste Winterparty<br />
Irene Selznicks Wünschen nachgekommen war, ging <strong>Ingrid</strong><br />
mit kleinen, ungezwungenen Buffet-Parties ihren eigenen Weg<br />
und lud dazu Leute wie Charles Boyer, Gary Cooper, Clark<br />
Gable, Ernst Lubitsch, Gregory Peck, Josef Cotten und deren<br />
Ehefrauen ein.<br />
Aber Petters Bestrebungen, <strong>Ingrid</strong>s Leben durchgehend<br />
zu managen, bedrohten mit der Zeit auch das gesellschaftliche<br />
Leben, wie genial er sich auch immer zu geben versuchte.<br />
Nach Joe Steele pflegte er die Gäste überschwänglich zu begrüssen,<br />
um sich dann intensiv zu bemühen, sich am herrschenden<br />
Geist der entspannten Geselligkeit zu beteiligen.<br />
254
Aber etwas stimmte nicht: er war zu formell, zu managerhaft,<br />
zu schulmeisterlich in allem, was Hollywood betraf, wovon er<br />
doch so wenig verstand – und in der Tat, warum sollte ein begnadeter<br />
Chirurg wie er sich im ak<strong>tu</strong>ellen Filmgeschäft und in<br />
der Hollywood durchdringenden Kleinkariertheit auskennen<br />
müssen? Immer öfter wurde <strong>Ingrid</strong> (nach Steele) bei solchen<br />
Gelegenheiten "plötzlich unterwürfig, die Stimmung gedrückt<br />
und die Disharmonie zu offenkundig, seine Interessen zu verschieden<br />
von jenen der Gäste. Der Doktor bemühte sich sehr,<br />
extrem sogar, aber das Resultat blieb hohl."<br />
BEKLEMMUNG LAG IN DER LUFT, und nie schlimmer, <strong>als</strong><br />
wenn von <strong>Ingrid</strong>s kommenden Rollen oder Publicity-Verpflich<strong>tu</strong>ngen<br />
die Rede war. "Nein, ich denke das ist nicht gut für<br />
dich, das sollst du nicht <strong>tu</strong>n", sagte Petter oft, wenn Steele<br />
einen bevorstehenden Anlass oder Auftritt erwähnte.<br />
"Ach, ich sehe nichts Negatives dabei, Petter", erwiderte<br />
<strong>Ingrid</strong> gelassen.<br />
"Ich sagte, es ist nicht gut", insistierte Petter ruhig.<br />
"Und du wirst es bleiben lassen."<br />
In dieser Saison musste sich <strong>Ingrid</strong> auch Selznick gegenüber<br />
behaupten. Während sie auf Tour war, wurde er von<br />
Regisseur Leo McCarey angesprochen, der dieses Jahr mit der<br />
herzerwärmenden religiösen Komödie "Going My Way" einen<br />
grossen Schlager in der Hinterhand hatte. McCarey wünschte<br />
sich <strong>Ingrid</strong> für die Rolle der eifrigen, sensibeln, erdverbundenen<br />
Nonne aus der Serie "The Bells of St-Mary’s", w<strong>ob</strong>ei Bing<br />
Crosby wieder den Part des eifrigen, sensibeln, erdverbundenen<br />
Vaters O'Malley spielen würde. Unsinn, sagte Selznick,<br />
Serien sind nie populär. Der direkteste Weg zum Herzen eines<br />
Produzenten, mutmasste McCarey, führt wohl über seinen beharrlichsten<br />
Star. So schaltete er während <strong>Ingrid</strong>s Anwesenheit<br />
in Minnessota in den dortigen Zei<strong>tu</strong>ngen eine Anzeige: "Wartet<br />
nur, bis <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> erfährt, welche Idee Leo McCarey für<br />
sie hat!"<br />
255
Wieder zuhause, rief sie Selznick sofort an, der ihr sagte,<br />
er habe das Script gelesen und – ja, es wäre eine nette<br />
Rolle, aber er sei sehr unsicher. <strong>Ingrid</strong> rief sofort McCareys<br />
Büro bei RKO an, vereinbarte, das Script zu lesen und begann<br />
unverzüglich Selznick zu beackern: "Wenn ich das nicht machen<br />
darf, werde ich nach Schweden zurückkehren!"<br />
McCarey bekam <strong>Ingrid</strong>, und Selznick bekam $ 175'000<br />
bar für die Ausleihe, sowie die Rückgabe von zwei RKO-Filmen,<br />
die er vor mehr <strong>als</strong> einem Jahrzehnt produziert hatte, "A Bill of<br />
Divorcement" und "Little Women".<br />
Und so begann <strong>Ingrid</strong> ihre Vorberei<strong>tu</strong>ngen für die neue<br />
Rolle, was in diesem Falle den Besuch eines Konvents von unterrichtenden<br />
Schwestern in Los Angeles bedeutete, wo sie<br />
McCareys Tante traf, die Mitglied des Ordens und wohl auch<br />
weitgehend die Inspiration für die Rolle war, die sie nun spielen<br />
wollte. Von ihren Besuchen bei den Schwestern empfing<br />
<strong>Ingrid</strong> konkrete Vorstellungen, wie sie Schwester Benedict in<br />
"The Bells of St. Marys" spielen respektive eben nicht spielen<br />
wollte. Sie war entzückt davon, alle gängigen Clichés über<br />
Schwestern erschüttert zu sehen: im Leben dieser Frauen hatte<br />
es keinen Platz für aufgesetzte Frömmigkeit. Statt dessen<br />
sah sie ruhige Hingabe, harte Arbeit, Zielstrebigkeit und einen<br />
erfrischenden Sinn für Humor. Diese Frauen waren, wie sie<br />
überrascht feststellen musste, in mancherlei Beziehung wie sie<br />
selbst.<br />
ABER DIE NONNEN WAREN MIT IHREN PFLICHTEN<br />
GLÜCKLICH; <strong>Ingrid</strong> war es nicht. Als ihre Ehe am Ende dieses<br />
Jahres völlig aus den Fugen war, bat sie Petter schliesslich um<br />
die Scheidung. Aber sie hätten sich doch nie gestritten, protestierte<br />
er: warum sollten sie sich denn trennen? Streitereien<br />
seien nutzlos, entgegnete <strong>Ingrid</strong>, weil zwischen ihnen überhaupt<br />
kein Gedankenaustausch stattfand. Ihr Leben, ihre Karriere,<br />
der familiäre Betrieb und das Kind: alles hätte er fest<br />
unter seiner Kontrolle. "Ich will nicht mit dir streiten", sagte sie<br />
traurig, "ich gehe einfach weg". Aber er überzeugte sie davon,<br />
256
dass es absurd sei, wenn sie an verschiedenen Orten leben<br />
würden: sie hätten beide keinen andern Partner und schliesslich<br />
seien sie doch für Pia aneinander gebunden.<br />
Das Kind hatte offenbar die Hellhörigkeit seiner Eltern<br />
geerbt.<br />
"Du <strong>tu</strong>st immer, was Papa will", sagte Pia ihrer Mutter<br />
eines Nachmittags.<br />
"Natürlich <strong>tu</strong> ich das", entgegnete <strong>Ingrid</strong>, zweifellos aufgeschreckt<br />
durch das kecke Urteil einer Siebenjährigen.<br />
"Papa ist sehr intelligent und er ist unser Familien<strong>ob</strong>erhaupt."<br />
"Aber <strong>tu</strong>t Papa je etwas, was du möchtest?" Gute Frage.<br />
Ein paar Tage danach mampfte <strong>Ingrid</strong> bei der Lektüre<br />
eines Magazins ein Stück Schokolade. "Oh", sagte Pia, "weiss<br />
das Papa?"<br />
Bei nochm<strong>als</strong> anderer Gelegenheit erlaubte <strong>Ingrid</strong> Pia,<br />
sich mit ein paar Freundinnen einen Film anzusehen. "Was<br />
nützt mir das, wenn du mir das sagst?", beklagte sich Pia, "ich<br />
muss ja doch auf Papas Erlaubnis warten." Und so weiter und<br />
so fort...<br />
"Ich glaube, ich wartete dam<strong>als</strong> einfach auf jemanden,<br />
der mich aus dieser Ehe herausholte", sagte <strong>Ingrid</strong> später, "allein<br />
hatte ich die Kraft dazu nicht mehr."<br />
257
258<br />
1944 - in „Spellbound“ mit Gregory Peck
1944 - „Spellbound“<br />
259
260<br />
1944 - in "Spellbound" mit Gregory Peck
1945<br />
"Miss <strong>Bergman</strong> kann einfach nicht anders, <strong>als</strong> auf der Leinwand<br />
ein gutes Mädchen zu sein, weil sie eben so ist. Sie trinkt nicht,<br />
sie raucht nicht und führt kein Nachtleben. . . ."<br />
(Die Presse über <strong>Ingrid</strong> nach ihrer Rückkehr von Deutschland)<br />
IN DEN ERSTEN WOCHEN DES NEUEN JAHRS verbrachte<br />
<strong>Ingrid</strong> lange Vorproduktions-Besprechungen mit Leo McCarey,<br />
dem sie ihre Ideen für die Rolle der Schwester Benedict<br />
darlegte. Manchmal tauchte auch Bing Crosby auf, der an seiner<br />
Pfeife nuckelte, gelegentlich einmal nickte und sonst aber<br />
sehr schweigsam blieb. Ihre Garder<strong>ob</strong>e- und Makeup-Tests für<br />
"The Bells of St-Mary’s" spielten für einmal eine höchst untergeordnete<br />
Rolle. Ihre Bekleidung bestand während des ganzen<br />
Films einzig aus der schwarzen Ordenstracht (die auf angenehme<br />
Art die Folgen von <strong>Ingrid</strong>s Weihnachtszeit-Sünden verbarg).<br />
Die Kosmetik-Abteilung, die mit der angemessenen<br />
kosmetischen Behandlung von "Nonnen", die weder glamourös<br />
noch kränklich aussehen durften, oft Pr<strong>ob</strong>leme hatte, fand,<br />
dass <strong>Ingrid</strong>s Teint seinem Ruf alle Ehre machte. Mit einem<br />
Hauch von Puder und einem Nichts von Lippenrouge sah sie so<br />
ungekünstelt wie gesund aus.<br />
Am 15. März 1945 wurden im Grauman's Chinese Theater<br />
am Hollywood Boulevard die Academy Awards verteilt; in<br />
Übereinstimmung mit den allgemeinen Restriktionen während<br />
der Kriegszeit bestanden die Sta<strong>tu</strong>etten diesmal aber nicht aus<br />
Bronze, sondern aus Gips. Niemand wunderte sich darüber,<br />
dass Leo McCareys Knüller "Going My Way" sieben Oscars ge-<br />
261
wann – für besten Film, Regie, Hauptdarsteller (Crosby), Nebenrollen<br />
(Frank Butler und Frank Cavett) und Song ("Swinging<br />
on a Star" von James Van Heusen und Johnny Burke).<br />
Jennifer Jones verkündete die Nominationen für die beste Leis<strong>tu</strong>ng<br />
einer Schauspielerin, worauf <strong>Ingrid</strong> unter anhaltendem<br />
Applaus ihren Award für "Gaslight" entgegennehmen konnte.<br />
"Deine Kunst hat unsere Stimmen gewonnen und deine Liebenswürdigkeit<br />
unsere Herzen", sagte Jennifer, die dam<strong>als</strong><br />
noch spontan aus dem Stegreif sprach, bevor nun heutzutage<br />
alles für die Sprecher bis ins Kleinste vorbereitet wird.<br />
"Ich bin von Herzen dankbar", sagte <strong>Ingrid</strong>, die dasselbe<br />
einfache Kleid wie im Vorjahr trug. "Tatsächlich bin ich sogar<br />
sehr froh darüber, den Preis jetzt zu bekommen, da ich<br />
morgen meine Arbeit an einem neuen Film mit den Herren<br />
Crosby und McCarey aufnehmen werde und fürchte, dass –<br />
käme ich ohne einen Award – keiner von beiden mehr mit mir<br />
sprechen würde!" Während Wochen trafen im Benedict Canyon<br />
Massen von Briefen, Blumen und Karten ein, aber <strong>Ingrid</strong>s<br />
erste Dankeszeilen gingen an ihren Regisseur, George Cukor:<br />
"Ich bin immer noch überwältigt von meinem Oscar und ich<br />
weiss mich in keiner Sprache auszudrücken. Aber ich muss dir<br />
sagen, wie dankbar ich dir für deine Hilfe und dein Verständnis<br />
für die arme Paula in "Gaslight" bin."<br />
Im Falle des genialen und sie bewundernden McCarey<br />
hatte <strong>Ingrid</strong> keinen Grund zur Sorge, er würde anderntags im<br />
Set nicht mit ihr sprechen. Aber von genau diesem nächsten<br />
Morgen bei RKO an erwies sich Bing Crosby <strong>als</strong> rätselhafter Co-<br />
Star, angenehm in der Zusammenarbeit aber distanziert und<br />
stets umgeben von einem kleinen Team von Lakaien und Faktoten.<br />
Seit seinen Anfängen im Alter von 18 im Jahre 1922<br />
machte Crosby schnell seinen Weg zu einem der einflussreichsten<br />
und populärsten Schnulzensänger der Welt, dem er ab<br />
1930 eine enorm erfolgreiche Filmkarriere folgen liess. Seine<br />
unprätentiöse Umgänglichkeit war genau, was Amerika wollte,<br />
speziell während des Krieges. Zusammen mit B<strong>ob</strong> Hope und<br />
Dorothy Lamour hatte Crosby schon die drei ersten "Road"-<br />
Komödien gedreht, und Umfragen in Film-Magazinen zufolge<br />
262
wurde er in den 40er-Jahren mehrfach zum populärsten Filmstar<br />
erkoren.<br />
Aber Crosbys Tugenden fanden in seinem realen Leben<br />
wenig Entsprechung; in Wirklichkeit war er für seine Söhne ein<br />
unerträglicher Tyrann mit einem sehr unterschiedlichen privaten<br />
Charakter. "Bing Crosby war eine der charmantesten, gelassensten<br />
Personen, mit welchen ich je gearbeitet habe", sagte<br />
<strong>Ingrid</strong> später, "aber ich lernte ihn nie richtig kennen – sowenig<br />
wie seine Frau oder Kinder." Dies entsprach den gleichlautenden<br />
Erfahrungen vieler anderer, die mit Crosby zusammengearbeitet<br />
hatten, mit Ausnahme einiger Leute, mit welchen<br />
er sich auf dem Golfplatz traf. Aber wie warmherzig und<br />
sogar spassig "The Bells of St-Mary’s" auch gewesen sein<br />
mag, der Film hatte keine romantischen Züge, sodass <strong>Ingrid</strong>s<br />
– rein gefühlsmässiger - Argwohn Crosby gegenüber ihr Spiel<br />
und die Bühnenchemie zwischen den beiden nur unterstützte.<br />
Die Geschichte war unkompliziert, sogar vorhersehbar,<br />
aber sie hatte einen Witz und Charme, wie man ihn in Filmen<br />
mit religiösem Hintergrund selten findet. Schwester Mary Benedict<br />
(<strong>Ingrid</strong>) heisst den neuen Priester Vater O'Malley (Crosby)<br />
in der Schule von St-Mary’s willkommen, die sich baulich in<br />
einem desolaten Zustand befindet und dringend erneuert werden<br />
sollte. Der Priester und die Nonne streiten sich freundschaftlich<br />
über alltägliche Erziehungsfragen, Kinder aus Pr<strong>ob</strong>lemfamilien<br />
werden zur Reife begleitet, und die Schule wird<br />
schliesslich durch die Wandlung eines reichen und zuletzt doch<br />
wohltätigen Miesepeters (Henry Travers) gerettet. Als Schwester<br />
Benedict schliesslich versetzt wird, glaubt sie den Grund<br />
dafür in Vater O'Malleys Ablehnung ihrer Erziehungsprinzipien<br />
zu sehen. Erst in letzter Minute eröffnet er ihr, dass sie weggeschickt<br />
wird, um ihre beginnende Lungen<strong>tu</strong>berkulose zu heilen.<br />
Erleichtert darüber, dass sie nur krank ist und nicht abgelehnt<br />
wurde, kann Schwester Benedict nun frohen Mutes und im Bewusstsein<br />
der von ihr erbrachten Leis<strong>tu</strong>ng abreisen, w<strong>ob</strong>ei Vater<br />
O'Malley sie daran erinnert, 'O' für O'Malley zu wählen, falls<br />
sie Hilfe benötige.<br />
263
Jahrzehnte später entstand über diesen Film ein etwas<br />
einfältiger Sn<strong>ob</strong>ismus, vielleicht weil anfangs der 1960er-Jahre<br />
alle insti<strong>tu</strong>tionell religiösen Männer und Frauen zu Figuren<br />
wurden, die nur noch <strong>als</strong> Konversations-Zielscheiben dienten.<br />
Ausserdem wurde die Nonnen-Garder<strong>ob</strong>e (ebenfalls in den<br />
60er-Jahren) der Arbeit in der modernen Welt angepasst, sodass<br />
Figuren aus früheren Filmen in ihren alten, traditionellen<br />
Ordensgewändern <strong>als</strong> komischer Anachronismus empfunden<br />
wurden.<br />
Hollywood tat sich mit der Keuschheit ebenso schwer,<br />
wie mit der Sünde: so entstand das Bild jener süss-dürren,<br />
geschlechtslosen Jungfern, die nur gelegentlich in den 40er<br />
und 50er-Jahren in Erscheinung traten. Aber die von McCarey<br />
und <strong>Bergman</strong> geschaffene Nonne – keine geschrumpfte Jungfer,<br />
sondern eine klarsichtige, Ruhe verströmende Schönheit<br />
voll innerer Weisheit und einem Geist der echten Selbstaufopferung<br />
– bleibt eine Ausnahme von alledem, speziell im Vergleich<br />
zu den vielen später entstandenen Film- und Fernseh-<br />
Clichés. Die Nonnen-Portraits, die auch nach <strong>Ingrid</strong>s ungewöhnlicher<br />
Schwester Benedict entstanden, waren in der grossen<br />
Mehrheit derart in Honig getaucht, dass sie zu hoffnungslos<br />
vergoldeten Karika<strong>tu</strong>ren reifer Frauen, zu einfältigen Beispielen<br />
von in einer anhaltenden Vorpubertät gefangenen Mädchen<br />
wurden.*)<br />
Demgegenüber sind die klerikalen und religiösen Figuren<br />
in "The Bells of St-Mary’s" mit wenigen Clichés belastet,<br />
und <strong>Ingrid</strong> war so urmenschlich, so natürlich in ihrer Rolle,<br />
*) Die wenigen Ausnahmen in der Filmgeschichte waren immerhin<br />
bemerkenswert: Deborah Kerr in "Black Narcissus" (1946)<br />
und "Heaven Knows, Mr. Allyson" (1957); Audrey Hepburn in<br />
"The Nuns Story" (1959) und Susan Sarandon in "Dead Man<br />
Walking" (1995). Vielleicht das haarsträubendste Beispiel der<br />
süssen kleinen Schwester war in der Fernsehserie "The Flying<br />
Nun" zu sehen, wo die geschmeidige junge Sally Field nichts<br />
anderes darstellte, <strong>als</strong> Gidget mit einem aerodynamisch bemerkenswerten<br />
Kopfschmuck.<br />
264
dass sich McCarey darüber ereiferte, wie wundervoll Dudley<br />
Nichols' Texte auf ihren Lippen klangen: "Wenn sie bei ihrem<br />
Auftritt in die Szene 'Hello' sagt, fragen die Leute, wer diesen<br />
wundervollen Dialog geschrieben habe?!"<br />
In der Tat schrieb sie einige Texte und brachte auch einige<br />
Szenen ein, die den Film verdichteten und aufwerteten.<br />
So war es ihre Idee, während des Boxtrainings mit dem scheuen<br />
Schuljungen, den sie in Selbstverteidigung unterwies, etwas<br />
mehr Dampf aufzusetzen und niedergeschlagen zu werden.<br />
Ihre lebhafte, fast tanzende Beinarbeit wirkte erheiternd, glitt<br />
aber nicht ins Burleske ab. Und sie wusste ihren Sopran einwandfrei<br />
einzusetzen, <strong>als</strong> sie ein altes schwedisches Volkslied<br />
für die Nonnen sang – w<strong>ob</strong>ei sie aus einem hohen Ton in ein<br />
verlegenes Kichern glitt, <strong>als</strong> Crosby herzutrat und fragte: "Was<br />
für ein Lied war das, Schwester?" - "Oh", antwortete sie mit<br />
dem weltlichen Leuchten einer Erinnerung im Gesicht, "es ist –<br />
äh – über – den Frühling!" Aber ihr kurzer Lacher lässt erahnen,<br />
dass die schwedischen Verse von vielleicht noch etwas<br />
mehr <strong>als</strong> nur den lieblichen Knospen im Mai erzählen – was<br />
sehr wohl so war: "Ströme ziehn vorbei, doch sie sind nicht so<br />
schnell wie mein Herz...", keine grosse Lyrik, aber dennoch<br />
wäre sie in unserer Sprache nicht damit weggekommen.<br />
Crosbys Reserviertheit zum Trotz war der Film für <strong>Ingrid</strong><br />
eine glückliche Erfahrung. Am letzten Drehtag Ende Mai<br />
befand sie sich in einer derartigen Hochstimmung, dass sie<br />
Crosby, McCarey und dem ganzen Produktionsteam gegenüber<br />
einen Streich wagte. Es war die Schlussszene, in welcher<br />
Schwester Benedict von ihrer Krankheit erfährt. Anstatt einfach<br />
"Danke, Vater O'Malley" zu sagen und lächelnd wegzugehen,<br />
sagte <strong>Ingrid</strong> "Danke, Vater - oh, ich danke Ihnen von ganzem<br />
Herzen!" Und damit schlang sie ihre Arme um Crosbys H<strong>als</strong><br />
und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Lippen. Crosby trat<br />
schockiert einen Schritt zurück, McCareys Augen weiteten sich<br />
<strong>als</strong> er "Schnitt! Schnitt!" rief, und ein Priester, der <strong>als</strong> technischer<br />
Berater für den Film zugezogen wurde, sprang herbei:<br />
"Aber, aber - Miss <strong>Bergman</strong> – das können Sie doch nicht –<br />
nein, so doch nicht!" Dann platzte <strong>Ingrid</strong> los mit ihrem<br />
265
ununterdrückbaren, ansteckenden Gelächter, nachdem alle im<br />
Set den Scherz erfasst hatten. Sie versetzte die ganze Gesellschaft<br />
damit in eine derartige Hochstimmung, dass es vier weitere<br />
Aufnahmen brauchte, bis die Szene im Kasten war: Wie<br />
sie bei den letzten kritischen Sekunden angelangt waren,<br />
schnarrte wieder jemand mit einem unterdrückten Lacher los,<br />
der nochm<strong>als</strong> alles ruinierte.<br />
Die Rolle einer warmherzigen, sensibeln Nonne brachte<br />
<strong>Ingrid</strong>s Repertoire von Frauen-Charakteren eine zusätzliche<br />
Erweiterung. Während den vergangenen sechs Jahren im amerikanischen<br />
Film hatte sie Frauen gespielt, die Lehrerinnen,<br />
Freundinnen, Ehefrauen waren ("Intermezzo", "Adam Had Four<br />
Sons", "Rage In Heaven"); eine gefolterte Barmaid ("Dr. Jekill<br />
and Mr. Hyde"); die verwirrte, aber idealistische Geliebte zweier<br />
Männer ("Casablanca"); das brutalisierte Mädchen, das seine<br />
Liebe mitten im politischen Terror findet ("For Whom The<br />
Bell Tolls"); eine unerbittliche Abenteurerin ("Saratoga<br />
Trunk"); das auserkorene Opfer eines mörderischen Diebes<br />
("Gaslight") und eine Psychiaterin, die ihren Geliebten von seinem<br />
Schuldkomplex befreit ("Spellbound"). Schwester Benedict<br />
fügte ihrer Krone einen weiteren unterschiedlichen Edelstein<br />
bei, und später im Jahr – im dritten in Folge – erhielt sie<br />
die Oscar-Nomination <strong>als</strong> beste Schauspielerin für diese Leis<strong>tu</strong>ng.<br />
"Überaus heiter ... von strahlender Schönheit ... leuchtend"<br />
– einmal mehr verliessen die Kritiker die ausgetretenen<br />
verbalen Pfade für <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>.<br />
Keine Freude hatte sie allerdings an den romantischen<br />
Fantasien, die – speziell nach dem Anlaufen der "Bells" - um<br />
ihre Person gesponnen wurden. Viele katholische Mütter, welchen<br />
sie begegnete, wollten, dass ihre Töchter wie Schwester<br />
Benedict würden; Nichtkatholiken waren – immer aufgrund der<br />
Umfragen desselben Film-Magazins – einfach hingerissen –<br />
<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> auf der Leinwand, gleich in welcher Rolle, war<br />
schlicht das Vorbild für amerikanische Weiblichkeit. (Haben die<br />
nie gehört, dass <strong>Ingrid</strong> resolut auf ihrem schwedischen Bürgerrecht<br />
bestand?) Das "LOOK"-Magazin brachte <strong>Ingrid</strong> auf der<br />
üppigen Farb-Titelseite seiner Ausgabe vom 18. September –<br />
266
allerdings <strong>als</strong> Nonne. So begann die Differenzierung zwischen<br />
Rolle und Mensch zunehmend zu verblassen. Das Publikum<br />
begann zu glauben, St. <strong>Ingrid</strong> sei die echte <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>.<br />
HÄTTE DIESES PUBLIKUM nach Vollendung der "Bells"<br />
von ihrem Privatleben gewusst, wäre <strong>Ingrid</strong> schnell von ihrem<br />
ungeliebten Denkm<strong>als</strong>ockel heruntergekommen. Aber selbst<br />
wenn Journalisten oder Gerüchtekolumnisten es 1945 mitbekommen<br />
hätten, ist es unwahrscheinlich, dass jemand darüber<br />
berichtet hätte, dass <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>, die der Welt in den<br />
Kriegsjahren so viel Freude gebracht hat, so nach Liebe ausgehungert<br />
war, dass sie sich nicht nur einen, sondern gleich zwei<br />
Liebhaber zugelegt hatte.<br />
"Auf der einen Seite bin ich sehr bohémienne", sagte sie<br />
später, "andererseits aber auch das Gegenteil." Ihr Bohémienne-Leben<br />
begann in Paris, wo <strong>Ingrid</strong> anfangs Juni 1945, einen<br />
Monat nach dem V-Day ankam. Aufgrund ihres Erfolgs in Alaska<br />
und auf den Werbetouren hatte die United Service Organisation<br />
(USO) Selznick angefragt, <strong>Ingrid</strong> für eine Unterhal<strong>tu</strong>ngstour<br />
zu den alliierten Truppen in Europa freizugeben. In Paris<br />
erwartete sie die Instruktionen für die Weiterreise nach<br />
Deutschland, wo sie mit dem Komiker Jack Benny, der Sängerin<br />
Martha Tilton und dem Musiker Larry Adler zusammentreffen<br />
sollte.<br />
<strong>Ingrid</strong> wurde ein Zimmer im Ritz zugewiesen, dam<strong>als</strong><br />
weniger ein Luxushotel <strong>als</strong> ein überfülltes Irrenhaus, das Generäle<br />
und Journalisten, Künstler, Entertainer und das internationale<br />
Pressecorps beherbergte. Innerhalb weniger Tage war<br />
<strong>Ingrid</strong> das Licht und das Leben des internationalen Sets in Paris<br />
und stellte sogar die Popularität der grossartigen Marlene<br />
Dietrich in den Schatten, die hinter der Front war und nun unerwünschte<br />
Konkurrenz witterte. "Ah, da bist du ja– jetzt, wo<br />
der Krieg vorbei ist!", sagte sie mit einem zweideutigen Lächeln<br />
auf den Lippen, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> eines Morgens ins Hotelfoyer<br />
kam.<br />
267
Ein herzlicheres Willkommen, ebenfalls im Ritz, kam<br />
vom Fotographen R<strong>ob</strong>ert Capa, der dam<strong>als</strong> bestens dafür bekannt<br />
war, dass er die meisten bedeutenden Episoden des<br />
Krieges furchtlos und brillant dokumentiert hatte, einschliesslich<br />
der Landung in Anzio, der Invasion der Normandie und der<br />
Befreiung von Paris; auch begleitete er Fallschirmtruppen auf<br />
einen Zug durch Deutschland. Er lud <strong>Ingrid</strong> zu einem einfachen<br />
Abendessen ein, sie spazierten der Seine entlang, er erzählte<br />
von der Kunst und dem Handwerk der Fotographie, machte<br />
einige Schnappschüsse von ihr – und schon stand sie in Flammen.<br />
Capa, in Ungarn geborener Andrej Friedman, war gerade<br />
zwei Jahre älter <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong>, aber für sein Leben, seine Arbeit<br />
und den Alkohol bezahlte er einen hohen Preis; er schien älter<br />
und auf traurige Art unglücklich zu sein. Zu Beginn des Krieges<br />
war er nach New York ausgewandert, wo er in verschiedenen<br />
Stellungen Fotojournalismus betrieb, bevor er sich <strong>als</strong> Nummer-eins-Dokumentarfotograph<br />
der alliierten Streitkräfte profilierte.<br />
Als dunkler, drahtiger Typ mit dickem, unbezähmbarem<br />
Haar und starken Augenbrauen, die ihm bisweilen etwas Finsteres<br />
verliehen, hatte Capa viele romantische Beziehungen,<br />
genoss täglich mehrere Gläser Whisky, verfügte über eine bittere<br />
Art von Witz und beeindruckte die Frauen <strong>als</strong> kontinentaler<br />
Kosmopolit. Er sprach fünf Sprachen und träumte aber in<br />
Bildern, die sich meistens um den Krieg drehten und ihn mit<br />
Abscheu erfüllten. Die Greuel des Krieges trafen ihn ganz persönlich,<br />
<strong>als</strong> Gerda Taro, seine Frau und Assistentin, im spanischen<br />
Bürgerkrieg von einem Panzer überrollt wurde und in<br />
seinen Armen starb.<br />
"Capa ist wundervoll und verrückt und er hat eine grosse<br />
Seele", sagte <strong>Ingrid</strong> Joe Steele später. Was sie verschwieg,<br />
war, dass er auch abgebrannt und depressiv war, nachdem er<br />
sein ganzes Geld am Spieltisch, in den Bars und für die Apartments<br />
seiner Maitressen verloren hatte. Mit seinen 32 Jahren<br />
steckte er nun auch in einer Lebenskrise, denn – <strong>ob</strong>schon auch<br />
er den Frieden so sehr begrüsste, wie jedermann sonst – er<br />
musste nun auch einen neuen J<strong>ob</strong> finden, und die reine Maga-<br />
268
zin-, Sozial- und Portrait-Fotographie reizten ihn überhaupt<br />
nicht.<br />
Zu ihnen beiden kam die Liebe unter schwierigen Umständen<br />
und zu einer Zeit von ganz spezieller Einsamkeit und<br />
innerer Leere. Sehr wahrscheinlich war er ihr erster Liebhaber<br />
seit Beginn ihrer Ehe, und sie empfand ihn <strong>als</strong> eine Chance,<br />
dieser zu entkommen. Für Capa war <strong>Ingrid</strong>s Humor, ihr fröhliches<br />
Lachen und ihre offene Sinnlichkeit B<strong>als</strong>am auf seine Melancholie.<br />
"Es war, es ist deine fröhliche Art, die ich liebe",<br />
schrieb er ihr später, "und es gibt sehr wenige so fröhliche<br />
Aufsteller im Leben eines Mannes." Offensichtlich beschäftigte<br />
diesen Sommer aber nicht nur ihre fröhliche Art seine heruntergekommene<br />
Seele, denn ihre heisse Affäre loderte hell und<br />
blieb vorderhand ohne Komplikationen. Schliesslich war sie<br />
weit entfernt von zuhause und von Hollywood, und Paris selbst<br />
– von Bombardierungen verschont und noch immer der Ort für<br />
Verliebte – erschien ihr voll von Versprechungen nach soviel<br />
Entsagung. Sie schlürften Champagner bei Fouquet, wo sie von<br />
einem verständnisvollen und Capa gewogenen amerikanischen<br />
Offizier verschiedentlich eingeladen waren, sie genossen späte<br />
Abendessen in ruhigen Bistros rund um Notre Dame; sie sassen<br />
in einer Ecke der Ritz-Bar, händchenhaltend, manchmal<br />
flüsternd, manchmal still versunken. Und während fast sechs<br />
Wochen teilten sie jede Nacht entweder sein oder ihr Zimmer.<br />
"Äusserlich erschien er charmanter und ausgelassener<br />
<strong>als</strong> je zuvor", schrieb Capas Biograph, Richard Whelan, "denn<br />
nur durch diesen gewissen Übermut konnte er etwas Befreiung<br />
von seiner quälenden Unzufriedenheit und dem Gefühl der Verlorenheit<br />
finden." Zyniker bis auf Blut, war Capa (nach seinem<br />
Freund Hal Boyle) "der liebreizendste Kerl des Pressecorps",<br />
und von ihrem ersten Treffen mit Capa an war <strong>Ingrid</strong> völlig auf<br />
seine Person fixiert. Einfallsreich und leidenschaftlich lebte er<br />
von Moment zu Moment, fest auf seine scharfe sexuelle Aura<br />
vertrauend und <strong>Ingrid</strong> Nacht für Nacht seiner Liebe versichernd;<br />
er war mit andern Worten die Art von Mann, die sie<br />
nur aus den Filmgeschichten kannte und der nun leibhaftig in<br />
ihr Leben trat. Während zweier Monate diesen Sommer und in<br />
269
unregelmässigen Abständen während der nächsten zwei Jahre<br />
erlebten <strong>Ingrid</strong> und Capa (den sie immer nur so nannte) ein<br />
diskretes aber intensives Abenteuer. Aber er kam jedem Gespräch<br />
über ernsthafte Absichten zuvor, und vorderhand stellte<br />
sie kein Ultima<strong>tu</strong>m. Sie war einfach zufrieden mit dem, was sie<br />
hatte.<br />
ABER MITTE JULI wurde <strong>Ingrid</strong> endlich nach Deutschland<br />
beordert, und Capa, der in Paris weiterhin auf Anweisungen<br />
wartete, versprach, sich mit ihr in Berlin zu treffen. Ihr<br />
erster Besuch im Heimatland ihrer Mutter, dem Land von Tante<br />
Mutti und dem Ort, wo sie ihren Vertrag mit der UFA zu erfüllen<br />
hatte, schien keine besonderen Emotionen in ihr hervorgerufen<br />
zu haben, oder jedenfalls keine, die sie dam<strong>als</strong> oder später<br />
Freunden gegenüber zum Ausdruck gebracht hätte. In einem<br />
Brief an Petters Familie, den sie im September nach ihrer<br />
Rückkehr nach Amerika geschrieben hatte, drückte sie lediglich<br />
Sympathie für die Zivilbevölkerung aus, die diesem Krieg zum<br />
Opfer gefallen war: "Arme Leute, muss man sagen, wenn man<br />
die zerstörten deutschen Städte sieht, auch wenn man selbst<br />
froh darüber ist, dass sie endlich ihre Strafe erhalten haben."<br />
Was ihre Familie anbetrifft, so war Tante Muttis Nazi-Liebhaber<br />
seit ihrem letzten Besuch verstorben und Tante Mutti selbst<br />
war es irgendwie gelungen, nach Kopenhagen zu entkommen,<br />
aber zwischen Tante und Nichte gab es keine Nachkriegs-<br />
Kontakte mehr.<br />
Den ersten Halt auf der Reise machte sie in Bayern, wo<br />
sie ihre Kollegen traf. <strong>Ingrid</strong> bewunderte Jack Benny enorm<br />
und schloss sich ihm für satirische Sketches für die Soldaten<br />
an; mit Martha Tilton sang sie fröhliche Duette, und in Larry<br />
Adler fand sie einen lustigen, begabten Verehrer. Der in Baltimore<br />
geborene Adler, verheiratet und ein Jahr älter <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong>,<br />
war ein schlankes, dunkelhaariges, helläugiges Genie, das<br />
zwar keine Musiknoten lesen, die Musik selbst aber umso<br />
grossartiger komponieren und spielen konnte. <strong>Ingrid</strong> fand Adler<br />
so "romantisch, so angenehm <strong>als</strong> Gesellschafter; und seine<br />
270
einfache aber wundervolle Musik wickelte dich in Wärme ein."<br />
Diese Musik begünstigte etwas Kompliziertes. Im Glauben,<br />
entweder Capa nie wieder zu sehen, oder dass er diskret versuchte,<br />
ihre Beziehung abzubrechen, sah <strong>Ingrid</strong> keinen Grund,<br />
sich dem aussergewöhnlichen Charme von Adler zu widersetzen.<br />
Die Entertainer waren in einem Privathaus ausserhalb<br />
Augsburgs (nordwestlich von München) untergebracht. Dort<br />
sass Adler an einem Klavier, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> hinzutrat und ihm das<br />
Kompliment für diese Lied-Improvisation aussprach. Als sie ihn<br />
bat, ihr das niederzuschreiben, gestand er ihr, dass er Noten<br />
weder schreiben noch lesen konnte.<br />
"Sie scheinen auf Ihre Ignoranz sehr stolz zu sein?"<br />
fragte sie ihn mit einem Lächeln und so direkt (nach Adler).<br />
"Es war Liebe auf den ersten Blick, <strong>ob</strong>schon ich zuerst nicht<br />
sicher war, <strong>ob</strong> sie wirklich <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> war. Schliesslich<br />
hatte ich ihre neuesten Filme nicht gesehen. Erst nach ein,<br />
zwei Minuten sagte mir ihre Stimme, dass sie es wirklich war."<br />
Adler erhielt bald Gelegenheit, sich mit ihrer Karriere<br />
vertraut zu machen: ein Special Service-Offizier brachte "Saratoga<br />
Trunk" auf die Leinwand, welcher Film vor einer amerikanischen<br />
Premiere immer noch seine Runden durch Europa<br />
drehte. "<strong>Ingrid</strong>", sagte Adler, <strong>als</strong> die Lichter erloschen, "du bist<br />
ein gesundes Schwedenmädchen – keine französische Kurtisane.<br />
Du warst hier eine Fehlbesetzung!" Sie protestierte, dies<br />
sei bis anhin ihr bester Film gewesen, und ging ihm während<br />
einiger Tage aus dem Weg. Aber die Distanz war schnell überbrückt,<br />
<strong>als</strong> Adlers Humor zu ihr durchdrang. Sie bestand auch<br />
darauf, dass er nach seiner Rückkehr in Amerika einen guten<br />
Lehrer suchen und die Notenschrift erlernen musste. Und das<br />
tat er auch: Adler s<strong>tu</strong>dierte bei keinem Geringeren <strong>als</strong> dem<br />
Komponisten und Musiker Ernst Toch und war <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong><br />
für den Rest seines Lebens dankbar für seine Karriere: "Wenn<br />
es nicht für sie gewesen wäre, hätte ich nie komponiert." Bestens<br />
bekannt <strong>als</strong> Harmonika-Vir<strong>tu</strong>ose, erh<strong>ob</strong> er dieses Instrument<br />
zur Konzertreife, schrieb die Musik zu sieben Filmen und<br />
271
war bei Sinfonieorchestern in aller Welt höchst gefragt.<br />
Von Mitte Juli bis Mitte August, und gelegentlich auch<br />
danach, florierte die Romanze, und so wurde <strong>Ingrid</strong> – nach so<br />
langer Zeit ohne herzliche männliche Zuwendung – innerhalb<br />
zweier Monate zum zweiten Mal eine bereitwillige Geliebte.<br />
Adler war da, Adler war aufmerksam, Adler war's im Moment.<br />
Und so, mehr Kindna<strong>tu</strong>r (wie Tante Mutti sie genannt hatte) <strong>als</strong><br />
je zuvor, gab sie sich der Lust der Liebe hin.<br />
MANCHE, DIE VON DIESEN SIMULTANEN AFFÄREN<br />
wussten (und später auch das Vorspiel zu ihrer zweiten Ehe),<br />
hielten diese während Jahren für den Lebensstil von <strong>Ingrid</strong><br />
<strong>Bergman</strong> – nämlich dass sie eine verantwor<strong>tu</strong>ngslose Frau sei,<br />
die ihre Familie leichtfertig verliess, die jeder fleischlichen Lust<br />
frönte und die jeden attraktiven Liebhaber annahm, der sich<br />
anbot. Mit der Zeit gingen diese Behaup<strong>tu</strong>ngen noch weiter:<br />
sie sei eine kaltherzige Männerausbeuterin, eine Frau, die anderer<br />
Leute Bewunderung und Verehrung dazu missbrauchte,<br />
ihre eigenen Unfähigkeiten – speziell die, allein zu sein – zu<br />
übertünchen. Dieses Portrait steht in groteskem Widerspruch<br />
zur Wirklichkeit ihres Charakters.<br />
Im Sommer 1945 wurde <strong>Ingrid</strong> dreissig, aber in ihrer<br />
Persönlichkeit gab es da immer noch diesen mädchenhaften<br />
und unreifen Wesenszug; in mancherlei Hinsicht war sie überhaupt<br />
nicht die Frau von Welt, für die sie vom Publikum gehalten<br />
wurde. Natürlich hat sich ihr frühes Leben auf einem emotionell<br />
instabilen Untergrund abgespielt, auf dem sich der Tod<br />
nach und nach jene holte, die ihr nahestanden. Danach stützte<br />
sie sich für alle praktischen Fragen des Lebens ausschliesslich<br />
auf ihren Ehemann, um für die Vervollkommnung ihrer Kunst<br />
frei zu sein. Völlig uninteressiert, wie sie ihr Leben lang an allen<br />
finanziellen Dingen war, überliess sie deren Management<br />
gerne jedwelchem Mann, dem sie vertraute. Allein auf ihr<br />
Handwerk ausgerichtet, konnte sie alles übrige leicht diesem<br />
unterordnen. Gleichzeitig gehörten einzig die in<strong>tu</strong>itiven Kräfte<br />
in ihr und das Talent, das sie befähigte, brillante Leis<strong>tu</strong>ngen<br />
272
auf Bühne und Leinwand zu erbringen, ihr und nur ihr allein,<br />
und so zählte sie in ihrem Leben unbeirrbar auch nur auf diese<br />
Qualitäten.<br />
Ihre Karriere wurde dann ja erfolgreich gemanaged, ihre<br />
Ehe von ihrem Ehemann kontrolliert. Ihr Ruhm wurde ihr<br />
zur Last, aber sie ertrug seine Launen mit bemerkenswerter<br />
Leichtigkeit und Grazie, und ihre Weigerung, Ausflüchte zu<br />
finden oder Allüren zu entwickeln, machte sie bei ihren Kollegen<br />
so beliebt wie bei der Presse und beim Publikum. Wenn die<br />
Leute sie anbeteten, hatten sie diesen Kult selbst geschaffen –<br />
sie tat nichts dazu <strong>als</strong> durch gute Arbeit eine bewunderungswürdige<br />
Leis<strong>tu</strong>ng zu erbringen, und selbst ihre Schönheit wurde<br />
von ihren Bewunderern mehr geschätzt, <strong>als</strong> von ihr selbst.<br />
Von der Zeit von "A Woman's Face" bis zu ihrem Lebensende<br />
hatte <strong>Ingrid</strong> keine Hemmungen, so aufzutreten, wie sie war<br />
oder (noch schlimmer) wie sie der Rolle entsprach.<br />
Die Ehe brachte ihr zunächst viel Trost. Aber die Ehe<br />
kann, wie wundervoll sie von einem Paar auch gestaltet werden<br />
mag, nicht jedes menschliche Bedürfnis abdecken; diese<br />
Fiktion war, wie sie sehr bald merkte, der Stoff des amerikanischen<br />
Films. Im Falle der Lindströms könnte man sagen, dass<br />
ihre Verbindung so erfolgreich war, dass sie beide in starkem<br />
Masse voranbrachte. Jahre danach hätte man sie dafür bewundern<br />
können, dass sie ihre separaten Karrieren durchziehen<br />
konnten. Aber nichts in der damaligen Kul<strong>tu</strong>r oder im familiären<br />
Hintergrund der beiden befreite Petter oder <strong>Ingrid</strong> vom<br />
Glauben an die Oberhoheit des Ehemanns, und gewissermassen<br />
wusste sie das – daher auch ihre Flucht aus der erstickenden<br />
Langeweile der Inaktivität und dem engen Spielraum<br />
der Hausfrauenarbeit. Lebenslang jede Saison war <strong>Ingrid</strong><br />
<strong>Bergman</strong> wie eine junge Frau am Start zur Suche nach einer<br />
aufregenden neuen Karriere. Jede Rolle war ein neuer Aufbruch<br />
in ein unbekanntes Territorium, eine Neuentdeckung<br />
ihrer inneren Ressourcen.<br />
273
SPEZIELL IN DER LIEBE war <strong>Ingrid</strong> eine seltsame Kombination<br />
aus Romantikerin und Pragmatikerin. Einerseits sehnte<br />
sie sich nach einem Mann, der Verantwor<strong>tu</strong>ng übernahm<br />
und ihr die Sicherheit einer stabilen Verbindung bot, und sie<br />
kannte den Unterschied zwischen der leichten fleischlichen<br />
Verbindung und der Intimität, die Sex im besten Fall bedeuten<br />
konnte. Sie gab sich bestimmt niemandem leichtfertig hin, und<br />
ihr Leben war auch nicht von sexuellen Impulsen gesteuert.<br />
Die Realistin in ihr verhinderte jede unbedachte Interpretation<br />
zwischen einer grossen Leidenschaft und einer kleinen Lust.<br />
Sie hätte vielleicht jeden Mann ihrer Wahl verführen können,<br />
und sie waren ihr Leben lang Legion, die Bewunderer, die ihr<br />
gerne vorübergehende oder beständige Liebe angeboten hätten.<br />
Aber das interessierte sie nicht. Selbst ihre Fantasie-<br />
Romanzen wurden von ihrem gesunden Menschenverstand<br />
beherrscht.<br />
Ihre Beziehungen zu Capa und Adler sind denn auch im<br />
Kontext einer jungen Frau zu sehen, die über ausserordentliche<br />
innere Ressourcen verfügt und die Liebe in der Kunst darstellt,<br />
sich im Leben aber davon ausgeschlossen fühlt. Es war<br />
nicht die Gelegenheit für Sex, die sie zu den beiden führte,<br />
sondern einmal mehr – wie immer in ihrem Leben – die schöpferischen<br />
Begabungen, die sie faszinierten. Capa, mit seinem<br />
scharfen Auge und seinen philosophischen Neigungen, spülte<br />
sie mit seiner reinen Lebenslust förmlich hinweg. "Du bist zu<br />
einer Industrie geworden", sagte er zu ihr, "dein Mann steuert<br />
dich, die Filmgesellschaften steuern dich, jedermann kann dich<br />
steuern." Er wollte nicht den Filmstar, sondern die Frau. Aber<br />
er wollte sie nicht <strong>als</strong> Ehefrau, was ihrer Beziehung denn auch<br />
das Genick brach.<br />
Adler sah sie <strong>als</strong> einen herrlichen Kameraden und einen<br />
Mann, dessen Musik sie tröstete und aufrichtete. Die Frage<br />
nach einer Ehe blieb unangesprochen, aber sie beide wussten,<br />
dass ihre gegenseitige Zuneigung früher oder später in eine<br />
Freundschaft ausmünden würde, was dann auch bis an <strong>Ingrid</strong>s<br />
Lebensende der Fall war. Nach Adlers Meinung war <strong>Ingrid</strong> die<br />
unaffektierteste Schauspielerin, die er je getroffen hat, und die<br />
274
grosszügigste, die zur Unterhal<strong>tu</strong>ng der Truppen herbeikam –<br />
aber er fand auch, dass sie zu diesem Zweck nicht die optimale<br />
Wahl war. "Die Jungs wollten Comicheft-Humor, Burlesken,<br />
gr<strong>ob</strong>en Stoff – und da kam <strong>Ingrid</strong> und las meistens aus Prosa<br />
und Lyrik."<br />
Eine Nacht war besonders peinlich. Sie hatte ihre kleine<br />
Vorstellung beendet und kam in Tränen von der Bühne, weil<br />
die Soldaten anzüglich muhten und dann in rüdes Gejohle<br />
übergingen und Kondome durch die Luft schwenkten. ("Zu<br />
schade, dass ihr Kerle nichts Besseres damit anzufangen<br />
wisst," sagte Adler, <strong>als</strong> er sie einige Minuten danach dafür ausschalt.)<br />
Obschon sie stets eingeladen war, mit dem militärischen<br />
Gold zu dinieren, machte sie nie davon Gebrauch. "Sie ging<br />
immer aus und ass mit den Leuten der Truppe, notierte deren<br />
Namen und kontaktierte deren Familien, <strong>als</strong> sie zurück in Amerika<br />
war", erinnerte sich Adler. "Ich sah das mit eigenen Augen."<br />
Ebensowenig nutzte sie ihren Ruhm aus, um Generäle<br />
kennenzulernen. Als sie von Eisenhower zum Lunch eingeladen<br />
wurde, erklärte sie: "Ich wüsste nicht, worüber ich mit ihm<br />
reden sollte," und das war's. Ihre praktische Veranlagung<br />
stand immer im Widerstreit mit ihrer romantischen Seite, was<br />
einmal mehr offenkundig wurde, <strong>als</strong> sie und Adler in Deutschland<br />
in einem Cabriolet über Land fuhren. Der Fahrer übersah<br />
den Haltbefehl einer Strassensperre, worauf ein Schuss knallte<br />
und Adler einen Schmerz im Rücken verspürte. Aus Angst, eine<br />
tödliche Verletzung erlitten zu haben, liess er sich zu Boden<br />
gehen und bat <strong>Ingrid</strong>, seinen Lieben zuhause auszurichten,<br />
dass er sie in alle Ewigkeit liebhatte. Sie aber sah weder Blut<br />
noch Wunde und sagte nur: "Larry, hör auf mit diesem Unsinn."<br />
Einen Augenblick später fischte sie ein Projektil aus dem<br />
Rücksitzpolster des Wagens, wo es eine Stahlfeder der Polsterung<br />
durchtrennt hatte, die dann Larry hart in den Rücken<br />
stiess.<br />
275
WIE ADLER BALD ERFAHREN MUSSTE, ging ihr Urteilsvermögen<br />
diese Saison noch viel weiter – denn tatsächlich war<br />
sich <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> der innersten Winkel ihrer Seele voll bewusst.<br />
Diese Facette der Selbsterkenntnis kam deutlich zum<br />
Ausdruck, <strong>als</strong> sie Larry Adler die Kopie einer Novelle zu lesen<br />
gab, deren Titelfigur ihre eigene Persönlichkeit am treffendsten<br />
portraitierte, wie sie sagte – quasi vom Scheitel bis zur Sohle –<br />
und dass sie hoffte, diese Rolle in einer künftigen Filmversion<br />
einmal spielen zu können.<br />
276<br />
Das Buch trug den Titel "Von Lena Geyer", ein langer<br />
und tief berührender, 1936 publizierter Roman von<br />
Marcia Davenport. Die Geschichte spielt in Europa und<br />
Amerika von 1870 bis 1930 und erzählt von einem Bohémienne-Mädchen,<br />
das von Europa nach Amerika auswanderte<br />
und durch sein Talent und seine Ambitionen<br />
zur weltweit bekanntesten Opern-Primadonna wurde.<br />
Sie weiss auch, dass intime Beziehungen weit schwieriger<br />
zu bewältigen sind, <strong>als</strong> die vertrackteste Kadenz<br />
oder der kniffligste Vertrag. In jedem Kapitel dieser farbenfrohen,<br />
dramatischen und pointierten Geschichte erkennt<br />
<strong>Ingrid</strong> Passagen, in welchen sie sich persönlich<br />
beschrieben fühlt:<br />
Lena konnte nicht einmal Wasser kochen...sie klagte,<br />
nicht zu wissen, wie man ein Ei aufbricht ... aber sie<br />
war von konsequenter Aufrichtigkeit über ihre Arbeit<br />
und verfügte über eiserne Selbstdisziplin...Physisch war<br />
sie ein grosses, breithüftiges, gelenkiges Tier, stark, mit<br />
prachtvoll entwickelter Muskula<strong>tu</strong>r und Knochen, so<br />
stark, wie die eines Mannes ... "Die Arbeit bringt mich<br />
nicht um", sagte sie oft.<br />
Sie hatte überhaupt keine Beziehung zum Arbeitsmass,<br />
das sie leistete. Während ihres ganzen Lebens verfügte<br />
sie über gewaltige Energie. Sie konnte während des<br />
ganzen Tages pr<strong>ob</strong>en und abends das Konzert bestreiten...sie<br />
war voll von Leben und Einfällen... und sie<br />
konnte sich über ihre Streiche, Witze und ihren Unsinn
kindisch freuen. Sie war wie eine grosse, fröhliche Brise.<br />
"Ich bin weitherum gereist und habe mich nie <strong>als</strong> Bürgerin<br />
eines besonderen Landes gefühlt. Kunst ist international<br />
und sein Geburtsort und seine Muttersprache<br />
sollten keinen Einfluss auf die Einstellung eines Künstlers<br />
haben."<br />
"Ich will versuchen, dir zu gehören und trotzdem für<br />
meine Kunst zu leben", sagte Lena, “aber ich muss aufrichtig<br />
sein zu dir. Wenn mir nicht beides gelingt, dann<br />
weißt du, welche Wahl ich werde zu treffen haben?“ Wie<br />
gross ihre psychische Abhängigkeit von der Kunst war,<br />
in der sie sich unübertroffen machte.<br />
Sie sagte, sie wisse nichts über Bankkonten, sie schaffe<br />
es gerade, ihr Taschengeld in Ordnung zu halten.<br />
"Wenn ich ihr Leben in Amerika in wenigen Worten zusammenfassen<br />
müsste, würde ich sagen, es galt zur Hauptsache<br />
ihrem Versuch, den riesigen Graben zu füllen zwischen<br />
dem, was sie zu lieben glaubte und dem, was sie wirklich liebte."<br />
"Das ist keine Frage von Karriere, Geld oder was immer“,<br />
sagte Lena. „Es ist mein Leben, die Kunst, dieses<br />
Eine, wofür ich alles Andere auf dieser Erde aufgegeben<br />
habe."<br />
"Of Lena Geyer", der bemerkenswerte Roman über eine<br />
bemerkenswerte Frau, verfolgte <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> für den Rest<br />
ihres Lebens; dass es ihr nicht gelang, in den späten Vierzigerjahren<br />
und den Fünfzigern jemanden für eine Filmbearbei<strong>tu</strong>ng<br />
dieser Geschichte zu interessieren, wurde zu einer ihrer bittersten<br />
Enttäuschungen.<br />
KOMPLIKATIONEN ENTSTANDEN, <strong>als</strong> R<strong>ob</strong>ert Capa zur<br />
selben Zeit in Berlin eintraf, wie Benny, Tilton, Adler und<br />
<strong>Bergman</strong>. "Natürlich war es unangenehm für uns alle und es<br />
277
gab auch die eine oder andere Schwierigkeit", nach Adler, "weil<br />
Capa und ich begriffen, wie uns <strong>Ingrid</strong> herumjonglierte. Ich<br />
denke, wir versuchten beide, gute Miene zum bösen Spiel zu<br />
machen. Und ich konnte ihr auch keinen Vorwurf machen; sie<br />
hatte Capa vor mir kennengelernt und er war ein sehr attraktiver<br />
Kerl, und er war ledig während ich verheiratet war." Gnädigerweise<br />
dauerte die unerfreuliche Si<strong>tu</strong>ation (nicht die Beziehungen)<br />
nicht länger <strong>als</strong> zehn Tage, wonach sie nach Paris<br />
weiterreisten. Von dort flogen Martha Tilton und Jack Benny<br />
nach Amerika zurück, und auch Adler sah sich bald zur Rückkehr<br />
gezwungen.<br />
Capa hatte <strong>Ingrid</strong> nun ganz für sich alleine, w<strong>ob</strong>ei er<br />
sich offensichtlich <strong>als</strong> derart überzeugender Liebhaber erwies,<br />
dass <strong>Ingrid</strong> ernsthaft in Erwägung zog, sich für ihn von ihrem<br />
Mann zu trennen. Das war unausweichlich für ihn das Signal,<br />
das Thema zu wechseln, was sie traurig stimmte und deprimierte.<br />
<strong>Ingrid</strong> mag die Untreue auf der Leinwand genossen<br />
haben, im Leben aber tat sie sich schwer damit. In ihrer Welt<br />
heiratete man den Geliebten; sie hatte Petter einmal geliebt,<br />
jetzt aber fürchtete sie ihn nur noch; im wirklichen Leben fand<br />
sich niemand, der ihr den benötigten Fluchtweg gezeigt hätte;<br />
und nun hatte sie hier den ungebundenen, verfügbaren und<br />
verführerischen Capa. Sie sah keinen Grund, weshalb sie nicht<br />
für immer zusammen sein sollten.<br />
Capas Benehmen ihr gegenüber hatte etwas Unbekümmertes.<br />
Er posaunte es jedem in die Ohren, der es hören wollte,<br />
dass <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> seine Mätresse sei, um dann schnell<br />
beizufügen, dass dies <strong>als</strong> Geheimnis zu behandeln sei. Übrigens,<br />
meinte er, führe die Beziehung nirgendwo hin, hauptsächlich<br />
weil seine Zukunft so ungewiss sei. <strong>Ingrid</strong> müsste<br />
nach Kalifornien zurückkehren, aber wer kümmerte sich um<br />
Capa? Sie hatte ihn aufgefordert, nach Hollywood zu kommen,<br />
weil sie überzeugt war, dass er dort eine gute Position <strong>als</strong> Still-<br />
Fotograph zur Dokumentation von in Produktion befindlichen<br />
Filmen für Magazine und S<strong>tu</strong>diowerbung finden würde. Als sie<br />
Paris in Rich<strong>tu</strong>ng Los Angeles verliess, hatte er versprochen,<br />
diese Option im Auge zu behalten.<br />
278
Anfangs September war <strong>Ingrid</strong> zurück in Beverly Hills,<br />
wo sie Pia für das neue Schuljahr vorbereitete und einen Anruf<br />
von Selznick über den neuen Hitchcock-Film erwartete, den er<br />
ihr für diesen Herbst versprochen hatte. Capa und Adler wurden<br />
nicht erwähnt, und weil Hollywoods Gerüchteküchen noch<br />
keine Meldungen über irgendwelches verdächtige Verhalten<br />
vorlagen (die im Falle Igrids auch nicht gesucht worden wären),<br />
nahm das Leben in 1220 Benedict Canyon wieder seinen<br />
alten, langweiligen und ereignislosen Verlauf. Sie und Petter<br />
sähen sich beim Frühstück zu einer schnellen Tasse Kaffee,<br />
schrieb sie seinen Verwandten. Weil viele Ärzte im Kriegsdienst<br />
standen, arbeitete er länger <strong>als</strong> je zuvor, sodass die drei<br />
Lindströms nur selten zum Abendessen zusammenkamen. Was<br />
sie nicht schrieb, dass sie und Petter ein höfliches, unausgesprochenes<br />
Arrangement getroffen hatten: sie gingen zur Arbeit;<br />
gelegentlich unterhielten sie ein paar Freunde; sie begutachteten<br />
die Pläne für den Bau des neuen Swimming Pools, um<br />
den das Anwesen diesen Winter erweitert wurde; und sie sorgten<br />
für ihre Tochter – und all das ohne eine Silbe über ihr gegenseitiges<br />
Verhältnis zueinander.<br />
Während die Welt glaubte, dass <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s erfolgreiche<br />
Karriere mit einem perfekten Familienleben einhergehe,<br />
war sie entsetzlich alleine, und es könnte wohl ein ärgerliches<br />
Lächeln über ihr Antlitz gehuscht sein, <strong>als</strong> sie das Ergebnis<br />
eines diesjährigen Interviews las: "Miss <strong>Bergman</strong> kann einfach<br />
nicht anders, <strong>als</strong> auf der Leinwand ein gutes Mädchen zu sein,<br />
weil sie eben so ist." Das war schlimm genug, doch es kam<br />
noch besser: "Sie trinkt nicht, sie raucht nicht und führt kein<br />
Nachtleben" – alles Dinge, die sie sehr wohl tat und führte.<br />
Vorderhand setzte die Presse ihre <strong>Bergman</strong>-Kantate fort und<br />
die Rhapsodien über sie steigerten sich ins Unermessliche.<br />
Hitchcock, der die Tage bis zu ihrer Rückkehr zählte,<br />
bat Selznick, sie zu einer Story-Konferenz mit ihm und Ben<br />
Hecht beizuziehen, welch Letzterer wieder das Script lieferte.<br />
Sie sei glücklich, wieder zuhause zu sein, sagte sie ihnen, und<br />
begierig darauf, den neuen Film zu beginnen. Hitchcock glaubte<br />
ihr die zweite Feststellung, nicht aber die erste, denn ihm<br />
279
fiel der etwas zerstreute Blick in ihrem Antlitz auf und er vermisste<br />
auch ihren gewohnten sprudelnden Humor. Hitchcock<br />
schrieb ihre auffällige Zerfahrenheit richtigerweise einem emotionalen<br />
Aufruhr zu, ohne allerdings dessen Hintergründe zu<br />
kennen, bis ihn <strong>Ingrid</strong> einige Tage später, <strong>als</strong> sie im Anschluss<br />
an eine Script-S<strong>tu</strong>die alleine noch etwas becherten, ins Vertrauen<br />
zog.<br />
Sie sei in R<strong>ob</strong>ert Capa verliebt, sagte sie, <strong>als</strong> Hitchcock<br />
die Gläser kräftig nachfüllte, und <strong>ob</strong>wohl sie Capa diesen<br />
Herbst noch in Hollywood erwartete, sah sie keine Hoffnung für<br />
die Erfüllung dieser Liebe. Sie fühlte sich <strong>als</strong> Gefangene ihrer<br />
Ehe, ihres Rufs, ja sogar ihres Pflichtgefühls und Anstands;<br />
und sie fühlte sich verlassen, weil sich Capa ihr gegenüber<br />
nicht zu verpflichten vermochte. Hitchcock, plötzlich ihr sympathischer<br />
Freund und mehr denn je zuvor ihr Fantasie-<br />
Liebhaber, unterdrückte seine eigenen Gefühle natürlich. Und<br />
wie üblich übertrug er sie auf den kommenden Film. Während<br />
der folgenden drei Tage bat er Hecht ihm bei der Fokussierung<br />
von <strong>Ingrid</strong>s Charakter behilflich zu sein, einer Frau, die durch<br />
die Pflicht in eine lieblose Ehe gezwungen wird. Hitchcock bestand<br />
darauf, dass die ersten und die letzten Szenen dieses<br />
Films ausschliesslich auf das Bedürfnis dieser Frau, Liebesgeständnisse<br />
zu erhalten, auszurichten seien, um sie zuletzt sowohl<br />
durch ein Bekenntnis, wie auch durch eine Liebesverpflich<strong>tu</strong>ng<br />
zu erlösen.<br />
Aber Hitchcocks vordringliches Anliegen an diesem<br />
warmen September-Nachmittag war es, <strong>Ingrid</strong> an die Schlussszene<br />
in "Spellbound" zwischen ihr und Michael Chekhov, der<br />
ihren Mentor spielte, zu erinnern. "Es ist sehr traurig, jemanden<br />
zu lieben und zu verlieren", rezitierte Hitchcock den Dialog<br />
von Dr. Brulov, <strong>als</strong> er die weinende Dr. Petersen umarmte, die<br />
fürchtet, ihren Liebsten für immer zu verlieren. "Aber du wirst<br />
bald vergessen und du wirst die Fäden deines Lebens dort wieder<br />
aufnehmen, wo sie dir vor kurzem entglitten. Und du wirst<br />
hart arbeiten. In harter Arbeit steckt so viel Glück – vielleicht<br />
am meisten überhaupt." Das Rezitat hatte nun einen veränderten<br />
Sinn.<br />
280
<strong>Ingrid</strong> erfasste plötzlich, was er sagen wollte, und ihre<br />
Augen füllten sich mit Tränen. Hitchcock tröstete sie mit denselben<br />
Worten, die er für sich selbst sprach: welchen anderen<br />
Trost konnten diese beiden Liebenden denn finden, <strong>als</strong> die Arbeit,<br />
die vor ihnen lag. Vielleicht musste sie auf Capa verzichten,<br />
aber sie hatte ihre Arbeit, und die band sie an ihn. Nur zu<br />
gut wusste Hitchcock allerdings, ja, dass sie bei der Arbeit<br />
zwar bei ihm sein würde, nicht aber ihr Herz - oder höchstens<br />
vielleicht das Herz einer Tochter oder Freundin. Beide waren<br />
sie eine Art verlorene Seelen. An diesem ruhigen Nachmittag<br />
sassen sie – <strong>als</strong> Verbündete in der Verzweiflung – Gin Martinis<br />
schlürfend, viel zu viel rauchend und in ihren unausgesprochenen<br />
Sympathien füreinander den Mut suchend, der in der tiefsten<br />
Art von Liebe zu finden ist, der Zuneigung jenseits des<br />
Sex-Dschungels in der Klarheit einer echten Freundschaft.<br />
An den Vorproduktions-Sitzungen dieser Woche nahmen<br />
Hitchcock, Hecht, Selznick, <strong>Bergman</strong> und ihr Hauptdarsteller,<br />
Cary Grant teil. Die Sitzungen verliefen freundlich, effizient<br />
und geschäftlich: noch selten begannen die Arbeiten zu einem<br />
Selznick-Film so einvernehmlich. Aber dann, nachdem alle<br />
wichtigen Beteiligten am Film verpflichtet waren, verkaufte<br />
Selznick ihn <strong>als</strong> Paket an ein anderes S<strong>tu</strong>dio und kassierte dabei<br />
den grössten Profit seiner Karriere.*) Am 25. Okt<strong>ob</strong>er kam<br />
der neue Hitchcock-Hecht-<strong>Bergman</strong>-Film bei den RKO-S<strong>tu</strong>dios<br />
vor die Kameras.<br />
Gleichentags schrieb Petter einem Anwalt, er trete bezüglich<br />
des bevorstehenden Auslaufs von <strong>Ingrid</strong>s Veträgen mit<br />
Selznick <strong>als</strong> Mittelsmann auf. Grund für Petters Brief war der<br />
beim Beginn des Hitchcock-Films eingetretene Verzug und die<br />
daraus in New York entstandenen Unannehmlichkeiten, wo<br />
derAutor Maxwell Anderson inzwischen das Script für "Joan of<br />
Lorraine" weitgehend fertiggestellt hatte. Wie er <strong>Ingrid</strong> 1940<br />
anlässlich ihres Treffens bei Burgess Meredith zuhause ver<br />
*) RKO bezahlte Selznick $ 25'000 die Woche für Hitchcock und $ 20'000<br />
für <strong>Ingrid</strong>; sie beide erhielten ihr normales Salär von Selznick, etwas<br />
mehr <strong>als</strong> 10 % dieser Beträge.<br />
281
sprach, hatte er tatsächlich ein Stück über die Heilige Jungfrau<br />
von Orléans für sie geschrieben. Nun wollten Anderson und<br />
seine Kollegen bei der Playwright Company wissen, wie <strong>Ingrid</strong><br />
für den Broadway verfügbar wäre.<br />
"Es hat uns grosse Unannehmlichkeiten eingetragen,<br />
dass wir über Miss <strong>Bergman</strong>s Verfügbarkeit am Broadway keine<br />
verbindlichen Zusagen machen konnten" schrieb Petter,<br />
und fügte bei, dass Selznick bis anhin nichts darüber habe verlauten<br />
lassen, <strong>ob</strong> es nach diesem einen zweiten Hitchcock-Film<br />
gebe (zu dem er berechtigt gewesen wäre), falls der jetzige<br />
vor Jahresende fertiggestellt wäre. "Wir haben nie etwas gegen<br />
zwei Filme in dieser Optionsperiode einzuwenden gehabt, aber<br />
wir haben Miss <strong>Bergman</strong>s Einkommen für den Fall ausgerechnet,<br />
dass nur ein Film produziert würde. Wenn ich mich richtig<br />
erinnere sind wir auf einen Betrag von mindestens $ 130'000<br />
und auf ein Maximum von $ 180'000 gekommen. Ich schlug<br />
vor, dass dieses Salär auf $ 100'000 plus 3 % bei einem Neuabschluss<br />
geändert werde." Den Auslauf von <strong>Ingrid</strong>s Vertrag<br />
wollte Petter bestätigt haben, bevor eine völlig neue finanzielle<br />
Vereinbarung getroffen werden konnte, weil "Miss <strong>Bergman</strong><br />
weit unter ihrem Marktwert entlöhnt werde" und weil Selznick<br />
"Miss <strong>Bergman</strong> während über sechs Jahren in keiner seiner<br />
Produktionen eingesetzt habe" (was natürlich überhaupt nicht<br />
stimmte).<br />
Dann schlug er einen neuen Ton an, der dem Leser<br />
wohl ein Lächeln abgerungen haben mag: "Die Salärfrage ist<br />
uns nicht von vordringlicher Wichtigkeit. Wir wollen arbeiten<br />
und unter angenehmen Umständen arbeiten und nicht einfach<br />
Geld machen" – w<strong>ob</strong>ei unter "WIR" wahrscheinlich Dr.<br />
Lindström <strong>als</strong> Anwalt und <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> <strong>als</strong> seine Klientin zu<br />
verstehen waren. Schliesslich sprach Petter noch die Angelegenheit<br />
Dr. Feldman an, der nun durch Petters Engagement<br />
überflüssig geworden war. "Bitte, klären Sie ab, was Selznicks<br />
Leute für deren Verpflich<strong>tu</strong>ngen Feldman gegenüber zu zahlen<br />
bereit sind. Auch welche Ansprüche Feldman glaubt geltend<br />
machen zu können. Für die Differenz wird vermutlich Miss<br />
<strong>Bergman</strong> aufkommen" – womit er hoffte, Feldman los zu sein,<br />
282
sodass <strong>Ingrid</strong>s Management ausschliesslich auf Lindström<br />
übertragen werden konnte.<br />
Der Anwalt, John O'Melveny, sandte eine Kopie von Petters<br />
Schreiben an Selznick, der – wie zu erwarten – postwendend<br />
eine ausführliche und ungeschminkte Antwort zurückfeuerte.<br />
"Seit langem ist mir Dr. Lindströms Gewohnheit bekannt,<br />
dass er wohlmeinende und freundliche Gesten ihm gegenüber<br />
verdreht interpretiert oder einfach refüsiert." Jetzt, fuhr er fort,<br />
sei Selznick klar, dass Lindström darauf tendiere, dass <strong>Ingrid</strong><br />
ihren Vertrag mit Selznick nicht erneuere, ohne dass eine vollkommen<br />
neue finanzielle Vereinbarung damit verbunden sei.<br />
Selznicks Wut entbannte über zwei Ursachen. Erstens<br />
war da Petters Unterstellung, <strong>Ingrid</strong> sei eine vertraglich gebundene<br />
Sklavin. "Sie hat alles getan, was sie wollte im Bereich<br />
von Auftritten, Touren, Filmen, Bühnenstücken und was<br />
immer", betonte Selznick. "Zweitens: Dr. Lindström hatte die<br />
ungenierte und einmalige Frechheit, Zahlungen für einen Film<br />
einzufordern, für den Miss <strong>Bergman</strong> ihre Absage erteilt hatte<br />
("The Scarlet Lily", der in England und Palästina hätte gedreht<br />
werden sollen)." Selznick hätte nicht so nachgiebig sein sollen,<br />
fügte er bei, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> zwei andere Rollen ablehnte.*) Er hatte<br />
das Recht auf ihre Dienste für einen letzten Film und er war<br />
auch willens, einen neuen Vertrag mit ihr auf der Basis des<br />
"zwei- bis dreifachen bisherigen Salärs" abzuschliessen.<br />
Lindström hatte die Verhandlungen über diese Punkte eingefroren,<br />
und jetzt – mit Andersons Bühnenstück <strong>als</strong> Vorwand –<br />
behauptete er, dass Selznick hinsichtlich eines neuen Vertrags<br />
sein Wort gebrochen habe.<br />
"Ich habe unter den grossen Stars und jenen, die in ihrem<br />
Kielwasser fahren, manche irrationale und unvernünftige<br />
Leute erlebt", schloss Selznick, "aber Dr. Lindströms Benehmen<br />
und Vorgehen stellt alles in den Schatten...Bitte wün<br />
*) Es handelte sich um Rollen in "The Spiral Staircase" und "The Farmers<br />
Daughter", die schliesslich von Dorothy McGuire und Loretta<br />
Young gespielt wurden.<br />
283
schen Sie Miss <strong>Bergman</strong> in meinem Namen viel Glück mit ihren<br />
neuen Verbindungen, wie immer die sein mögen, und drücken<br />
Sie ihr bitte meine Hoffnung aus, dass ihre Karriere sich blendend<br />
weiterentwickle."<br />
Insofern kam es einem glücklichen Zufall gleich, dass<br />
Selznick sich aus dem neuen Hitchcock-Film zurückgezogen<br />
hatte: tägliche Kontakte mit <strong>Ingrid</strong> wären ihnen beiden zu dieser<br />
Zeit nahezu unerträglich gewesen. Nach Vertragsablauf<br />
gingen sie auf die unvermeidliche Distanz zueinander. Aber<br />
weil sich <strong>Ingrid</strong> stets l<strong>ob</strong>end und enthusiastisch über Selznick<br />
äusserte, konnten sie trotz allem eine solide Freundschaft beibehalten,<br />
und Selznick kam ihr in einer kritischen Si<strong>tu</strong>ation<br />
sogar zu Hilfe, <strong>als</strong> sie <strong>als</strong> unfähige Mutter gebrandmarkt wurde.<br />
NOCH VOR FERTIGSTELLUNG VON "SPELLBOUND", ein<br />
Jahr zuvor, hatte Hitchcock mit Hecht über das Konzept für<br />
einen Film diskutiert, den er gerne drehen würde und in dem<br />
<strong>Ingrid</strong> eine Frauenfigur ähnlich derjenigen der Mata Hari portraitieren<br />
sollte, die für eine komplexe Spionageaufgabe sorgfältig<br />
trainiert wird. Ihr Charakter würde sogar so weit gehen,<br />
einen ungeliebten Mann zu heiraten – während der von ihr<br />
geliebte Mann, ihr Spionage-Partner, sie emotional zurückzuweisen<br />
schien, <strong>ob</strong>schon er beruflich auf sie angewiesen war.<br />
Die Umsetzung des Themas in eine dramatische Geschichte<br />
benötigte ein volles Jahr, und trotzdem einige Inspiration aus<br />
einer 1921 in der Sunday Evening Post erschienenen Kurzgeschichte,<br />
die Selznick dam<strong>als</strong> entdeckt hatte, in die Geschichte<br />
einfloss, war sie am Ende purer Hitchcock. Aber sie konnte<br />
nicht abgeschlossen werden, bevor <strong>Ingrid</strong> im Spätsommer zurückgekehrt<br />
war: Hitchcock hatte die Lösungen für seine härtesten<br />
Pr<strong>ob</strong>leme bereit, <strong>als</strong> er von der Capa-Affäre hörte. Dies<br />
hatte aber keine Auswirkungen auf die Struk<strong>tu</strong>r des<br />
Screenplays, das er mit Hecht zusammen herausgehämmert<br />
hatte; im Gegenteil, das Vorhandene wurde dadurch noch intensiviert.<br />
284
Wenn immer möglich, benutzte Hitchcock für seine Filme<br />
einen Ein-Wort-Titel, und diesmal hatte er ihn vom ersten<br />
Tag an: "Notorious". *) Der vollendete Film bleibt eines von<br />
Hitchcocks reinsten Meisterwerken; gleichzeitig stellt er ein<br />
Testament an <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Genius <strong>als</strong> Schauspielerin dar,<br />
denn trotzdem sie in manchen anspruchsvolleren Rollen bekannt<br />
wurde, betrachten viele ihrer Bewunderer "Notorious"<br />
<strong>als</strong> ihre tiefstempfundene Filmleis<strong>tu</strong>ng. Die Geschichte einer<br />
liebeskranken Frau und eines verängstigten Manns – und von<br />
einem weiteren Mann, betrogen sowohl durch seine Zuneigung<br />
wie auch durch die politische Ausrich<strong>tu</strong>ng des Paares – ist "Notorious"<br />
eine Exkursion in die Tiefen der menschlichen Konfusionen.<br />
Die Geschichte läuft geradlinig, doch weist ein kurzer<br />
Handlungsüberblick auch auf tiefere Zusammenhänge unter<br />
der Oberfläche hin. Alicia Huberman (<strong>Ingrid</strong>), eine an harte<br />
Drinks gewöhnte Frau und nicht sehr <strong>tu</strong>gendhafte Tochter eines<br />
deutschen Spions wird in den Dienst um die amerikanischen<br />
Bemühungen gepresst, eine Nazi-Spionagegruppe in<br />
Brasilien auszuheben. Trotzdem sie den amerikanischen Agenten<br />
T.R. Devlin (Cary Grant) liebt, der sie für diese patriotische<br />
Aufgabe rekrutiert hat, willigt sie ein, Alexander Sebastian<br />
(Claude Rains) zu heiraten, einen alten Bekannten, der sie<br />
immer noch liebt und nun den deutschen Spionagering in Brasilien<br />
leitet, der an das zur Entwicklung der Atombombe benötigte<br />
Uran kommen soll. Als Sebastian Alicias wahre Absichten<br />
entdeckt, beginnen er und seine tyrannische Mutter Alicia langsam<br />
zu vergiften, aber auf der Schwelle zum Tod wird sie von<br />
Devlin gerettet, der nun zugibt, sie während der ganzen Zeit<br />
geliebt zu haben.<br />
Der Grundgedanke von "Notorious" ist eine zweifache<br />
Erlösung (und damit etwas sehr übliches in Hitchcocks 53 Filmen):<br />
das Bedürfnis einer Frau, Vertrauen und Liebe zu ge-<br />
*) Weitere im Hitchcock-Katalog: Downhill, Champagne, Blackmail,<br />
Murder!, Sabotage, Suspicion, Saboteur, Lifeboat, Spellbound, Rope,<br />
Vertigo und Frenzy. (Rebecca, Psycho, Marnie und Topas waren die<br />
Originaltitel der Romane, auf welchen seine Filmversionen basierten.)<br />
285
winnen, was ihr ermöglicht, ein von Zuneigung jeder Art entblösstes<br />
und von Schuld beladenes Leben zu führen; und das<br />
Bedürfnis eines Mannes, sich der Liebe zu öffnen, um ein Leben<br />
unter schwerer emotionaler Unterdrückung zu überwinden.<br />
Im Falle von "Notorious" sind hinter dem Mann Alfred Hitchcock<br />
und R<strong>ob</strong>ert Capa zu sehen, hinter der Frau <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong><br />
selbst.<br />
Hitchcock und Hecht haben diese Romanze um Vertrauen<br />
treffend in einen Spionage-Thriller verpackt, denn Spione<br />
werden logischerweise durch Ausbeu<strong>tu</strong>ng und Missbrauch von<br />
Vertrauen charakterisiert. Im Weitern ist das Thema treffend<br />
und ironisch im Trinker-Milieu verankert. Ohne jeden Anklang<br />
von Geselligkeit, ohne jeden Gedanken an oder Toast auf Gesundheit<br />
oder Wohlergehen, ist die ganze Trinkerei in "Notorious"<br />
entweder gesellschaftlich leer (<strong>als</strong> Flucht vor Schuld und<br />
Kummer) oder geradezu giftig – wie die Whisky-durchtränkte<br />
Eröffnungs-Party; Alicias Art, ihre emotionale Zurückweisung<br />
durch das Eingiessen eines Whiskys zu verarbeiten; die Zutaten<br />
zur Bombe in einer Weinflasche verborgen; und der mit<br />
Arsen versetzte Kaffe, der Alicia täglich serviert wird und sie<br />
langsam umbringen soll. Die von Hitchcock und Hecht von Beginn<br />
an laufend vedichtete Struk<strong>tu</strong>r des Films wurde bis zum<br />
Ende peinlichst genau herausgearbeitet.<br />
Es sind aber nicht die rigorose Struk<strong>tu</strong>r des Films und<br />
seine sorgfältig platzierten Motive, die "Notorious" diese besondere<br />
Wirkung verleihen. Diese ist der Einfachheit der Dialoge<br />
und der subtilen Einfühlsamkeit von <strong>Ingrid</strong>s Spiel zuzuschreiben<br />
– und dahinter standen Hitchcocks eigene Gefühle<br />
und <strong>Ingrid</strong>s Gefühle für Capa.<br />
So wurde "Notorious" schon während der Produktion zur<br />
künstlerischen Umsetzung zweier gequälter Innenleben, und<br />
seine Geschichte von Sehnsucht versus Pflicht, von Leidenschaft<br />
versus Heuchelei zum Spiegelbild zweier privater Leben<br />
- und vieler öffentlicher Schicksale dazu. Die grosse Leis<strong>tu</strong>ng<br />
des Films mag darin begründet sein, dass er so tief in die Ab-<br />
286
gründe des Kummers von Alfred Hitchcock und <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong><br />
vorstösst und dadurch einen seltenen Tiefgang erhält. Seine<br />
Meditation über die Na<strong>tu</strong>r der echten, vertrauenden Liebe geht<br />
über die gewohnten romantischen Clichés hinaus, weil sie von<br />
einer entsprechenden wahren Lebenssi<strong>tu</strong>ation inspiriert ist – so<br />
aufrichtig, dass sich nur wenige Zuschauer der bewegenden<br />
Wirkung dieses Geschehens entziehen können.<br />
Es mag auch erstaunen, dass dieser Film überhaupt<br />
produziert (und auf Anhieb zu einem derartigen Erfolg) wurde,<br />
nachdem er derart unverblümte Dialoge über regierungsgesponserte<br />
Prosti<strong>tu</strong>tion enthält: Die sexuelle Erpressung ist<br />
die Erfindung amerikanischer Agenten, die eine Frau rücksichtslos<br />
ausbeuten (und notfalls sterben lassen) um zu ihrem<br />
Ziel zu gelangen. Die Darstellung der moralischen Abgründe<br />
amerikanischer Beamter war in Hollywood bis anhin absolut<br />
unerreicht – speziell 1945, <strong>als</strong> der Sieg der Alliierten in eine<br />
Ära von zwar verständlichem aber höchst gefährlichem Chauvinismus<br />
im amerikanischen Alltag ausmündete.<br />
UM "NOTORIOUS" DEN STEMPEL der ultimativen Authentizität<br />
aufzudrücken, tat Hitchcock etwas Beispielloses in<br />
seiner Karriere: er machte <strong>Ingrid</strong> zu seiner engsten Mitarbeiterin<br />
in diesem Film. "Der Blick des Mädchens stimmt nicht",<br />
sagte <strong>Ingrid</strong> zu Hitchcock, <strong>als</strong> nach mehreren Aufnahmen der<br />
Dinner-Szene jedermann wusste, dass da etwas daneben war.<br />
"Du lässt sie zu schnell reagieren (Überraschung), Hitch. Ich<br />
denke, sie sollte es so machen." Und damit führte <strong>Ingrid</strong> vor,<br />
wie.<br />
Im Set hätte man eine Nadel fallen hören, denn Hitchcock<br />
konnte Einsprachen von Schauspielerseite nicht leiden: er<br />
wusste von allem Anfang an genau, was er wollte. Lange vor<br />
Beginn der Dreharbeiten war jede Even<strong>tu</strong>alität jeder Szene<br />
geplant – jeder Kamerawinkel, jede Einstellung, jedes Kostüm,<br />
jede Requisite, sogar die Geräuschkulissen waren vorgegeben<br />
und im Drehbuch festgehalten. Aber im vorliegenden Fall hatte<br />
eine Schauspielerin eine gute Idee, und er sagte: "Ich denke,<br />
287
du hast Recht, <strong>Ingrid</strong>." Es war ja schliesslich auch ihr Film.<br />
Und so ging's durchs Band weg. Am Anfang, zum Beispiel,<br />
erfährt Alicia vom Selbstmord ihres verräterischen Vaters<br />
durch die Giftkapsel. Hitchcock lässt die Kamera fixiert auf der<br />
erinnerungsleeren Wüste von <strong>Ingrid</strong>s bleichem Antlitz während<br />
sie spricht, w<strong>ob</strong>ei ihr Gesicht zunächst Traurigkeit ausdrückt,<br />
dann das Bedauern über eine verlorene, glücklichere Vergangenheit<br />
und schliesslich einen seltsamen Schimmer der Erleichterung:<br />
288<br />
"Ich sehe nicht ein, warum ich mich so schlecht fühlen<br />
sollte. Als er mir vor einigen Jahren eröffnete, wer er<br />
war, ging alles kaputt - mir war völlig gleichgültig,<br />
was aus mir wurde. Jetzt aber erinnere ich mich daran,<br />
wie nett er einst war – wie nett wir beide waren – sehr<br />
nett. Es ist ein sehr komisches Gefühl – <strong>als</strong> <strong>ob</strong> mir etwas<br />
zugestossen wäre, und nicht ihm. Du siehst, ich<br />
muss ihn nicht mehr hassen – auch mich selbst nicht."<br />
Gesprochen, einige Momente nach den Szenen, in welchen<br />
<strong>Ingrid</strong> die s<strong>tu</strong>rzbetrunkene und danach schmerzlich verkaterte<br />
Frau spielte, bot ihr dieser Dialog trotz mehrerer Wochen,<br />
die zwischen der Verfilmung der einzelnen Szenen lagen,<br />
reichlich Gelegenheit, einen Komplex von lebensechten<br />
Erfahrungen und Emotionen zu bilden. Mit Geflüster, schwerer<br />
Zunge, trockenem Mund und all den Zeichen von geistiger<br />
Verwirrung liess sie einen wahrhaftigen Charakter entstehen –<br />
eine leichtlebige Alkoholikerin die tief sympathisch wirkt. So<br />
gesehen, kann man sich einfach nicht vorstellen, dass <strong>Ingrid</strong>s<br />
anfälliger emotionaler Zustand nicht tatsächlich ihre innersten<br />
Gefühle aufbrechen liess und damit zur Eindringlichkeit ihres<br />
Spiels beitrug.<br />
Sie wurde von Cary Grant sehr unterstützt, der in einer<br />
für ihn ungewöhnlich ruhigen und sehr ungewohnten Rolle<br />
agierte. Bis dahin war Grant vor allem aus komischen Liebesfilmen<br />
bekannt, und seine Karriere machte einen Sprung, <strong>als</strong><br />
Hitchcock ihn (vier Jahre nach "Suspicion") ein zweites Mal<br />
verpflichtete, um ihn einen Mann portraitieren zu lassen, der
vor Frauen eine schon fast pathologische Angst empfand, einen<br />
Mann, der zwar küssen aber nichts begehen konnte. Während<br />
dieser Zusammenarbeit entstand zwischen <strong>Bergman</strong> und<br />
Grant eine lebenslange Freundschaft. Ungeachtet gegenteiliger<br />
Gerüchte, gab es zwischen ihnen keine Romanze: er war eben<br />
der <strong>tu</strong>multösen Ehe mit der Erbin Barbara Hutton entkommen,<br />
und für die Intimität hielt er sich meist an Randolph Scott, mit<br />
dem er während mehr <strong>als</strong> einem Jahrzehnt in Santa Monica ein<br />
Weekendhaus teilte.<br />
Der Dialog der Strassencafé-Szene in Rio zum Beispiel<br />
wurde von <strong>Bergman</strong> und Grant derart perfekt wiedergegeben,<br />
dass Hitchcock dafür gerademal eine Pr<strong>ob</strong>e und zwei Aufnahmen<br />
brauchte. Grant mit zusammengepressten Lippen und<br />
steinernem Gesicht, spielte Devlin grossartig, mit eisiger Verach<strong>tu</strong>ng<br />
für die erste Frau, die in ihm ein Gefühl von Liebe erwecken<br />
konnte; <strong>Ingrid</strong> ihrerseits schwankte zwischen<br />
Verletztheit und Herausforderung, der Hoffnung auf ein neues<br />
Leben und der Angst, es nie leben zu dürfen. Und Hitchcock<br />
liess in letzter Minute zu, dass <strong>Ingrid</strong> einige eindeutig aut<strong>ob</strong>iographische<br />
Retouchen einbrachte, <strong>als</strong> <strong>ob</strong> sie Alicias Identität<br />
mit ihrer eigenen verschmelzen wollte – zum Beispiel ihre Abneigung<br />
gegen das Kochen.<br />
ALICIA (<strong>Bergman</strong>):<br />
DEVLIN (Grant):<br />
Ob mir wohl jemand bei der Botschaft ein Mäd<br />
chen vermitteln kann. Ich habe nichts gegen die<br />
Hausarbeit, aber ich hasse das Kochen.<br />
Ich werde mich erkundigen.<br />
ALICIA: Dann frage doch auch gleich, wann ich mit der<br />
Arbeit beginnen werde.<br />
DEVLIN: Ja, Madame.<br />
(Ein Kellner fragt, <strong>ob</strong> sie noch einen Cocktail haben möchten.)<br />
DEVLIN: Noch einen Drink?<br />
289
ALICIA: Nein danke – ich habe genug.<br />
(Er bestellt einen für sich selbst.)<br />
ALICIA: (legt ihren Kopf leicht zurück und lächelt mit fast<br />
kindlichem Stolz):<br />
290<br />
Hast du das gehört? Ich hab's praktisch ge<br />
schafft – welch eine Veränderung!<br />
DEVLIN: (sarkastisch) Für den Moment.<br />
ALICIA: (ihr Lächeln verblasst) Du glaubst nicht, dass<br />
sich eine Frau ändern kann?<br />
DEVLIN: (bitter) Sicher – Veränderungen machen Spass –<br />
für eine Weile.<br />
ALICIA: 'Für eine Weile' – Du bist eine Ratte, Dev.<br />
DEVLIN: Gut gut. Du warst während acht Tagen nüchtern<br />
und hast – soviel ich weiss - auch keine neuen<br />
Er<strong>ob</strong>erungen mehr gemacht.<br />
ALICIA: (versucht ihre Verletztheit zu verbergen) Also -<br />
das ist schon etwas.<br />
DEVLIN: (noch sarkastischer) Acht Tage! Praktisch sauber!<br />
ALICIA: (fast bittend, beginnt ihre Gefühle für ihn zu zeigen)<br />
Ich bin sehr glücklich hier. Warum lässt du<br />
mich nicht zufrieden?. . . Ich spiele das nette,<br />
unverdorbene Kind, dessen Herz voll von Blumen<br />
ist.<br />
DEVLIN: Hübscher Tagtraum. Und dann?<br />
ALICIA: (zieht kurz Luft ein, <strong>als</strong> hätte ein Schlag sie getroffen.<br />
Der Kellner kommt) Ich denke, ich brauche<br />
noch einen Drink – einen Doppelten bitte!<br />
DEVLIN: Dachte es mir doch!<br />
ALICIA: Warum glaubst du nicht an mich, Dev – nur ein<br />
kleines bisschen? (Sie will die Frage wiederholen,
doch die Worte bleiben ihr im H<strong>als</strong> stecken. Pause,<br />
sie senkt den Blick. Dann plötzlich wieder bittend<br />
zu ihm) Warum nicht?<br />
Die Tischszene beim Abendessen auf dem Balkon (<strong>als</strong><br />
Analogie im umgekehrten Sinne zur Kussszene von früher am<br />
Tag am selben Ort) enthüllt sehr deutlich den schrecklichen<br />
Zusammenprall dieser beiden Charaktere. Grant muss <strong>Bergman</strong><br />
in ihren Spionageauftrag einweihen, demzufolge sie mit<br />
Rains ins Bett gehen muss, um Informationen über die Naziaktivitäten<br />
in Rio zu erhalten. Obschon er es möchte, kann er<br />
sich nicht überwinden, sie vor diesem Schritt zu bewahren –<br />
was ihm ein Leichtes gewesen wäre durch die Liebeserklärung,<br />
auf die sie so sehnlichst wartet.<br />
ALICIA: Also, Hübscher, ich denke du sagst Mama besser<br />
was los ist, oder diese Geheimniskrämerei ruiniert<br />
noch mein ganzes Essen. Los, Herr D., was<br />
bedrückt dich?<br />
DEVLIN: Nach dem Essen.<br />
ALICIA: Nein, jetzt. (Keine Antwort) Hör, ich mache es<br />
dir leicht. Die Zeit ist gekommen, wo du mir sagen<br />
musst, dass du eine Frau und zwei niedliche<br />
Kinder hast und diese Verrücktheit zwischen uns<br />
nicht weitergehen kann.<br />
DEVLIN: Das hast du wahrscheinlich schon zu oft gehört.<br />
(Ein Hauch von Schmerz huscht über ihr Gesicht, ein kurzes<br />
Zucken der Unterlippe, dann:)<br />
ALICIA: Immer unter der Gürtellinie. Das ist nicht fair,<br />
Dev.<br />
DEVLIN: Vergiss es. Wir müssen anderes besprechen. Wir<br />
haben eine Aufgabe. . .Erinnerst du dich an einen<br />
Mann namens Sebastian?<br />
ALICIA: Ein Freund meines Vaters, ja.<br />
DEVLIN: Er hatte ein Auge auf dich.<br />
291
ALICIA: Ich habe nicht reagiert.<br />
DEVLIN: Wir müssen mit ihm in Kontakt kommen.<br />
(Sie begreift nun, dass sie zur sexuellen Sklaverei gezwungen<br />
wird.)<br />
ALICIA (sitzend):<br />
292<br />
Und – bring den Rest auch noch.<br />
DEVLIN: Wir werden ihn morgen treffen. Der Rest ist an<br />
dir. Du musst ihn bearbeiten und an Land ziehen.<br />
ALICIA (mit traurigem Grinsen):<br />
Mata Hari – sie liebt um Dokumente.<br />
DEVLIN: Es gibt keine Dokumente. Du ziehst ihn an Land.<br />
Finde heraus, was in seinem Haus vor sich geht,<br />
was die Gruppe um ihn vorhat – und berichte es<br />
uns.<br />
ALICIA: Ich nehme an, du hast diesen netten kleinen<br />
Auftrag für mich schon all die Zeit gekannt.<br />
DEVLIN: Nein, ich erfuhr eben erst davon.<br />
ALICIA: Sagtest du irgendetwas dazu – ich meine, dass<br />
ich womöglich nicht das Mädchen für solche Faxen<br />
wäre?<br />
DEVLIN (kalt): Ich dachte, das wäre deine Sache . .<br />
wenn du aussteigen möchtest . . .<br />
ALICIA (klagend): Kein Wort für die kleine liebeskranke<br />
Frau, die du vor einer S<strong>tu</strong>nde verlassen<br />
hast?<br />
DEVLIN: Ich sagte dir, das ist der Auftrag.<br />
ALICA (überspielt ihren Kummer mit Resignation):<br />
Nimm's nicht übel, Dev. Ich fische nur nach einem<br />
kleinen Vogelgezwitscher meines Traummanns<br />
– eine kleine Bemerkung, wie zum Bei-
spiel, "Wie können Sie es wagen, meine Herren,<br />
vorzuschlagen, dass Alicia Huberman – die neue<br />
Miss Huberman – einem derart hässlichen<br />
Schicksal ausgesetzt werde?"<br />
DEVLIN: Das ist nicht lustig.<br />
ALICIA: Willst du, dass ich den Auftrag annehme?<br />
DEVLIN: Es ist an dir.<br />
ALICIA: Ich frage DICH.<br />
DEVLIN: Es ist an DIR.<br />
(Stille, dann mit vor Angst und Sehnsucht trockener Stimme:)<br />
ALICIA: Nicht einen Piepser, he? – Oh, Liebling, sag mir,<br />
was du ihnen nicht sagtest – dass du glaubst, ich<br />
sei nett, dass ich dich liebe und dass ich nicht<br />
rückfällig werde.<br />
DEVLIN (eisig):<br />
Ich warte auf deine Antwort.<br />
ALICIA (enttäuscht, von ihm abrückend):<br />
Was bist du ein kleiner Kumpel. Kein Glaube an<br />
mich – kein Wort des Vertrauens, nur – die Gosse<br />
hinunter mit Alicia. (Sie wendet sich ab, verletzt<br />
durch die Zurückweisung, entkorkt eine<br />
Whiskyflasche und nimmt einen kräftigen<br />
Schluck.)<br />
<strong>Ingrid</strong>s Spiel war packend, und Hitchcock, der sie selten<br />
unterbrach, war sehr beeindruckt von ihr und hielt sie am Ende<br />
jedes Arbeitstags noch etwas zurück. Nicht, dass er sie übermässig<br />
l<strong>ob</strong>te, er offerierte ihr einfach einen Drink, zuckte mit<br />
den Schultern, lächelte und sagte: "Es war heute sehr gut,<br />
<strong>Ingrid</strong>. Sehr gut." Tatsächlich war jeder Tag gut, was sie beide<br />
wussten: am Tag, <strong>als</strong> sie die Szene filmten, in der sie Grants<br />
Schal zurückgibt, ein Relikt an den Beginn ihrer Romanze; <strong>als</strong><br />
sie im ersten Stadium der Vergif<strong>tu</strong>ng einen Kater vortäuscht,<br />
293
um den Mann, den sie liebt, nicht gegen seinen Willen an ihre<br />
Seite zu zwingen; die Szenen, in welchen <strong>Ingrid</strong> mit ihren langen<br />
traurigen Blicken verweigerte Liebe beklagt, wo sie diese<br />
am dringendsten benötigt hätte; nur ein abges<strong>tu</strong>mpfter Zyniker<br />
kann in ihrem Spiel übersehen, dass sie einige der erinnerungswürdigsten<br />
Momente in der Geschichte des Filmschauspiels<br />
schuf. "<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Leis<strong>tu</strong>ng hier ist das Beste, was<br />
ich je gesehen habe", schrieb James Agee, ein nicht leicht zufriedenzustellender<br />
Kritiker, und das Film Bulletin fasste die<br />
Pressereaktionen in dem Sinne zusammen, dass "<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s<br />
brillantes Portrait sie wieder zur Anwärterin für einen<br />
Academy Award macht" (für den sie erstaunlicherweise nicht<br />
einmal nominiert wurde).<br />
"Im Grunde genommen weiss ich nicht viel über die<br />
Schauspielerei, und ich habe nie darüber gelesen", sagte <strong>Ingrid</strong><br />
später. "In meinem einzigen Lehrjahr habe ich bestimmt gelernt,<br />
meine Stimme einzusetzen, die Körpersprache richtig zu<br />
nutzen und andern Leuten zuzuhören. Es ist aber der Instinkt,<br />
auf den ich mich verlasse. Es gibt nur eines: Einfachheit und<br />
Aufrichtigkeit im Ausdruck, alles andere erreicht das Publikum<br />
nicht. Ist vergebene Liebesmüh'." Die Rolle von Alicia betreffend:<br />
"Ich liebe es, Charaktere darzustellen, deren Leben nicht<br />
nach den gewohnten Regeln verlief oder manchmal sogar etwas<br />
abnormal – Menschen, die mit ausserordentlichen Lebensumständen<br />
zu kämpfen hatten oder in aussergewöhnlichen<br />
Verhältnissen aufgewachsen sind."<br />
"Notorious" handelt vor allem davon, wie Menschen ihre<br />
Gefühle verheimlichen - wie sie wegsehen, den Blick senken,<br />
Emotionen verbergen. In dieser Hinsicht ist der Dialog oft<br />
mit ironischen Bildern verbunden. Vor der grossen Party, zum<br />
Beispiel, entschuldigt sich Sebastian für sein Misstrauen Alicia<br />
gegenüber, bevor er reuig ihre Hände küsst. Aber sie ist nicht<br />
vertrauenswürdig – schliesslich verrät sie die Zuneigung ihres<br />
Ehemannes und hat nun eben seinen Schlüssel gestohlen, um<br />
ihn weiter verraten zu können. Um den Schlüssel zu verbergen,<br />
legt sie ihre Arme um seinen H<strong>als</strong> und wechselt ihn so in<br />
die andere Hand, nutzt diese zärtliche Geste <strong>als</strong> List. Kurz da-<br />
294
nach setzt sich Devlin vor dem Weinkeller in Szene, um Alex<br />
davon zu überzeugen, dass er (Devlin) in Alicia verliebt sei –<br />
was er natürlich ist. Auch hier wird das Verhalten von Verliebten<br />
(diesmal echt) <strong>als</strong> List benutzt. Niem<strong>als</strong> waren Gesten derart<br />
befrachtet von Komplexität oder Zeichen von Verbindlichkeit<br />
so überlagert von wahren und f<strong>als</strong>chen Bedeu<strong>tu</strong>ngen.<br />
Der entscheidende kinematographische Effekt, der diese<br />
beiden spannenden Momente verbindet, ist der berühmte Kameraschwenker<br />
der den Blick des Zuschauers ohne Schnitt<br />
vom weiten Überblick über die Party im grossen Foyer des<br />
Mansions direkt zur Nahaufnahme des fest in <strong>Bergman</strong>s Hand<br />
gehaltenen Schlüssels führt. Dieser ausserordentliche Moment<br />
war nicht einfach technische Vir<strong>tu</strong>osität von Seiten Hitchcocks;<br />
im Gegenteil, es war wichtig für ihn, in ein und demselben Bild<br />
zwei verschiedene Realitätsebenen zu zeigen. Der Schlüssel<br />
(wörtlich) zu etwas Gefährlichem liegt in dieser beeindruckenden<br />
und faszinierenden Einstellung; ein räumlicher Einblick,<br />
mit anderen Worten, offenbart eine doppelte Realität – so wie<br />
die Pauillac-Flaschen Uranium Erz enthalten, so wie eine einzelne<br />
Zärtlichkeit verschiedenen Realitäten dient.<br />
"Notorious" ist vom ersten bis zum letzten Bild ein Film<br />
von erschreckender Ironie und beklemmenden Kontrasten.<br />
Laster und sexuelle Ausbeu<strong>tu</strong>ng kontrastieren mit der Sehnsucht<br />
nach wahrer Liebe. Trunkener Schwindel kontrastiert mit<br />
Arsenvergif<strong>tu</strong>ng. Soziale Eleganz und Sauberkeit verbergen<br />
mörderische Barbarei. Kichernder Small Talk (zwischen <strong>Bergman</strong><br />
und Grant beim Champagner und Informationsaustausch<br />
an der Party) verbirgt geheime Absprache. Eine etikettierte<br />
Flasche wird von ihrem feinen Wein entleert und mit dem Erz<br />
für die Herstellung einer tödlichen Bombe gefüllt.<br />
Die letzten Momente des Films sind typisch für Hitchcocks<br />
Fähigkeit, allein mit der Kameraführung und Bildgestal<strong>tu</strong>ng<br />
packende Wirkung zu erzeugen. Noch selten in der Filmgeschichte<br />
wurde eine Schauspielerin derart subtil und<br />
schwärmerisch fotographiert wie <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> in der<br />
Schlussszene im Schlafzimmer. Als todkranke Frau wurde sie<br />
295
296<br />
1945 - Hitchcocks Kamera<strong>tu</strong>rm im "Notorious"-Set
in Schatten und Halblicht aufgenommen, w<strong>ob</strong>ei Hitchcock die<br />
Szene so arrangierte, dass <strong>Ingrid</strong> von einer strahlenden Zärtlichkeit<br />
umspielt war, fast wie von einem Heiligenschein der<br />
Sehnsucht umfangen. Hitchcock bestand darauf, dass keinerlei<br />
Musik diese Szene begleiten dürfe, so überzeugt war er von<br />
ihrer optischen Wirkung. Endlich, gerade noch in sprichwörtlich<br />
letzter Minute vor ihrem Tod, gesteht ihr Grant seine Liebe.<br />
"Oh, du liebst mich!" flüstert <strong>Ingrid</strong>. "Warum sagtest du mir<br />
das nicht früher?" Als die Kamera um sie herumkreist antwortet<br />
er: "Ich war ein dickköpfiger Kerl, voll von Kummer. Es<br />
zerfrass mich, dich nicht zu bekommen."<br />
Es ist einfach, in einem Film ästhetische Distanz, das<br />
Zelebrieren der Schönheit eines Darstellers von tiefem emotionalem<br />
Engagement zu unterscheiden. Die erste Verhaltensweise,<br />
zum Beispiel, charakterisierte den respektvollen Abbruch<br />
von D.W. Griffiths Annäherung an Lillian Gish und genau so im<br />
Fall von F.W. Murnau und Janet Gaynor. Dagegen war die sentimentale<br />
Beziehung offenkundig in Josef von Sternbergs Darstellung<br />
von Marlene Dietrich und Hitchcocks Aufnahmen von<br />
<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>.<br />
Alle Motive des Films fanden ihre Auflösung in der<br />
Schlussszene, in der Hitchcock vielleicht die zärtlichste und<br />
tiefgründigste Liebesszene seiner ganzen Filmographie schuf.<br />
Wie geradewegs aus einer Seite des Märchenbuchs (der Prinz<br />
rettet Dornröschen) bewahrt sie die letzte romantische Fantasie,<br />
die Geliebte der Umklammerung durch den Tod zu entreissen.<br />
Ihre Eindrücklichkeit verdankt sie dem Talent und dem<br />
Gefühl des Regisseurs, seines Drehbuchautors – und wohl in<br />
allererster Linie ihrer "kleinen liebeskranken Dame", welche die<br />
engste Schauspielerin-Assistentin des Regisseurs in dessen 6<br />
Jahrzehnte dauernder Karriere wurde. "Er behandelte mich<br />
wirklich sehr exklusiv während der ganzen Produktion", sagte<br />
<strong>Ingrid</strong> Jahre danach. "Er verkehrte nicht mit den Leuten. Aber<br />
wir waren gute Freunde und arbeiteten in 'Notorious' eng zusammen.<br />
Er war sehr konzentriert – er wusste dass er es sein<br />
musste und dass auch ich es sein musste. Wir beide erlebten<br />
die fürchterlichsten Dinge, aber er behielt immer die Kontrolle<br />
297
über sich. Ich hörte ihn nie die Stimme erheben, herumschreien<br />
oder die Leute beschimpfen - nie."<br />
1945 ENDETE MIT EINER FEIER auf dem Set von "Notorious",<br />
und zwar nicht mit einem einfachen Abschiedstoast vor<br />
den Ferien, sondern mit einem Bankett, das Hitchcock zu Ehren<br />
seiner Hauptdarstellerin arrangiert hatte. Er hatte gute<br />
Gründe für diese Extravaganz: zwischen dem 2. November und<br />
7. Dezember kamen gleich drei Filme mit <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> in<br />
die Kinos: "Spellbound", "Saratoga Trunk" und "The Bells of St.<br />
Marys", welch letzterer in der Radio City Music Hall alle Rekorde<br />
brach. Ein Witzbold brachte zur Weihnachtszeit das Gerücht<br />
in Umlauf, jemand habe in New York City einen Film gesehen,<br />
in dem <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> nicht mitgespielt habe. Bis zum Jahresende<br />
bezifferten sich die Bruttoeinnahmen aus diesem Trio<br />
auf $ 21 Mio. und <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> erhielt über 25'000 Fanbriefe<br />
pro Woche. Niemand war überrascht, <strong>als</strong> das BOX OFFICE-<br />
Magazin aufgrund seiner Umfragen bei Kritikern, Theatern,<br />
Radio-Kommentatoren, Vertreterinnen von Frauenklubs, Film-<br />
Fachleuten und Erziehungs-Organisationen erklärte – übrigens<br />
hier zum ersten Mal in zwei aufeinanderfolgenden Jahren –<br />
dass <strong>Ingrid</strong> Amerikas profitabelste Schauspielerin für ihre Arbeitgeber<br />
war. Auf der Stelle folgten populäre Publikationen<br />
(wie das LOOK-Magazin u.a.) mit der Vergabe verschiedenster<br />
Awards für ihre Leis<strong>tu</strong>ngen.<br />
Einladungen häuften sich, darunter auch solche, die <strong>Ingrid</strong><br />
baten, Auszeichnungen an Kriegshelden zu übergeben und<br />
sich auf diese Weise selbst zu ehren. Eine gefiel ihr dabei ganz<br />
besonders, diejenige der American Youth for Democracy. Am<br />
16. Dezember präsentierte <strong>Ingrid</strong> Leutnant Edwina Todd, einer<br />
heldenhaften amerikanischen Krankenschwester, die auf den<br />
Philippinen diente, eine Medaille. Kaliforniens Attorney General<br />
war ebenfalls anwesend, wie auch Bill Mauldin, Dore Schary,<br />
Barney Ross, Artie Shaw, Dorothy Parker und Frank Sinatra.<br />
Der Anlass war ein Riesenerfolg, und Leutnant Todd, die schon<br />
von der Regierung geehrt wurde, war fasziniert, <strong>Ingrid</strong> zu tref-<br />
298
fen.<br />
Aber die Feiertage waren keine ungetrübte Freude.<br />
Seit Okt<strong>ob</strong>er arrangierte <strong>Ingrid</strong> gelegentliche Rendezvous<br />
mit Larry Adler, w<strong>ob</strong>ei sie eines Tages ein paar gemeinsame<br />
Urlaubstage vorschlug, <strong>als</strong> Petter allein zu seinem Skiurlaub<br />
wegfuhr. "Ich war dam<strong>als</strong> in psychoanalytischer Behandlung",<br />
erklärte Adler später, "und mein Psychiater sagte mir,<br />
dass dies für mich zur Katastrophe führen, das Ende meiner<br />
Ehe bedeuten würde." Aber er hatte einen andern Grund für<br />
seine Absage. "Wenn ich die Möglichkeit einer Ehe mit <strong>Ingrid</strong> in<br />
Erwägung zog, war mir sofort klar, dass ich mein Leben niem<strong>als</strong><br />
vier Schritte hinter <strong>Ingrid</strong> gehend leben konnte. Ein Filmstar<br />
ist viel wichtiger <strong>als</strong> irgendein Medaillenträger, und mein<br />
Ego war zu stark ausgeprägt um fortan Herr <strong>Bergman</strong> zu sein."<br />
Damit endete die kurze Romanze, die danach zu einer dauerhaften<br />
Freundschaft wurde.<br />
Und danach, wie in der Schlange stehend, meldete sich<br />
R<strong>ob</strong>ert Capa zurück. Er kam vor Weihnacht in Hollywood an,<br />
mietete sich in einem Hotel ein und war – mit etwas Nachhilfe<br />
durch <strong>Ingrid</strong> – sofort <strong>als</strong> Werbefotograph im Set von "Notorious"<br />
engagiert. Adler lebte in Los Angeles und war dort gut<br />
bekannt, aber die Ankunft des berühmten Fotographen wurde<br />
in der Filmgemeinde laut herausposaunt. So war er zu jeder<br />
Feiertagsparty eingeladen und von den Regisseuren und Stars,<br />
die von seiner Vir<strong>tu</strong>osität hinter der Kamera wussten, umschwärmt,<br />
sodass ihm für <strong>Ingrid</strong> zunächst wenig Zeit blieb.<br />
Bei RKO war Hitchcock äusserst bemüht, keinen unerwünschten<br />
Verdacht in die andere Rich<strong>tu</strong>ng aufkommen zu<br />
lassen, weshalb er sie Capa vorstellte, <strong>als</strong> wären sich die beiden<br />
fremd. Aber dann, während der letzten Dezemberwoche,<br />
wurde <strong>Ingrid</strong> im Set nicht benötigt, wovon Petter nichts wusste.<br />
An beiden Morgen steuerte sie ihren Oldsm<strong>ob</strong>ile in aller<br />
Frühe den Benedict Canyon hinunter, um dann statt ostwärts<br />
den S<strong>tu</strong>dios entgegenzufahren, scharf nach rechts abzubiegen<br />
und dann den Kurven und Windungen des Sunset Boulevards<br />
entlang bis zu dessen Ende an der Pazifikküste hinunterzufah-<br />
299
en. Dann ging’s nordwärts auf dem Pacific Coast Highway bis<br />
Malibu, wo sie sich irgendwo alleine an den Strand setzte und<br />
Bücher oder Scripts las und die Seeluft und das Rauschen des<br />
Meeres genoss. An den Nachmittagen traf sie Capa an der Malibu<br />
Road 18 – im Strandhaus seines Freundes, des Schriftstellers<br />
Irwin Shaw, der sie dann bis zum Abend alleinliess.<br />
300
Wer ist der sterbende Soldat?<br />
Rätselhaft. Dies ist das berühmte Bild "Republikanischer Soldat<br />
im Moment des Todes", 1936 von US-Fotograf R<strong>ob</strong>ert Capa im<br />
Spanischen Bürgerkrieg aufgenommen. Angeblich zeigt es den<br />
Kämpfer Federico Borrell Garcia, wie ihn die Kugel trifft. Ein<br />
spanisches Filmteam vermeldet nun: Es kann nicht Garcia sein.<br />
Unter anderem habe ein Kampfgefährte und Augenzeuge erklärt,<br />
Borrell Garcia sei keineswegs auf freiem Gelände gestorben,<br />
wie es das Bild nahelegt. Das nährt die (alten) Gerüchte,<br />
das Foto sei gestellt worden. Auch wird erneut gestreut, nicht<br />
Capa, sondern seine Lebensgefährtin Gerda Taro habe den Auslöser<br />
betätigt. Gleichwohl, das Bild ist und bleibt eine Ikone der<br />
Kriegsfotografie. Und hat es, wie man am Betrachter sieht, aufs<br />
T-Shirt geschafft.<br />
js Foto Keystone<br />
(Bericht der Basler Zei<strong>tu</strong>ng vom 17.12.2008)<br />
301
302<br />
1946 - R<strong>ob</strong>ert Capa und Alfred Hitchcock dominieren <strong>Ingrid</strong>s<br />
Gefühls- und Berufswelt
1945 - Schwester Benedict in „The Bells of St-Mary's“<br />
303
1945 - Schwester Benedict in „The Bells of St-Mary's“<br />
304
". . . Endlich spielte ich Jeanne. Ich verlor mich in dieser Rolle<br />
vollständig und vergass meine innere Einsamkeit, denn während<br />
mein Berufsleben erfüllt und aufregend verlief, war mein<br />
Leben zuhause zurückgezogen und leer . . . ."<br />
(<strong>Ingrid</strong> über ihr Leben in New York)<br />
". . . Ich möchte mich lieber an einen einzigen derart kunstvollen<br />
Film wie diesen erinnern, <strong>als</strong> an alle meine kassenfüllenden<br />
Hits. Warum kann R<strong>ob</strong>erto Rossellini nicht nach Hollywood<br />
kommen und einen solchen Film mit jemandem wie mir<br />
machen?. . . . . . ."<br />
1946 - 1947<br />
(<strong>Ingrid</strong> in New York über "Open City")<br />
AM 16. JANUAR 1946 ERHIELT INGRID ein seltsames<br />
Telegramm von Gerald L.K. Smith, einem Rechtsaussen-<br />
Hitzkopf und vergifteten Antisemiten, dem Wortführer der Meinung,<br />
wonach Hollywood die kommunistische Unterwanderung<br />
Amerikas fördere. Als ehemaliger Nazi-Sympathisant gehörte<br />
Smith auch zu jenen, welche während den folgenden Jahren<br />
die wahnsinnige Behaup<strong>tu</strong>ng verbreiteten, dass alle Kunstschaffenden<br />
(die er verdächtigte, linksextreme Aufwiegler zu<br />
sein) zu überwachen seien, bis ihre Unschuld bezüglich Verhetzung,<br />
Verrats oder wenigstens gefährlichem Antiamerikanismus<br />
erwiesen sei.<br />
"Bekanntlich," lautete Smiths Telegramm,<br />
haben Sie am 16. Dezember an einem Anlass der American<br />
Youth for Democracy im Ambassador-Hotel in Los<br />
Angeles teilgenommen, an dem auch Frank Sinatra und<br />
andere anwesend waren. Etwa zur gleichen Zeit sprach<br />
Edgar J. Hoover vor der Catholic Youth Organization of<br />
New York City und stellte fest, dass American Youth for<br />
305
306<br />
Democracy <strong>als</strong> Nachfolge-Organisation der Young<br />
Communist League eine Kampagne zur Unterminierung<br />
der amerikanischen Regierung organisiere. Nahmen Sie<br />
an diesem Bankett im vollen Bewusstsein dieser Zusammenhänge<br />
teil oder waren Sie unschuldiges Opfer<br />
eines schlüpfrigen Organisations-Kommittees?"<br />
<strong>Ingrid</strong> zerriss das Telegramm ohne eine Antwort zu geben.<br />
Aber zwei Wochen später stand Smith vor dem Un-American<br />
Activities Committee und verlangte eine Untersuchung von<br />
Leben und Aktivitäten von Walter Winchell, Eddie Cantor,<br />
Frank Sinatra, Orson Welles, <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> und Dutzenden<br />
andern. Seine Forderungen fanden jedoch keine Beach<strong>tu</strong>ng<br />
und verblassten bald in der Vergessenheit. Aber einige Leute in<br />
Hollywood begannen sich dennoch Gedanken über die Integrität<br />
berühmter Ausländer in Amerika zu machen, wie <strong>Ingrid</strong> –<br />
Berühmtheiten, die viel Geld verdienten und sich keinen Deut<br />
um das amerikanische Bürgerrecht kümmerten. <strong>Ingrid</strong>, die<br />
immer auf ihre schwedische Herkunft stolz war, hatte nie die<br />
Absicht, Amerikanerin zu werden; von Anbeginn ihrer Hollywood-Karriere<br />
an war sie überzeugt davon, dass sie irgendwann<br />
wieder nach Europa zurückkehren würde.<br />
NACHDEM DIE SELZNICK-JAHRE nun hinter ihr lagen,<br />
war sie frei, andere Angebote anzunehmen. Als "Notorious"<br />
Ende Februar 1946 vollendet war traf sie den Produzenten David<br />
Lewis bei Enterprise Pic<strong>tu</strong>res, einer neuen und unabhängigen<br />
Filmgesellschaft, die sich die Rechte an Erich Maria Remarques<br />
populärer Novelle "Arc de Triomphe" gesichert hatte.<br />
Regisseur Lewis Milestone, Oscarträger für die Filmversion von<br />
Remarques "Nichts Neues im Westen", hatte zugesagt, "Arc"<br />
zu schreiben und Regie zu führen; <strong>als</strong> Schauspieler waren u.a.<br />
bereits Charles Boyer und Charles Laughton verpflichtet. Niemand<br />
zweifelte daran, dass der Erfolg des Films mit ihrer Beteiligung<br />
so gut wie sicher war, weshalb <strong>Ingrid</strong> den Vertrag<br />
unterzeichnete. Petter handelte für sie die erstaunliche Gage<br />
von $ 175'000 plus 25 % der Nettoeinnahmen des Films aus.
Milestone, Harry Brown und Capas Freund Irwin Shaw (<strong>als</strong> Aktionär<br />
der Enterprise Pic<strong>tu</strong>res) machten sich an die Arbeit mit<br />
dem Script, da die Produktion spätestens im Juni beginnen<br />
sollte, weil <strong>Ingrid</strong> im Okt<strong>ob</strong>er zu den Pr<strong>ob</strong>en für "Joan of Lorraine"<br />
in New York erwartet wurde.<br />
Inzwischen fand – solange die Mannschaft noch beisammen<br />
war - die traditionelle Schlussfeier für "Notorious"<br />
statt, an der Cary Grant <strong>Ingrid</strong> mit seinen Abschiedsworten tief<br />
bewegte. Er hatte es so sehr genossen, mit ihr zusammenzuarbeiten,<br />
was er ihr auch privat schon sagte, und er schätzte<br />
ihre Freundschaft über alles. Er hatte auch das Gefühl, dass<br />
die Erfahrung dieser Zusammenarbeit mit ihr und Hitchcock<br />
seiner Karriere neue Türen öffnen würde, weshalb er eine angemessene<br />
Erinnerung klaute, ein Requisit aus der Produktion<br />
– den Weinkellerschlüssel, der im Film aus ihrer Hand in die<br />
seine und dann wieder zurück in die ihre wechselte. Dieser<br />
Schlüssel, sagte er <strong>Ingrid</strong>, werde für ihn allezeit ein wertvolles<br />
Souvenir bleiben; Jahre danach sollte dieser Schlüssel in den<br />
Leben von Cary, <strong>Ingrid</strong> und Hitch noch zweimal zu einem wichtigen<br />
Talisman werden.<br />
INGRID HOLTE SICH JOE STEELE, der sich um ihre Publizität<br />
für "Arch of Triumph" kümmern und auch die Funktion<br />
ihres Pressesprechers übernehmen sollte. Anfangs April – nach<br />
Rückkehr von <strong>Ingrid</strong>, Petter und Pia von einem Familienskiurlaub<br />
in Nevada – flogen sie und Joe nach New York, wo sie ihre<br />
Zimmer im Hotel Saint Moritz bezogen. Hauptgrund für die<br />
Reise war das Zusammentreffen mit Maxwell Anderson und<br />
den Produzenten von "Joan". "Hollywood wurde mir zu eng",<br />
sagte sie später.<br />
Es war wirklich ein fürchterlicher Tratsch und Klatsch-<br />
Ort. Alles, worüber die Leute sprachen, waren die Kinokassen<br />
und das Geld; es wurde zermürbend. Natürlich<br />
hatte ich sehr gute Rollen bekommen. Ich hatte die<br />
besten Hauptdarsteller <strong>als</strong> Partner. Ich erhielt die besten<br />
Regisseure. Ich konnte mich wirklich nicht bekla-<br />
307
308<br />
gen. Aber wie ein Film im Kasten war, rauschte ich ab<br />
nach New York, weil ich mich dort unter wirklichen<br />
Menschen fühlte (womit sie Theaterleute meinte). Es<br />
war ein anderes Leben. In Hollywood waren es nur Filme,<br />
Filme, Filme. Ich meine, ich mag ja die Filme, aber<br />
du solltest auch mal Zeit haben, über etwas anderes zu<br />
reden – und auch andere Menschen zu treffen. So kam<br />
ich eben nach New York und arbeitete am Theater.<br />
Aber da gab es noch einen andern Grund für die Reise<br />
ostwärts in diesem kalten Winter: B<strong>ob</strong> Capa, Hollywood überdrüssig,<br />
war nach Manhattan zurückgekehrt.<br />
Joe amtete <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong>s Beschützer, aber wo es um Capa<br />
ging, konnte er nicht intervenieren, und so war er oft extrem<br />
in Sorge darüber, dass die Presse von <strong>Ingrid</strong>s ständigen Abwesenheiten<br />
vom Hotel Wind bekommen würde, da sie diesen<br />
Winter und Frühling mehrere Nächte pro Woche mit ihrem<br />
Liebhaber verbrachte. <strong>Ingrid</strong> und B<strong>ob</strong> sassen in den dunkeln<br />
Winkeln der Greenwich Village Bars, schlürften Drinks und hörten<br />
Jazz; sie kuschelten auf den Balkonen der West Side Kinos<br />
herum und schlenderten um vier Uhr morgens die Fifth Avenue<br />
hinauf.<br />
Irgendwie gelang es ihnen, dem Boulevard zu entkommen,<br />
und <strong>Ingrid</strong> betrachtete das <strong>als</strong> offenkundiges Zeichen der<br />
Zustimmung des Himmels. Sie erlebte die romantischste Episode<br />
ihres Lebens, die aber grösstenteils das Produkt ihrer<br />
Fantasie war, <strong>als</strong> durchlebte sie eine unwiderstehliche Rolle im<br />
bisher besten Film ihres Lebens. Obwohl Capa sie mochte, zog<br />
er seine Freiheit vor und beharrte darauf, keinerlei Ehetauglichkeit<br />
zu besitzen: er sehnte sich danach, <strong>als</strong> freischaffender<br />
Fotograph auf der Suche nach Geschichten die Welt zu durchstreifen.<br />
Eines nachts, nachdem der Whisky reichlich geflossen<br />
war, riet er <strong>Ingrid</strong>, sich lieber um ihr eigenes Leben zu kümmern.<br />
Sie tat das dann auch, doch bis weit gegen Ende 1946<br />
kappte keiner von beiden die Affäre.<br />
Nach Monaten vertraute <strong>Ingrid</strong> dieses unglückselige Gespräch<br />
ihrem Freund Hitch an. Sieben Jahre danach, <strong>als</strong> sie
von Hitch und Hollywood längst getrennt war, machte dieser<br />
die Capa-<strong>Bergman</strong>-Affäre zur Grundlage einer Beziehung zwischen<br />
Charakteren, die von James Stewart <strong>als</strong> einem weltweit<br />
agierenden Pressefotographen, und Grace Kelly <strong>als</strong> einer hübschen<br />
Dame der Gesellschaft in "Rear Window" gespielt wurden.<br />
(Cornell Woolrichs Kurzgeschichte, an welcher Hitchcock<br />
die Rechte gekauft hatte, kannte keine derartige Liebesbeziehung.)<br />
AN IHREN BESPRECHUNGEN mit Maxwell Anderson beschrieb<br />
der Schriftsteller die faszinierende Struk<strong>tu</strong>r seines<br />
"Spiels-im-Spiel". Joans Geschichte sollte so inszeniert werden,<br />
<strong>als</strong> würde sie von einer Theatergruppe gepr<strong>ob</strong>t, w<strong>ob</strong>ei die Rolle<br />
der Jungfrau von einer Schauspielerin namens "Mary Grey"<br />
gespielt wurde, die interaktiv zwischen historischen Figuren<br />
und ihren Theaterkollegen agierte. Dieses interessante Konzept<br />
bot Anderson die Möglichkeit, die moralische Substanz explizit<br />
herauszuarbeiten und die Frage der Kompromisse zu analysieren<br />
– in der im 15. Jahrhundert von Jeanne geführten Schlacht<br />
und im aesthetischen Kampf der Schauspieler im 20. Jahrhundert.<br />
Der tiefere Sinn von "Joan of Lorraine" wird abschliessend<br />
geklärt, indem Mary Grey durch ihr Spiel <strong>als</strong> Joan erkennt,<br />
dass Kompromisse in nebensächlichen weltlichen Dingen (und<br />
unter Mitwirkung von nicht sehr liebenswerten Menschen) gemacht<br />
werden müssen, wenn am Ende Glaube und Helden<strong>tu</strong>m<br />
im Reich des Geistes triumphieren sollen.<br />
<strong>Ingrid</strong> verbrachte dieses Frühjahr auch einige Zeit mit<br />
Kay Brown, deren Agen<strong>tu</strong>r inzwischen zu einer der bekanntesten<br />
und respektiertesten in New York und Hollywood geworden<br />
war. Ihr Kundenregister war beeindruckend mit Positionen wie<br />
Montgomery Clift, Lillian Hellman, Frederic March, Arthur<br />
Miller, Samuel Taylor, nebst den amerikanischen Verpflich<strong>tu</strong>ngen<br />
von (u.a.) Alec Guinness, John Gielgud, Rex Harrison, Laurence<br />
Olivier und Ralph Richardson. Ohne eine Rückfrage bei<br />
Petter zu machen schloss sie sich Kays Kundenregister an, <strong>ob</strong>schon<br />
die Bedeu<strong>tu</strong>ng dieser geschäftlichen Beziehung erst viele<br />
309
Jahre später zum Tragen kam. Aber die Freundschaft war auf<br />
immer erneuert, und <strong>Ingrid</strong> war ein häufiger Gast in Kays Familie.<br />
Eines schönen Tages bot sie sich zur Mithilfe beim traditionellen<br />
Frühjahrs-Reinemachen an, was Kays Ehemann zu<br />
erstaunten Frage veranlasste: "Was geht denn hier vor? Die<br />
hübscheste Frau auf Erden reinigt unsere Treppe?"<br />
Aber während dieser ganzen Saison blieb Capa <strong>Ingrid</strong>s<br />
ständiger Begleiter und Mentor. Sie las die Bücher, die er ihr<br />
empfohlen hatte, sah sich die Stücke an, die er ihr empfohlen<br />
hatte, besuchte mit ihm die Konzerte, die er ausgewählt hatte<br />
und begann erstm<strong>als</strong> in ihrem Leben, am allgemeinen Weltgeschehen<br />
Interesse zu zeigen. Gewissermassen spielte Capa<br />
ihren Ferien-Ehemann, was sie sehr vage mit einem gewissen<br />
Missbehagen realisierte. Zu dieser Zeit war sie, wie Capa Joe<br />
Steele gegenüber bemerkte, "in tausend Knoten verstrickt. Für<br />
eine erwachsene Frau ist sie so naiv, dass es schmerzt. Sie<br />
kann nicht loslassen. Sie hat nicht die leiseste Ahnung davon,<br />
was in der Welt vor sich geht." Und das Schlimmste von allem<br />
sei, schloss Capa, dass sie nichts von Filmen verstehe, ausser<br />
all dem Zeug, was in den letzten sieben Jahren von Hollywood<br />
kam. Er habe sein ganzes Leben lang europäische Filme gesehen<br />
und werde das auch weiterhin <strong>tu</strong>n, sogar in den sogenannten<br />
"art houses" in Manhattan. Wenn Steele <strong>Ingrid</strong> einen Gefallen<br />
erweisen wolle, solle er mit ihr den Film "Roma – città<br />
aperta" (Open City) ansehen, einen starken italienischen Film,<br />
den Capa <strong>als</strong> Meisterwerk bezeichnete.<br />
Am nächsten Nachmittag besorgten sich Joe und <strong>Ingrid</strong><br />
Tickets zu diesem Film im World Theater an der West Fortyninth<br />
Street. Beim Verlassen des Kinos war <strong>Ingrid</strong> zu bewegt<br />
zum Sprechen. Die Handlung des Films war einfach und ihre<br />
Umsetzung liess jeden Glanz und jede Künstlichkeit vermissen,<br />
aber seine Wirkung war enorm. Ein führender Untergrundkämpfer<br />
namens Manfredi (gespielt von Marcello Pagliero) versteckt<br />
sich im Haus von Pina (Anna Magnani). Als sie von den<br />
Deutschen umgebracht wird, findet Manfredi bei seiner Mätresse<br />
(Maria Michi) Unterschlupf. Aber sie verrät ihn, sodass er<br />
zusammen mit einem Priester – ebenfalls ein Untergrundheld –<br />
310
verhaftet wird. Beide Männer sterben ohne etwas verraten zu<br />
haben, was andern hätte Schaden zufügen können.<br />
Im Geheimen geplant und hergestellt unter dem Vorwand,<br />
einen dokumentarischen S<strong>tu</strong>mmfilm zu machen (die<br />
Tonspur wurde später hinzugefügt), wurde "Open City" zu<br />
einem Tribut an den Mut des italienischen Widerstands gegen<br />
den Faschismus während des Krieges. Nach Mussolinis Tod<br />
verfilmt, stellte dieser Film ein realistisches Portrait des Elends<br />
dar, das <strong>als</strong> Folge der deutschen Besetzung in Rom herrschte.<br />
"Open City" markierte auch den Beginn der Renaissance des<br />
italienischen Films.<br />
An diesem Abend bat sie Capa, ihr etwas über den Regisseur<br />
des Films, R<strong>ob</strong>erto Rossellini zu erzählen. Er sei das<br />
Genie des modernen italienischen Films, meinte Capa. Nein, er<br />
filme nicht ausserhalb Italiens – warum sie das frage? "Weil",<br />
antwortete <strong>Ingrid</strong>, "dieser Film wie echtes Leben wirkt. Ich<br />
möchte mich lieber an einen einzigen derart kunstvollen Film<br />
wie diesen erinnern, <strong>als</strong> an alle meine kassenfüllenden Hits.<br />
Warum kann R<strong>ob</strong>erto Rossellini nicht nach Hollywood kommen<br />
und einen solchen Film mit jemandem wie mir machen?" Nun,<br />
versuchte Capa zu erklären, das sei eine komplizierte Sache:<br />
was sie denn auf die Idee bringe, das amerikanische Publikum<br />
sei an ergreifendem Neorealismus interessiert?<br />
Dieser Rossellini, fuhr <strong>Ingrid</strong> fort, müsse ein ausserordentlich<br />
wundervolles menschliches Wesen sein. Nun, könne ja<br />
sein, antwortete Capa, aber ein Mann und seine Arbeit seien<br />
zwei verschiedene Dinge. In diesem Falle könne das nicht sein,<br />
sagte <strong>Ingrid</strong>: der Film sei viel zu grossartig dafür. Und von da<br />
an verwechselte und vermischte <strong>Ingrid</strong> Mann und Werk: "Ich<br />
verliebte mich in R<strong>ob</strong>erto Rossellini bevor ich ihn persönlich<br />
kannte. Ich verliebte mich durch seinen Film." Und so geschah<br />
ihr das, was Millionen von Menschen geschah, die <strong>Ingrid</strong> nicht<br />
kannten und sich doch in sie verliebten.<br />
311
Vier Tage lang verfolgte "Open City" <strong>Ingrid</strong>, und wer es<br />
hören wollte, erfuhr von ihr von den einfachen Bildern und<br />
dem packenden Drama, das (mit einigen wenigen Ausnahmen)<br />
von Darstellern gespielt wurde, die Rossellini auf den Strassen<br />
Roms gefunden habe. Wie sie später erfuhr, hatte dieser Umstand<br />
mehr ökonomische <strong>als</strong> künstlerische Hintergründe, aber<br />
seine Vorliebe für Amateure passte perfekt zu Rossellinis Auffassung,<br />
dass eine "Schau" um jeden Preis zu vermeiden sei,<br />
denn der Film sein ein Medium zur Darstellung von Tatsachen<br />
und nicht von Fiktionen. Geschichten zogen ihn nicht halb so<br />
stark an, wie eindrückliche Bilder aus dem Leben der Menschen,<br />
das Drama beschäftigte ihn nur soweit, <strong>als</strong> es einen<br />
Winkel der Seele ausleuchtete; und Schauspieler interessierten<br />
ihn überhaupt nicht. Aber für seine besten Filme (und "Open<br />
City" gilt wahrscheinlich <strong>als</strong> der beste von allen) benötigte er<br />
einen guten Autor: im vorliegenden Fall hatte er Sergio Amidei<br />
und den jungen Federico Fellini, der vor seiner eigenen bemerkenswerten<br />
Karriere <strong>als</strong> Regisseur <strong>als</strong> Screenwriter arbeitete.<br />
Obschon sie genau genommen keine Dokumentarfilme<br />
waren, lagen Rossellinis Filme visuell sehr nahe beim Dokumentar-Genre.<br />
Roms Fussgänger, seine Avenuen und engen<br />
Gassen, seine Monumente und das Rattern der modernen Laster<br />
durch die alte Stadt – sie alle waren die Schauspieler in<br />
diesem Stück. Rossellinis Ziel war es sicher nie, leichte Unterhal<strong>tu</strong>ng<br />
für die Massen zu produzieren, und die Handlung in<br />
"Open City" diente ihm vorwiegend <strong>als</strong> Vorwand, die Gesichter<br />
der leidenden Menschen einzufangen. Gerade diese, auf der<br />
Leinwand so eindrücklich vorgeführt, konnte <strong>Ingrid</strong> nicht mehr<br />
vergessen. Wie oft schon hatte sie ihre eigene Schauspielkul<strong>tu</strong>r<br />
<strong>als</strong> "einfach und ehrlich" bezeichnet, und genau das bekam sie<br />
nun in "Open City" zu sehen.<br />
Ende Mai kehrte sie nach Los Angeles zurück, um mit<br />
den Arbeiten zu "Arch of Triumph" zu beginnen. Diesmal erfolgte<br />
ihre Rückreise mit Howard Hughes, der sie in seinem<br />
Privatflugzeug nachhause flog und über dem Grand Canon<br />
noch ein paar tiefe Schlaufen flog, um sie zu beeindrucken.<br />
Aber <strong>Ingrid</strong> döste vor sich hin (ihre Methode, Hughes' ständige<br />
312
Einladungen zu einem romantischen Abend zu ignorieren) und<br />
überliess die prächtigen Ansichten der Begeisterung der übrigen<br />
Passagiere – Joe Steele, Alfred Hitchcock und Cary Grant.<br />
"Als wir mit den Dreharbeiten begannen, brachte sie<br />
zwanzig Pfund zuviel auf die Waage", erinnerte sich der Produzent<br />
David Lewis. "Ich musste ihren Ehemann bitten, den<br />
Kühlschrank zuhause abzuschliessen", da <strong>Ingrid</strong> offen zugab,<br />
dass sie bei der Arbeit zum Lunch zwar Hüttenkäse ass, dann<br />
aber zuhause den Speiseschrank in Angriff nahm.<br />
Ihre Unsicherheit und ihr Kummer, die einmal mehr der<br />
Grund für ihre zwangshafte Esssucht waren, verschärften sich<br />
ironischerweise noch <strong>als</strong> ihr Capa nach Hollywood folgte;<br />
knapp bei Kasse wie immer bat er sie, ihm den J<strong>ob</strong> des Still-<br />
Fotographen im "Arch"-Set zu verschaffen, was sie kurzerhand<br />
tat. Fast jeden Abend nach den Aufnahmen gesellte sich Capa<br />
für ein paar Cocktails zu <strong>Ingrid</strong>, Charles Boyer, Lews Milestone<br />
und einigen Leuten der Crew – w<strong>ob</strong>ei er regelmässig zuviel<br />
trank.<br />
Diesen Sommer, während der Film gedieh, begann <strong>Ingrid</strong><br />
der übeln Launen – um nicht zu sagen: Katerstimmungen<br />
- ihres Liebhabers überdrüssig zu werden. Wie oft und wo sie<br />
sich privat getroffen haben, ist nicht bekannt; sicher ist, dass<br />
ihr Arbeitspensum (in den S<strong>tu</strong>dios, die Enterprise in Culver City<br />
gemietet hatte) so befrachtet war, dass regelmässige Abstecher<br />
zu Irwin Shaws Strandhaus in Malibu nicht möglich waren;<br />
ausserdem vermied <strong>Ingrid</strong>, <strong>als</strong> häufiger Gast in Capas<br />
Hotel gesehen zu werden.*) Hotelpagen und Empfangsangestellte<br />
wurden regelmässig bestochen, damit sie den Klatschkolumnisten<br />
Material lieferten, weshalb sie in dieser Beziehung<br />
keine Konsequenzen riskieren wollte.<br />
*) Kommt hinzu, dass Shaw mit dem, was aus "Arch of Triumph" wurde,<br />
überhaupt nicht einverstanden war und sich daher sowohl aus<br />
dem Filmprojekt wie auch aus der Partnerschaft an Enterprise Productions<br />
zurückzog.<br />
313
314<br />
1948 - <strong>als</strong> Joan Madou in "Arch of Triumph"
Petter wusste, dass seine Ehe irreparabel beschädigt<br />
war. "Er tat die verfluchtesten Dinge", nach David Lewis.<br />
"Wenn <strong>Ingrid</strong> um acht nachhause kam, setzte er das Abendessen<br />
mit Pia um halb acht an. Kam <strong>Ingrid</strong> um sechs Uhr nachhause,<br />
gabs Abendessen mit Pia um halb sechs. Ich weiss nicht<br />
– vielleicht versuchte er das Kind emotional an sich zu binden,<br />
einfach für den Fall, dass etwas passieren sollte. Aber im<br />
Grunde gibt es in dieser Geschichte keinen Schurken. Ihre Leben<br />
haben sich derart extrem auseindander entwickelt, dass<br />
sich kein Weg fand, sie wieder zusammenzubringen."<br />
Wie so oft schon, war die Arbeit wieder ihr Refugium,<br />
und in "Arch of Triumph" liess sie diesen Sommer ihre emotionale<br />
Aufruhr einfliessen. Sie gab einem dunkeln, klaustroph<strong>ob</strong>ischen<br />
Film damit eine Intensität, die stellenweise erschreckend<br />
wirkte.<br />
Die Handlung folgt sehr dicht Erich Maria Remarques<br />
Roman, der am Rande des zweiten Weltkriegs angesiedelt ist.<br />
Die Erzählung, nur unwesentlich cachierte Reminiszenz an Remarques<br />
qualvolle Romanze mit Marlene Dietrich, erzählt von<br />
einem geflohenen österreichischen Chirurgen namens Ravic<br />
(Charles Boyer) und dessen kummervoller Beziehung zu einer<br />
rumänisch-italienischen Kabaretsängerin namens Joan Madou<br />
(<strong>Ingrid</strong>). Der süsse Wein ihrer Liebe wird sauer, <strong>als</strong> er sich<br />
weigert, sie zu heiraten (R<strong>ob</strong>ert Capa und <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> lassen<br />
grüssen); Ravic ist immerhin ein Mann ohne Papiere, der<br />
eine illegale medizinische Praxis betreibt und schon mehrfach<br />
deportiert wurde. Während einer seiner Abwesenheiten beginnt<br />
sie eine Beziehung zu einem undurchsichtigen neuen Liebhaber,<br />
der sie in einem Wutanfall niederschiesst. Ravic, der sich<br />
inzwischen längst gegen seine eigene wilde Leidenschaft für sie<br />
auflehnt, wird an ihr Krankenbett gerufen. Aber seine ärztliche<br />
Kunst kann sie nicht retten, und er muss zusehen, wie sie<br />
stirbt, während sie sich gegenseitig ihre Liebe gel<strong>ob</strong>en. Er wird<br />
einmal mehr deportiert und kann sein Schicksal diesmal aber<br />
akzeptieren.<br />
315
Wie der Roman hat auch der Film eine dichte, gleissende<br />
Stimmung (alle Szenen der ersten Hälfte wurden bei Nacht<br />
und stürmischem Regen gefilmt), aber auch eine gewisse melancholische<br />
Wirkung, seinem trägen Fortgang zum Trotz. In<br />
finsterer Leidenschaft spielte Boyer Ravic mit perfekter Ironie;<br />
er ist wechselweise besitzergreifend, liebevoll, bitter, selbstgefällig<br />
und reuig. <strong>Ingrid</strong> ihrerseits ist seine personifizierte Verhinderung<br />
– wirr und verletzlich, fast krankhaft in ihrem Bedürfnis,<br />
geliebt zu werden und auch erfinderisch und manipulierbar<br />
in ihrem Bemühen, Boyer an sich zu binden. Ihre Sterbeszene<br />
ist einmalig eindrücklich: ohne jedes romantische<br />
Filmklischee beschränkt sie sich darstellerisch auf unregelmässige<br />
Atmung und das Erlöschen ihres Blicks, <strong>als</strong> <strong>ob</strong> sie die<br />
Grenzen eines fernen Landes erblickte. "Ich liebe dich – ich<br />
liebe dich – ich liebe dich", flüstert sie zu Boyer und bittet ihn<br />
um einen letzten Kuss; der Moment ihres Todes ist kaum<br />
wahrnehmbar.<br />
Als der Film schliesslich nach fast zweijährigem<br />
editorialem Hickhack in die Kinos kam, erwies sich "Arch of<br />
Triumph" <strong>als</strong> ein gewaltiges Fiasko. Wie üblich wurde <strong>Ingrid</strong><br />
für die einfühlsame Porträtierung einer verzweifelten Frau gel<strong>ob</strong>t,<br />
aber der Film wurde durch die Kritiken geprügelt, das<br />
Publikum langweilte sich und sehr bald war Enterprise Pic<strong>tu</strong>res<br />
(die ihre gesamte 4 Mio $-Investition verloren hatte) nicht<br />
mehr mehr <strong>als</strong> eine Fussnote in der Geschichte Hollywoods.<br />
"Unter Lindströms Management machte <strong>Ingrid</strong> einige schlechte<br />
Filme", sagte Milestone, "und einer davon geht auf mein Konto."<br />
Boyer formulierte es sehr prägnant, <strong>als</strong> er einem Freund<br />
erklärte, dass der Film anfänglich für vier S<strong>tu</strong>nden schrecklich<br />
gewesen sei, dann aber dank sorgfältiger Edition für nur zwei<br />
S<strong>tu</strong>nden grauenvoll geworden sei.<br />
Nun schien es offenkundig, dass das Nachkriegspublikum<br />
keinen Rückblick in die Kriegszeit wünschte; es war auch<br />
vom doppelt tragischen Ausgang der Geschichte enttäuscht<br />
(ihr Tod, seine Deportation); und es konnte keine neurotische<br />
Liebesbeziehung <strong>als</strong> Symbol für eine Welt am Rande einer Feuersbrunst<br />
akzeptieren. Milestones unverbrüchliche Treue zu<br />
316
Remarques verdammten Liebenden – nebst der übermässigen<br />
Länge des Films – war letzten Endes genau das, was dem Film<br />
den Erfolg versagte. Nichts, wie <strong>Ingrid</strong> später immer wieder<br />
betonte, hätte einen grösseren Kontrast zu "Open City" bieten<br />
können.<br />
FÜR DIE DREHARBEITEN waren zehn Wochen eingeplant,<br />
doch war "Arch of Triumph" nach sechzehn Wochen immer<br />
noch vor den Kameras, <strong>als</strong> so etwas wie eine genervte<br />
Hetze einsetzte, alle Szenen mit <strong>Ingrid</strong> noch zu filmen, bevor<br />
sie Ende September nach New York wechselte, um dort mit<br />
den Pr<strong>ob</strong>en zu einer andern Joan zu beginnen. Zur selben Zeit<br />
machte sich Petter auf, seine Verwandten in Schweden zu besuchen.<br />
Enterprise lud noch zu einer Abschiedsparty für <strong>Ingrid</strong>,<br />
bei welcher Lewis Milestone die zwischen den Lindströms herrschende<br />
Spannung auffiel.<br />
Milestone bewunderte Petters Hingabe an seine medizinischen<br />
S<strong>tu</strong>dien. "Aber Lindström hatte einige veraltete europäische<br />
Ideen. Wie er es sah, hatte er seinen Namen einem<br />
armen Waisenmädchen geschenkt (das diesen, wie Milestone<br />
hätte hinzufügen können, nie benutzte), und das ihm nun für<br />
den Rest seines Lebens zu Dank verpflichtet war. Er machte<br />
dauernd Anspielungen – er war der solide Bürger, der ein armes<br />
verlassenes Kind rettete. Er liess sie dies nie vergessen.<br />
Aber wie lange kannst du von der Dankbarkeit leben?" Nicht<br />
viel länger, wie es schien: einige Tage vor ihren Abreisen verlangte<br />
<strong>Ingrid</strong> nochm<strong>als</strong> die Scheidung von Petter, und wieder<br />
wischte er die Sache vom Tisch. Vielleicht weil die Capa-Affäre<br />
so mühsam und aussichtslos war – und weil, woran Petter sie<br />
immer erinnerte, sie die Kapazität nicht hatte, ihre geschäftlichen<br />
Angelegenheiten selbst zu verwalten – gab sie nach.<br />
AM 1. OKTOBER BEZOG INGRID SUITE 2606 im<br />
Hampshire House, Central Park South, und vier Tage später<br />
spazierte sie glücklich zur ersten Pr<strong>ob</strong>e für "Joan of Lorraine"<br />
317
im Alvin Theater an der West Fifty-second Street. "Endlich<br />
spielte ich Jeanne. Ich verlor mich in dieser Rolle vollständig<br />
und vergass meine innere Einsamkeit, denn während mein<br />
Berufsleben erfüllt und aufregend verlief, war mein Leben zuhause<br />
zurückgezogen und leer."<br />
Vom siebten Lebensjahr an war die Jungfrau von Orléans<br />
ihre historische Lieblingsfigur, und zur Vorberei<strong>tu</strong>ng auf<br />
die Rolle, nach der sie sich so lange gesehnt hatte, las <strong>Ingrid</strong><br />
alles, was sie zum Thema finden konnte. Dabei vertiefte sich<br />
ihre Identifikation mit dem Mädchen, das mit 19 Jahren sterben<br />
musste, zusehends. "Sie war eine einfache Bäuerin", erzählte<br />
<strong>Ingrid</strong> einem Autor Jahre später, "und sie begriff nicht<br />
sehr viel von dem, was mit ihr geschah. Aber sie blieb ihren<br />
Stimmen treu, treu dem geheimnisvollen Rufen in ihr. Wie sie<br />
mit all diesen gelehrten Männern umging! Und ihr Mut bis in<br />
den Tod! Sie hatte viel gesunden Menschenverstand!" Das waren<br />
natürlich genau die Qualitäten, die <strong>Ingrid</strong> in sich selbst<br />
stärken wollte: Einfachheit in der Kunst und im Leben, Treue<br />
zu ihrer Berufung, der Wille, tapfer zu sein.<br />
Allerdings hatte <strong>Ingrid</strong> weder Aspirationen auf Heiligkeit,<br />
noch wäre sie an einer ordentlichen Definition derselben<br />
interessiert gewesen. Stattdessen kniete sie auf Max Anderson<br />
herum (genau wie der Charakter von Mary Grey, die sie in den<br />
Zwischenakten spielen würde), er möchte sich an den wahren<br />
Lebenslauf von Jeanne halten und sie nicht zur Botschafterin<br />
seiner persönlichen politischen Auffassungen machen. Anderson<br />
hörte ihr zu, änderte nach ihren besonderen Wünschen<br />
und blieb hart, wo es ihm nötig erschien.<br />
Eine Woche nach <strong>Ingrid</strong>s Ankunft tauchte B<strong>ob</strong> Capa in<br />
New York auf, und bis Petter Ende Okt<strong>ob</strong>er von seinem Urlaub<br />
aus Schweden zurück war versuchten Capa und <strong>Ingrid</strong>, eine<br />
sterbende Glut zu schüren. Diesmal entschied <strong>Ingrid</strong>, die beste<br />
Art, sich vor unerwünschter Publizität zu schützen, sei es, sich<br />
ganz offiziell mit B<strong>ob</strong> in der Öffentlichkeit zu zeigen. Ihr Instinkt<br />
traf den Nagel auf den Kopf: nachdem sie sich an einem<br />
gut sichtbaren, zentral gelegenen Tisch im trendigen Nachtcafé<br />
318
Society am Sheridan Square zeigten, gingen die Reporter davon<br />
aus, dass die Schauspielerin und der Fotograph befreundet<br />
seien, und nichts weiter; so umschiffte das Paar die Klatschspalten.<br />
Übrigens war die überwiegende Mehrheit der Amerikaner<br />
sowieso der Meinung, <strong>Ingrid</strong> sei über jeden Verdacht<br />
erhaben – war sie doch eben dabei, sich eher wie eine Heilige<br />
am Broadway zu reinkarnieren.<br />
"Joan of Lorraine" war für eine sehr einfache Bühneninszenierung<br />
geschrieben, mit einem Minimum an Requisiten und<br />
keinen ausgeklügelten Arrangements, so dass das Spiel leicht<br />
von der Pr<strong>ob</strong>ebühne zur Aufführungsplattform wechseln konnte.<br />
Aber so wirtschaftlich das Konzept auch war, waren die<br />
Leis<strong>tu</strong>ngen von Margo Jones – einer Dame mit einer einzigen<br />
Regieerfahrung auf ihrem Konto – für den Autor und seine<br />
Produzenten inakzeptabel, sodass sie noch vor der Premiere<br />
durch Cast-Mitglied Sam Wanamaker und Max' Sohn Alan Anderson<br />
ersetzt wurde. Obschon sich die Si<strong>tu</strong>ation schnell verbesserte,<br />
war <strong>Ingrid</strong> entsetzt darüber, wie Jones Knall auf Fall<br />
entlassen wurde.<br />
Ein viel ernsteres Pr<strong>ob</strong>lem verschaffte ihr weniger Ärger,<br />
<strong>als</strong> die Gesellschaft Ende Okt<strong>ob</strong>er in Washington D.C. zu<br />
einer Vor-Broadway-Aufführung im Lisner-Auditorium der<br />
George Washington-Universität eintraf. Während den Tagen<br />
vor der Premiere demonstrierten vor dem Theater Vertreter<br />
der Southern Conference of Human Welfare und des American<br />
Veterans Committee gegen die gängige Politik in Washington,<br />
wonach Eintrittskarten nur an Weisse abgegeben wurden. Petter,<br />
der seine Frau von New York hierher begleitete, erkundigte<br />
sich bei Joe Steele über die geltende Praxis und erfuhr dabei,<br />
dass die farbige Bevölkerung tatsächlich von diesem Theater<br />
ausgeschlossen sei. "So läuft das seit Jahren", sagte Max Anderson<br />
am Nachmittag, "und es gibt nichts, was wir dagegen<br />
<strong>tu</strong>n könnten." <strong>Ingrid</strong> stellte sich auf den Standpunkt: "Ich bin<br />
hier um Jeanne zu spielen und habe mit Theaterregeln nichts<br />
zu schaffen."<br />
319
Um jeder möglichen kontraproduktiven Publizität für <strong>Ingrid</strong><br />
und das Stück zuvorzukommen, veranlasste Steele sie,<br />
sich öffentlich gegen die herrschende Diskriminierungspraxis<br />
auszusprechen. Steeles Plan funktionierte und der redaktionelle<br />
Bericht summte durch die Drähte:<br />
320<br />
<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> erklärte heute Abend, dass sie nicht<br />
zur Dienstags-Premiere von "Joan" erschienen wäre,<br />
hätte sie gewusst, dass Schwarze von der Vorstellung<br />
ausgeschlossen sind.<br />
Sie sagte, sie hätte erst vor zehn Tagen erfahren, dass<br />
die George Washington-Universität ihre bisherige Politik<br />
der Nichtzulassung von Schwarzen bestätigt habe...<strong>als</strong><br />
es bereits zu spät war, die bereits erteilten Zusagen für<br />
den Auftritt zurückzunehmen.<br />
"Ich bedaure Rassendiskrimination in jeder Form", betonte<br />
sie an einer Pressekonferenz, "und zu denken,<br />
dies ausgerechnet in unserer Hauptstadt!"<br />
"Ich hätte nie geglaubt, dass es in den Vereinigten<br />
Staaten Orte gibt – Unterhal<strong>tu</strong>ngsstätten, die für alle<br />
Leute da sind – zu welchen nicht jedermann Zutritt<br />
hat."<br />
Es sollte noch fast zwanzig Jahre dauern, bevor die<br />
Vereinigten Staaten die Gleichberechtigung einführten, aber<br />
Steele war gewitzt genug, seiner Klientin klarzumachen, dass<br />
ihre ursprüngliche Gleichgültigkeit in dieser Frage ihrem<br />
Image Schaden zufügen könnte. Eher dieser Aspekt, <strong>als</strong> der<br />
moralische überzeugte sie. Larry Adler erinnerte sich an eine<br />
ähnliche Si<strong>tu</strong>ation beim Streik einer Gewerkschaft in Hollywood<br />
während der Produktion von "Notorious": <strong>Ingrid</strong> durchbrach<br />
eine Pikettlinie und demoralisierte so ein Kontingent der<br />
belagerten Arbeiter. "Larry, ich bin Schauspielerin, ich habe<br />
mit diesem Streik nichts zu <strong>tu</strong>n", entgegnete sie auf seine<br />
Vorhal<strong>tu</strong>ngen, "meine Pflicht ist es, einen Film zu machen."<br />
Später waren sich Adler und Lindström in ihrem Erstaunen<br />
darüber einig, dass sie sozialen Pr<strong>ob</strong>lemen gegenüber, die
über die reine Politik hinausgingen, ihr Leben lang derart indifferent<br />
sein konnte.<br />
Capa, der auf dem Weg zu seinem Auftragsziel in der<br />
Türkei war, sandte <strong>Ingrid</strong> zur Premiere in Washington eine<br />
einzelne weisse Rose. "Meine weisse Rose habe ich nahe bei<br />
mir", kabelte sie zurück. Aber emotional war er ihr weit weniger<br />
nah. Wie viele Liebhaber, die fürchten, ihr sukzessiver<br />
Rückzug werde nicht durch einen verzweifelten Kampf beantwortet,<br />
begann er sich Gedanken zu machen. "London ist so<br />
ruhig und leer", schrieb er <strong>Ingrid</strong> eine Woche danach, "aber<br />
Europa ist so viel realer und erfrischender nach den Staaten.<br />
Wann immer ich eine Bar besuche, ein Theater oder einen<br />
Spaziergang durch die vernebelten Strassen mache, will ich<br />
dich neben mir sehen." Aber seine Unfähigkeit, aus ihr etwas<br />
mehr <strong>als</strong> eine Mätresse zu machen, und ihre Weigerung, ihre<br />
Karriere aufzugeben um mit ihm um die Welt zu tingeln, haben<br />
ihren Tribut verlangt; die Beziehung sollte nicht mehr lange<br />
dauern, doch konnte <strong>Ingrid</strong> die Umstände noch nicht erahnen,<br />
unter welchen sie zu Ende ginge.<br />
AM 18. NOVEMBER HATTE "JOAN OF LORRAINE" im<br />
Alvin in New York Premiere und fügte sich damit in eine bemerkenswerte<br />
Broadway-Saison ein, die insgesamt neunundsiebzig<br />
neue Programme umfasste (u.a. "State of the Union",<br />
"Born Yesterday" und "The Iceman Cometh"), dreizehn Music<strong>als</strong><br />
(u.a. "Call Me Mister" und "Annie Get Your Gun"), zwei<br />
Revuen, sieben Einmann-Shows oder Bühnen-Lesungen und<br />
elf Klassik-Reprisen.<br />
Die New Yorker Kritiker lagen mit ihren Kritiken buchstäblich<br />
auf den Knien vor <strong>Ingrid</strong>: "Sie gehört zu den wenigen<br />
ganz Grossen im Reich des 'Make Believe'", war einer der typischen<br />
Tribute, die <strong>Ingrid</strong> gezollt wurden. "Der Glanz von Miss<br />
<strong>Bergman</strong>s Spiel ist über jeden Zweifel erhaben" schrieb Brooks<br />
Atkinson. "Ihre Gaben haben sich vervielfältigt und entfaltet<br />
seit 'Liliom' und Miss <strong>Bergman</strong> hat eine seltene Reinheit des<br />
Geistes und eine unvergleichliche Grösse ins Theater gebracht.<br />
321
. .. Sie ist eine hinreissend attraktive Jungfrau mit Stolz, Grazie<br />
und einem einmalig leuchtenden Lächeln . . . Ihre Erscheinung<br />
ist ein theatralisches Ereignis von grösster Bedeu<strong>tu</strong>ng . "<br />
- und so delirierte Atkinson in zwei überlangen Beiträgen in<br />
der Times, indem er ihr einen festen Platz in der Liga von Katharine<br />
Cornell und Helen Hayes einräumte. Sogar 'The New<br />
Yorker' überbot sich: "Sie gestaltete ein Spiel, das in der heutigen<br />
Theaterwelt seinesgleichen sucht."<br />
Bei der Beurteilung ihrer Leis<strong>tu</strong>ngen in dieser Saison<br />
dürfen wir nicht vergessen, dass sie ein enormes Risiko einging<br />
– vor allem weil das gebildete New Yorker-Publikum, sosehr<br />
es ihr <strong>als</strong> Filmstar gewogen sein mochte, notorisch nörglerisch<br />
war bezüglich der "Echtheit" des wirklichen (sprich:<br />
Theater-) Schauspiels. An die kleinen Szenenstückchen mit<br />
den wenigen Textzeilen gewohnt, die sie vor der Kamera spielte,<br />
musste sie nun die komplette Rolle einschliesslich aller<br />
Längen und komplexen Texte auswendig beherrschen – dazu<br />
noch in einer Sprache, die nicht die ihre war. Achtmal wöchentlich<br />
(und ohne die Wohltat des Körpermikrophons, das<br />
erst Jahrzehnte später in Gebrauch kam) musste <strong>Ingrid</strong><br />
Andersons poetische Prosa rezitieren und die richtigen Farben<br />
in ihrer Stimme finden.<br />
Aber das war mehr <strong>als</strong> nur ein J<strong>ob</strong> für sie: es war die<br />
Erfüllung einer langersehnten Hoffnung. "Ich wollte schon immer<br />
Jeanne spielen", verkündete sie jeden Abend mit der<br />
Stimme von Mary Grey – ein Text, der von Anderson erst in<br />
seinen letzten Revisionen eingefügt wurde, <strong>als</strong> ihm klar war,<br />
dass Mary und <strong>Ingrid</strong> wirklich ein und dieselbe Person seien.<br />
"Ich habe sie s<strong>tu</strong>diert und mein Leben lang über sie gelesen.<br />
Sie hat für mich eine Bedeu<strong>tu</strong>ng. Sie bedeutet, dass alles Wesentliche<br />
im Leben durch den Glauben zustandekommt – dass<br />
alle die massgeblichen Köpfe dieser Welt Träumer sind, die<br />
ihre Visionen haben. Die Realisten und Leute mit gesundem<br />
Menschenverstand sind machtlos." Während sie in klingenden<br />
Kadenzen ihren Schlussmonolog sprach, verhielt sich das Publikum<br />
im Alvin ausnahmslos still wie in der Kirche:<br />
322
"Ich glaube, meine Visionen seien gut", erklärte sie,<br />
und <strong>Ingrid</strong> hätte dabei ohne weiteres an ihre eigenen Gaben<br />
denken mögen. "Ich weiss, sie sind gut, aber ich weiss nicht,<br />
wie sie zu verteidigen. Wenn ich vor Gericht gestellt werde<br />
und beweisen muss, was ich glaube, wie soll ich beweisen,<br />
dass sie gut und nicht schlecht sind? Ja, und ich frage mich<br />
selbst, <strong>ob</strong> ich immer ehrlich war, denn wenn ich bei den Menschen<br />
war, spielte ich eine Rolle . . . Wenn ich mit meiner eigenen<br />
Stimme sprach, hörte niemand zu, hörte mich niemand<br />
. . . War es denn ehrlich, Wege zu beschreiten, die nicht die<br />
meinen waren? Ich weiss, darauf gibt es keine Antwort."<br />
Jeanne d'Arcs Dilemma hatte eine moderne Resonanz<br />
in <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Dilemma, deren Leben sich grundlegend<br />
veränderte, während sie die Monotonie von 199 Vorstellungen<br />
zwischen November 1946 und Mai 1947 durchstand. An der<br />
Premieren-Party im Astor Hotel musste sich <strong>Ingrid</strong> mehrfach<br />
aus der Menge von Gästen und Bewunderern zurückziehen.<br />
Kay und Ruth folgten ihr jedesmal und berichteten Petter und<br />
Joe, es gehe ihr gut und sie werde bald zurück sein. Was sie<br />
verschwiegen, war, dass sie sie im Ladies Room in einen Sessel<br />
gekrümmt weinend vorfanden.<br />
"JOAN OF LORRAINE" WURDE SCHNELL ZU EINEM HIT<br />
der Broadway-Saison und seine sechsmonatige Laufzeit hätte<br />
ohne weiteres verlängert werden können. Mag diese Erfahrung<br />
für <strong>Ingrid</strong> auch wundervoll gewesen sein, so war sie dennoch<br />
nicht ungetrübt: die physischen und psychischen Anforderungen<br />
von acht Vorstellungen die Woche, die Komplikationen bei<br />
Krankheit oder Liebeskummer, die Ungewissheit ihrer Zukunft<br />
in Hollywood und die ihrer Ehe – all das führte zu einer nervlichen<br />
Belas<strong>tu</strong>ng, mit der sie während des ganzen Jahres zu<br />
kämpfen hatte. Wie sich Ruth, Joe und Kay erinnerten, schien<br />
<strong>Ingrid</strong> dam<strong>als</strong> unfähig, einen Moment still zu sitzen.<br />
Aber wenigstens für kurze Zeit war sie dazu gezwungen.<br />
Der Winter 1947 ging <strong>als</strong> einer der schlimmsten in die<br />
Wetterstatistik des Landes ein, und eine schlimme Grippe-<br />
323
Epidemie erfasste Millionen von Menschen, die sich abmühten,<br />
mit endlosen Folgen von Stürmen und Frostperioden fertig zu<br />
werden. <strong>Ingrid</strong> war stark, aber nicht immun; verschiedene<br />
Vorstellungen im Januar mussten abgesagt werden, <strong>als</strong> aus<br />
einem leichten Husten eine fiebrige Erkäl<strong>tu</strong>ng und schliesslich<br />
eine ernsthafte Laryngitis wurde. Mit Schüttelfrost nahm sie<br />
anfangs Januar im Bett einen Anruf des schwedischen Konsuls<br />
entgegen: in Stockholm hatte ihr der König Schwedens höchste<br />
Auszeichnung verliehen – die Goldmedaille "Litteris et<br />
Artibus" für ihr herausragendes Schauspiel und die ehrenvolle<br />
Art und Weise, wie sie schwedische Kunst in den Vereinigten<br />
Staaten verkörperte."<br />
Weitere Auszeichnungen folgten dieses Jahr in schneller<br />
Folge: der Drama League und der Antoinette Perry (Tony)<br />
Award für die beste Schauspielerin des Jahres; der grosse<br />
Preis des Film-Festiv<strong>als</strong> Venedig <strong>als</strong> beste Darstellerin (in<br />
"Spellbound" , welcher Film nach dem Krieg zu einer verspäteten<br />
Europäischen Erstaufführung kam); und zahlreiche Preise<br />
von Magazinen, Zei<strong>tu</strong>ngen, zivilen und kirchlichen Organisationen.<br />
Es ist keine Übertreibung, wenn man feststellt, dass<br />
<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> dam<strong>als</strong> die am wenigsten polarisierende,<br />
weitaus beliebteste Berühmtheit Amerikas war; ja, die ganze<br />
westliche Welt befleissigte sich, ihren Namen auf die Liste der<br />
grössten Idole und verehrtesten Persönlichkeiten zu setzen.<br />
IN DEN VEREINIGTEN STAATEN BEGANN NUN <strong>als</strong> Folge<br />
der nach dem zweiten Weltkrieg unvermittelt aufgetretenen<br />
unseligen Zeit des religiösen Eifers eine schreckliche moralische<br />
Selbstgefälligkeit mit der entsetzlichen Grippewelle des<br />
Jahres um die höchste Zahl der Infizierten zu kämpfen. Überall<br />
waren die Wachhunde der öffentlichen Moral – Geistliche, die<br />
oft den Bezug zur Bedeu<strong>tu</strong>ng des Glaubens verloren hatten<br />
und Politiker ohne jedes staatsmännische Talent – auf dem<br />
Posten um auszulegen, anzuzeigen, zu verurteilen, zu zerstören.<br />
Anschuldigungen auf Verhetzung und Verrat wurden verbreitet<br />
wie Handzettel an die Passanten, und Schreie der Ent-<br />
324
üs<strong>tu</strong>ng wurden in Presse und Radio vernommen, wann immer<br />
eine Berühmtheit sich scheiden liess, beschwipst in einem Lokal<br />
gesehen wurde oder ihre Meinung zu etwas Ernsterem <strong>als</strong><br />
der Mode der Saison äusserte. Der puritanische Geist, der im<br />
amerikanischen Leben nie weit unter der Oberfläche lauert,<br />
war selbstsicher im Angriff, w<strong>ob</strong>ei die Reichen und Berühmten<br />
immer eine willkommene Zielscheibe boten. Wäre 1947 etwas<br />
von <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Privatleben an die Öffntlichkeit gedrungen,<br />
wäre ihr Stern schnell verblasst und sie wäre womöglich<br />
noch ausser Landes verjagt worden.<br />
Aber auch Puritaner brauchen rechtschaffene Leute <strong>als</strong><br />
Vorbilder (eine spätere Generation nannte sie 'role models'),<br />
und vorderhand schien <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> dieser Aufgabe zu genügen.<br />
Unter verschiedenen erstaunlichen Anfragen, die dieses<br />
Jahr an sie herangetragen wurden, ist eine <strong>als</strong> typisch zu<br />
bezeichnen.<br />
Ein Geistlicher aus Philadelphia erschien in New York,<br />
machte Joe Steele ausfindig und fragte, <strong>ob</strong> es nicht zu arrangieren<br />
wäre, dass <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> für eine Büste der Heiligen<br />
Jeanne d'Arc posieren würde, die vor seiner Gemeindekirche<br />
aufgestellt werden sollte. Ohne Rücksprache mit seiner Kundin<br />
antwortete Joe respektvoll, sie sei immerhin eine Schauspielerin;<br />
die Anfrage scheine ihm daher - nun, vielleicht nicht hundertprozentig<br />
angemessen. Als Joe <strong>Ingrid</strong> davon erzählte, war<br />
sie eher entsetzt <strong>als</strong> belustigt: angenommen, sie würde einmal<br />
öffentlich denunziert oder ein Hauch von einem Skandal bekannt!<br />
Allein der Gedanke daran, dass die Büste der Jeanne<br />
d'Arc in Philadelphia von ihrem Sockel gestürzt und in Stücke<br />
zerschmettert würde, wäre für sie unerträglich.<br />
Die gelegentliche Anwesenheit von R<strong>ob</strong>ert Capa im Dezember<br />
und anfangs Januar im Leben von Amerikas<br />
unkanonisierter Heiligen hätte dem Feind genügend Munition<br />
zu <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Zerstörung geliefert. Mehrfach begleitete<br />
er <strong>Ingrid</strong> von der Bühne bis zu ihrer Hotelsuite, aus welcher er<br />
dann S<strong>tu</strong>nden später – knapp vor Morgengrauen – unbehelligt<br />
entkommen konnte. Aber nicht alle ihre Rendez-vous waren<br />
325
ekstatisch. "Er weiss, wir schliessen das Kapitel ab", schrieb<br />
<strong>Ingrid</strong> an Ruth. "Wir trinken unsere letzten Flaschen Champagner.<br />
Ich reisse ein mir sehr liebes Stück aus meinem Leben,<br />
aber wir lernen beide und machen eine saubere Operation,<br />
damit beide Patienten für alle Zeiten danach glücklich leben<br />
können."<br />
Allerdings, soweit es den echten Chirurgen in ihrem Leben<br />
betraf, war die Prozedur nicht so pr<strong>ob</strong>lemlos. Nicht lange<br />
nach Capas letzter Liebesnacht mit <strong>Ingrid</strong> rannte er Petter in<br />
die Arme. Die Berichte darüber divergieren je nach Autor etwas;<br />
Ehemann, Frau und Liebhaber bringen es zusammen auf<br />
mindestens acht Versionen über Zeit und Ort, wo sich die beiden<br />
Männer begegneten. Das wahrscheinlichste Szenario war<br />
die zufällige Begegnung später in jenem Winter in Sun Valley,<br />
wo Capa und Lindström ein paar Urlaubstage verbrachten. Eines<br />
Tages erteilte Capa Lindström auf der Piste einen guten<br />
Rat bezüglich seines Fahrstils, den er aber ablehnte, worauf<br />
Capa hinzufügte, dass auch <strong>Ingrid</strong> Ferien nötig hätte – sie sei<br />
ihm in New York so blass und müde vorgekommen.<br />
Mit diesem Ausrutscher Capas wusste Petter natürlich<br />
Bescheid über alles, und <strong>als</strong> er <strong>Ingrid</strong> spät an diesem Abend<br />
noch anrief, gestand sie ihm alles freimütig. Nun war es an<br />
Petter, die Scheidung zu verlangen, was sie aber sofort ablehnte<br />
und ihrem Mann auch das erzählte, worüber Capa geschwiegen<br />
hatte: dass die Affäre Geschichte war. <strong>Ingrid</strong> war<br />
auch nicht Willens, Mann und Liebhaber zu verlieren und mit<br />
ihnen das letzte Stück emotionaler Sicherheit – ganz zu<br />
schweigen von den Risiken für ihre Karriere (da Petter bestimmt<br />
auf Ehebruch klagen würde).<br />
Wenige Tage nach ihrem Gespräch mit Petter, während<br />
welchem er ihr auch ein Treueversprechen abgerungen hatte,<br />
öffnete <strong>Ingrid</strong> die Tür zu ihrer Theatergarder<strong>ob</strong>e und stand vor<br />
Victor Fleming. Seit der Beendigung von "Dr. Jekyll und Mr.<br />
Hide" vor sechs Jahren hatte sie ihn nur gelegentlich gesehen,<br />
bei Parties oder Filmanlässen. Ihre Vernarrtheit war inzwischen<br />
natürlich abgekühlt – nicht aber ihre Erinnerung an sein Talent<br />
und seine dominante Art.<br />
326
Nun hatte sich das Blatt gewendet. Fleming, der ihre<br />
Vorstellung an diesem Abend besucht hatte, empfing <strong>Ingrid</strong><br />
mit einer festen Umarmung. Sie sei brilliant gewesen, meinte<br />
er, ohne seinen Griff an ihr zu lockern; sie sei wunderschön,<br />
strahlend, leuchtend, duftend – seine Worte sprudelten daher<br />
wie Auszüge aus einer Revue. Sie sei Jeanne, fuhr er fort, und<br />
er wolle sie <strong>als</strong> Jeanne unsterblich machen durch die Regie<br />
eines entsprechenden Films mit ihrer Mitwirkung. Das sei zu<br />
schön zu glauben, zweifelte <strong>Ingrid</strong>. Ob er das wirklich<br />
zustandebrächte?<br />
Sie müssten es zustandebringen - und zwar bald, meinte<br />
Fleming, indem er ihren alten Übernamen 'Engel' wieder<br />
aufnahm, nur jetzt in leidenschaftlichem Tonfall. Unter andern<br />
murmelte auch David Selznick, dass er endlich noch ein St.<br />
Joan-Epos produzieren werde; Fleming und <strong>Bergman</strong> mussten<br />
daher <strong>als</strong> Erste am Startpunkt sein. Beim Abendessen eröffnete<br />
Fleming ihr seine Pläne und <strong>Ingrid</strong> fühlte, wie ihre alten Gefühle<br />
für Victor Fleming wieder erwachten. Ihr Wiedersehen<br />
erinnerte sie an nichts so sehr, wie an Jekyll/Hydes Ouvertüren<br />
zu Ivy im Palace of Frivolities – eine Szene voll von Champagner<br />
und Versprechungen, von Aufregung und Gefahr. Im Bewusstsein,<br />
wie leicht Hollywood die Geschichte einer Heiligentrotz-ihrer-selbst<br />
sabotieren konnte, sehnte sich <strong>Ingrid</strong> danach,<br />
Jeanne auch im Film zu portraitieren; <strong>ob</strong>wohl auf der Hut<br />
vor Flemings leidenschaftlicher Entschlossenheit, war sie auch<br />
verletzlich und sehr einsam.<br />
*) Mit Blick auf den Fiskus gründete <strong>Ingrid</strong> separat eine eigene Gesellschaft,<br />
die sie 'EN Productions' nannte ("en" = Schwedisch "eins"),<br />
ihre Idee, weil sie persönlich praktisch <strong>als</strong> einziges Aktivum den inneren<br />
Wert der Gesellschaft repräsentierte. Walter Wanger übernahm<br />
offiziell das Präsidium, <strong>Ingrid</strong> war die Vizepräsidentin, Petter der Sekretär<br />
und selbstredend der Schatzmeister; und <strong>Ingrid</strong>s pro forma-<br />
Anwalt ein Direktor.<br />
327
Selbstverständlich konsultierte <strong>Ingrid</strong> zuerst ihren Ehemann<br />
– der einen herzlichen Brief an Fleming abfeuerte mit<br />
der Bitte, schnell zu handeln, weil Petter bereits ein Angebot<br />
der Paramount S<strong>tu</strong>dios abgelehnt hatte und nun mit Regisseur<br />
William Wyler wegen eines Films über Jeanne im Gespräch<br />
war. Dies verfehlte den gewünschten Effekt nicht. Zunächst<br />
machte Fleming ein Angebot, das Petter nicht zurückweisen<br />
konnte: mit dem unabhängigen Produzenten Walter Wanger<br />
würden Victor Fleming und <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> unter dem Namen<br />
einer eigenen Produktionsgesellschaft des Trios (sie könnte<br />
Sierra Films heissen) arbeiten, und zusätzlich zum Salär von $<br />
175'000 würden die Lindströms – die Lindströms! nicht <strong>Ingrid</strong><br />
<strong>Bergman</strong> – den Hauptanteil am Reingewinn des Films erhalten.*)<br />
"Er musste vorab einmal $ 9 Mio einbringen, bevor ich<br />
einen Penny hätte erhalten können", sagte <strong>Ingrid</strong> später, <strong>als</strong><br />
sie ihre Verluste zu beziffern versuchte. "Nun, es sah ja ganz<br />
gut aus auf dem Papier und es hätte mir sicher eine schöne<br />
Beerdigung finanziert!" Schliesslich erklärte Fleming, er richte<br />
ein Büro ein in einer Suite, die er im Hampshire House gemietet<br />
habe, sodass er die Vorarbeiten mit <strong>Ingrid</strong> unverzüglich<br />
aufnehmen konnte. Petter bot an, für ein Wochenende nach<br />
New York zu fliegen, um die Vertragseinzelheiten mit Fleming<br />
zu besprechen.<br />
Und dann, mit der ganzen Hast eines ungestümen jungen<br />
Liebhabers, veröffentlichte Fleming ein Presse-Communiqué.<br />
Noch bevor die Verträge unterzeichnet waren kündigte<br />
er einen neuen Film über "Joan of Lorraine" mit <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong><br />
an; tatsächlich hatte er noch nicht einmal die Rechte an<br />
Andersons Stück erworben. Auch Flemings überstürztes Communiqué<br />
hatte aber den erwünschten Effekt: in Anbetracht von<br />
<strong>Ingrid</strong>s Broadway-Erfolg und der damit verbundenen nationalen<br />
Publizität stoppten die Hollywood-Konkurrenten unverzüglich<br />
alle weiteren Pläne für einen rivalisierenden Film zum gleichen<br />
Thema.<br />
328
FLEMINGS MIT LEIB UND SEELE betriebene Aktivitäten<br />
fanden plötzlich eine Erweiterung, indem <strong>Ingrid</strong> bald jede<br />
Nacht mit Victor verbrachte, der nun nicht mehr Fantasie-<br />
Liebhaber war, sondern das echte Ding. Er war vierundsechzig,<br />
sie einunddreissig, aber er umgab sie mit einer Art besitzergreifendem<br />
Eifer und überzeugte sie davon, dass nur er – der<br />
sie zu einer derart brillianten Darstellung der Ivy brachte – sie<br />
in der Rolle ihrer geliebten Jeanne unsterblich machen konnte.<br />
Fleming bestand darauf, dass nur er <strong>Ingrid</strong>s Beziehung zur<br />
Jungfrau verstand, die sich – ihren inneren Stimmen folgend –<br />
von ihrer Umwelt isolieren musste, um ihren Auftrag zu erfüllen.<br />
Indem er sie wie ein Vater belehrte, verfuhr Fleming mit<br />
ihr wie mit der ersten Liebe.<br />
Tagsüber traf sich Fleming mit Forschern, Regisseuren<br />
und Grafikern; gelegentlich sah <strong>Ingrid</strong> rasch vorbei, aber oft<br />
streifte sie durch die Stadt, besuchte Gallerien und Museen,<br />
gab ihr Taschengeld von zuhause für eine gelegentliche Erweiterung<br />
ihrer Garder<strong>ob</strong>e aus und pr<strong>ob</strong>te für einige Sonntagabend-Radiodramen,<br />
an welchen sie diese Saison teilnahm.<br />
Nach ihren Vorstellungen kehrte sie zu Suite 2606 zurück, wo<br />
sich Victor – acht Stockwerke über ihr - auf der Stelle am Telefon<br />
meldete; Momente später waren sie am einen oder andern<br />
Ort beisammen, wo sie zunächst ein kaltes Abendessen mit<br />
Champagner teilten und dann das Bett.<br />
Kay Brown, die ihre Freundin sehr oft sah, sagte von<br />
ihr: "<strong>Ingrid</strong> verändert sich – verändert sich rasch. Sie ist nicht<br />
mehr, was sie einst war. Und sie weiss das auch, wie sie selbst<br />
sagte." Wie Kay feststellte, erwartete <strong>Ingrid</strong> nun viel mehr von<br />
ihrem Leben <strong>als</strong> das Haus im Benedict Canyon und einen oder<br />
zwei Filme pro Jahr; "Joan of Lorraine" stellte eine Zäsur in<br />
ihrem Leben dar, aber es gab keine Garantie für weitere Arbeit<br />
an der Bühne.<br />
Sie wusste nicht, womit sie das Theater und Hollywood<br />
nach "Joan" ersetzen sollte. Sollte sie vielleicht wieder in Europa<br />
arbeiten? Nein, die Nachkriegsverhältnisse waren entsetzlich;<br />
wo und wie sollte sie im Ausland leben? Wie alle Men-<br />
329
schen, die sich in einem raschen Wandel befinden, bestand sie<br />
nur noch aus Widersprüchen: hatte sie die Trossen, die sie nun<br />
wärend einer Dekade mit dem komfortabeln Leben verbunden<br />
hatten, gekappt, war auch kein anderes sicheres Land in Sicht.<br />
Bei all ihrer Sehnsucht nach Freiheit war sie auf die Sicherheit<br />
und Führung angewiesen, die ihr ein starker Mann bieten<br />
konnte – wie jetzt eben Victor Fleming.<br />
Aber diese jüngste Intimität war anders, was auch Kay<br />
bemerkt haben mag. Ohne Kälte oder Berechnung begann <strong>Ingrid</strong><br />
ein anderes Verhältnis zu ihren Liebhabern zu entwickeln.<br />
Die Distanz von zuhause und Hollywood gab ihr Perspektiven,<br />
und ihre Erfahrungen mit drei Männern in weniger <strong>als</strong> zwei<br />
Jahren gaben ihr ein Selbstvertrauen, wie sie es nie zuvor<br />
kannte. Capa, Adler und Fleming führten sie <strong>als</strong> Mentoren zu<br />
neuen Aspekten des kreativen Lebens. Jeder brachte einen<br />
frischen Wind in ihr Leben von der Art, wie er nur von einem<br />
Mann mit Ideen kommen kann – von da an schätzte sie diese<br />
Qualität an Ehemännern, Kollegen und Freunden am meisten.<br />
Ihr Vater war natürlich der erste Mann dieser Art für<br />
sie, und sein Tod raubte ihr die einzige solide, stabile Beziehung<br />
ihres Lebens vor Petter. Der Verlust ihrer Eltern, von<br />
Tante Ellen, Onkel Otto, der seltsame Charakter von Tante<br />
Mutti, von der sie durch den Kriegsausbruch gewaltsam getrennt<br />
wurde – all das bestärkte sie im Glauben, dass keine<br />
menschliche Verbindung von Dauer sein konnte, man sich auf<br />
keine verlassen konnte. Scheu und unbeholfen fand sie ihren<br />
Halt in der öffentlichen Akzeptanz ihrer aussergewöhnlichen<br />
Leis<strong>tu</strong>ngen. Ihre Herzensbindungen waren wie Szenen im Film<br />
ihres Lebens – wertvoll im Moment, aber es war kein Verlass<br />
auf ihre Dauerhaftigkeit. Vielleicht würde die ultimative Analyse<br />
ergeben, dass die Art ihrer Romanzen nicht ihrem Berufsprimat<br />
zuzuschreiben war, sondern vielmehr umgekehrt, dass<br />
sie ihrem Beruf die Priorität einräumte, weil ihr ihre menschlichen<br />
Beziehungen im entscheidenden Moment ihrer Jugend<br />
f<strong>als</strong>ch mitgespielt hatten. Schlussendlich wurde sie auch von<br />
Petter vom ersten Moment ihrer Beziehung an in der prioritären<br />
Bedeu<strong>tu</strong>ng der Pflichterfüllung bestätigt.<br />
330
IN IHREN INTIMEN BEZIEHUNGEN zu den Männern war<br />
<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> weder puritanisch noch freizügig. Aber wie es<br />
den Anschein macht, war es nicht die Sehnsucht nach Sex, die<br />
sie motivierte oder anzog, es war das Bedürfnis nach einer<br />
tiefergehenden Beziehung. Während ihres ganzen Lebens bewahrte<br />
sie sich etwas Abhängiges, Mädchenhaftes, Frisches; da<br />
war immer dieses Gefühl von Neugier auf den nächsten Tag,<br />
den nächsten Film, das nächste Stück, die nächste Reise ("Wir<br />
müssen nicht versuchen zu wiederholen, wiederherzustellen",<br />
sagt Lena Geyer im Roman von Marcia Davenport. "Alles muss<br />
vorwärtsgehen, jede Erfahrung muss eine neue sein, ein Neubeginn.").<br />
Manchmal erschien sie zurückgezogen und distanziert,<br />
aber das war die natürliche Reaktion von jemandem, der<br />
die <strong>ob</strong>erflächlichen Schmeicheleien der glotzenden Fans hasste,<br />
die keinen Hochschein davon hatten, wer sie wirklich war.<br />
<strong>Ingrid</strong> war nie humorlos oder abweisend, und während<br />
ihres ganzen Lebens fühlte sie sich erstaunlich selten verbittert.<br />
Aber ihre spannungsgeladene Na<strong>tu</strong>r, ihre ständige Suche<br />
nach allem, was ihre Fantasie und damit auch ihre Talente fördern<br />
konnte, trennte sie bisweilen von jenen Menschen, die sie<br />
liebte.<br />
Ihr Verhalten lässt vermuten, dass Sex für sie angenehm<br />
war, soweit er sich anbot, aber er konnte nie ausreichen<br />
zum Aufbau einer dauerhaften intimen Beziehung. Mit andern<br />
Worten: es wäre ihr durchaus möglich gewesen, zuviel Sex zu<br />
haben – der zur Belas<strong>tu</strong>ng jenseits jeder Vernunft hätte führen<br />
können. Sehr früh schon hatte sie erkannt, dass ihre Schönheit<br />
und strahlende Erscheinung die Männer in Massen anzog und<br />
dass sie mit ihrem Verhalten praktisch jedes Ziel hätte erreichen<br />
können. Aber das lag nicht in ihrer Na<strong>tu</strong>r. Wirklich angesprochen<br />
fühlte sie sich von Intelligenz und Witz; Angeber und<br />
sexgeile Abenteurer hatten bei ihr kurze Beine. Aber sie war<br />
auch eine Frau, die behütet, liebkost sein wollte, und wenn sie<br />
einen hellen, gefühl- und energievollen Mann fand, der auch<br />
einfühlsam trösten konnte – der war's dann. Dennoch, von<br />
1947 an veränderte sich wirklich etwas. Fortan bedeutete ihr<br />
Leidenschaft mehr <strong>als</strong> Sex: sie stand für die Freiheit, zu lernen<br />
331
und sich uneingeschränkt seiner Aufgabe widmen zu können.<br />
Wenige Liebhaber waren bereit, ihr diesen Spielraum zu gewähren.<br />
Es wäre daher ein Leichtes, ihre Beziehungen zu Capa,<br />
Adler und Fleming <strong>als</strong> leichtfertig oder isolierte Hommages an<br />
die Fleischeslust zu betrachten. Ganz im Gegenteil, ihre romantischen<br />
Verhältnisse kamen ausschliesslich in jenen Lebensabschnitten<br />
zustande, in welchen sie sich extrem einsam<br />
fühlte, und ihnen gab sie sich dann bedingungslos hin.<br />
So war es in der Saison der Fleming-Affäre 1947 – bis<br />
Petter eines Abends spät ohne Vorwarnung im Hampshire House<br />
auftauchte. Nachdem er auf sein Klopfen an ihre Tür keine<br />
Antwort erhielt, rief er instinktiv von der L<strong>ob</strong>by aus Flemings<br />
Suite an: "Hier ist Petter – kann ich <strong>Ingrid</strong> sprechen?" Er konnte.<br />
Sie verliess Flemings Raum auf der Stelle. Von ihren Erklärungen<br />
ihrem Mann gegenüber und ihrem Wiedersehen mit<br />
ihm ist nichts bekannt. Nach der geschäftlichen Besprechung<br />
mit Fleming vom darauffolgenden Nachmittag kehrte Petter<br />
nach Los Angeles zurück – wie auch sein Rivale, der in Kalifornien<br />
eine Produktionsgesellschaft zu gründen hatte.<br />
332<br />
An Bord der Santa Fe Chief schrieb Victor an <strong>Ingrid</strong>:<br />
Like a lover I love you – (I) cry accross the miles and<br />
hours of darkness that I love you – that you flood<br />
across my mind like waves across the sand. If you care<br />
– or if you don't, these things to you with love I say. I<br />
am devotedly – your foolish – ME.<br />
Und von Hollywood:<br />
Angel – Angel – why didn't I get a chain three thousand<br />
miles long with a good winding device on the end. Better<br />
quit now before I start telling you I love you – telling<br />
you Angel I love you – yes – yes – yes – it's ME.<br />
Sie war in der Tat sein Engel, und manchmal nannte er<br />
sie aus Spass auch "die Hexe", wie Jeanne von ihren Feinden<br />
genannt wurde. Für Fleming stimmte der Übername perfekt,<br />
denn sie hatte ihn betört, ihn bezaubert – er war für immer ihr
Sklave.<br />
Nachdem sie ihm telefoniert hatte, schrieb er ihr wieder:<br />
"Wie schön, deine Stimme zu hören, wie s<strong>tu</strong>mm und<br />
dumm ich werde. Wie traurig für dich. Wenn du den Hörer<br />
auflegst, tönt der Klick in meinen Ohren wie ein Schuss." Er<br />
kam noch zweimal während "Joan" lief nach New York zurück.<br />
Für <strong>Ingrid</strong> waren die letzten Wochen der Vorstellungen ermüdend,<br />
und sie spürte, wie die Energie sie verliess. "Ich bin sehr<br />
müde", schrieb sie Ruth, "zu viele Leute, zu viel Essen und<br />
Trinken in letzter Zeit. Vielleicht ist es das, was das Gefühl<br />
abtötet. Ich habe nur noch drei weitere Wochen, dann kehre<br />
ich zurück in den Käfig, sitze in der Sonne, gehorche Petter,<br />
bin nüchtern und sehe wie 18 aus."<br />
Das Stück, das gut und gerne noch um ein Jahr hätte<br />
verlängert werden könnnen, hatte am 10. Mai 1947 seine letzte<br />
Vorstellung, denn <strong>Ingrid</strong>s Vertrag lautete auf eine limitierte<br />
Laufzeit von sechs Monaten, und nun – erschöpft, wie sie war,<br />
an chronischen H<strong>als</strong>pr<strong>ob</strong>lemen vom Bühnenstaub und ihrer<br />
neuen Gewohnheit des exzessiven Rauchens leidend – war sie<br />
froh, die letzte von 199 Vorstellungen <strong>als</strong> Jeanne vor sich zu<br />
haben. Einmal mehr hatte Petter ausgezeichnete Bedingungen<br />
für sie herausgeholt ($ 1'000 pro Woche und 15 % der Bruttoeinnahmen),<br />
und seit Okt<strong>ob</strong>er hatte sie gesamthaft $ 129'082<br />
verdient. In einem Jahr, in welchem $ 5'000 für einen Amerikaner<br />
ein respektables Jahressalär darstellten, hatte sie Mühe,<br />
das zu verstehen.<br />
Zwischen der Matinée und der Abendvorstellung dieses<br />
letzten Tages versammelte sich wieder wie üblich eine Menge<br />
von vielleicht 300 Fans; während Monaten hatte die "Alvin<br />
Gang", wie sich ihre Bewunderer selbst nannten, jeden Mittwoch<br />
und Samstag einen Fanaufmarsch organisiert. Sie wollten<br />
ihr für ihre Auftritte in New York danken, immer in der<br />
Hoffnung, eine kurze Berührung, ein Autogramm oder ein Lächeln<br />
zu ergattern. Diesmal sandte sie Joe auf die Strasse, um<br />
die Leute ins Theater einzuladen, wo sie – ungekämmt, in einem<br />
kastanienbraunen Hausmantel – auf der Bühne sass und<br />
333
der schweigenden Menge dankte und dann ihre Fragen beantwortete.<br />
Als sie sich schliesslich erh<strong>ob</strong> und sagte, sie müsste<br />
jetzt gehen und in der Garder<strong>ob</strong>e vor ihrer letzten Vorstellung<br />
noch etwas zu sich nehmen, erlebte sie eine donnernde Standing<br />
Ovation.<br />
Spät am Abend organisierte <strong>Ingrid</strong> im Hampshire House<br />
für den ganzen "Joan of Lorraine"-Set eine Abschiedsparty. Sie<br />
und die Playwrights Company teilten sich in die Kosten von<br />
$ 100 für jeden Kollegen, und ihren beiden Hauptdarstellern<br />
(Sam Wanamaker und Romney Brent) überreichte sie ein graviertes<br />
Silber-Cigarettene<strong>tu</strong>i. Niemand in dieser Gesellschaft<br />
konnte sich an einen ähnlich warmherzigen und erinnerungswürdigen<br />
Abschied von einer Broadway-Produktion erinnern.<br />
TAGS DARAUF FLOG SIE ZURÜCK nach Beverly Hills, wo<br />
ihr Petter eröffnete, dass die Verhandlungen für ein Projekt<br />
nach "Joan of Arc" auf gutem Wege seien und auch gute Perspektiven<br />
für die Zeit danach offen liessen.<br />
Schon 1944 hatten David Selznicks Leute Hand auf einen<br />
Roman von Helen Simpson mit dem Titel "Under<br />
Capricorn" gelegt, der ihnen von <strong>Ingrid</strong> empfohlen wurde und<br />
der eine für sie hervorragend geeignete dramatische Rolle enthielt.<br />
Anfangs 1947 hatte Hitchcock (nun ebenfalls frei von<br />
seinen Verpflich<strong>tu</strong>ngen Selznick gegenüber) die Rechte am<br />
Roman (und an einem noch unveröffentlichten Stück, das darauf<br />
basierte) von Selznick gekauft um es zur ersten Produktion<br />
seiner eigenen Produktions-Gesellschaft – Tansatlantic Pic<strong>tu</strong>res<br />
zu machen, die er mit seinem alten Freund, dem englischen<br />
Produzenten und Medienmogul Sidney Bernstein gegründet<br />
hatte. "Under Capricorn" habe ich für <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong><br />
gemacht, die mit mir befreundet war", behauptete Hitchcock.<br />
"Ich suchte ein Objekt, das eher ihr <strong>als</strong> mir gefallen würde."<br />
Seine Verehrung für sie, wie immer sie verändert oder unterdrückt<br />
sein mochte, war um nichts geschmälert.<br />
334
Dann erwies sich aber, dass der J<strong>ob</strong> der Umformung<br />
des Romans in ein Filmscript viel aufwändiger war, <strong>als</strong> irgendwer<br />
voraussehen konnte, weshalb Hitchcock beschloss, zuerst<br />
einen Film basierend auf Patrick Hamiltons Stück "Rope" zu<br />
drehen. "Under Capricorn" sollte 1948 folgen und in England<br />
gedreht werden, weil gemäss Hitchcocks Vereinbarung mit<br />
Bernstein Transatlantic-Films zuerst in England produzieren<br />
würde und erst anschliessend aus steuerlichen Gründen abwechselnd<br />
in Amerika und im United Kingdom.<br />
Petter hatte sich sowohl um seine eigenen wie auch um<br />
<strong>Ingrid</strong>s Interessen gekümmert. Am 27. Mai unterzeichneten sie<br />
einen Vertrag den er mit Hitchcocks junger Produktions-<br />
Gesellschaft ausgehandelt hatte: er und <strong>Ingrid</strong> würden zusammen<br />
$ 200'000 und 41% vom Gewinn des Films erhalten.<br />
Zudem wurde Petter separat verpflichtet, die Werbung und<br />
Public Relations für den Film zu betreuen, s<strong>ob</strong>ald er in skandinavische<br />
oder andere europäische Kinos käme. Für seine Bemühungen<br />
sollte er einen Viertel der schwedischen Einnahmen<br />
erhalten – wie natürlich auch ein Reisebudget.<br />
Das war eine faszinierende Entwicklung, weil Petter<br />
selbstverständlich keinerlei Absicht hatte, seine medizinische<br />
Karriere aufzugeben oder in die Werbewirtschaft zu wechseln;<br />
erstm<strong>als</strong> seit er in Amerika war, hatte er ein Einkommen. Zusätzlich<br />
zu seinem Anteil an einer Gemeinschaftspraxis trat<br />
Petter dam<strong>als</strong> der neurologischen Klinik des Los Angeles County<br />
General Hospital, Cedars of Lebanon und Harbor General<br />
bei. Aber wie er später Pia schrieb, "stammte unser Einkommen<br />
bis 1949 zur Hauptsache aus den Gagen deiner Mutter" –<br />
kurz: das ganze Familieneinkommen stammte aus <strong>Ingrid</strong>s Salär,<br />
mit Ausnahme der kleinen Beträge, die den Praktikanten<br />
dam<strong>als</strong> bezahlt wurden (rund $ 65 die Woche). Der Grund,<br />
warum er auf einem "Werbe-Vertrag" bestand (dem sich Hitchcock<br />
unterziehen musste, wollte er seine geliebte <strong>Ingrid</strong> in seinem<br />
Film haben), war einfach. Hichcock würde auf diese Weise<br />
für Peters Reisespesen aufkommen, wenn er im kommenden<br />
Sommer <strong>Ingrid</strong> bei der Produktion in England und anschliessend<br />
seine Familie in Schweden besuchen würde. (Ausserdem<br />
335
sah er vor, im Sommer 1948 verschiedene neurologische Abteilungen<br />
in England und Skandinavien zu besuchen.)<br />
Es ergab sich dann, dass "Joan of Arc" bis im September<br />
nicht bereit war für die Produktion, sodass die ruhige Routine<br />
im Benedict Canyon für <strong>Ingrid</strong> schwer erträglich wurde.<br />
Ihre Rastlosigkei wurde für sie beide zur Belas<strong>tu</strong>ng. "Ich hatte<br />
eine süsse Tochter und einen netten Ehemann", sagte <strong>Ingrid</strong>.<br />
336<br />
"Petter und ich liebten uns nicht mehr, aber viele Ehen<br />
sind so und überleben. Ich hatte ein schönes Haus und<br />
einen Swimming Pool. Ich erinnere mich, wie ich eines<br />
Tages am Pool sass und mir plötzlich die Tränen über<br />
die Wangen liefen. Warum war ich so unglücklich? Ich<br />
hatte Erfolg, lebte in Sicherheit. Aber das war nicht genug,<br />
ich explodierte innerlich."<br />
Nach und nach wurden die Gründe für ihre Unzufriedenheit<br />
klar. "Ich langweilte mich. Ich sah mich am Ende jeder<br />
Entwicklung. Ich war auf der Suche nach etwas und wusste<br />
nicht, wonach." Auf ihren Reisen nach Alaska und Europa und<br />
nach ihrem Erfolg in New York realisierte <strong>Ingrid</strong>, dass "ich nirgends<br />
so hilflos war, wie in meinem eigenen Heim – dass ich<br />
mich frei ausdrücken konnte und die Leute mir zuhörten." Sie<br />
wolle, sagte sie Petter diesen Sommer, eine Weltreise unternehmen<br />
und in verschiedenen Ländern arbeiten um ihre Fähigkeiten<br />
und Erfahrungen weiterzuentwickeln. Gut, sagte er:<br />
gab je ein Mann seiner Frau grössere Freiheiten <strong>als</strong> er? Ja, das<br />
stimme, wie sie sagte, aber Freiheit erlebte sie nur weg von<br />
zuhause. Diese Saison hatte sie nichts weiter zu <strong>tu</strong>n, <strong>als</strong> auf<br />
den Beginn von "Joan of Arc" zu warten.<br />
Die Dreharbeiten begannen endlich am 16. September<br />
in den alten Hal Roach-S<strong>tu</strong>dios in Culver City, sehr nahe bei<br />
Selznick. Für einen <strong>als</strong> geistiges Testament geplanten Film,<br />
war "Joan" inzwischen zu einem opulenten Epos angewachsen,<br />
dessen Kosten die von "Gone With The Wind" bereits um $ 1<br />
Mio. übertrafen.
Zunächst einmal musste das theatralische Rahmenwerk,<br />
das die Ideologie des Bühnenstücks stützte, abgespeckt<br />
werden. Danach blieb noch ein rein historisches Gerüst erhalten,<br />
sodass das von Maxwell Anderson gestaltete und von Andrew<br />
Solt vervollständigte Script so etwas wie ein mittelalterlicher<br />
Western wurde, mit der Jungfrau von Orléans <strong>als</strong> frommer<br />
Calamity Jane, die gegen die Engländer statt gegen die Indianer<br />
kämpfte. Die Produktion ging drunter und drüber bis sie <strong>als</strong><br />
auf Andersons strengem Stück basiertes Werk nicht mehr zu<br />
erkennen war. Und <strong>Ingrid</strong>, die zu finster geschminkt war, um<br />
ihre schwedische Schönheit abzutönen, glich eher einer aus<br />
"For Whom The Bell Tolls" transferierten Maria. In den S<strong>tu</strong>dios<br />
um sie herum lagerten 71 Kanonen, 500 Armbrüste, 110 Pferde<br />
und 150 Rüs<strong>tu</strong>ngen, doch all dieser historischen Nachahmung<br />
zum Trotz sah <strong>Ingrid</strong> diesen Aufwand mit wachsender<br />
Sorge. "Das war sehr schön", sagte sie nachdem sie anfangs<br />
1948 die letzten Szenen gesehen hatte. "Aber laßt uns doch<br />
den Rest des Films von vorne neu aufnehmen." Indes war niemand<br />
willens, nochm<strong>als</strong> $ 4,6 Mio. aufzubringen.<br />
Sie brauchte die Beendigung des Films nicht abzuwarten,<br />
um zu wissen, dass sie alle in echten Schwierigkeiten waren.<br />
RKO-Direktoren, die für die Ausgabe des Films zuständig<br />
waren, hatten das Recht "Vorschläge" zu machen, was sie<br />
auch taten, zusätzlich zu jenen, die im Film bereits berücksichtigt<br />
waren. Jedem Zuschauer mit kritischem Auge war klar,<br />
dass "Joan of Arc" zu einem grossen und sehr teuren Langweiler<br />
wurde.<br />
Aber wie üblich gestaltete <strong>Ingrid</strong> ihre Rolle brilliant. "Sie<br />
ist kugelsicher", sagte Fleming <strong>als</strong> Fazit der Meinungen seiner<br />
drei Fotographen. "Es stand noch keine Figur wie sie vor der<br />
Kamera. Du kannst sie aus jedem Winkel nehmen, in jeder<br />
Stellung. Ohne Unterschied – du brauchst sie nicht (vor unvorteilhaften<br />
Bildern) zu schützen. Du kannst dich um die andern<br />
Schauspieler kümmern, aber <strong>Ingrid</strong> ist wie ein Notre Dame<br />
Quarterback. Der Zuschauer kann seine Augen nicht von ihr<br />
nehmen!"<br />
337
Auch das Publikum konnte es nicht, das in grosser Zahl<br />
aufmarschierte um <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> Jeanne zu sehen und vom Film<br />
auch nicht enttäuscht war. Es wäre ihr leicht gefallen, die üblichen<br />
frommen Blicke zu werfen, die Schauspieler oft <strong>als</strong> Ersatz<br />
für innere Überzeugung einsetzen; statt dessen hatte ihre Darstellung<br />
die Qualität von äusserster Transparenz – das Licht<br />
schien eher durch sie hindurch zu scheinen, <strong>als</strong> sie zu beleuchten,<br />
und das war der tiefen Menschlichkeit zu verdanken, die<br />
sie der Jungfrau gab. Sie hat keine Gips-Heilige porträtiert,<br />
sondern eine echt menschliche, verwirrte Frau, die weiss, dass<br />
Gott manchmal Gerades in krummen Zeilen schreibt. Und es<br />
ist unwahrscheinlich, dass wer den Film gesehen hat je die<br />
letzte Szene auf dem Scheiterhaufen vergessen wird.<br />
<strong>Ingrid</strong> machte sich Sorgen um die gesamte Produktion,<br />
und das – zusammen mit ihrer seelischen Belas<strong>tu</strong>ng von zuhause<br />
– führte dazu, dass sie nach Arbeitsschluss mehr und<br />
mehr Zeit im S<strong>tu</strong>dio verbrachte. "Ich muss meine Hände überall<br />
drin haben", sagte sie einmal in jener Saison, "ich kann<br />
nicht anders." Nach Laurence Stallings (der mit Maxwell Anderson<br />
Co-Autor an "What Price Glory?" war und die Schlachtszenen<br />
von "Joan" schrieb), "ging sie mit äusserster Demut an<br />
das Werk heran, mit dem innigsten Wunsch, alles recht zu machen."<br />
Am Ende des Tages diskutierte sie die Szenen noch weiter,<br />
während sie sich einen Bourbon und Fleming und dessen<br />
Kollegen generöse Drinks eingoss.<br />
Beim Versuch, aus einer Schlacht und einem Prozess<br />
ein packendes Drama zu gestalten, arbeiteten alle Überzeit.<br />
Nach den Dreharbeiten am 31. Okt<strong>ob</strong>er beispielsweise gingen<br />
<strong>Ingrid</strong> und Fleming um ungefähr neun Uhr abends weg. Aber<br />
diesmal fuhr sie nicht nachhause. Stattdessen hastete sie zum<br />
Makeup-Department, wo sie sich eigenhändig ein warzenbesetztes,<br />
grünlichkrankes Gesicht verpasste, eine schreckliche<br />
schwarze Perücke aufsetzte und ein hastig zusammengestelltes<br />
Kostüm anzog. Eine halbe S<strong>tu</strong>nde danach brauste "die Hexe" in<br />
Flemings Heim in Beverly Hills, umkreiste ihn auf ihrem Besen<br />
mit schrillem, gackerndem Gelächter nachdem sie Flemings<br />
staunenden Töchtern Säcke voll Süssigkeiten in den Schoss<br />
338
geworfen hatte. Anderntags schrieb ihr Fleming ein paar Zeilen<br />
des Inhalts, sie sei ungeachtet ihres Aufzugs immer sein Engel.<br />
Aber die späten S<strong>tu</strong>nden waren in der Regel intimer,<br />
und einmal zu oft sagte sie Petter, sie bleibe über Nacht bei<br />
Ruth, um mit ihr die Texte für den nächsten Tag zu pr<strong>ob</strong>en.<br />
"Aber Ruth war sehr erstaunt, <strong>als</strong> ich bei ihr auftauchte", sagte<br />
Petter später, "Zunächst behauptete sie, <strong>Ingrid</strong> habe sich in<br />
einem Zimmer eingeschlossen, um zu arbeiten. So suchte ich<br />
die Wohnung ab, ohne <strong>Ingrid</strong> zu finden. Ruth musste dann<br />
zugeben, dass <strong>Ingrid</strong> mit einem Freund ausgegangen sei. Einige<br />
Tage danach kam Flemings Frau zu mir und sagte 'Sie müssen<br />
mir helfen, mein Mann muss mit dieser Beziehung aufhören!'"<br />
"Ich war nie perfekt und unsere Ehe war alles andere<br />
<strong>als</strong> ideal", gab Petter zu. "Einer meiner vielen Fehler war, dass<br />
ich mit der Scheidung, die ich 1947 (nach dem Treffen mit<br />
Flemings Frau) fest vorschlug, nicht voranmachte. <strong>Ingrid</strong> bat<br />
mich, davon abzusehen und versprach, sie wolle ihr Leben ändern"<br />
– und zum Zeichen dafür, dass sie es ernst damit meine,<br />
schlug sie vor, sie wollten ein zweites Kind haben, s<strong>ob</strong>ald ihr<br />
bevorstehender Film mit Hitchcock im kommenden Sommer<br />
fertig sei. Petter war – sogar zu ihrem Erstaunen – einverstanden.<br />
"Wir beschlossen, das Haus neu zu bauen", erinnerte sie<br />
sich, "um für ein neues Familienmitglied Platz zu schaffen. Ich<br />
wollte noch ein Kind, weil ich glaubte, dadurch meinem Leben<br />
Inhalt und Erfüllung zu geben. Ich dachte, dass dies vielleicht<br />
die Antwort auf meine Rastlosigkeit wäre. Aber jedesmal, wenn<br />
ein Handwerker auf dem Dach hämmerte, empfand ich das wie<br />
Nägel, die in meinen Kopf getrieben wurden." Gleichzeitig<br />
sehnte sich Pia nach mehr Zeit mit ihrer Mutter, und so gesehen<br />
war <strong>Ingrid</strong>s Wunsch nach einem zweiten Kind vielleicht<br />
wirklich absurdeste Fantasie.<br />
Obschon er aufgrund der von ihr anerkannten Gründe<br />
der Untreue leicht die Scheidung von ihr hätte verlangen können<br />
– warum <strong>als</strong>o tat Petter es nicht? Warum blieb er ein duldsamer<br />
Ehemann?<br />
339
Die Antwort darauf gab er selbst: "Ich lebte damit wegen<br />
ihres Einkommens."<br />
340
1946 - "Jeanne d'Arc"<br />
341
342<br />
1947 - "Jeanne d'Arc"
1945 - "Jeanne d'Arc"<br />
343
344<br />
1958 - <strong>als</strong> Anna Kalman in "Indiskret"
1948<br />
"Lieber Herr Rossellini,<br />
Von heute an müssen Sie keine Blumen mehr zerpflücken.<br />
Nun sage ich: gutes Script, schlechtes Script, gutes Script –<br />
spielt keine Rolle! Ich bin sehr glücklich.<br />
<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>"<br />
NICHT LANGE NACH NEUJAHR luden Alfred und Alma<br />
Hitchcock die Lindströms zu einer Party in ihr Heim in Bel Air,<br />
einer ruhigen, abgeschotteten Enklave zwischen Beverley Hills<br />
und dem Brentwood-Quartier von Los Angeles ein. Im Wissen<br />
um <strong>Ingrid</strong>s unglückliches Privatleben und ihre Enttäuschung<br />
über "Joan" zeigte Hitchcock Mitgefühl, umsomehr <strong>als</strong> er<br />
selbst auch Pr<strong>ob</strong>leme hatte. Er begann mit "Rope" und dem<br />
erstmaligen Experiment, ausschliesslich mit Zehnminuten-Sequenzen<br />
ununterbrochene Echtzeit-Darstellung zu erreichen –<br />
w<strong>ob</strong>ei die dabei auftretenden Schwierigkeiten die Crew nahe<br />
an einen bewaffneten Aufstand trieben. (Der normalerweise<br />
gelassene James Stewart beispielsweise beklagte, dass nicht<br />
für die Schauspieler sondern für die Kamera gepr<strong>ob</strong>t werde.)<br />
Weder Hitchcock noch <strong>Ingrid</strong> schien sehr glücklich an diesem<br />
Abend, aber ihm bot sich eine hervorragende Gelegenheit,<br />
festliche Stimmung zu markieren: mehr denn je in <strong>Ingrid</strong> verliebt,<br />
liess er seine Vernarrtheit in seine Pläne für die im kommenden<br />
Sommer bevorstehende Reise nach England einfliessen,<br />
wo sie "Under Capricorn" drehen wollten.<br />
Hitchcocks Selbstbeherrschung wirft ein noch<br />
berührenderes Licht auf die Erscheinung eines der beliebtesten<br />
Hollywood-Stars, der seinem beruflichen und privaten Unglück<br />
345
zum Trotz anmutige Fröhlichkeit mimt, und die dazu passende<br />
Erscheinung eines der bewundertsten Hollywood-Regisseure,<br />
der joviale Aufgeräumtheit vorgibt, während seine traurigen,<br />
hingerissenen Blicke an seiner unglücklichen Geliebten hängen.<br />
Wie andere Gäste be<strong>ob</strong>achteten, war Hitchcocks Verhalten an<br />
jenem Januarabend betont melancholisch, und wie üblich fanden<br />
seine tiefsten Gefühle wieder den Weg in seine im Gange<br />
befindliche Arbeit. "Ach ja, <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>!" liess er einen<br />
Schauspieler in einer Szene von "Rope".. sagen, die in der darauffolgenden<br />
Woche gedreht wurde. "Sie ist der Mädchentyp,<br />
sie ist doch einfach süss!"<br />
Wenige Tage danach lud Hitchcock <strong>Ingrid</strong> zum Lunch<br />
ein, w<strong>ob</strong>ei er ihr seine Ideen für "Unter Capricorn" umriss und<br />
ihr eine Kopie des Romans und der ersten Scriptfassung von<br />
Hume Cronin übergab. Während sie die Seiten durchblätterte<br />
wies er <strong>Ingrid</strong> darauf hin, dass sie grosse Unterschiede zwischen<br />
dem Roman und seinen Ideen für den Film erkennen<br />
werde.<br />
Die Erzählung, im Jahre 1831 in Australien angesiedelt,<br />
betrifft Charles Adare (im Film durch Michael Wilding dargestellt),<br />
Cousin des Gouverneurs von Australien, der 'Under<br />
Capricorn' besucht und dort einen verbitterten Ex-Sträfling<br />
namens Sam Flusky (Joseph Cotten) trifft. Wegen Mordes nach<br />
Australien (dam<strong>als</strong> Sträflingskolonie) verbannt, hatte Flusky<br />
vor langer Zeit die wohlhabende Lady Henrietta Considine (<strong>Ingrid</strong>)<br />
geheiratet, die aus unverständlichen Gründen eine<br />
krankhafte Trinkerin ist. Adare beginnt sich für den sonderbaren<br />
Haushalt der Fluskys zu interessieren, der von der schweinischen,<br />
eifersüchtigen Haushälterin Milly (Margaret Leighton)<br />
geführt wird, die in Sam verliebt ist.<br />
Um die Sache noch zusätzlich zu komplizieren, verliebt<br />
sich Adare in Henrietta beim Versuch, sie von ihrer Krankheit<br />
loszubekommen. Provoziert durch eine Intrige Millys, erschiesst<br />
Sam Adare (der aber überlebt), wodurch Henriettas<br />
neurotischer Schuldkomplex sie an den Abgrund führt. Sie gesteht<br />
Adare, das nicht Sam sondern sie für den Tod ihres Bru-<br />
346
ders verantwortlich war und Sam die Schuld dafür auf sich<br />
nahm und zu Unrecht sieben Jahre hinter Gittern dafür büsste.<br />
Bevor Adare auf seine grosse Liebe verzichtet und Henrietta<br />
wieder der Zuneigung von Sam überlässt (die diesem von seiner<br />
Frau nun wieder erwidert wird), erweist sich, dass Milly<br />
Henritta vergiftet hatte. Adare enttarnt die Haushälterin und<br />
verabschiedet sich dann von den Fluskys, die sich nun einem<br />
besseren gemeinsamen Leben zuwenden können.<br />
WÄHREND HITCHCOCK SEINE IDEEN BESCHRIEB, fielen<br />
<strong>Ingrid</strong> plötzlich die erstaunlichen Parallelen zwischen seiner<br />
Vision von "Unter Capricorn" und den beiden vorangehenden<br />
Filmen auf, die sie mit ihm gemacht hatte. Aus "Spellbound"<br />
stammte das Motiv des Geheimnisses und Schuldkomplexes<br />
aus der Jugendzeit, die das erwachsene Leben mit lähmender<br />
Neurose überziehen; aus "Notorious" das Thema der Alkoholsucht<br />
einer Frau und des Versuchs ihrer Vergif<strong>tu</strong>ng. Alle drei<br />
Geschichten enthielten eine intensive Romanze mit einem<br />
überlagernden Sinn für Reue, w<strong>ob</strong>ei das Bedürfnis nach Geständnis<br />
vor der Strafe einen schrecklichen Preis fordert. So<br />
melodramatisch sie war, war die Rolle der Henrietta Flusky<br />
doch geheimnisvoll und voller Emotionen, die <strong>Ingrid</strong> den Stoff<br />
zu einigen starken Szenen boten und ihr ausserdem erlaubten,<br />
einmal jemand völlig anderer zu sein, <strong>als</strong> Jeanne d'Arc.<br />
So nahm sie im März die 'Capricorn'-Unterlagen zum<br />
S<strong>tu</strong>dium auf ihre Reise nach Frankreich mit, wo sie sich den<br />
Fotographen in Reims, Rouen und an anderen historischen<br />
Stätten aus Jeannes Geschichte für Aufnahmen stellte, die später<br />
im Jahr für die Film-Werbung benötigt wurden. Nach ihrer<br />
Rückkehr nach Beverley Hills erreichte sie ein Geschenk ihres<br />
französischen Gastgebers, eines gelehrten Priesters, der sie <strong>als</strong><br />
ihr Führer und Pressesprecher begleitet hatte. Aber das Paket,<br />
das eine antike hölzerne Madonna-Sta<strong>tu</strong>e enthielt, wurde beim<br />
Transport beschädigt. Eine Notiz der Zollbehörden schaffte<br />
Klarheit: "Jungfrau in Hollywood angekommen – leicht beschädigt<br />
– Kopf verloren." Was <strong>Ingrid</strong> zu ihrer belustigten Reaktion<br />
347
veranlasste: "Nun, so sehen Sie Hollywood!"<br />
Zwischen Frankreich und Kalifornien hatte <strong>Ingrid</strong> zwei<br />
Zwischenhalte eingelegt. Ende März kam sie in New York an,<br />
wo sie einige Theaterstücke sah und Irene Selznick besuchte,<br />
die dam<strong>als</strong> <strong>als</strong> Produzentin von Tenessee Williams Stück "A<br />
Streetcar Named Desire" grossen Erfolg hatte. Als sie eines<br />
Abends auf dem Weg zum Theater den Broadway entlang eilte,<br />
fiel <strong>Ingrid</strong> auf einem Filmplakat ein bekannter Name auf. R<strong>ob</strong>erto<br />
Rossellinis "Paisà" war in die amerikanischen Kinos gekommen,<br />
und am folgenden Nachmittag stand <strong>Ingrid</strong> an der<br />
Kinokasse, um ein Ticket zu kaufen. Sie war einer von etwa<br />
einem halben Dutzend Zuschauern und war nach der Vorstellung<br />
entsetzt über die Indifferenz der Leute.<br />
Einmal mehr war <strong>Ingrid</strong> gefangen von Rossellinis ungekünstelter<br />
Kraft. 1946, gleich nach "Open City" produziert,<br />
erzählte "Paisà" sechs Geschichten vom Helden<strong>tu</strong>m und der<br />
Würde des einfachen Volks während und nach dem Krieg. Jede<br />
einzelne Szene stellte die Schönheit der Charaktere über jene<br />
der Erscheinung, den Idealismus über den Egoismus. Der Realismus<br />
und die Einfachheit von Rossellinis Geschichten war für<br />
<strong>Ingrid</strong> – erzogen in der Strenge schwedischer Produktionen<br />
und Hollywoods sorgfältiger Beach<strong>tu</strong>ng eines jeden sichtbaren<br />
Details – sowohl ein Tadel wie auch eine Herausforderung zur<br />
Veränderung.<br />
Als sie vor zwei Jahren "Open City" sah, war sie von einer<br />
Szene zu Tränen gerührt, in der Anna Magnani ihren Liebhaber<br />
dazu beschwört, seinen Idealen im Vertrauen auf ihre<br />
Liebe zu ihm treu zu bleiben. <strong>Ingrid</strong> schilderte Freunden auch<br />
die nachfolgende Szene in lebhaften Farben, in der Magnani<br />
bei der Verfolgung des Polizeiwagens, in dem er abgeführt<br />
wird, erschossen wird. Es war, wie sie sagte, das exakte Gegenteil<br />
des sterilen Endes von "For Whom The Bell Tolls" – genauso<br />
wie der Mut des Widerstandskämpfers und des Priesters<br />
in "Open City" , die Folter und Tod eher in Kauf nahmen, <strong>als</strong><br />
ihre Gefährten in Gefahr zu bringen, sich nur auf einer andern<br />
Ebene abspielten <strong>als</strong> das sentimentale Ende von "The Bells Of<br />
348
St. Mary's", wo <strong>Ingrid</strong> Bing Crosby gegenüberstand. Sie hatte<br />
nichts gegen McCarey: seine Story hielt sich an die Vorlage.<br />
Aber Rossellini hatte ihr erfassbare Menschen gezeigt, die mit<br />
gnadenlosen Dilemmen konfrontiert werden, die nicht im<br />
Handumdrehen oder mit einem Klischee zu lösen waren.<br />
Jetzt nach "Paisà" war <strong>Ingrid</strong> mehr denn je überzeugt<br />
davon, dass Rossellini, der seine Schauspieler immer dem<br />
Thema unterordnete und sich nie zum reinen Glanz herabliess,<br />
der Schlüssel zur Überwindung ihres Missbehagens wäre. Sie<br />
hatte mit Erfolg in drei verschiedenen nationalen Filmkul<strong>tu</strong>ren<br />
gearbeitet – warum nicht in einer vierten? Sie hatte Deutsch<br />
und Englisch gelernt – warum nicht auch Italienisch? An diesem<br />
Nachmittag ignorierte <strong>Ingrid</strong> den schlaffen Verlauf des<br />
Films und die laienhaftigkeit seiner hölzernen Darsteller (meist<br />
Leute, die der Regisseur in den Strassen von Rom aufgegabelt<br />
hatte): stattdessen sah sie geradewegs das Ziel, das Rossellini<br />
verfolgte – Ehre vor Nutzen. Die Person der Bäuerin Carmela,<br />
die irrtümlicherweise zur Märtyrerin wird, und von Harriett, der<br />
heroischen Krankenschwester, berührten eine Schauspielerin,<br />
die Jeanne d'Arc verehrt, tief; sie sah erstm<strong>als</strong> was ein Regisseur,<br />
der den Einschränkungen von Hollywoods leichter Unterhal<strong>tu</strong>ng<br />
nicht unterworfen ist, zustandebringen konnte.<br />
"Open City" war fraglos der bedeutendere Film, aber<br />
"Paisà" (der ebenfalls von Fellinis Mitarbeit profitierte) hatte<br />
Momente der Grösse, deren Kraft von der visuellen und emotionalen<br />
Intimität und der Komplexität herrührte, ambitionierte<br />
aber stets ehrliche Portraits von Menschen wie Francesca, ein<br />
unschuldiges Mädchen, das durch bittere Notwendigkeit zur<br />
Prosti<strong>tu</strong>tion gezwungen wurde. Sie trifft zufällig mit ihrem alten<br />
Jugendfreund zusammen, der sie nicht mehr erkennt und<br />
sie verlässt, ohne ihre wahre Identität erfahren zu haben. Eine<br />
Geschichte der verlorenen und später ersehnten Tugend ging<br />
<strong>Ingrid</strong>, der weder Affären noch Ehen wirkliche Sicherheit verschafft<br />
haben, stark unter die Haut. Sicherheit fand sie nur in<br />
ihrer Arbeit. Aber das zu erwartende Schicksal ihres Films über<br />
Jeanne d'Arc liess vermuten, dass sie selbst mit ihrer Arbeit<br />
auf dem f<strong>als</strong>chen Weg war.<br />
349
IHRE RETTUNG, ERZÄHLTE INGRID Irene Selznick jenen<br />
Abend am Dinner, könne nur in einem dramatischen Rich<strong>tu</strong>ngswechsel<br />
ihrer Karriere liegen. Sie habe immer in<strong>tu</strong>itiv<br />
gespielt, wie Rossellinis Laienspieler, und sie sei immer willens<br />
gewesen, in einer Rolle ungeschminkt aufzutreten. War sie<br />
nicht genau die Richtige für einen Rossellini-Film? Und könnte<br />
ihre Berühmtheit nicht auch ihm helfen, von einem erweiterten<br />
internationalen Publikum akzeptiert zu werden?<br />
Was <strong>Ingrid</strong> aber nicht erkennen konnte, war ein kritisches<br />
Element in Rossellinis Arbeitsweise, welches niemand<br />
klarer definieren konnte <strong>als</strong> der Regisseur selbst: "Um zu meinen<br />
Darstellern zu kommen, begann ich damit, mich mit meinem<br />
Kameramann im Zentrum jenes Raumes einzurichten, in<br />
dem die folgende Szene geschossen werden sollte. Passanten<br />
und Zuschauer begannen sich dann rund um uns herum anzusammeln,<br />
sodass ich meine Schauspieler aus der herumstehenden<br />
Menge auswählen konnte. Wir passten uns den jeweiligen<br />
Umständen an und den Schauspielern, die uns zur Verfügung<br />
standen." Und dann folgte der entscheidende Punkt: "Der<br />
Dialog und die Intonation wurden durch die Laiendarsteller<br />
bestimmt. Ich schloss mein Script nie ab, bevor wir am Drehort<br />
angekommen waren."<br />
Tatsache war, dass seine Geschichte und sein Script<br />
selbst nach den Dreharbeiten noch unvollständig blieben: Rossellini<br />
arbeitete in einer Art ispirierter Laune im Synchronisationsraum<br />
und am Montagetisch. So machte es auch sein Autor,<br />
Federico Fellini, aber in seinen späteren Meisterwerken, kann<br />
man sagen, arbeitete Fellini mit einem stärkeren, zielgerichteteren<br />
Genius <strong>als</strong> Rossellini, wie auch mit entschlossenerer Hingabe<br />
an die erzählerische Qualität und die Erkenntnis, dass die<br />
psychologische oder spiri<strong>tu</strong>elle Wahrheit oft geistige Höhenflüge<br />
erfordert, die das Publikum in die Bereiche jenseits des reinen<br />
Realismus entführen.<br />
Aber da war ein besonders wichtiger unter vielen anderen<br />
Widersprüchen in Rossellini, wie <strong>Ingrid</strong> an diesem Dinner<br />
von Irene erfuhr (deren Mann seine Verhandlungen mit ihm<br />
350
eben verlängert hatte). Obschon er auf Schauspieler eigentlich<br />
verzichten wollte, erkannte Rossellini zusehends, wie sehr er<br />
sie benötigte. In dieser Saison war er in Verhandlungen mit<br />
David Selznick über die Produktion eines Films, weshalb er<br />
dessen Vertrags-Schauspielerin und Mätresse, Jennifer Jones,<br />
ein Telegramm sandte: "Gra<strong>tu</strong>lation zu ihrer wundervollen<br />
Leis<strong>tu</strong>ng in "Duel in The Sun". Hoffe, bald mit Ihnen arbeiten<br />
zu können." Tatsächlich hatte Rossellini "Duel" überhaupt nicht<br />
gesehen, und da er an Hollywood-Schauspielerinnen nie interessiert<br />
war, hatte er auch keine Ahnung, wer Jennifer Jones<br />
war. Aber er hatte findige Berater, wie z.B. seinen Anwalt, einen<br />
kultivierten Herrn mit dem stattlichen Namen Ercole<br />
Graziadei (Herkules Gottseidank) und eine Agentin mit der<br />
ebenso bunten Unterschrift Arabella Le Maître. Während ihre<br />
Namen an die Oper des neunzehnten Jahrhunderts erinnerten,<br />
waren deren Interessen klar modern.<br />
Die Idee, die Selznick und Rossellini diskutierten, war<br />
eine neorealistische Version von "Jeanne d'Arc" mit Jennifer<br />
Jones in der Titelrolle, die eben den Oscar für ihre Darstellung<br />
der Heiligen Bernadette gewonnen hatte und im echten Leben<br />
bald die Rolle der zweiten Mrs. Selznick übernehmen sollte.<br />
Aber im Hinblick auf <strong>Ingrid</strong>s Film wurde "Joan" über Bord geworfen.<br />
Dennoch liessen Produzent und Regisseur die Tür für<br />
weitere Projekte offen. Noch während des Dinners erklärte<br />
<strong>Ingrid</strong> Irene, dass sie Rossellini einen einfachen Brief schreiben<br />
werde, s<strong>ob</strong>ald sie seine Adresse ausfindig gemacht habe.<br />
Irene hatte die Adresse und sandte sie <strong>Ingrid</strong> ein paar<br />
Tage später nach Washington. Dort verlieh am 5. April Präsident<br />
Truman <strong>Ingrid</strong> den Women's National Press Club Award<br />
für überragendes Bühnen-Schauspiel. Nach einigen Dankesworten<br />
erklärte <strong>Ingrid</strong> – eindeutig inspiriert von Rossellini –<br />
unverblümt, dass die Produktion ehrlicher Filme in Amerika<br />
durch die Zensur behindert werde (seit "Intermezzo" gab es<br />
von Motion Pic<strong>tu</strong>re Code schreckliche Einsprachen zu allem und<br />
jedem), wie auch durch Einsprachen von Regierungsseite (J.<br />
Edgar Hoover und sein Umfeld hatten Hitchcock schwer zugesetzt<br />
wegen dem Bombenmotiv und den schockierend unmora-<br />
351
lischen amerikanischen Agenten in "Notorious") und die Nachfrage<br />
nach hohler, <strong>ob</strong>erflächlicher Unterhal<strong>tu</strong>ng im Nachkriegs-<br />
Amerika. Das sei kein Klima für seriöse Arbeit, schloss sie nach<br />
höflich-verhaltenem Applaus.<br />
Ebenfalls im April kam endlich auch "Arch of Triumph"<br />
in die Kinos. Eine typische Kritik lautete in etwa: "Miss <strong>Bergman</strong><br />
und Mr. Boyer sehen blendend aus, aber sie sind nur Figuren<br />
in einem langsamen, teuren und viel zu langweiligen<br />
Film." Umsomehr war für <strong>Ingrid</strong> durch den Misserfolg des Films<br />
in Kritik und Finanzen klar, wo ihre künstlerische Zukunft lag.<br />
So zeigte sie Petter den Brief, den sie Rossellini schicken wollte:<br />
352<br />
"Sehr geehrter Herr Rossellini,<br />
Ich sah Ihre Filme "Open City" und "Paisà", die mir<br />
sehr gefallen haben. Wenn Sie eine schwedische<br />
Schauspielerin brauchen können, die sehr gut Englisch<br />
spricht, ihr Deutsch nicht vergessen hat, deren Französisch<br />
nicht gut verstanden wird und deren Italienisch<br />
sich auf 'ti amo' (ihre letzten Worte in "Arch of Triumph")<br />
beschränkt, bin ich bereit, zu kommen und einen<br />
Film mit Ihnen zu machen.<br />
Beste Grüsse<br />
<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>"<br />
Das gefiel Petter, der beifügte, dass es ihnen gemeinsam<br />
vielleicht gelingen könnte, Rossellini nach Amerika zu<br />
holen und die ersten zu sein, die ihn in Hollywood hätten und<br />
dass Petter sicher – vielleicht sogar mit David Selznick – ein<br />
Arrangement für einen Rossellini-<strong>Bergman</strong>-Film mit ihm treffen<br />
könnte. Er drängte sie, den Brief sofort abzusenden, was<br />
sie am 30. April auch tat. Damit initiierte Petter Lindström<br />
unabsichtlich eine Si<strong>tu</strong>ation, die zu einem internationalen<br />
Skandal führte und seine Ehe in Schutt und Asche sinken liess.<br />
Rossellini erhielt den schicks<strong>als</strong>haften Brief am 8. Mai –<br />
seinem 42. Geburtstag, erkannte sofort ein ausserordentlich<br />
interessantes Zusammentreffen von glücklichen Zufällen und
kabelte unverzüglich seine Antwort an <strong>Ingrid</strong>. Obschon er nie<br />
daran gedacht hätte, mit ihr zusammenzuarbeiten (und auch<br />
über ihre Fähigkeiten nur ganz vage informiert war), akzeptierte<br />
er die Ratschläge seiner Berater, die ihn davon überzeugten,<br />
dass der beste Weg zu amerikanischem Finanzsupport<br />
über einen populären amerikanischen Star führte:<br />
"Sehr geehrte Frau <strong>Bergman</strong>,<br />
Zu meiner grossen Freude erhielt ich eben Ihren Brief<br />
– das schönste Geschenk zu meinem heutigen Geburtstag.<br />
Tatsächlich habe ich davon geträumt, mit Ihnen<br />
einen Film zu machen, und nun werde ich alles<br />
daransetzen, dies so schnell wie möglich zu verwirklichen.<br />
Ich werde Ihnen einen langen Brief schreiben,<br />
um Ihnen meine Ideen darzulegen. Mit dem Ausdruck<br />
meiner Bewunderung, genehmigen Sie bitte. . . etc.<br />
etc.<br />
R<strong>ob</strong>erto Rossellini"<br />
Die Ironie des Schicks<strong>als</strong>, die solchen Dingen oft anhaftet,<br />
wollte es, dass Rossellini <strong>Ingrid</strong>s Schmeichelei sofort zu<br />
einem Versuch benutzte, einen Handel mit Selznick abzuschliessen,<br />
der <strong>Ingrid</strong> gerne selbst nochm<strong>als</strong> unter Vertrag<br />
genommen hätte, aber über die vagen Informationen, die<br />
Rossellini über seine Vertreter nach Hollywood fliessen liess,<br />
verunsichert war. Fünf Tage nach dem Erhalt von <strong>Ingrid</strong>s Brief<br />
traf Rossellini in Mailand Jenia Reissar. Weil er kein Englisch<br />
und sie kein Italienisch sprach, unterhielten sie sich in französischer<br />
Sprache.<br />
"Rossellini sagte, er sei äussert interessiert daran,<br />
<strong>Bergman</strong> zu haben", schrieb Reissar ihrem Boss,<br />
"und das natürlich unter dem Selznick-Vertrag. Ich<br />
sagte ihm, dass wir mit <strong>Bergman</strong> Schwierigkeiten<br />
hatten und dass sie vielleicht nicht mit uns arbeiten<br />
möchte. Seine Antwort war, er werde ihr sagen, er<br />
wolle sie für einen Film, hätte eine Story für sie und<br />
353
354<br />
dass er Partner hätte, die mit ihm in Italien zusammenarbeiteten<br />
– kein Wort von Selznick! Es gehe sie<br />
nichts an, wer sie seien. Wenn sie die Story ablehne<br />
oder zuviel Geld fordere – dann sei das eben das Ende!<br />
. . . Er wollte wissen, wie <strong>Bergman</strong> entlöhnt wurde.<br />
Ich sagte ihm, ich wisse das nicht, sie sei aber<br />
sehr teuer. Er sagte, sie müsse wissen, dass er ihr<br />
keine Hollywood-Gagen bezahlen könne und dass,<br />
wenn sie eine unmögliche Summe fordere, es keinen<br />
Film gebe."<br />
Rossellini hoffte auf eine von drei Möglichkeiten: (a)<br />
dass Selznick das ganze Projekt finanzierte; (b) dass Selznick<br />
den fertigen Film nur in Amerika vertreiben würde und die<br />
Finanzen in Europa aufzubringen wären; oder (c) dass Selznick<br />
ihm Vertrags-Schauspieler ausleihen würde. Was immer<br />
daraus würde, er hätte keine Absicht, allein für die Schauspieler<br />
Riesensummen aufzubringen. "Ich werde alles unterschreiben,<br />
was Sie wollen", sagte Rossellini zu Reissar beim Abschied.<br />
Diese Zusage fiel ihm sehr leicht, wie alle Beteiligten<br />
bald erkennen konnten, denn Rossellini hielt sich grundsätzlich<br />
an keinen Vertrag. "Er ist ein temperamentvoller und verantwor<strong>tu</strong>ngsloser<br />
Mensch", schrieb Reissar an Selznick. Was <strong>Ingrid</strong><br />
betrifft, so hatte er seinen "Traum", einen Film mit ihr zu<br />
machen, bei der Abfassung des Telegramms.<br />
Von allem Anfang an war es dann Rossellinis Ziel, mit<br />
amerikanischem Geld einen Film zu machen – welches Projekt<br />
oder mit welchen Darstellern: er wusste es noch nicht. Aber<br />
welche Mittel es auch erforderte, er würde sie nehmen. Und er<br />
würde sich freuen, seinen ersten Film zum Vehikel für<br />
Selznicks Geliebte, Jennifer Jones zu machen. Rossellini stellte<br />
nur eine Bedingung: er musste die Mitwirkung seiner Mätresse,<br />
Anna Magnani, in einem der auszuhandelnden Filme sicherstellen.<br />
Sie sei, wie er beifügte, rasend eifersüchtig, dass er einen<br />
Selznick-Vertrag ohne ihre Gegenwart auch nur diskutiere.<br />
"Aber er sagte, sie sei eine verrückte Frau", berichtete Reissar,<br />
"die erst spät in ihrem Leben zum Erfolg kam (sie war vierzig!)<br />
und vom Geschäft nichts verstehe." <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Fanbrief
war eine Trumpfkarte, die er nicht erwartet hatte.<br />
Am 15. Mai erhielt <strong>Ingrid</strong> einen langen Brief, in dem ihr<br />
Rossellini (wieder mit Hilfe eines Übersetzers) seine Ideen für<br />
eine Filmgeschichte umriss. Im Glauben, ein Sript sei zu einengend,<br />
benutzte er auch keines. Hier hätte <strong>Ingrid</strong> die erste<br />
Warnlampe aufleuchten müssen, doch sie las fasziniert weiter.<br />
Kürzlich kam Rossellini ausserhalb Roms an einem<br />
Flüchtlingslager für Frauen aus ganz Zentral- und Osteuropa<br />
vorbei. Es gelang ihm, mit einer zu sprechen, einer verfolgten<br />
und einsamen Lettin. Daraus entstand die Idee zu einem Film.<br />
Sein Konzept war die Geschichte von eben solch einer<br />
Frau, die er Karin nannte, zu erzählen, die aus Verzweiflung<br />
einen Fischer von den Lipari Inseln heiratet und mit ihm nach<br />
Stromboli zieht, jener von einem Vulkan beherrschten Insel.<br />
Auf dieser kahlen Insel von Feuer, Asche und verbrannter Erde<br />
ist die fremde Frau einsamer <strong>als</strong> irgendwo . Aber Karin hoffte,<br />
in diesem Fremden wenigstens ihren Retter gefunden zu haben<br />
und beschliesst, zu bleiben. Bald begreifen sie, dass sie überhaupt<br />
keine Gemeinsamkeiten haben. "Der Mann lebt neben<br />
ihr her und liebt sie mit wilder Heftigkeit", fuhr Rossellini fort.<br />
"Aber selbst der Gott, dem die Insulaner huldigen, ist verschieden<br />
von dem Ihren. Wie konnte der strenge Lutherische<br />
Gott, zu dem sie zu beten pflegte, dem Vergleich mit all den<br />
vielen Heiligen in allen Farben standhalten?"<br />
Karin, die inzwischen schwanger ist, versucht sich gegen<br />
ihr trockenes, einsames Leben aufzulehnen, aber es gibt<br />
kein Entrinnen. In der Absicht, sich in den glühenden Krater zu<br />
stürzen, erklimmt sie den Vulkan, bricht aber - Gott um Hilfe<br />
anflehend - zusammen. Und damit ist sie gerettet: das erhoffte<br />
Wunder geschieht im plötzlichen Frieden, der in ihre Seele einkehrt.<br />
In ihrer Selbstaufgabe wendet sie sich endlich ihrem<br />
neuen, einfachen Leben zu und dem neuen, das sie bald hervorbringen<br />
wird; sie kehrt zum Dorf zurück und akzeptiert ihr<br />
neues Leben im Terra di Dio – im Land Gottes. Das war Rossellinis<br />
Arbeitstitel.<br />
355
"Mit Ihnen in meiner Nähe", schloss Rossellini, "könnte<br />
ich einem menschlichen Geschöpf Leben geben, das nach harten,<br />
bitteren Erfahrungen schliesslich den Frieden und die Befreiung<br />
von aller Selbstsucht findet. Könnten Sie vielleicht nach<br />
Europa kommen? Ich könnte Sie nach Italien einladen, wo wir<br />
alles in Ruhe besprechen könnten . . . ich wäre begeistert." Er<br />
unterzeichnete mit "Ihr R<strong>ob</strong>erto Rossellini", und gewissermassen<br />
war er das von da an auch.<br />
<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> las ihre eigene Geschichte aus Karins<br />
Kampf. Sie antwortete sofort, dass sie im Laufe des Sommers<br />
nach London gehe und sie und ihr Mann ihn bei dieser Gelegenheit<br />
gut treffen könnten. Ob sie sich auf halbem Weg, vielleicht<br />
in Paris gegen Ende August treffen könnten? Das passte<br />
Rossellini sehr: er hatte diesen Sommer noch einen andern<br />
Film an der Amalfiküste fertigzustellen und könnte ihr danach<br />
in einem seiner Rennwagen entgegenkommen. Und mit dieser<br />
überstürzt romantischen Vorstellung im Kopf kam <strong>Ingrid</strong> am<br />
21. Juni in London an, um mit den Aufnahmen zu "Under<br />
Capricorn" zu beginnen.<br />
WEGEN STREIKS UND PROBLEMEN sowohl mit dem<br />
Script, wie auch mit den technischen Auflagen, mit welchen<br />
Hitchcock sein Team konfrontierte, verzögerte sich der Beginn<br />
der Dreharbeiten um einen weiteren Monat. Die Untätigkeit<br />
forderte ihren Tribut. "Ich bekomme Schwierigkeiten", schrieb<br />
<strong>Ingrid</strong> Ruth R<strong>ob</strong>erts. "Ich rauche unaufhörlich. Ich trinke mehr<br />
<strong>als</strong> je zuvor. Ich habe mir mindestens zehn Pfunde zugelegt."<br />
Das Gewicht konnte sie wie üblich leicht wieder loswerden,<br />
denn <strong>Ingrid</strong> schaltete vor dem Filmen jeweils strikt auf Regime.<br />
Ausserdem eigneten sich die 19.-Jahrhundert-Kostüme<br />
dieses Films bestens dazu, selbst grosse unerwünschte Pölsterchen<br />
gnädigst zu verbergen.<br />
Aber mit den Cigaretten und dem Alkohol war es seit<br />
1946 doch etwas anderes – in zunehmendem Masse tolerierte<br />
Gewohnheiten, die irgendwann zu schweren Gesundheitsschäden<br />
führen konnten. Erstaunlicherweise war ihre Stimme aber<br />
356
nie davon betroffen: <strong>Ingrid</strong> hatte nie diese allgemein bekannte<br />
"Whisky-Stimme", die so oft die Säufer und schweren Raucher<br />
verrät. Vielleicht konnte sie dank ihrer äusserst r<strong>ob</strong>usten Konsti<strong>tu</strong>tion<br />
wirklich stattliche Mengen Alkohol konsumieren, ohne<br />
sich das im Geringsten anmerken zu lassen; sie verpasste auch<br />
keine einzige Arbeitss<strong>tu</strong>nde wegen eines Katzenjammers.<br />
<strong>Ingrid</strong> war nie eine Alkoholikerin: sie trank nie aus<br />
Sucht oder Zwang, nie vor Arbeitsschluss und sicher litt ihre<br />
Arbeit nie unter ihren Trinkgewohnheiten. Aber ebenso sicher<br />
genoss sie das Cocktail-Ri<strong>tu</strong>al am Nachmittag, für welches sie<br />
eine erstaunliche Kapazität hatte, die allerdings zu ihrer Lebenslust<br />
passte. In diesem Zusammenhang ist auch nicht zu<br />
vergessen, dass die Langzeitschäden von Alkohol und Nikotin<br />
in Amerika erst etliche Jahre später erkannt und öffentlich bekanntgemacht<br />
wurden. 1949 waren dies Sta<strong>tu</strong>ssymbole, die<br />
buchstäblich weltweit von den jungen Erwachsenen eifrig gepflegt<br />
wurden. Sie waren die Requisiten der arrivierten Gesellschaft.<br />
Nach den Kostüm-Anpr<strong>ob</strong>en und Makeuptests war <strong>Ingrid</strong><br />
frei, konnte ihre Besorgungen machen, ins Theater gehen,<br />
mit ihren Produzenten (Hitchcock, Bernstein und deren Frauen)<br />
zusammenkommen oder ihre neue Freundin, die englische<br />
Schauspielerin Ann Todd treffen und besser kennenlernen. Ann<br />
hatte auch für Selznick und Hitchcock gearbeitet ("The<br />
Paradine Case", 1947 in Hollywood entstanden) und war nun<br />
die Frau von Regisseur David Lean. Diesen Sommer unternahmen<br />
die beiden Frauen öfters Exkursionen um Gross-<br />
London herum – in die Parks und Museen, Kew Gardens und<br />
zum Greenwich Observatory.<br />
VOR EINIGEN JAHREN hatte der Produzent und Regisseur<br />
Gabriel Pascal, dem George Bernard Shaw die Verfilmung<br />
von "Pygmalion" und "Mayor Barbara" übertragen hatte, <strong>Ingrid</strong><br />
angeboten, in Shaws Film "Candida" die Hauptrolle zu<br />
übernehmen. Leider musste das Projekt dam<strong>als</strong> infolge von<br />
Terminschwierigkeiten fallengelassen werden. Jetzt aber erfuhr<br />
357
der Autor aus der Tagespresse von <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Einkaufs-<br />
Expeditionen und Sozialleben, weshalb er sie treffen wollte. An<br />
einem sehr warmen Julinachmittag begleitete Pascal <strong>Ingrid</strong> zu<br />
Shaws Landhaus in Ayot St. Lawrence.<br />
Mit seinen 93 Jahren war Shaw noch so lebhaft, mürrisch<br />
und für weibliche Schönheit empfänglich wie eh' und je.<br />
Eine imposante Figur, die er war, mit vollem weissem Haar und<br />
einem langen, wehenden Bart, begrüsste er <strong>Ingrid</strong> am Tor, wo<br />
er sie sofort fragte, warum sie in New York nicht seine "Joan"<br />
gespielt habe. "Weil ich sie nicht mag", antwortete sie mit einem<br />
Lächeln.<br />
"Was soll das heissen, sie mögen sie nicht? Sie ist ein<br />
Meisterwerk!"<br />
"Ja, aber Sie gaben uns Shaws "Joan" und nicht die historische<br />
Jeanne", erklärte <strong>Ingrid</strong>, <strong>als</strong> sie den Weg hinauf zum<br />
Haus gingen w<strong>ob</strong>ei ihm <strong>Ingrid</strong> gleich noch eine kleine Vorlesung<br />
zum Thema anbot. "Sehen Sie", sagte sie ohne jeden<br />
Hochmut, "zufälligerweise weiss ich viel mehr über Joan <strong>als</strong><br />
Sie."<br />
Shaw war durch <strong>Ingrid</strong>s Offenheit vollständig entwaffnet<br />
und von ihrer Weigerung, sich von ihm einschüchtern zu lassen,<br />
hingerissen. "Niemand hat je gewagt, mir zu sagen, er<br />
möge mein Werk nicht", sagte er und wollte gleich wissen<br />
"welche meiner Werke haben Sie denn schon aufgeführt?"<br />
358<br />
"Nun, Mr. Shaw, ich habe keines Ihrer Stücke gespielt."<br />
Als die Haushälterin den Tee servierte, seufzte Shaw<br />
mit einem leidenden Blick auf <strong>Ingrid</strong>. "Nun, mein liebes Mädchen,<br />
Sie haben ja eben erst begonnen." Jahre nach Shaws<br />
Tod 1950 "begann" sie.<br />
NACH ZAHLLOSEN VERZÖGERUNGEN kam "Under<br />
Capricorn" endlich vor die Kameras. Bis zu diesem Morgen<br />
wurde heftig über die sprachlichen Akzente in diesem Film diskutiert:<br />
können alle den 'Irish brogue' dieser entwurzelten
Charaktere nachahmen? Was <strong>tu</strong>n mit <strong>Ingrid</strong>s trällerndem<br />
schwedischen Tonfall, was mit Joseph Cottens leicht schleppendem<br />
'Virginian drawl', Michael Wildings sauberem englischen<br />
Rhythmus? Wie könnten sie alle irisch klingen?<br />
<strong>Ingrid</strong>s erster Auftritt, 25 Minuten nach Filmbeginn,<br />
wurde an diesem ersten Tag aufgenommen. Sie bot ihrem Regisseur<br />
eine brillante, druckreife Vorstellung, eine ununterbrochene<br />
Vier-Minuten-Szene in der Lady Henrietta, bleich und<br />
nervig, barfuss und unsicheren Ganges in den Dining Room<br />
kommt und die Gäste ihres Mannes begrüsst – ungekämmt,<br />
unordentlich gekleidet, mit einem vom Alkohol umflorten Blick.<br />
In ihrem Dialog mit Wilding über ihre Begegnungen <strong>als</strong> Kinder<br />
in Irland gelang <strong>Ingrid</strong> ein durchaus akzeptables irisches Trällern,<br />
nur ganz leicht lallend – passend zur Dame, die ihre<br />
Trunkenheit zu überspielen versucht. Als Hitchcock "Schnitt"<br />
rief, gab es einen lauten Szenenapplaus im Set.<br />
Aber danach wurde der irische Dialekt nur noch selten<br />
gehört. Cotten wurde seinen Virginian-Gentleman-Ton nicht<br />
los, <strong>Ingrid</strong>s Irischtrainerin wurde krank, und der Rest des Films<br />
zeigte eine internationale Besetzung, von der jeder mit Stolz<br />
seinen eigenen Sprachakzent einbrachte. Aber <strong>als</strong> "Under<br />
Capricorn" veröffentlicht wurde, störte sich niemand mehr daran,<br />
denn da dominierten weit ernstere Pr<strong>ob</strong>leme.<br />
Am Abend dieses ersten Arbeitstages schrieb <strong>Ingrid</strong> Petter<br />
einen Brief in dem sie ihn drängte, Pia auf dem Seeweg<br />
nach England zu bringen, damit ihre Tochter einmal das Vergnügen<br />
einer solchen Reise erlebe und die Distanz zwischen<br />
Amerika und Europa kennenlerne. Sie wollte, dass Pia die Freiheits-Sta<strong>tu</strong>e<br />
verschwinden und die weissen Felsen von Dover<br />
aus dem Nebel auftauchen sehe, wie sie sagte. Die Reise würde<br />
auch Petter eine Gelegenheit zu etwas Erholung bieten.<br />
Auch bat sie ihn, Seifenflocken, Lebensmittelkonserven, Nylonstrümpfe,<br />
Tissues mitzubringen – und Büchsenfleisch, da<br />
buchstäblich nichts davon zu haben war: im Nachkriegs-<br />
England fehlte es bitter an allen Hauptnahrungsmitteln, auch<br />
für Filmstars.<br />
359
Der Einsatz der Technicolor-Prozesse in den Elstree<br />
S<strong>tu</strong>dios ausserhalb Londons war ein grosser Erfolg. Aber die<br />
Zehnminuten-Aufnahmen, von welchen Hitchcock dieses Jahr<br />
so besessen war, mussten weitgehend aufgegeben werden,<br />
<strong>ob</strong>schon es zu einigen komplizierten Shots von sechs, acht<br />
oder sogar neun Minuten kam.<br />
Diese Technik belastete die Hitchcock-<strong>Bergman</strong>-Freundschaft<br />
vorübergehend. "Er hatte so viel Freude an diesen Kameratricks",<br />
erzählte sie später einem Autor,<br />
360<br />
"aber natürlich wirkten sich die langen Shots und die<br />
fahrenden Kameras auf uns alle sehr belastend aus.<br />
Wir pr<strong>ob</strong>ten während Tagen, und schliesslich legten<br />
wir dann das Makeup auf für einen sauberen Durchgang.<br />
Das ging vielleicht für sechs Minuten gut und<br />
dann passierte irgend ein kleiner Fehler, und wir konnten<br />
das Ganze von Neuem beginnen. Hitch bestand<br />
einfach darauf.<br />
Dann mussten die Bühnenarbeiter das M<strong>ob</strong>iliar verschieben<br />
während die Kamera sich vorwärts und rückwärts,<br />
von dahin nach dorthin bewegte – oder die<br />
Wände wurden hochgezogen, während wir vorbeigingen,<br />
damit die grosse Technicolor-Kamera uns folgen<br />
konnte. Es trieb uns alle in den Wahnsinn! Ein Tisch<br />
oder ein S<strong>tu</strong>hl für einen Darsteller erschien knapp vor<br />
der Klappe zum Aufnahmebeginn. Der Boden war bedeckt<br />
mit Nummern und jedermann und jedes Möbelstück<br />
musste im richtigen Moment bei der richtigen<br />
Nummer stehen.<br />
Es war ein Albtraum! Es war das einzige Mal, dass ich<br />
im Set zusammenbrach und heulte. Ich denke, Hitch<br />
musste sich mit all dem selbst beweisen, dass er es<br />
konnte. Er hatte eine Herausforderung gegen sich<br />
selbst angenommen um der Filmindustrie zu beweisen,<br />
dass er etwas so Kompliziertes erfinden und auch<br />
durchziehen konnte."
Jahre danach musste <strong>Ingrid</strong> zugeben, dass Hitchcocks<br />
qualvolle Methode manchmal auch brillant funktionierte. "Die<br />
eine grossartige Szene in diesem Film ist mein Geständnis im<br />
Dining-Room, wo mir die Kamera folgte – <strong>als</strong> ich mich vom<br />
S<strong>tu</strong>hl erh<strong>ob</strong>, durch den Raum ging, mich über den Tisch beugte,<br />
mich wieder hinsetzte." Aber während der Pr<strong>ob</strong>e war <strong>Ingrid</strong><br />
nicht so gelassen.<br />
"Sie geriet in eine schreckliche Verfassung an jenem<br />
Tag", erinnerte sich Hitchcock, "sie schimpfte nur noch mit<br />
mir." Zunächst versuchte er es mit einer alten Methode, die in<br />
der Regel bald beruhigte und einem verärgerten Schauspieler<br />
ein Lächeln abnötigte: "<strong>Ingrid</strong>, es ist nur ein Film", sagte er ihr<br />
ruhig – im Wissen darum, dass sie sich beide darin einig waren,<br />
dass es sich im grossen Spektrum von Leben und Tod<br />
wirklich "nur" um einen Film handelte, w<strong>ob</strong>ei sie allerdings<br />
auch wussten, dass es ein Film war, der ihnen beiden in mehrfacher<br />
Hinsicht sehr viel bedeutete. Aber diesmal liess sich<br />
<strong>Ingrid</strong> mit dieser scherzhaften Ironie nicht beschwichtigen,<br />
sondern fuhr fort ihm klarzumachen, dass das, was er von ihr<br />
wollte, unmöglich sei. "Und dann", sagte Hitchcock, tat ich<br />
das, was ich immer mache, wenn es Streit gibt. Ich drehte<br />
mich um und ging nachhause. Tags darauf sagte <strong>Ingrid</strong>:<br />
"Okay, Hitch - wir machen es nach deiner Art." Ich entgegnete:<br />
"Es ist nicht meine Art, <strong>Ingrid</strong> – es ist die richtige Art."<br />
In diesem Fall war es wirklich so. Am Tag nach der<br />
Pr<strong>ob</strong>e legte <strong>Ingrid</strong> ihren neunminütigen Geständnismonolog<br />
hin wie eine Strauss-Arie. Sie begann ruhig, lächelnd bei der<br />
Schilderung von Henriettas glücklichen Jugenderinnerungen.<br />
Dann wurde sie resolut bei der Erinnerung an ihre Hochzeit<br />
mit dem Stallburschen Sam Flusky gegen den Willen ihrer<br />
aristokratischen Familie. Von da an das Crescendo zum Höhepunkt<br />
bei der dramatischen Schilderung, wie sie ihren Bruder<br />
erschoss. Dann sackte sie ab zur tränenreichen und dankbaren<br />
Loyalitätserklärung an ihren Ehemann für dessen Leiden und<br />
Treue während all den Jahren. Trotzdem der Film selbst von<br />
Hitchcock-Fans nicht besonders hoch einges<strong>tu</strong>ft wurde, wurde<br />
<strong>Ingrid</strong>s Szene nach Jahren zum S<strong>tu</strong>dien<strong>ob</strong>jekt für S<strong>tu</strong>denten<br />
361
und arrivierte Filmautoren.<br />
PETTER UND PIA WAREN Mitte August London-Touristen,<br />
während sich <strong>Ingrid</strong> an Wochenenden zu Ausflügen zu<br />
ihnen gesellte; für den Moment schien im Interesse des Kindes<br />
ein trügerischer Waffenstillstand zu herrschen. Was das geplante<br />
Treffen mit Rossellini anbelangt, so hing dies von Hitchcocks<br />
Terminplänen für die Dreharbeiten ab. <strong>Ingrid</strong> sagte<br />
Hitchcock nur, dass ihr Mann zur Feier ihres Geburtstages mit<br />
ihr nach Paris fahren wolle, und dafür stellte er seine ganzen<br />
Pläne bereitwillig um. So war das Rossellini-<strong>Bergman</strong>-<br />
Lindström-Treffen zum Lunch im Hotel George V in Paris auf<br />
Samstag, 28. August geplant – ein gutes Vorzeichen, sagte<br />
<strong>Ingrid</strong>, denn tags darauf feierte sie ihren 33. Geburtstag.<br />
Aber Petter hatte schlechte Nachrichten: er erzählte ihr,<br />
dass er während des Sommers von Selznicks Leuten erfahren<br />
habe, dass es Schwierigkeiten gebe, mit Rossellini, der mit<br />
unnachgiebiger Härte verhandle, zu einem Vertragsabschluss<br />
zu kommen. Für <strong>Ingrid</strong> war das typisches Hollywood-Palaver.<br />
Sie wollte mit dem grossen Regisseur einen Film machen, basta.<br />
Wenn nicht mit Selznick, dann vielleicht eben mit Samuel<br />
Goldwyn oder Howard Hughes oder sonst einem Mogul. "Meine<br />
Mutter war manchmal wie ein Zug, der eine Strecke<br />
hinunterrast", sagte Pia Jahre später. "Nichts und niemand<br />
konnte sie stoppen, wenn sie etwas im Kopf hatte. Sie hatte<br />
eine Entschlossenheit aus Stahl." Der Sommer 1948 war eine<br />
solche Zeit, <strong>als</strong> dieser Wille mit nichts zu bremsen war, nicht<br />
einmal von Petter.<br />
Das Treffen fand dann im George V endlich statt – nicht<br />
über Mittag, sondern während einem ausgedehnten Dinner in<br />
der Suite von Filmverleiher Ilya Lopert, der netterweise bereits<br />
für einen Uebersetzer gesorgt hatte. Rossellini selbst hatte sich<br />
für diesen Anlass sorgfältiger vorbereitet, <strong>als</strong> er je einen Laienschauspieler<br />
geführt hatte. Seine Erscheinung war nicht sonderlich<br />
bemerkenswert: er trug einen zerknitterten dunkeln<br />
Anzug, mindestens zwei Nummern zu gross, was er <strong>Ingrid</strong> da-<br />
362
mit erklärte, dass er sich in einer permanenten Diätkur befinde.<br />
Sie verstehe das, sagte sie lachend. Dann, <strong>als</strong> herzhaft<br />
diniert wurde, verblasste Rossellinis Zurückhal<strong>tu</strong>ng zusehends:<br />
er erzählte neuerdings die Geschichte von "Terra di Dio", w<strong>ob</strong>ei<br />
seine dramatischen Gesten und Beschriebe mit tiefgründig philosophischen<br />
Exkursen wechselten.<br />
"Machen wir den Film – ja oder nein?" fragte er, mit einem<br />
plötzlichen Anflug von Schüchterheit, <strong>als</strong> er geendet hatte.<br />
Dann zog er eine Rose aus dem Tischarrangement und begann<br />
sie zu entblättern: "Wir machen es – wir machen es nicht<br />
– wir machen es – wir machen es nicht . . ."<br />
"Es wird mir eine Ehre sein, meinen Teil dazu beizutragen",<br />
antwortete <strong>Ingrid</strong> indem sie einen scharfen Blick von<br />
Petter ignorierte, der eben begann, mit Lopert einige finanzielle<br />
Fragen zu diskutieren. Weil diese Fragen Rossellini und <strong>Ingrid</strong><br />
überhaupt nicht interessierten, setzten sie ihre Unterhal<strong>tu</strong>ng<br />
über Kulinarisches und Weine, über Hitchcock und Jean<br />
Renoir, Musik, Kunst und Geschichte fort – alles was in<br />
Rosselinis geräumigen und freizügigen Geist einfloss.<br />
Sie wiederholte ihre Bewunderung für seine zwei Filme,<br />
die sie gesehen hatte, und er erzählte leidenschaftlich mit<br />
schwingenden Armen, unter welchen Umständen sie zustande<br />
gekommen seien – unter sehr bescheidenen und einfachen<br />
Umständen. Er sprach authoritär, von allem und jedem hatte<br />
er klare Vorstellungen. Und sein Leben machte Filme, eine<br />
neue Art von Filmen, wie er sagte, eine Sprache der visuellen<br />
Wahrheit. Obschon <strong>Ingrid</strong> sagte, sie habe sich schon früher "in<br />
ihn verliebt", <strong>als</strong> sie seine Filme in New York sah, war dieser<br />
Abend nun wirklich der Moment der ersten Leidenschaft. Das<br />
Arbeitsessen dauerte bis Mitternacht, <strong>als</strong> Lopert zu <strong>Ingrid</strong>s Geburtstag<br />
eine Flasche Champagner entkorkte. R<strong>ob</strong>ertos intensiver,<br />
dunkler Blick verfolgte sie bis sich alle verabschiedeten;<br />
ihre Hand zitterte, <strong>als</strong> sie seine Glückwünsche entgegennahm<br />
und sein Glas das Ihre berührte.<br />
363
ES FIEL ROBERTO NICHT LEICHT, Amalfi zu verlassen,<br />
wo er "La Macchina ammazzacattivi" filmte. Magnani besuchte<br />
ihn an den Wochenenden, w<strong>ob</strong>ei es ihm etwelche Mühe bereitete,<br />
ihr zu entkommen. Als die Arrangements für Paris<br />
schliesslich vorlagen, sagte er dem Hotelportier: "Ich erwarte<br />
ein Telegramm, aber geben Sie es mir nicht, bevor ich Sie darum<br />
bitte – verstehen Sie?" Verstanden. Als R<strong>ob</strong>erto jenen<br />
Abend mit Leuten seiner Crew dinierte, kam der Portier heran<br />
und erklärte mit klarer, pflichteifriger Stimme: "Herr Rossellini,<br />
wenn Sie das Telegramm möchten, das ich Ihnen nicht geben<br />
soll, bevor Sie mich darum bitten, kann ich es Ihnen jetzt geben."<br />
Glücklicherweise hielt sich Magnani etwas abseits vom<br />
Tisch auf, weil ansonsten die Teller und Gläser auf dem Tisch<br />
möglicherweise nicht überlebt hätten.<br />
Ungestüm und oft gewalttätig, wie sie war, hatte sie die<br />
fröhliche Gewohnheit, ihn mit einer Portion dampfender Pasta<br />
zu krönen, wenn sie vor Eifersucht überschäumte. R<strong>ob</strong>erto,<br />
seinerseits weitherum für seine Leidenschaft für Sportwagenrennen<br />
bekannt, verfuhr ebenfalls schnell und rücksichtslos mit<br />
Frauen. Diesen Sommer jonglierte er wenigstens deren fünf:<br />
Anna Magnani, seine Mätresse seit 1944; Marilyn Buferd (Miss<br />
America 1946, die in seinem ak<strong>tu</strong>ellen Fim spielte; Roswita<br />
Schmidt, eine deutsche Nachtclub-Tänzerin, nun vornehmlich<br />
Ex-Geliebte aber immer noch für gelegentlichen Zeitvertreib<br />
gefragt; eine ungarische Blondine namens Ava; und dann und<br />
wann seine von ihm getrennt lebende Frau Marcella de<br />
Marchis, zu der er eine auf eigenartige Weise wenigstens emotional<br />
treue Beziehung unterhielt. <strong>Ingrid</strong> wusste von diesem<br />
Harem nichts, <strong>als</strong> sie ihn kennenlernte.<br />
ROBERTO ROSSELLINI WAR neun Jahre älter <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong>.<br />
Am 8. Mai 1906 in Rom geboren, war er der älteste von vier<br />
Söhnen eines Architekten, der den Corso und die Barberini<br />
Theater in Rom gebaut hatte und seinen Sohn lehrte, mit<br />
technischen Gerätschaften herumzubasteln, worunter auch mit<br />
Kameras und Projektoren. In einem intellek<strong>tu</strong>ellen Umfeld auf-<br />
364
gewachsen, wurde R<strong>ob</strong>erto von seinem Vater sinnlos verwöhnt.<br />
Als er eines Abend nachhause zurückgekehrt war, verlangte<br />
er von seinem Vater das Geld für den Taxifahrer. "Natürlich",<br />
sagte Herr Rossellini, während er nach seiner Brieftasche<br />
griff; woher sein Sohn denn komme? "Neapel", antwortete<br />
R<strong>ob</strong>erto ohne mit der Wimper zu zucken. Papa lachte und<br />
gab ihm das Geld für die 150-Meilen-Fahrt.<br />
Der junge R<strong>ob</strong>erto kehrte irgendwann der Schule den<br />
Rücken und arbeitete dann in Gelegenheitsj<strong>ob</strong>s im Verlagswesen;<br />
jeden freien Moment verbrachte er im Kino. Von Flugzeugen<br />
und Rennwagen fasziniert, wurde er in Rom auch <strong>als</strong> so<br />
etwas wie ein moderner Casanova bekannt, wo ihm seine Umgangsformen<br />
und sein Charme Zutritt sowohl zur Prominenz<br />
wie auch zu zweifelhaften Kreisen verschafften. Unter seinen<br />
frühen Liebschaften war ein hübsches französisches Mädchen<br />
namens Titi Michelle, der er durch halb Europa folgte, bevor er<br />
ihre lautstarke Abfuhr akzeptierte. Nach Meinung gewisser<br />
Leute war dies das einzige Mal, dass er "nein" <strong>als</strong> Antwort verstand.<br />
Aber etwas Seltsames geschah, <strong>als</strong> R<strong>ob</strong>erto mit etwa<br />
zwanzig Jahren aus nie völlig geklärten Gründen von seinen<br />
Eltern in eine psychiatrische Klinik in der Umgebung von Neapel<br />
eingewiesen wurde. Das offizielle Dokument (das für einen<br />
erfolglosen Visa-Antrag, den Rossellini 1946 und 1948 für<br />
Amerika stellte, in die englische Sprache übersetzt wurde) hielt<br />
lediglich fest, dass "seine Eltern ihn von dem, was sie <strong>als</strong> eine<br />
jugendliche Leidenschaft bezeichneten, ablenken wollten, die<br />
sie zu jener Zeit <strong>als</strong> gefährlich und für ihn unvorteilhaft ansahen".<br />
Das war ein Meisterstück der Verschleierung, das auf<br />
unterschiedlichste Arten interpretiert wurde: Rossellini geriet in<br />
eine Bande von drogenabhängigen Jugendlichen; Rossellini<br />
trieb Exzesse mit seinem Sportwagenwahn; Rossellini verliebte<br />
sich in eine unerwünschte Frau. Erzwungene Asylierung wäre<br />
ein starkes Mittel gegen diese Tendenzen gewesen und nichts<br />
im Wesen seiner Eltern hätte darauf hingewiesen, dass sie es<br />
ihrem Jungen ohne zwingende Notwendigkeit zugemutet hätten.<br />
Im Gegenteil, es wurde festgestellt (u.a. von Jenia<br />
365
Reissar, die ihn während Jahren sehr gut kannte), dass R<strong>ob</strong>erto<br />
eine Art nervösen Zusammenbruchs erlitt und während seines<br />
ganzen Lebens gelegentlichen Anfällen von geistiger Verwirrung<br />
unterworfen war. Was auch immer geschah, er war<br />
innerhalb eines Jahres in Rom zurück, wo er seine verrückte<br />
Beziehung zu Liliana Castagnola, einer gutmütigen, zweitklassigen<br />
Variété-Sängerin, wieder aufnahm.<br />
Von allem Anfang an war Rossellinis Beziehung zum<br />
Film unausweichlich verbunden mit seinen amourösen Er<strong>ob</strong>erungen.<br />
1931, gleich nach dem Tod seines Vaters, traf er eine<br />
junge Schauspielerin namens Assia Noris, eine in Russland<br />
geborene Kommödiantin mit besten Aussichten auf eine entsprechende<br />
Karriere im italienischen Film. Aber Assia hatte<br />
altmodische Vorstellungen und vertrat u.a. auch die Meinung,<br />
dass vor dem Sex geheiratet werde. "Wir heiraten", erklärte<br />
er liebevoll, und im Handumdrehen war eine kirchliche Trauung<br />
mit einem Erzbischof, Priestern, einem Chor und Organisten<br />
arrangiert – nebst einem offiziellen Dinner danach, worauf<br />
die Rossellinis die Ehe vollzogen und ihr gemeinsames Heim<br />
bezogen. Noch vor Ablauf eines Jahres stellten beide fest,<br />
dass sie sich geirrt hatten: er war bereits auf Abwegen und<br />
sie hatte einen Mann getroffen, der viel besser zu ihrem Temperament<br />
und ihrem Wesen passte. Als sie ihm ihr Dilemma<br />
gestand, zuckte er bloss die Achseln und meinte: "Also heirate<br />
ihn!"<br />
366<br />
"Aber ich bin doch schon verheiratet", schrie sie.<br />
"Nein, meine Liebe, bist du nicht", antwortete Rossellini<br />
ruhig, "das war alles nur Theater. Nur Schauspieler und<br />
Requisiten, alles. Du bist frei." Später bezeichneten gewisse<br />
Leute das Ganze <strong>als</strong> reine jugendliche Angeberei, aber es signalisiert<br />
in jedem Fall eine eher kapriziöse (wenn nicht geschmacklos<br />
theatralische) Beziehung zum eigenen und zum<br />
Leben anderer.<br />
Nachdem nun Noris Geschichte war, gab es einen kurzen<br />
Rückfall in die Liliana Castagnola-Affäre: er überschüttete<br />
sie derart mit Schmuck, dass sich sein Erbe in nichts auflöste.
Und dann passierte etwas Schreckliches: Liliana wurde tot<br />
aufgefunden, verstorben an einer Überdosis Drogen. Somit<br />
vielleicht kein Wunder, <strong>als</strong>o, dass seine Filme mehr und mehr<br />
das ungeschminkte tägliche Leben und den Durchschnittsmenschen<br />
betrafen, was Rossellinis eigenes Leben so wenig<br />
betraf. Er selbst war buchstäblich fantastisch.<br />
1936 HEIRATETE ROSSELLINI Marchella de Marchis, die<br />
einer alten Aristokratenfamilie entstammte; sie gebar ihm zwei<br />
Söhne, Marco und Renzo. Nachdem er <strong>als</strong> Tontechniker, Verleger,<br />
Script Supervisor und Hilfsregisseur gearbeitet hatte, erhielt<br />
R<strong>ob</strong>erto schliesslich seine Chance <strong>als</strong> Regisseur. Vor 1941<br />
produzierte er ein halbes Dutzend Kurzfilme und arbeitete an<br />
einem Projekt mit, das von Vittorio Mussolini, einem Sohn des<br />
Duce, überwacht wurde. Noch vor der Befreiung Roms leitete<br />
er vier Produktionen während des faschistischen Regimes, <strong>ob</strong>schon<br />
er selbst der Christlich Demokratischen Partei angehörte<br />
– eine politische Gratwanderung, die dam<strong>als</strong> und später einige<br />
seiner Freunde und Gegner vereinte. Ueber seine humanistische<br />
und antifaschistische Einstellung gab es keinen Zweifel<br />
mehr, nachdem die Welt "Open City" gesehen hatte, mit dessen<br />
Aufnahmen im Geheimen im Januar 1945 begonnen wurde<br />
und der den Beginn jener Stilrich<strong>tu</strong>ng markierte, die später <strong>als</strong><br />
Neorealismus bezeichnet wurde. Seine Veröffentlichung 1946<br />
brachte R<strong>ob</strong>erto auf die Weltbühne.<br />
Sein Privatleben hätte unterdessen das Material zu einem<br />
erfolgreichen Trivialroman abgegeben. "Open City" wurde<br />
zum Teil durch seine Frau und Roswita Schmidt finanziert, die<br />
seinetwegen Schmuck veräusserte. Am 14. August 1946 starb<br />
sein Sohn Marco plötzlich an einer Bauchfellentzündung.<br />
Gleichzeitig erkrankte Anna Magnanis unehelicher Sohn an<br />
Kinderlähmung. R<strong>ob</strong>ertos stürmische Affäre mit ihr hatte 1939<br />
begonnen, und <strong>ob</strong>wohl er nicht dessen leiblicher Vater war,<br />
spielte R<strong>ob</strong>erto oft den Ersatzvater. Im Sommer 1948 hatte sie<br />
sich schliesslich fest <strong>als</strong> das Zentrum von R<strong>ob</strong>ertos Leben etabliert<br />
und durchgesetzt, dass Roswita auf der Insel Capri exiliert<br />
367
wurde, wo Rossellini sie während Jahren in einfachen Verhältnissen<br />
unterhalten hatte. Magnanis starke Leis<strong>tu</strong>ngen – in<br />
"Open City", "The Human Voice" und "The Miracle" – trugen<br />
wesentlich zum exaltierten Sta<strong>tu</strong>s bei, den Rossellini unter den<br />
Europäischen Filmemachern genoss. Bald danach versuchte<br />
Marcella zum zweiten Mal, ihre Ehe anullieren zu lassen<br />
(Scheidungen waren dam<strong>als</strong> in Italien ungesetzlich).<br />
DIE BEHAUPTUNG, R<strong>ob</strong>ertos Arbeitsmethoden seien unkonventionell<br />
gewesen, wäre eine krasse Untertreibung. An<br />
einem Aufnahmeort konnte alles zum Besten vorbereitet sein,<br />
aber wenn er Lust hatte zu fischen, dann verschwand er für<br />
S<strong>tu</strong>nden oder gar einen ganzen Tag. Nach seiner Rückkehr<br />
erwartete er von seiner treuen Crew, dass sie unermüdlich<br />
während 20 S<strong>tu</strong>nden oder länger arbeitete, um den erlittenen<br />
Zeitverlust wettzumachen. Konnte oder wollte einer der Laiendarsteller<br />
seine Anweisungen nicht genauestens befolgen, explodierte<br />
R<strong>ob</strong>erto oft heftig – eine Reaktion, die er dank seiner<br />
lebenslangen Sensibilität und Grosszügigkeit in den unterschiedlichsten<br />
Versionen beherrschte. Sein unstetes Temperament<br />
bereitete seiner Crew und seinen Schauspielern Sorge<br />
und nährte ausserdem das Gerücht, dass er neben seinem<br />
Charme und der offenkundigen Kreativität tatsächlich auch<br />
einen wankelmütigen Geist habe.<br />
R<strong>ob</strong>erto konnte grossartig arbeiten und ohne Unterlass<br />
Ideen entwickeln; er konnte aber auch während Monaten unglaublich<br />
träge sein und nur zur Arbeit zurückkehren, wenn er<br />
Geld brauchte – was in seinem Leben tatsächlich der einzige<br />
verlässliche Zustand war. R<strong>ob</strong>erto konnte unwiderstehlichen<br />
Charme verströmen und zweifelsohne hatte er auch in manchen<br />
Dingen einen guten Instinkt. Aber im Wesentlichen war er<br />
eine träge, chaotische Seele, und daraus erwuchsen ihm<br />
Schwierigkeiten.<br />
"Sie wissen, dass ich mit R<strong>ob</strong>erto gut befreundet bin",<br />
schrieb seine Agentin, Arabella le Maitre, im September an<br />
Jenia Reissar,<br />
368
"und ich hasse es, ihn belasten zu müssen. Ich habe<br />
mit Leuten gesprochen, die im letzten Film für ihn gearbeitet<br />
haben. Alle sind sie angewidert. Stellen Sie<br />
sich vor, er hat den Film nicht einmal selbst fertiggestellt<br />
– er verliess Majori und bat (den Scriptwriter<br />
Sergio) Amidei, den Film fertig zu machen! Alles war<br />
ein Drunter und Drüber; sie arbeiteten kaum je während<br />
des Tages, nur weil er fischen gehen musste!<br />
Leute, die ihn gut kennen, und sogar Verwandte behaupten,<br />
er werde sich nie ändern, und ich fürchte,<br />
dass wenn er mit Herrn Selznick einen Vertrag<br />
schliesst, dieser Pr<strong>ob</strong>leme bekommen wird. Er mag<br />
sich bessern und sein Leben neu organisieren, aber ich<br />
hielt es für meine Pflicht, Ihnen zu sagen, was ich<br />
weiss, und Sie zu warnen."<br />
Der Brief, geschrieben am 16. September, <strong>als</strong> Arabella<br />
einen Selznick-Rossellini-<strong>Bergman</strong>-Handel immer noch für<br />
möglich hielt, zeigt, wie ernst sie die derzeitige Si<strong>tu</strong>ation ihres<br />
(bald Ex-)Kunden beurteilte. Gleich unerbittlich wie ein Zeuge<br />
für die Pr<strong>ob</strong>leme mit Rossellini war sein Anwalt, Signor<br />
Graziadei, der Reissar (in einem Schreiben vom 21. September)<br />
ebenfalls vor seinem Klienten warnte. "Graziadei betrachtet<br />
R<strong>ob</strong>erto nicht <strong>als</strong> seriösen Geschäftsmann", schrieb Reissar<br />
noch gleichentags an Selznick. In Culver City unterwegs konnte<br />
Selznick – unter Anrufung des Namens des Anwalts – Gott<br />
auf den Knien für die Warnung danken. Das war dann auch<br />
das Ende dieses Selznick-Projekts.<br />
Als R<strong>ob</strong>erto im August <strong>Ingrid</strong> traf, war Marilyn Buferd<br />
die Frau des Moments. Ihre Affäre hatte im Juli begonnen,<br />
aber nach R<strong>ob</strong>ertos Besuch in Paris wurde Marilyn es überdrüssig,<br />
ständig von <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> und den Plänen zu hören,<br />
die er für sie hegte. Er sagte nur, sie habe sich zweifelsohne in<br />
seinen Charme verliebt, womit er verdammt recht hatte.<br />
"Schwedinnen lassen sich weltweit am leichtesten beeindrucken",<br />
sagte er Marilyn, "weil sie so kalte Männer haben. Die<br />
Liebe, die sie bekommen, ist ein Schmerzmittel anstelle eines<br />
Stärkungsmittels."<br />
369
IN NUR SCHLECHT UNTERDRÜCKTER Aufregung kehrte<br />
<strong>Ingrid</strong> am Montag Morgen, dem Tag nach ihrem 33. Geburtstag,<br />
nach London und zum Hitchcock-Set zurück. Der Regisseur<br />
erwartete sie geduldig im Kreise anderer Cast-Mitarbeiter.<br />
Wie ihr Weekend denn gewesen sei? wollten alle wissen. "Ich<br />
traf einen italienischen Regisseur, das ist alles", antwortete<br />
<strong>Ingrid</strong> errötend. Aber natürlich wussten alle, was wirklich los<br />
war, und niemand war besorgter <strong>als</strong> Alfred Hitchcock. "Als es<br />
schliesslich soweit war, nahm er ihr den Wegzug zu Rossellini<br />
übel", meinte Arthur Laurents (der "ROPE" geschrieben hatte<br />
und den Hitchcocks nach wie vor nahe stand). "Seine Verärgerung<br />
hatte ihren Grund nicht nur im Umstand, dass er <strong>Bergman</strong><br />
anbetete. Es war auch, weil sie ihn für einen andern Regisseur<br />
verliess."<br />
Gegen Ende September war "Under Capricorn" fertig,<br />
und die drei Lindströms verreisten zu einem Ferienaufenthalt<br />
in Schweden – <strong>Ingrid</strong>s Heimkehr nach neun Jahren Abwesenheit.<br />
Eine Horde von Fotographen umringte sie beim Verlassen<br />
des Flugzeugs und Autogrammjäger drängten heran. Gustav<br />
Molander, mit dem sie sechs ihrer schwedischen Filme drehte,<br />
war zugegen um sie zu begrüssen, zusammen mit Victor<br />
Sjöström und einem Komitee der Filmfreunde. Blumen wurden<br />
gereicht und aus jedem Bouquet zog sie eine Blume für<br />
Molander. Auf die Frage nach dem Gerücht, wonach sie einen<br />
Film mit R<strong>ob</strong>erto Rossellini mache, antwortete <strong>Ingrid</strong> diplomatisch:<br />
"Ich mag ihn. Ich habe ihm sogar geschrieben und meine<br />
Zusammenarbeit angeboten. Wir werden uns treffen und<br />
Projekte besprechen, aber er spricht kein Englisch und ich kein<br />
Italienisch!" Kein Wort über ihre Begegnung.<br />
Die Familie verbrachte eine Woche im Grand Hotel in<br />
Stockholm, spazierte dem Kanal entlang und besuchte ihre<br />
alten Lieblings-Restaurants und –Tearooms. Die Presse berichtete<br />
über jeden ihrer Ausgänge mit detaillierten Beschreibungen<br />
von <strong>Ingrid</strong>s Schuhfarbe, Haarlänge und wie lange dieser<br />
oder jener Spaziergang dauerte. Die Reporter der führenden<br />
Zei<strong>tu</strong>ngen berichteten über <strong>Ingrid</strong> und Petter sehr sachlich, wie<br />
über die Königin und den Prinzgemahl. Ruhiger wurde der Be-<br />
370
trieb, <strong>als</strong> sie sich am 12. Okt<strong>ob</strong>er zu Petters Familie nach<br />
Stöde begaben; dort unternahm <strong>Ingrid</strong> mit Pia lange Ausflüge<br />
über Land und alle genossen ihres Schwiegervaters preisgekrönte<br />
goldenen Pflaumen, eine seltene Sorte, für die dieser<br />
Gartenzauberer weitherum bekannt war.<br />
Noch vor Ende Okt<strong>ob</strong>er waren die Lindströms zurück in<br />
Beverly Hills. <strong>Ingrid</strong> erhielt einen Anruf von Walter Wanger, der<br />
wissen wollte, <strong>ob</strong> sie nach New York komme, wo Victor Fleming<br />
sie zur Premiere von "Joan of Arc" erwartete. Sie reiste sofort<br />
ab, und <strong>ob</strong>schon sie und Fleming eine Nacht privat verbrachten,<br />
war ihnen beiden klar, dass die Beziehung vorbei war. Sie<br />
freute sich auf eine lebenslange Freundschaft, während er feststellte,<br />
dass ihm solches nicht sehr liege.<br />
Unter grossem Halloo lief der Film am 11. November<br />
an, und weil <strong>Ingrid</strong> von der Presse sehr gerühmt wurde, standen<br />
die Leute während S<strong>tu</strong>nden in langen Schlangen an, <strong>ob</strong>schon<br />
der Herbst ungewöhnlich kalt war – und der Film im<br />
Grossen und Ganzen unvorteilhafte Kritiken erhielt. "Gegen<br />
ihre Aufrichtigkeit ist kein Kraut gewachsen", so in etwa lautete<br />
eine allgemeine L<strong>ob</strong>eshymne für <strong>Ingrid</strong>. "Sie hat die seltene<br />
Gabe, die Tugend interessant zu machen und dabei echt aufzuleuchten."<br />
Der Film aber wurde abgelehnt <strong>als</strong> "ein Meisterwerk<br />
von filmischer Archaik, weder echtes Drama noch historische<br />
Nachbildung und sein geistliches Thema bewegt sich auf Sonntagsschul-Niveau.<br />
Er hätte inspirativ sein sollen, ist aber prätentiös<br />
und hohl."<br />
<strong>Ingrid</strong> bedauerte, <strong>als</strong> Einzige eine gute Presse erhalten<br />
zu haben. "Es stimmt, dass Leute, die in der Kinokassenschlange<br />
stehen keine Kritiken lesen", sagte sie zu einem Kolumnisten,<br />
"aber für mich ist wichtig, was die schreiben." Sie<br />
hatte mehr Vorberei<strong>tu</strong>ngsarbeit, mehr Sorgfalt, Energie und<br />
Liebe in diese Rolle investiert, <strong>als</strong> in irgendeine andere ihrer<br />
ganzen Karriere. Niemand kannte die Produktionspr<strong>ob</strong>leme und<br />
Schwächen des Films besser <strong>als</strong> sie und niemand empfand seinen<br />
Durchfall bitterer. Der negativen Kritik zum Trotz spielte<br />
der Film seine Kosten mit einem satten Profit längstens ein,<br />
371
und anfangs 1949 erhielt "Joan of Arc" sieben Academy<br />
Award-Nominationen – darunter die vierte in <strong>Ingrid</strong>s Karriere<br />
für die beste weibliche Hauptrolle (nur die Kameraleute und<br />
Kostümdesigner des Films erhielten im kommenden Frühjahr<br />
die Sta<strong>tu</strong>e).<br />
Wie üblich vermochte <strong>Ingrid</strong>s persönlicher Erfolg ihr den<br />
Kopf nicht zu verdrehen; im Gegenteil, sie fürchtete mehr<br />
denn je zuvor, dass sie nach zehn Jahren und vierzehn Filmen<br />
in Amerika für Hollywood nicht mehr taugte und Hollywood<br />
andererseits auch ihr nicht mehr entsprach. Als sich 1948 dem<br />
Ende zu neigte, sah sie zurück auf "Arch of Triumph", "Joan of<br />
Arc" und "Under Capricorn" ; dem letzteren, wie auch den beiden<br />
andern, war kein Presseerfolg beschieden, aber er trug ihr<br />
persönlich hervorragende Kritiken ein, <strong>als</strong> er im September<br />
1949 anlief. Alle drei Filme waren für <strong>Ingrid</strong> persönliche Enttäuschungen,<br />
umsomehr <strong>als</strong> sie sich für alle sehr intensiv eingesetzt<br />
hatte. Ihre letzte, quälende Entäuschung lag aber im<br />
Umstand, dass es ihr nicht gelungen war, jemanden dafür zu<br />
interessieren, "Of Lena Geyer" auf die Leinwand zu bringen.<br />
"Ich starb fast vor Angst, Hollywood würde mich nicht<br />
mögen", sagte sie am Vorabend ihrer Abreise von Schweden<br />
vor nahezu einem Jahrzehnt. Leider sollte sie bald Recht bekommen<br />
– w<strong>ob</strong>ei die Ablehnung eher ihrem Privatleben galt,<br />
<strong>als</strong> ihrem Talent, was sie so nie erwartet hätte.<br />
Diesen Herbst fand <strong>Ingrid</strong> ihren einzigen Halt im Gedanken,<br />
dass sie wirklich nach Italien gehen würde um einen<br />
Film mit R<strong>ob</strong>erto zu machen; er sagte ja, dass er seine Produktion<br />
leicht innerhalb von zwei Monaten bewerkstelligen könne<br />
und dass sie darin jede beliebige Sprache benutzen könnte,<br />
weil so oder so alles synchronisiert werde. Auch sandte er <strong>Ingrid</strong><br />
seit ihrer Rückkehr nach Kalifornien Brief um Brief, um ihr<br />
seine Ideen für weitere Szenen zu "Terra di Dio" auseinanderzulegen,<br />
w<strong>ob</strong>ei er sich für seine ungezügelte Schreiberei entschuldigte<br />
und mit "Ihr ergebener R<strong>ob</strong>erto" unterschrieb.<br />
Am 20. November, beispielsweise, schrieb er ihr, er sei<br />
an der Arbeit, aber gewisse Scriptseiten seien gut, andere<br />
372
nicht, und tags darauf wieder gut. In Tat und Wahrheit gab es<br />
gar kein Script, weil er wie immer nur sehr <strong>ob</strong>erflächlich plante<br />
und nichts schriftlich festgehalten wurde. Am 4. Dezember<br />
antwortete ihm <strong>Ingrid</strong> unter Bezugnahme auf ihre Begegnung,<br />
wo er die Blume zerpflückte ("Machen wir den Film, machen<br />
wir ihn nicht, machen wir ihn..."):<br />
"Lieber Herr Rossellini,<br />
Von heute an müssen Sie keine Blumen mehr zerpflücken.<br />
Nun sage ich: gutes Script, schlechtes Script,<br />
gutes Script – spielt keine Rolle! Ich bin sehr glücklich.<br />
<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>n"<br />
Als Weihnacht nahte, stürzte sie sich in die Festtags-<br />
Vorberei<strong>tu</strong>ngen. Pia, jetzt zehnjährig, wünschte sich ein Fahrrad,<br />
und Petter hatte <strong>Ingrid</strong> das Geld gegeben, eines zu kaufen.<br />
Aber <strong>als</strong> Mutter und Tochter im Warenhaus waren, um die<br />
Dekorationen anzusehen und den Weihnachtsmann zu besuchen,<br />
entdeckte Pia eine grosse ausgestopfte Kuh mit einer<br />
Küchenschürze und einem mütterlichen Lächeln. Es war Elsie<br />
Borden, auf einem lebensgrossen Plakat der Milchgesellschaft,<br />
und Pia wollte nun plötzlich Elsie und nicht das Fahrrad. Unsinn,<br />
sagte Petter, <strong>als</strong> ihm <strong>Ingrid</strong> davon erzählte: eine ausgestopfte<br />
Kuh für $ 75? Nein, das gibt's nicht. Ein Fahrrad ist<br />
sinnvoller. So erhielt Pia ihr Fahrrad am Weihnachtsmorgen<br />
und musste weiterhin ohne Elsie <strong>als</strong> Zimmergenossin auskommen.<br />
Zuhause war es die trostloseste Weihnacht aller Zeiten.<br />
<strong>Ingrid</strong> wollte noch immer (wenn auch nicht mehr so enthusiastisch)<br />
ein zweites Kind haben – ein Junge, so hoffte sie, und<br />
vielleicht würden sie ihn Pelle nennen. Sie und Petter feierten<br />
die Vollendung der Hauserweiterung um das Kinderzimmer mit<br />
einem verschwenderischen Dinner bei Skandia, einem renommierten<br />
nordischen Restaurant am Sunset Boulevard.<br />
Aber dieser Abend hatte schreckliche Folgen, die sie <strong>als</strong><br />
Omen hätten ansehen müssen: einige S<strong>tu</strong>nden nach ihrer<br />
Heimkehr erkrankte Petter an einer heftigen Lebensmittelver-<br />
373
gif<strong>tu</strong>ng und litt während fast eines Jahres danach an (vielleicht<br />
durch Stress verstärkten) Magenschmerzen. "So wurden meine<br />
Ehepr<strong>ob</strong>leme noch durch körperliche Pr<strong>ob</strong>leme verschärft",<br />
reflektierte er Jahre danach.<br />
Aber <strong>Ingrid</strong>s Sorge um Petter wurde durch einen Telefonanruf<br />
überschattet, den sie einige Tage nach Neujahr erhielt.<br />
Kurz vor seinem 66. Geburtstag erlag Victor Fleming, der<br />
sich mit seiner Frau in Arizona in den Ferien befand, einer<br />
schweren Herzattacke. Fleming war ein Trinker und Kettenraucher<br />
mit einem cholerischen Temperament, der gesundheitliche<br />
Warnungen seit Jahren in den Wind schlug. Während Tagen<br />
war <strong>Ingrid</strong> untröstlich.<br />
Am Nachmittag der Beerdigung, wie auf Bestellung, traf<br />
ein Telegramm an 1220 Benedict Canyon Drive ein. Nach einigen<br />
vergeblichen Anläufen hatte R<strong>ob</strong>erto Rossellini nun endlich<br />
sein Visum erhalten und befand sich auf dem Weg nach New<br />
York zur Entgegennahme eines Awards. Ob er nicht zur Besprechung<br />
ihres Films nach Hollywood kommen könne?<br />
Petter hielt das für eine ausgezeichnete Idee und ging<br />
noch weiter, indem er <strong>Ingrid</strong> vorschlug, ihn <strong>als</strong> Gast in ihrem<br />
Hause aufzunehmen. Dieses Vorgehen würde sicher von andern<br />
Produzenten wie Samuel Goldwyn und Howard Hughes<br />
ach<strong>tu</strong>ngsvoll zur Kenntnis genommen. Ausserdem würde Rossellinis<br />
Besuch in ihrem Hause klar signalisieren, dass <strong>Ingrid</strong><br />
ihre Zukunft in die eigenen Hände nahm, indem sie mit den<br />
grössten Tieren unter den ausländischen Filmemachern ein<br />
Projekt verhandelte, das unter der Lei<strong>tu</strong>ng der Lindströms stehen<br />
würde. In Hollywood, fügte Petter bei, müsste man sich<br />
ein neues Bild von ihnen machen.<br />
374
1948 - mit Victor Fleming an der "Jeanne d'Arc"-Premiere<br />
375
376<br />
1948 - <strong>als</strong> Lady Henrietta in "Under Capricon"
1949<br />
"Ich kann nicht verstehen, warum die Leute immer meinen,<br />
ich sei nur rein und edel. Jeder Mensch hat doch seine<br />
schlechten und seine guten Seiten."<br />
(<strong>Ingrid</strong>s Kommentar zu ihrer masslosen öffentlichen<br />
Verehrung)<br />
"SEIT LANGER ZEIT – länger <strong>als</strong> ich mir selbst zugestehen<br />
mochte – war etwas in meinem Innern tot. Ich wusste nie,<br />
was es wirklich war. Etwas fehlte in meinem Berufsleben und<br />
in meinem Privatleben – effektiv in meinem ganzen Leben.<br />
Doch was immer nicht stimmte, es zwang mich nicht zu einer<br />
Veränderung. Bis zu R<strong>ob</strong>erto."<br />
Die Veränderung in ihrem Leben geschah unvermittelt,<br />
<strong>als</strong> er in einem "Hoppla-jetzt-komm-ich-Hollywood-Ge<strong>tu</strong>e" eintraf.<br />
Am Montag, 17. Januar, zehn Tage nach Victor Flemings<br />
Bestat<strong>tu</strong>ng, entstieg R<strong>ob</strong>erto in Los Angeles dem Zug – am<br />
Geburtstag seines neuen Lebens, wie er Journalisten gegenüber<br />
bedeu<strong>tu</strong>ngsvoll bemerkte, denn es war das Da<strong>tu</strong>m, an<br />
welchem er mit den Dreharbeiten zu "Open City" begann. Von<br />
dort war's ein Katzensprung zum Benedict Canyon und danach<br />
zu einer Party by Billy Wilder zuhause.<br />
<strong>Ingrid</strong> be<strong>ob</strong>achtete R<strong>ob</strong>erto aufmerksam an diesem<br />
Abend. Sie erkannte plötzlich sein Desinteresse an allem, was<br />
Hollywood repräsentierte, und das konnte ihre gemeinsamen<br />
Fund Raising-Anstrengungen in Hollywood schädigen. "Ich verlor<br />
die Nerven", erinnerte sich <strong>Ingrid</strong>, "ich konnte nicht reden.<br />
Ich versuchte, eine Cigarette anzuzünden, doch meine Hand<br />
zitterte so, dass die Flamme erlosch." Trotzdem ein Übersetzer<br />
zur Verfügung stand (und viele der Gäste mehrsprachig waren),<br />
beschränkte sich R<strong>ob</strong>erto auf's Nicken und Lächeln, über-<br />
377
sah geflissentlich die massgebenden Produzenten, machte den<br />
Stars keine Komplimente und verzichtete generell auf die<br />
komplexen Ri<strong>tu</strong>ale der Bewunderung, wie sie von der Li<strong>tu</strong>rgie<br />
des Gesellschaftslebens von Hollywood vorgeschrieben waren.<br />
"Ich brauche für meine Filme keine Stars", sagte er, "aber ich<br />
habe nichts gegen Miss <strong>Bergman</strong>, nur weil sie ein Star ist."<br />
Eine seltsame Ironie wollte es, dass Wilders Gäste an<br />
diesem Abend genau den erwünschten Eindruck gewannen:<br />
der scheue Rossellini war erschlagen von all der Aufmerksamkeit,<br />
die ihm zuteil wurde! "Die Wahrheit", nach einem der<br />
Rossellini-Kinder, "war, dass mein Vater schon immer einen<br />
ausgeprägten Hass gegen Hollywood empfand."<br />
Mit andern Worten: er brauchte Hollywood-Finanzen,<br />
aber er mochte die Leute nicht, die er auch nicht respektierte.<br />
In Übereinstimmung mit dem, was er eine Woche danach sagte,<br />
wonach er Hollywood nicht <strong>als</strong> wirklich schrecklich betrachte,<br />
wirkte dieser Kommentar nur 'mal nicht gerade sonderlich<br />
begeisternd: "Es ist ein grossartiger Ort – wie eine Wurstfabrik,<br />
die feine Würste produziert. Trotzdem, ich kehre nach Italien<br />
zurück, wo ich meine Freiheit habe."<br />
Die Lindströms behandelte R<strong>ob</strong>erto mit der Quintessenz<br />
seines lateinischen Charmes. "Er war so warmherzig und ausgelassen",<br />
erinnerte sich <strong>Ingrid</strong> an ihre ersten gemeinsamen<br />
Wochen, wenn er in stotterndem Englisch sprach. "In seiner<br />
Gesellschaft fühlte ich mich weder scheu noch unbeholfen oder<br />
einsam. Er war ein offener Gesprächspartner, dem man gerne<br />
zuhörte. Vor allem hatte er Leben, und er gab auch mir das<br />
Gefühl, lebendig zu sein."<br />
Und was fühlte R<strong>ob</strong>erto für <strong>Ingrid</strong>, ausser dass er ihr<br />
Talent brauchte und ihre Kraft zur Eintreibung Amerikanischer<br />
Finanzen und ihre Bedeu<strong>tu</strong>ng zur Erweiterung des Publikums<br />
für seinen nächsten Film? Sein Liebesleben brauchte niem<strong>als</strong><br />
Zeit zur Entfal<strong>tu</strong>ng, und so bekannte er schon nach einer Woche<br />
im Hause Lindström, dass er – auf seine Art – sehr in sie<br />
verliebt sei. "Was R<strong>ob</strong>erto wirklich wollte", sagte sein Freund<br />
und Kollege, Sergio Amidei, "war <strong>Ingrid</strong> nicht für einen Film zu<br />
378
gewinnen, sondern für die Liebe, weil er ihr vollkommen verfallen<br />
war, w<strong>ob</strong>ei auch etwas Eitelkeit im Spiel war." Zweifelsohne<br />
mehr, <strong>als</strong> nur etwas: "Die Schwedinnen sind weltweit die<br />
leichtesten Opfer", wie er sich einer seiner Mätressen gegenüber<br />
ausdrückte.<br />
Sicher wäre es ein hartes und nicht belegbares Urteil,<br />
wollte man Rossellini einfach <strong>als</strong> systematischen Verführer mit<br />
den niedrigsten Motiven bezeichnen; er hatte nicht die Kaltschnäuzigkeit<br />
dazu. Aber sein Liebesleben war mehr <strong>als</strong> eine<br />
Wirrnis – es war ein Netz von eher pathetischen Doppelbeziehungen.<br />
In dieser Hinsicht fällt es schwer, anzunehmen, dass<br />
Rossellinis Innenleben bei seinem Wechsel zu <strong>Ingrid</strong> nicht heftig<br />
durcheinandergeraten ist. Er brauchte Geld; er brauchte<br />
eine Bestätigung seines Prestiges; er sehnte sich nach einem<br />
neuen Nachkriegspublikum weltweit. <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> war zweifellos<br />
einer der zwei oder drei kassenfüllenden Stars des Moments,<br />
und er wäre ein Narr gewesen, nicht zu erkennen (was<br />
er dann auch tat), dass sie auch eine grosse Schauspielerin<br />
war.<br />
Dasselbe galt bestimmt auch für Anna Magnani. Aber<br />
R<strong>ob</strong>erto war Magnanis Gewohnheit überdrüssig geworden,<br />
Dramen aus dem Film ins Privatleben einzubringen: für sie<br />
hatte alles den Geschmack einer schlechten Seifenoper angenommen.<br />
Alles bestand aus Gewalt und Tränen, Verbrechen<br />
und Bedrohung, schlechten Liebesduetten und hysterischen<br />
Tränenausbrüchen. Und so hatte er sie, wie ein Charakter in<br />
einem vergessenen Musikdrama, beiläufig verlassen, <strong>als</strong> er<br />
sich zur Entgegennahme des New York Critics Awards und um<br />
<strong>Ingrid</strong> zu treffen nach Amerika begab. Er ging zu ihr nachhause,<br />
bot ihr an, zwei ihrer Hunde gassizuführen, aber er übergab<br />
sie dann dem Portier eines benachbarten Hotels mit dem<br />
Auftrag, sie der Eigentümerin zurückzubringen. Tags darauf<br />
verliess Rossellini Italien, ohne Anna wiederzusehen oder sie in<br />
seine Pläne einzuweihen.<br />
379
Sein Abgang war wohl seiner unwürdig, denn Rossellini<br />
hatte dieses Jahr noch Pläne für einen weiteren Film mit Magnani,<br />
der so ähnlich wie "Aria di Roma" heissen sollte. "Wir<br />
verbrachten Monate mit den Vorberei<strong>tu</strong>ngen für die Dreharbeiten<br />
des Films", sagte Magnani einem amerikanischen Journalisten,<br />
und ihre Aussagen werden durch zeitgenössische italienische<br />
Presseausschnitte bestätigt.<br />
380<br />
Die Geschichte lag vor, die Besetzung war bereit, der<br />
Vertrag mit dem Produzenten unterzeichnet. Dann,<br />
mitten im ganzen Projekt, verschwand Rossellini in die<br />
Vereinigten Staaten und zu <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>. Ich verurteile<br />
ihn nicht für meine Behandlung <strong>als</strong> Frau, aber ich<br />
nehme ihm meine Beleidigung <strong>als</strong> Künstlerin übel.<br />
Im Gegensatz zu Petter Lindström, auf den in jeder Si<strong>tu</strong>ation<br />
Verlass war, war R<strong>ob</strong>erto Rossellini eine Person mit<br />
vielen Gesichtern. Und sehr vieles in seinem Leben und in seiner<br />
Beziehung zu <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> wurde im Hinblick auf Rossellinis<br />
"Genius" zu wohlwollend dargestellt (wenn nicht gar<br />
entschuldigt). Darin liegt einiger Diskussionsstoff.<br />
In einem ganz speziellen Moment der italienischen Geschichte<br />
machte Rossellini aus einer brutalen Realität eine n<strong>ob</strong>le<br />
Tugend. Mit bescheidenstem Aufwand an traditioneller Filmtechnologie<br />
hatte er "Open City" und "Paisà" produziert und<br />
der Filmgeschichte damit ein neues Modewort geschenkt –<br />
Neorealismus, <strong>als</strong> wäre es eine von einem strengen Theoretiker<br />
brillant entwickelte Methode. (Der Fanfarenstoss und die<br />
grundlegende Theorie waren schon vom Schriftsteller Cesare<br />
Zavattini, dem grossen Mitarbeiter von Vittorio de Sicca, beschrieben<br />
worden.) Aber es ist festzuhalten, dass Federico Fellini<br />
die Story lieferte, den roten Faden für die Figuren des Films<br />
und die meisten Dialoge von "Open City". Rossellini, gesegnet<br />
mit Darstellern wie Magnani, Fellini und Co., wusste genau,<br />
was mit der Kamera zu <strong>tu</strong>n: er tat sehr wenig, wie er sagte.<br />
Die Kamera hatte nichts anderes <strong>als</strong> ein folgsamer Be<strong>ob</strong>achter<br />
zu sein.
Nach "Open City" gab's dann Pr<strong>ob</strong>leme. "Paisà" hatte<br />
Momente von echter Grösse und war bestimmt ein wertvoller<br />
Tribut an den Triumph des menschlichen Geistes. Aber wenn<br />
gute Absichten per se für gute Kunst stünden, wären alle Heiligen<br />
Aestheten, und "Paisà" litt an einem Übermass an Ideen<br />
und einem Mangel an dem, was man künstlerisches Masshalten<br />
nennen könnte. Und dann war "Germania anno zero"<br />
(Deutschland im Jahr Null) eine Kriegs-Horrorgeschichte, ein<br />
trockenes und gespanntes Abbild der Dekadenz in Berlin und<br />
des Kriegsendes, in dem der Glanz des Schreckens mit Tiefgang<br />
verwechselt wurde.<br />
Magnani war für ihn wieder stark in "Una voce humana"<br />
(Eine menschliche Stimme), aber das war eine Eins-zu-eins-<br />
Ausgabe des Cocteau-Stücks. Was "Il Miracolo" (Das Wunder)<br />
angeht, waren auch seine Qualitäten Magnani zu verdanken,<br />
wie auch Fellini (<strong>als</strong> Autor und Schauspieler) und Tullio Pinelli,<br />
der mit Fellini das Script bearbeitete. Für "La macchina<br />
ammazzacattivi" (Die Maschine, die die Bösen tötet) gilt: je<br />
weniger darüber sprechen, desto besser – wie auch Rossellini<br />
wusste, denn er gab den Film auf.<br />
Das war es, was die Wissenschafter dam<strong>als</strong> <strong>als</strong> R<strong>ob</strong>erto<br />
Rossellinis Werk bezeichneten, bis zum Zeitpunkt, <strong>als</strong> er <strong>Ingrid</strong><br />
traf. Es war bestimmt eine respektable Produktion, aber selbst<br />
unter Berücksichtigung seines beachtlichen Lebenswerks, ist<br />
die Feststellung wenigstens zulässig, dass Rossellini die herausragende<br />
Fantasie eines Fellini oder der lyrische Humanismus<br />
eines Vittorio de Sicca fehlte. Es ist etwas Schönes, der<br />
Welt ein oder zwei brillante Werke zu schenken, aber vielleicht<br />
rechtfertigt das nicht die überschäumende Bewunderung durch<br />
seine eifrigsten Jünger.*)<br />
*) Rossellinis Spätwerk im Dokumentar-Genre und für das Fernsehen<br />
bedarf einer gesonderten Beurteilung, und es ist festzustellen, dass<br />
es sich dabei um wertvolle Lehrmittel handelt. In den letzten Jahren<br />
seines Lebens erwies er sich <strong>als</strong> ein erstrangiger Fachlehrer.<br />
381
Das sind wichtige Aspekte im Zusammenhang mit Rossellinis<br />
überstürztem Auftritt in Hollywood und seiner sanften<br />
Umwerbung von <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>. Über zwei Monate lang verbrachten<br />
die beiden die meiste Zeit des Tages zusammen, ihr<br />
Englisch und Französisch auffrischend, während R<strong>ob</strong>erto <strong>Ingrid</strong><br />
elementare Italienischkenntnisse beibrachte, zum Lunch nach<br />
Malibu und zum gemeinsamen Abendessen – ganz öffentlich<br />
(warum auch nicht?) – auch wenn Petters Agenda seine Beteiligung<br />
verunmöglichte – um über "Terra di Dio" zu sprechen.<br />
MENSCHLICHE MOTIVATIONEN sind selten unverdünnt;<br />
R<strong>ob</strong>erto bot <strong>Ingrid</strong> sicher sowohl den Pass zur Freiheit wie<br />
auch das Versprechen auf ein neues kreatives Leben. Er war<br />
(wenigstens zu Beginn) auch ein anregender Mentor und er<br />
konnte ein warmherziger, besorgter Vater sein – für sie wie<br />
auch für seine Nachkommenschaft. Aber Menschen handeln<br />
selten nur aufgrund von desinteressierter Zuneigung. Hat man<br />
das einmal eingesehen – und, in andern Worten, erwartet man<br />
nicht, dass dieses Liebespaar aus rein heroischer, märchenhafter,<br />
urreiner Liebe zueinander handelte, ohne jeden Gedanken<br />
an persönliche Interessen – dann wird man auch verstehen<br />
können, mit welcher Heftigkeit sich <strong>Ingrid</strong> zu R<strong>ob</strong>erto hingezogen<br />
fühlte, sie sich mit ihren gegenseitigen Schwächen und<br />
Bedürfnissen anzufreunden begannen, und dennoch erkannten,<br />
dass sie auf einen Weg einschwenkten, der zum vornherein<br />
dazu verurteilt war, nach vielen Drehs und Kurven in einer<br />
Sackgasse zu enden.<br />
Da gab es ein alles überspannendes Pr<strong>ob</strong>lem von Anfang<br />
an. Sie wusste überhaupt nichts von seinen Stimmungen<br />
und Launen, dem extremen Tumult und dem Chaos, das er<br />
schuf, um nach seinem Gusto durch das Leben zu kommen.<br />
"Er brauchte Gewitterstimmung", sagte seine Freundin Liana<br />
Ferri. "Wenn kein Hurricane raste, er keine Barrikaden bauen<br />
und Schlachten schlagen konnte, langweilte er sich." R<strong>ob</strong>erto<br />
begann ein Projekt, eine Freundschaft, eine Idee, war verrückt<br />
vor Begeisterung – und vergass es alles am nächsten Tag.<br />
382
"Niemand konnte seine Persönlichkeit erfassen", fuhr Liana<br />
Ferri fort, "denn R<strong>ob</strong>erto konnte jemanden am Montag mit Liebenswürdigkeiten<br />
überschütten und ihn am Dienstag kaltblütig<br />
und desinteressiert ermorden." Von alledem hatte <strong>Ingrid</strong> keine<br />
Ahnung.<br />
Aber ein Freund, Leo McCarey, wusste vieles von Rossellini<br />
und lud <strong>Ingrid</strong> eines Tages zum Lunch ein, <strong>als</strong> Rossellini<br />
mit der italienischen Kul<strong>tu</strong>rgesellschaft ein Museum besuchte.<br />
"<strong>Ingrid</strong>", sagte er, "du erliegst ihm, nur weil er das Gegenteil<br />
von Lindström ist. Geh' nach Wien, dort findest du Männer mit<br />
Blumen und Handküssen für dich, die Rossellini zum Anfänger<br />
machen." Sie war taub für diesen Rat.<br />
Stets der verliebte Verehrer, war R<strong>ob</strong>erto oft brillant<br />
und zugänglich, manchmal aber auch listig und verantwor<strong>tu</strong>ngslos.<br />
Er war nie bösartig und immer masslos und er betrachtete<br />
sich <strong>als</strong> den besten Liebhaber der Welt, der leere<br />
Existenzen schon allein durch die schiere Kraft seiner Gegenwart<br />
erfüllte. So war <strong>Ingrid</strong> für ihn beides, Herausforderung<br />
und Preis. Sie war ernst und intelligent, lebhaft, in<strong>tu</strong>itiv und<br />
fröhlich. Und sie gehörte Petter, einem Mann, der das Ausmass<br />
ihrer Qualitäten gar nicht zu schätzen wusste – der in der Tat<br />
nur ihre Schwächen sah und höchst selten einmal einen<br />
Schimmer von Anerkennung für irgendeinen ihrer Erfolge übrig<br />
hatte.<br />
In über zweitausend Seiten von Briefen an <strong>Ingrid</strong>, Verwandte,<br />
Freunde und die Presse, von Betrach<strong>tu</strong>ngen, geschrieben<br />
für Publikationen und sein (nie realisiertes) Buchprojekt,<br />
von Notizen und persönlichen Dokumenten über sein Leben mit<br />
<strong>Ingrid</strong>, womit er versuchte, "seine Sicht" der Geschichte von<br />
1949 und 1950 darzulegen, findet sich aus der Feder von Petter<br />
Lindström kein einziges Wort der Anerkennung für die Feinfühligkeit<br />
und die Talente der Frau, die er hatte, und die er<br />
vermutlich aus guten Gründen vor einem Dutzend von Jahren<br />
zur Frau genommen hatte. "Nicht schlecht" war das höchste<br />
L<strong>ob</strong> für ihr Schaffen während all diesen Jahren. Als Rossellini<br />
ankam mit seiner Geschichte von geistiger Befreiung und be-<br />
383
hauptete, es brauche <strong>Ingrid</strong>, um ihr Leben einzuhauchen, was<br />
anderes <strong>als</strong>o konnte sie <strong>tu</strong>n, <strong>als</strong> die Chance zu packen? Was<br />
anderes sollte sie <strong>tu</strong>n, <strong>als</strong> ihr Schicksal mit dem seinen zu verknüpfen?<br />
Die Möglichkeit einer künftigen Enttäuschung konnte<br />
sie nicht sehen, sie gab sich dem Moment völlig hin.<br />
Was von ihr nun verlangt wurde, wie sie plötzlich gewahr<br />
wurde, war Loyalität und die Beach<strong>tu</strong>ng von Rossellinis<br />
Bedürfnissen – was im Moment bedeutete, einen grosszügigen<br />
Produzenten zu finden. Samuel Goldwyn war während langer<br />
Zeit sehr interessiert, mit <strong>Ingrid</strong> den Vertrag für einen Film<br />
abzuschliessen, weshalb sie ein Treffen in seinem Büro mit ihr<br />
und R<strong>ob</strong>erto arrangierte. Goldwyn versuchte, R<strong>ob</strong>ertos Erläuterungen<br />
zu "Terra di Dio" zu folgen und sagte dann, er sei bereit,<br />
das Projekt zu unterstützen, vorausgesetzt natürlich, Rossellini<br />
lege ihm das übliche Drehbuch und den Produktionsplan<br />
vor.<br />
"Oh, er wird kein Script haben, nicht einmal beim Drehbeginn",<br />
flötete <strong>Ingrid</strong> süss, um einer ernsteren Entgegnung<br />
Rossellinis zuvorzukommen. "Aber er weiss genau, was er <strong>tu</strong>n<br />
wird und welche Dialoge und Darsteller er einsetzen wird. Ich<br />
weiss das aus unseren Gesprächen." Ohne auf diesen Punkt<br />
weiter einzugehen wünschte Goldwyn einen von Rossellinis<br />
früheren Filmen zu sehen. Prima Idee, fand <strong>Ingrid</strong>, in der Annahme,<br />
dass ihn das überzeugen werde. Goldwyn arrangierte<br />
<strong>als</strong>o eine Filmparty in seinem Haus, und <strong>als</strong> die Lichter verlöschten<br />
war Rossellinis Wahl zu sehen: "Germania, anno zero",<br />
der endlos öde Film, den er nach "Paisà" in den Strassen<br />
von Berlin gedreht hatte. Am Ende des Abends waren Goldwyn<br />
und seine Gäste von Depressionen betäubt, worauf er die bereits<br />
angekündigte Unterstützung der neuen Produktion zurückzog.<br />
Als Howard Hughes, der neue Besitzer von RKO, vom<br />
Projekt erfuhr, erklärte er sich sofort zu einem Handel bereit.<br />
<strong>Ingrid</strong> und Petter sollten $ 175'000, R<strong>ob</strong>erto $ 150'000 und<br />
Hughes die amerikanischen Vertriebsrechte am Film neben<br />
einem Anteil an den Auslandeinnahmen erhalten. Er zeigte sich<br />
384
nicht sehr beeindruckt von der harten Geschichte, die <strong>Ingrid</strong><br />
ihm erzählte, aber er war noch immer scharf auf sie und stipulierte,<br />
dass <strong>Ingrid</strong> nach "Terra di Dio" nach Hollywood zurückkäme,<br />
um einen weiteren Film für RKO in einem gefälligeren<br />
Umfeld mit attraktiveren Kostümen zu drehen – ein Projekt,<br />
mit andern Worten, das zu seiner neuen Geschäftspartnerin<br />
<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> viel besser gepasst hätte.<br />
DIE INTERNATIONALE PRESSE erhielt Wind von der Sache,<br />
womit auch Anna Magnani davon erfuhr und sich mit der<br />
Ankündigung vernehmen liess, sie werde (vor allem andern)<br />
einen Film über eine Frau auf einer vulkanischen Insel produzieren<br />
und darin auch die Hauptrolle spielen; ohne "Terra di<br />
Dio" oder dessen Produzenten mit einem einzigen Wort zu erwähnen,<br />
erklärte sie, dass ihr "Volcano" noch vor Jahresende<br />
in den Kinos zu sehen sein werde. Was aber sehr für sie<br />
sprach, war der Umstand, dass die heissblütige Magnani – die<br />
jetzt verstand, dass sie von <strong>Ingrid</strong> permanent verdrängt worden<br />
war – kein einziges schlechtes Wort weder über ihren<br />
Liebhaber noch über ihre Rivalin verlauten liess. Ihr Verhalten<br />
in der Öffentlichkeit in diesem Zusammenhang, wie auch über<br />
die abrupte Art und Weise, wie sie von R<strong>ob</strong>erto im Stich gelassen<br />
wurde, war absolut mustergültig. Und allen Unkenrufen<br />
zum Trotz hatten <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> und Anna Magnani in all den<br />
Jahren, die sie in Rom verbrachten, keinen Kontakt.<br />
Zur Feier des RKO-Handels und um Petter für seine<br />
Gastfreundschaft zu danken, wollte R<strong>ob</strong>erto Geschenke für die<br />
Familie und auch seinen eigenen Sohn einkaufen – aber dazu<br />
musste er (wie üblich) Pump aufnehmen, diesmal bei seiner<br />
Gastgeberin, die ihm $ 300 gab. <strong>Ingrid</strong> und R<strong>ob</strong>erto machten<br />
sich auf den Einkauf; er kaufte Kravatten für Petter und eine<br />
Handtasche für <strong>Ingrid</strong>, bevor er entdeckte, was er für das ideale<br />
Geschenk für Pia hielt: ein riesiges ausgestopftes Spielzeug,<br />
eine Kuh mit einem breiten Grinsen und einer Schürze. Gott im<br />
Himmel, nein, rief <strong>Ingrid</strong> – aber wie gewohnt ging R<strong>ob</strong>erto seinen<br />
Weg. An diesem Abend konnte die entzückte Pia ihre Elsie<br />
385
<strong>als</strong> neue Zimmergefährtin in die Arme schliessen. Über Petters<br />
Reaktion ist nichts überliefert.<br />
AM 28. FEBRUAR TRAT ROBERTO die Heimreise nach<br />
Rom an, um "Terra di Dio" und <strong>Ingrid</strong>s Ankunft vorzubereiten.<br />
Sie und Petter machten dann einen kurzen Skiurlaub in Aspen,<br />
wo sie Pläne schmiedeten, wonach sie sich Ende Mai nach Vollendung<br />
des Films in Italien treffen würden.<br />
"Ich würde sagen, dass unser Verhältnis dam<strong>als</strong> von<br />
Zuneigung und ehelichem Glück bestimmt war", sagte er später<br />
bei den Scheidungsverhandlungen, womit er wohl erstauntes<br />
Aufhorchen bei all jenen erzeugte, die mit den Lindströms<br />
vertraut waren. Aber das glaubte die Presse und das amerikanische<br />
Publikum, die noch immer an <strong>Ingrid</strong>s Altar opferten:<br />
"Gesund wie eine Pfadfinderin, glückliche Ehefrau und Mutter,<br />
sie kann eine Heilige spielen. . . <strong>Bergman</strong>s Familienleben ist<br />
ein Musterbeispiel für eheliche Treue, denn nicht ein Hauch<br />
von einem Skandal hat die Lindströms erschüttert..." Worauf<br />
<strong>Ingrid</strong> – fast mit warnendem Unterton – antwortete: "Ich kann<br />
nicht verstehen, warum die Leute immer meinen, ich sei nur<br />
rein und edel. Jeder Mensch hat doch seine schlechten und<br />
seine guten Seiten."<br />
"Niemand hätte die Erwar<strong>tu</strong>ngen an dieses irreale Bild<br />
erfüllen können, das die Leute von mir geschaffen hatten",<br />
sagte <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> Jahre danach. Und im wahrsten Sinne<br />
nahm dieses unrealistische Bild bei Selznick seinen Anfang:<br />
"Ich wollte <strong>Ingrid</strong> in den Himmel heben", hatte er gesagt, "und<br />
ich bestehe darauf, sie weiterhin in den Himmel zu heben."<br />
Dem fügte <strong>Ingrid</strong> bei:<br />
386<br />
Und <strong>als</strong> die Leute bemerkten, dass ich diesem Image<br />
nicht perfekt entsprach, fühlten sie sich betrogen und<br />
die Hölle war los. Sie behaupteten, ich hätte die ganze<br />
Täuschung von langer Hand geplant, und <strong>als</strong> ich meinen<br />
Mann und meine Tochter verliess, hätte ich nicht die geringste<br />
Absicht gehabt, zurückzukommen – ich sei nach<br />
Italien gegangen um dort ein Star zu werden, und zum
Teufel mit allem andern. Aber warum sollte ich nach Italien<br />
und zu Rossellini gehen, um ein grosser Star zu<br />
werden? Das wäre das Schlimmste gewesen, was ich<br />
hätte <strong>tu</strong>n können! In Hollywood hat man mir 1949 die<br />
besten Scripts und die besten Regisseure geboten –<br />
Hitchcock, Huston, Wyler, Mankiewicz, sie alle wollten<br />
mir mit arbeiten. Aber ich wollte etwas anderes. Ich<br />
wollte meine Talente neu einsetzen.<br />
Am 11. März – zwei Wochen vor dem geplanten Termin<br />
– reiste <strong>Ingrid</strong> nach Rom ab, machte zunächst einen einwöchigen<br />
Halt in New York um Irene Selznick zu treffen, in deren<br />
Wohnung sie auf einem frischpolierten Boden ausglitt und den<br />
Kopf an der Kante eines Klimageräts aufschlug. "Es war wie<br />
symbolisch!" schrieb <strong>Ingrid</strong> später an Irene: "Der gefallene<br />
Star!" Als solchen wurde sie in Amerika kurz nach ihrer Ankunft<br />
in Rom am 20. März auch betrachtet.<br />
Die nun folgende öffentliche Aufregung entstand in der<br />
Annahme, dass <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> Beverly Hills verliess, sie ihren Mann<br />
und ihre zehnjährige Tochter unbekümmert in der Absicht verliess,<br />
nie wieder zurückzukehren, resp. erst dann wieder zurückzukehren,<br />
wenn die Umstände eine Scheidung unumgänglich<br />
gemacht hätten. Aber nichts in ihrem Gebaren hätte ein<br />
derart abenteuerliches Szenario bestätigt. Sie wollte einfach<br />
eine neue Erfahrung machen; einen Film mit einem Mann produzieren,<br />
den sie liebte und mit dem sie vielleicht auch eine<br />
Beziehung aufnehmen wollte (die möglicherweise ihren Anfang<br />
bereits in Beverly Hills genommen hatte).<br />
Würde das eine Sache von Dauer sein? Ihre zunehmende<br />
Vertrautheit mit R<strong>ob</strong>erto liess eher ein nein vermuten,<br />
aber ihr Blickwinkel war ohnehin nicht auf die Ewigkeit ausgerichtet.<br />
"Wie soll ich wissen, <strong>ob</strong> das nun meine Chance für das<br />
grosse Glück ist?", schrieb sie in einem Brief an eine von Petters<br />
Schwestern später im Jahr. "Ich betrachte es <strong>als</strong> ein grosses<br />
Abenteuer, doch wer weiss, wie es enden wird? Petter und<br />
ich haben uns auseinandergelebt. Er betrachtete mich <strong>als</strong> das<br />
kleine Mädchen und formte mich, brachte mir alles bei. Aber<br />
387
jetzt möchte ich erwachsen werden, und Petter will nicht den<br />
Weg gehen, den ich gehe.<br />
388<br />
Du siehst, ich bin ein Wandervogel", fuhr sie fort.<br />
Seit meiner Kleinmädchenzeit habe ich immer nach<br />
Neuem gesucht – ich sehnte mich nach grossen Abenteuern.<br />
Was immer ich hatte, sah und erlebte, war mir<br />
nicht genug. Ich habe immer versucht, die Trivialität<br />
der Suche nach dem Glück zu ignorieren, aber ich<br />
wusste nie, was mir Glück und Frieden geben würde.<br />
Ich suchte und suchte, wechselte und veränderte. Und<br />
so lief es auch mit meiner Arbeit. Ich wechselte die<br />
Rollen, wechselte meinen Typ und ging von S<strong>tu</strong>dio zu<br />
S<strong>tu</strong>dio, um neue Menschen zu finden, mit welchen ich<br />
arbeiten konnte, die mich weiterbringen und mir helfen<br />
konnten, mein Reifeziel zu erreichen. Und Petter wusste,<br />
wie rastlos ich war.<br />
Dann traf ich Rossellini, und in ihm fand ich einen andern<br />
Wandervogel. Er wuchs wie eine Wildkatze auf<br />
und ist mit nichts je zufrieden. Was man über seine<br />
Frauen sagt, ist ebenfalls nicht übertrieben. Aber jetzt<br />
hat er eine getroffen, von der er sagt, sie verstehe ihn.<br />
Und mit ihm habe ich nun die Welt, die ich sehen wollte.<br />
Über Fleming und "Joan" war in der Presse kein Wörtchen<br />
zu lesen. Aber Fleming lebte nicht mit ihr zusammen,<br />
dinierte nicht täglich mit ihr und verschlang sie inmitten der<br />
Hollywooder Gesellschaft mit seinen Blicken. Nun brachte Geschwätz<br />
in- und ausserhalb der Printmedien den Gerüchtekessel<br />
schon zum Brodeln. Sie sah zu jener Zeit noch nicht mehr<br />
<strong>als</strong> "das grosse Abenteuer" von Italien, Rossellini, "Terra di<br />
Dio", die Verbindung von Arbeit und Liebe, neue Erfahrungen<br />
neben einem neuen Vater-mit-einer-Kamera.<br />
"Sie hatte keine Ahnung, was geschehen würde", sagte<br />
ihr dritter Ehemann Lars Schmidt nach Jahrzehnten. "Natürlich<br />
wussten sie und Lindström, dass ihre Ehe vorbei war, aber<br />
darüber, wie sie damit umgehen wollten, bestand bei beiden
noch überhaupt keine Klarheit. Die Behaup<strong>tu</strong>ng, sie wollte ihre<br />
Tochter für immer verlassen, ist absurd. Schliesslich hatte sie<br />
eben einen Film in London gedreht, wo sie von Mann und<br />
Tochter besucht wurde – so hatte sie allen Grund zur Annahme,<br />
dies werde wieder geschehen." Und dann gab es solche<br />
Trennungen ja schon zuvor – vor allem 1939, <strong>als</strong> sie Petter<br />
und Pia verliess, um in Hollywood "Intermezzo" zu drehen,<br />
und 1946, <strong>als</strong> sie am Broadway war.<br />
Überdies kam <strong>Ingrid</strong> mit lächerlich wenig Geld und nur<br />
ganz bescheidener Garder<strong>ob</strong>e in Rom an; wegen des unbeständigen<br />
Wetters in Italien in jenem Frühjahr hatte sie klugerweise<br />
ihren Pelzmantel mitgenommen, den sie in Hollywood<br />
praktisch nie brauchte. "Sie kam nach Italien mit was sie<br />
gerade zu einem Kleiderwechsel benötigte", sagte der amerikanische<br />
Schriftsteller Art Cohn, der Rossellini begleitete, <strong>als</strong><br />
<strong>Ingrid</strong> in Rom ankam, und der mit ihm am Drehbuch für diesen<br />
Film arbeitete. "Sie mag ja Geld gemacht haben, aber sie<br />
sah nicht danach aus, <strong>als</strong> hätte sie welches – und ich will nicht<br />
darüber spekulieren, wer das Geld hatte, das sie hätte haben<br />
sollen." Selbst Lindström gab zu, dass <strong>Ingrid</strong>s Abreise auf ihre<br />
baldige Rückkehr schliessen liess: "Als Letztes wählte sie vor<br />
der Abreise noch die Tapete für das neue Kinderzimmer aus.<br />
Wir wünschten uns noch ein zweites Kind (Empfängnis irgendwann<br />
später im Jahr)." Mit andern Worten: sie glaubte,<br />
sie würde für höchstens drei oder vier Monate weg sein.<br />
<strong>Ingrid</strong>s Empfang in Italien war alles andere <strong>als</strong> feindselig:<br />
nach den schweren Entbehrungen der Kriegszeit, der anschliessenden<br />
Besetzung durch die Alliierten, dem verbreiteten<br />
Zerfall und der Korruption im Nachkriegs-Rom, brachte Rossellini<br />
den grössten Weltstar ins Land. Über Nacht war <strong>Ingrid</strong><br />
Roms grosse Trophäe, romantische Kriegsbeute. "Man hatte<br />
das Gefühl", sagte Federico Fellini, " sie sei wie eine Märchen-<br />
Patin, die eben nach Rom gekommen war. Man könne von ihr<br />
alles erwarten. Sie könne Wunder für uns wirken, wie eine<br />
Walt Disney-Figur. Das machte sie so faszinierend."<br />
389
So kam es, dass ein wilder Schwarm von Kameraleuten<br />
und Journalisten – aufgescheucht durch Howard Hughes, der<br />
hier eine gute Werbemöglichkeit für den Film sah – auf <strong>Ingrid</strong><br />
losstürmte, <strong>als</strong> sie am 20. März gegen Mitternacht in Rom das<br />
Flugzeug verliess. R<strong>ob</strong>erto puffte ihnen mit den Ellbogen den<br />
Weg frei, teilte einige Schläge an Fotographen aus und verfrachtete<br />
<strong>Ingrid</strong> schnell in seinen roten Cisitalia-Sportwagen.<br />
Eine S<strong>tu</strong>nde später wurde sie an einem Empfang im Excelsior-<br />
Hotel R<strong>ob</strong>ertos Freunden vorgestellt, und es war kurz vor<br />
Dämmerung, <strong>als</strong> sie endlich den Weg zu ihrer Suite fand, die<br />
gleich neben der seinen lag (und alles von RKO bezahlt).<br />
Vier Tage danach brausten R<strong>ob</strong>erto und <strong>Ingrid</strong> von Rom<br />
nach Süden. Sie legten einen Stop ein, damit <strong>Ingrid</strong> den anregenden<br />
Frascati kosten konnte; schweigend standen sie bei<br />
den zerbombten Ruinen der Abtei von Monte Cassino; sie fuhren<br />
durch die engen und übervölkerten Strassen von Neapel<br />
und liessen ihre Blicke über den blauen Golf schweifen. Dann<br />
gings weiter südwärts nach Amalfi, wo sie im Albergo Luna<br />
Convento, einem ehemaligen Kloster, Zimmer mieteten. Mit<br />
Blick auf's Meer, mit stillen Klostergärten und einem mittelalterlichen<br />
Turm, der in einen Speisesaal umgewandelt wurde,<br />
bot das Gasthaus dem Paar die einzigen frohen Momente in<br />
der nun während den kommenden Monaten anhaltenden hektischen<br />
und unangenehmen Betriebsamkeit. <strong>Ingrid</strong> war nicht die<br />
Erste, die dem Zauber des Hotels und R<strong>ob</strong>ertos Liebesgeflüster<br />
erlag.<br />
"Ich wusste, R<strong>ob</strong>erto war wieder verliebt", sagte Marilyn<br />
Buferd einige Wochen danach in Amalfi. "Er bot ihr den gleichen<br />
Traum, nur mit den Quasten und Girlanden des Liebestraums<br />
verziert. Verstehen Sie mich recht. Er selbst glaubte an<br />
jedes Wort, das über seine Lippen kam. Aber ich könnte Ihnen<br />
praktisch Wort für Wort wiederholen, was er zu <strong>Ingrid</strong> sagte.<br />
Und glauben Sie mir: es ist wundervoll. Es ist eine grosse Erfahrung,<br />
und selbst wenn eine Rossellini-Romanze nur eine<br />
Eintagsfliege ist, ist sie grossartig solange sie dauert. <strong>Ingrid</strong><br />
hätte aus Stein sein müssen, um nicht davon betäubt und<br />
weggetragen worden zu sein." So sollte <strong>Ingrid</strong> zur längsten<br />
390
Romanze seines Lebens werden – doch auch sie hatte am Ende<br />
kurze Beine.<br />
Marilyn war nicht die einzige Besucherin in Amalfi, der<br />
die neuen Turteltauben auffielen. Ein Fotograph erwischte sie<br />
in einem unbedachten Moment, <strong>als</strong> sie Hand in Hand (mit verschlungenen<br />
Fingern) dem Wall einer Schlossruine entlang<br />
spazierten – gerade die richtige Pose für eine Seite in der Ende-April-Ausgabe<br />
des LIFE-Magazins. <strong>Ingrid</strong> konnte nicht ahnen,<br />
dass ihr Privatleben die Hauptschlagzeilen des Tages bot,<br />
und zwar weltweit. Aber nun erinnerte der italienische Frühling<br />
von <strong>Ingrid</strong> und R<strong>ob</strong>erto an den europäischen Sommer Edwards<br />
VIII., des Königs von England, und der geschiedenen Amerikanerin<br />
Wallis Simpson: 1937 wurden sie während eines Ferienaufenthalts<br />
beim gemeinsamen Spazieren und Schwimmen<br />
be<strong>ob</strong>achtet. Kameras, Mikrofone, Aufzeichnungen und alles,<br />
was dem "öffentlichen Informationsrecht" zu dienen hatte,<br />
machten die Privatsphäre zur Farce.<br />
Dort im Albergo – und ausgerechnet in jenem Raum, in<br />
dem Ibsen "A Doll's House" geschrieben haben soll – griff <strong>Ingrid</strong><br />
am 3. April zur Feder. Auf Hotel-Papier schrieb sie ihrem<br />
Ehemann einen Brief, ebenbürtig dem von Ibsens Nora, die<br />
eine Tür ihres Lebens schloss, um eine andere zu öffnen.<br />
"Lieber Petter,<br />
Es wird dir sehr schwer fallen, diesen Brief zu lesen,<br />
wie es mir schwer fällt, ihn zu schreiben. Aber ich<br />
glaube, es ist der einzige Weg. Ich möchte alles von<br />
Anfang an erklären, aber du weißt genug, und ich<br />
möchte um Verzeihung bitten, doch das wäre lächerlich.<br />
Es ist nicht alles meine Schuld und wie kannst du<br />
verzeihen, dass ich bei R<strong>ob</strong>erto bleiben möchte. Ich<br />
weiss, er hat dir auch geschrieben und alles gesagt,<br />
was es dazu zu sagen gibt. Es war nicht meine Absicht,<br />
mich zu verlieben und nach Italien auszuwandern.<br />
Nach all unseren Plänen und Träumen weißt du,<br />
dass das so ist. Aber was soll ich <strong>tu</strong>n, was kann ich daran<br />
ändern? Du sahst in Hollywood meine wachsende<br />
Begeisterung für R<strong>ob</strong>erto und du weißt, wie sehr sich<br />
391
392<br />
unsere Wünsche nach der selben Arbeitsweise, unsere<br />
Lebensauffassungen gleichen. Ich dachte, meine Gefühle<br />
für ihn vielleicht besiegen zu können, wenn ich<br />
ihn in seinem eigenen Milieu erlebe, das von meinem<br />
ja so verschieden ist. Aber das genaue Gegenteil geschah.<br />
Land, Leben und Leute hier sind mir nicht<br />
fremd, ich habe das schon immer gesucht. Ich hatte<br />
den Mut nicht, zuhause mehr über ihn zu sprechen, <strong>als</strong><br />
was ich zu dir sagte, weil mir alles so unwahrscheinlich<br />
vorkam, wie ein Abenteuer, und dam<strong>als</strong> hatte ich keine<br />
Ahnung von der Tiefe seiner Gefühle. Mein Petter,<br />
ich weiss dieser Brief trifft unser Haus, unsere Pelle,<br />
unsere Zukunft und unsere Vergangenheit mit all den<br />
Opfern und der Hilfe von deiner Seite, wie eine Bombe.<br />
Und nun stehst du alleine in den Trümmern und ich<br />
kann dir nicht helfen. Armer, lieber Papa, aber auch<br />
arme liebe<br />
Mama"<br />
R<strong>ob</strong>erto hatte Petter tatsächlich geschrieben und betont,<br />
dass es nicht ihre Absicht war, seine Gefühle zu verletzen;<br />
er bat um eine einvernehmliche Scheidung.<br />
Während dem Rest seines langen und erspriesslichen<br />
Lebens erholte sich Petter nie von diesem Schlag, und sein<br />
Groll liess sich nicht besänftigen; leider entwickelte sich dieser<br />
zur Besessenheit. Wie sein Freund Åke Sandler fast ein halbes<br />
Jahrhundert danach sagte, fühlte er sich, <strong>als</strong> hätte er "vor der<br />
ganzen Welt den Laufpass erhalten". Die Ehe war seit langem<br />
zerstört, was sie beide wussten. Aber mit einer von Petter nie<br />
erwarteten Endgültigkeit hatte <strong>Ingrid</strong> die Gelegenheit gepackt<br />
und vielleicht erstm<strong>als</strong> in ihrem Leben konsequent gehandelt.<br />
Nun war ihm letztlich doch die Kontrolle über sie entglitten.<br />
Das Mass von Rossellinis Triumph war das Mass seiner eigenen<br />
Niederlage.<br />
AM 4. APRIL BELUDEN ROBERTO, <strong>Ingrid</strong> und eine Crew<br />
einen rachitischen Schoner mit Film-Ausrüs<strong>tu</strong>ngen und Le-
ensmitteln und stachen ins Tyrrenische Meer. Nach vier<br />
S<strong>tu</strong>nden tauchte der schwarze Kegel von Strombolis zweitausend<br />
Fuss hohem aktivem Vulkan aus seinem stinkenden<br />
Rauch auf, und bald konnten sie die kahlen Hänge und die<br />
gedrungenen, gekalkten Hütten der verarmten Bauern sehen,<br />
die ihre Familien mit ihrem erbärmlichen Fischerdasein durchs<br />
Leben brachten. Das Leben war primitiv, einsam und ohne<br />
jeden modernen Komfort wie sanitäre Einrich<strong>tu</strong>ngen, Elektrizität,<br />
Zei<strong>tu</strong>ngen oder Radio. "All das Gerede über Authentizität<br />
ist ja nett", meckerte Harold Lewis, Howard Hughes' Produktionschef,<br />
der <strong>als</strong> Troubleshooter herüberkam, "aber man kann<br />
alles übertreiben." In der Tat. Stromboli hätte zu einer Strafkolonie<br />
viel besser gepasst, <strong>als</strong> zu einer Filmcrew. Der Film<br />
konnte nur gedreht werden, weil R<strong>ob</strong>erto seinen eigenen Generator<br />
mitgebracht hatte. <strong>Ingrid</strong> kurz danach: "Am liebsten<br />
wäre ich geflohen wie die Filmheldin, nachdem sie das gesehen<br />
hatte."<br />
Die Geschichte, die Rossellini erzählen wollte, wurde<br />
während seiner spontanen Filmerei mehr und mehr zu seiner<br />
Interpretation von <strong>Ingrid</strong>s Beziehung zu ihm. Sie war Karin,<br />
ein Flüchtling, dessen einzige Hoffnung auf ein Entkommen<br />
aus dem Gefängnis ihrer Vergangenheit ihr von einem Mann<br />
geboten wurde, der sie nach Stromboli mitnahm, wo sie nach<br />
anfänglichem Glück feststellen muss, dass sie einen fatalen<br />
Fehler begangen hat und nun ausgegrenzter ist, <strong>als</strong> je zuvor.<br />
"Ich bin ein zivilisierter Mensch", schreit Karin ihren Mann an<br />
bevor sie in Tränen ausbricht. "Ich bin ein anderes Leben gewöhnt!"<br />
(die Rolle ihres Manns wurde von Mario Vitale, einem<br />
braungebrannten hübschen Fischer gespielt, den R<strong>ob</strong>erto auf<br />
dem Weg nach Stromboli von Salerno herübergebracht hatte).<br />
Erst durch ihren Fluchtversuch und die anschliessende geheimnisvolle<br />
Erleuch<strong>tu</strong>ng kann sie ihr Schicksal akzeptieren,<br />
auf der Insel bei dem Mann zu bleiben, der sie befreit hatte.<br />
INGRID WAR IN EINEM weissgetünchten Vierzimmer-<br />
Rustico untergebracht, der vom Dorflehrer gemietet wurde.<br />
393
Wenn sie baden wollte, rief sie einen Assistenten, der durch<br />
ein Deckenloch einen Eimer Meerwasser über sie<br />
runterschüttete. Die Nahrungsmittel – zur Hauptsache Konserven<br />
und Teigwaren - mussten vom Festland herübergebracht<br />
werden; sie wurden für Schauspieler und Crew von<br />
jenen Insulanerinnen zubereitet, die Rossellini nach bewährter<br />
Manier auf seinen Inselrundgängen da und dort aufgegriffen<br />
hatte ("Du stellst dich dahin und siehst nach dorthin....Du<br />
bringst dieses....Du trägst jenes nach dorthin..." und so fort).<br />
<strong>Ingrid</strong> fühlte sich einsam wie nie zuvor. Sie hatte sich<br />
nun vollkommen auf Rossellini eingestellt, weil sie etwas völlig<br />
anderes machen wollte, was sie nun auch tat. Sie war nach<br />
den Regeln der traditionellen Schauspiel- und Filmkunst ausgebildet<br />
worden und fand sich nun <strong>als</strong> Aussenseiterin wieder.<br />
Rossellini schleppte seine Amateure herbei, die er wie Profis<br />
behandelte, während <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> Profi wie ein Ersatz-Amateur<br />
behandelt wurde. "Ich pfeife auf deine realistischen Filme!"<br />
schrie sie Rossellini einige Wochen nach Drehbeginn an. "Zum<br />
Teufel damit! Diese Leute haben ja keine Ahnung von Dialog<br />
oder wohin sich zu stellen! Es interessiert sie überhaupt nicht,<br />
was sie <strong>tu</strong>n! Ich ertrage keinen weiteren Tag hier!" Rossellini<br />
nahm sie zur Seite, m<strong>ob</strong>ilisierte seinen überwältigenden<br />
Charme, und <strong>Ingrid</strong> kehrte zur Arbeit zurück, besänftigt und<br />
irgendwie wieder bemüht, es ihrem Herrn und Meister recht zu<br />
machen.<br />
"Er braucht keine Schauspieler für seine Filme", sagte<br />
sie später etwas ruhiger. "Er macht seine Filme natürlich – mit<br />
Leuten." Während der ganzen Produktion war sie gehalten,<br />
nicht zu spielen, alles abzudämpfen, alles anzuziehen, was ihr<br />
von der Grösse her passte und in irgend jemandes Haus gefunden<br />
wurde.<br />
"Ich glaubte einmal, wir hätten Schwierigkeiten gehabt<br />
in 'Arch', 'Joan' und 'Capricorn' ", schrieb <strong>Ingrid</strong> am 12. Mai an<br />
Joe Steele. "Aber diese Art realistischer Filmproduktion dreht<br />
dir realistisch den Kragen um. Und ausschliesslich mit Amateuren<br />
arbeiten zu müssen, wenn man so wenig Geduld hat, wie<br />
394
ich! Aber all diese Wiederwärtigkeiten und Mängel nehme ich<br />
gerne in Kauf, wenn ich mit jemand wirklich Aussergewöhnlichem<br />
arbeiten kann...Er schreibt den Dialog gerade vor der<br />
Szene. Die Darsteller wählt er ein paar S<strong>tu</strong>nden vor Drehbeginn<br />
aus. Er steckt voll von neuen Ideen. Seine Gewalttätigkeit,<br />
wenn etwas schief läuft, ist nur mit der des Vulkans im<br />
Hintergrund zu vergleichen. Seine Zärtlichkeit und sein Humor<br />
folgen dann auf dem Fuss. Ich verstehe gut, warum ihn die<br />
Leute <strong>als</strong> verrückt bezeichnen. Aber dies ist die Bezeichnung<br />
für alle Menschen, dies es wagen, anders zu sein, und das sind<br />
genau die Menschen, die ich immer mochte, ist es nicht so?"<br />
Sie traf dann eine Entscheidung und akzeptierte auch<br />
deren Konsequenzen – selbst auf die Gefahr hin, dass es den<br />
Film in Frage stellen könnte. Sie hatte kein S<strong>tu</strong>nt-Double, so<br />
musste sie im Wasser über scharfe Felsen gehen und die Vulkanflanke<br />
hochsteigen. Sie tat das alles spielerisch, <strong>ob</strong>wohl sie<br />
der schweflige Rauch in Augen und H<strong>als</strong> brannte, er ihr den<br />
Atem raubte und ihr während Tagen Uebelkeit verursachte.<br />
BIS ENDE APRIL hatten sich die Gerüchte um eine Liebesaffäre<br />
derart verdichtet, dass sich die Journalisten auf den<br />
Weg zur Insel machten. "Ich möchte nicht antworten", sagte<br />
R<strong>ob</strong>erto nüchtern, wenn ihn einer fragte, <strong>ob</strong> er <strong>Ingrid</strong> heiraten<br />
werde. "Weder bestätige ich, noch verneine ich, vorderhand<br />
habe ich nichts dazu zu sagen". Aber seine Verneinung kam<br />
einer lauten Bestätigung sehr nahe.<br />
Und dann ging alles sehr schnell.<br />
Am 29. April kam Petter Lindström auf dem Weg nach<br />
Messina, Sizilien, in Rom an, wo ihn <strong>Ingrid</strong> zwei Tage später<br />
treffen sollte. "Ich kam vor allem deshalb nach Italien, weil<br />
<strong>Ingrid</strong> mir die Schönheit dieses Landes wiederholt gerühmt<br />
hatte", erzählte er den Reportern, welchen das Lachen wohl<br />
zuvorderst stand. "Dann bin ich auch gekommen, um meine<br />
Frau zu sehen und zu umarmen, mit der ich durch untrennbare<br />
Bande der Liebe verbunden bin." Nun, ja – aber...<br />
395
<strong>Ingrid</strong> und Petter waren während des Nachmittags und<br />
Abends am 1. Mai und des Vormittags am 2. Mai zu einem Gespräch<br />
in einem düstern kleinen Gasthof zusammengekommen.<br />
Während der ganzen Zeit dieses Treffens trabte R<strong>ob</strong>erto<br />
rauchend durch den Essraum und die Korridore – und während<br />
einiger S<strong>tu</strong>nden lärmte er mit seinem Sportwagen, rasend vor<br />
Eifersucht, unter ihren Fenstern herum. Aus Angst, <strong>Ingrid</strong> liesse<br />
sich überreden, mit Petter nachhause zurückzukehren, liess<br />
er ihnen eine Notiz mit der Drohung zukommen, er werde seinen<br />
Wagen in einen Baum steuern und sich so das Leben<br />
nehmen, falls sie sich mit ihrem Ehemann versöhnte. Aber <strong>Ingrid</strong><br />
war zu diesem Zeitpunkt bereits an seine melodramatischen<br />
Auftritte gewöhnt und ignorierte ihn. Kay Brown, die im<br />
Auftrag ihres Chefs, Lew Wasserman von MCA, herüberkam,<br />
fand <strong>Ingrid</strong> "verloren, bleich und verstört" vor.<br />
"Es wird keine Scheidung geben" erklärte Petter den<br />
Journalisten am Bahnhof von Messina, <strong>als</strong> er sich auf den<br />
Rückweg nach Rom machte. "Es gibt keinen Grund für ein<br />
Zerwürfnis zwischen uns." Natürlich lag der Wahrheit nichts<br />
ferner <strong>als</strong> das, aber Petter glaubte, dass diese Affäre vorbeigehen<br />
werde, wie alle andern auch, und dass <strong>Ingrid</strong>, nach wie<br />
vor von ihm völlig abhängig, demütig dorthin zurückkehren<br />
werde, wo sie hingehörte.<br />
<strong>Ingrid</strong> wiederholte Petter, was sie beide schon seit Jahren<br />
wussten: dass ihre Ehe vorbei war. Jetzt wollte sie die<br />
Scheidung, weil sie R<strong>ob</strong>erto zu heiraten beabsichtigte; mit<br />
demselben Ziel hatte Rossellini inzwischen begonnen, auch<br />
seine Ehe dem Ende entgegen zu steuern. Sie verstand nicht,<br />
warum Petter sich dem widersetzte? Ihre Ehe war seit Jahren<br />
eine legale Formsache. Und hätte es da in der Tat etwas wie<br />
Liebe zwischen ihnen gegeben, warum <strong>als</strong>o wollte er sie beide<br />
und Pia dem unbarmherzigen Blick der aufdringlichen Oeffentlichkeit<br />
aussetzen? Sollten sie ihre Ehe nun nicht schnellstens,<br />
so ruhig und freundschaftlich wie möglich hinter sich lassen<br />
und sich ihrem neuen Leben zuwenden?<br />
396
Wäre das nicht in allererster Linie das Beste für Pia? Ihre<br />
Namen zierten schon täglich die Zei<strong>tu</strong>ngen und Magazine<br />
der ganzen Welt: liesse sich die Sache nun zügig regeln, würde<br />
die Presse bald das Interesse an ihnen verlieren und <strong>Ingrid</strong><br />
könnte nach einigen Wochen nach Beverly Hills zurückkehren,<br />
um Pia klar zu machen, dass sie ihre Mutter nicht verlieren<br />
würde. Schliesslich war Pia in Hollywood aufgewachsen und<br />
wusste Bescheid über Scheidungen. Das muss nicht bedeuten,<br />
dass Pia zwischen ihren Eltern Verbitterung mitbekommen hätte.<br />
Vielleicht erinnerte sich <strong>Ingrid</strong> auch an ihre eigene Kindheit<br />
und wollte ihrer Tochter dasselbe Schicksal ersparen: sie<br />
wuchs nur bei ihrem Vater auf. Ja, sie würde wohl mit R<strong>ob</strong>erto<br />
in Italien leben, aber Pia konnte ihre Sommerferien jeweils bei<br />
ihrer Mutter verbringen und sicher würde es während des ganzen<br />
Jahres genügend Gelegenheiten für Besuche hüben oder<br />
drüben geben. <strong>Ingrid</strong> bat Petter, Vernunft und Verstand anzunehmen.<br />
Klar, es gab keine ehelichen Bande mehr zwischen<br />
ihnen; ebenso klar war, dass Petter weder religiöse noch philosophische<br />
Skrupel vor der Auflösung der Ehe hatte.<br />
Aber sie konnte seinen bösartigen Widerstand nicht im<br />
vollen Ausmass erkennen. Einerseits wollte er sich nicht dem<br />
öffentlichen Brimborium aussetzen, <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> an einen<br />
andern Mann zu verlieren. Andererseits behauptete Petter<br />
gleichzeitig, wie sie später beschwor, "er liebte mich nicht und<br />
wollte mich auch nicht zurückhaben, selbst wenn ich es gewünscht<br />
hätte. Er sagte mir, es habe ihn entzückt, mich weinen<br />
und leiden zu sehen, was mich vielleicht verstehen liesse,<br />
wie sehr er gelitten habe." Natürlich gab er seine Einwilligung<br />
zur Scheidung dann irgendwann, aber er machte es ihr so<br />
schwer wie möglich. Während all den kommenden Jahren lastete<br />
auf <strong>Ingrid</strong> alleine die Schmach, die Ehe gebrochen und die<br />
Tochter verlassen und sie so dem Fluch der unerwünschten<br />
Prominenz ausgeliefert zu haben. Und weil <strong>Ingrid</strong> die Tochter<br />
verlassen hatte, hatte das Kind - verloren und verwirrt – keinerlei<br />
Anhaltspunkt für eine andere Wahrheit. Richtig besehen,<br />
war Pia am Ende das am schwersten getroffene Opfer. Der<br />
Erfolg ihres späteren Lebens bescheinigt ihr eine bemerkens-<br />
397
werte innere Stärke und Fähigkeit, zu vergeben und sich zu<br />
versöhnen, wenn Vergebung nötig war und Versöhnung auch<br />
ihr entgegengebracht wurde.<br />
SEHR WAHRSCHEINLICH hätte diese Bitterkeit weitgehend<br />
vermieden werden können, wenn Petter einer zügigen<br />
Lösung für eine Si<strong>tu</strong>ation zugestimmt hätte, die er so noch um<br />
ein weiteres Jahr verzögerte. Bevor sie sich trennten stimmte<br />
er noch einem Treffen mit <strong>Ingrid</strong> in einigen Wochen in London<br />
zu; inzwischen wollte er nach Schweden gehen, um die Scheidungsmodalitäten<br />
mit seinem Anwalt Cyril Holm zu erörtern.<br />
Vorderhand machte er keinerlei Konzessionen und liess nur<br />
verlauten, er möchte die Sache ausserhalb Italiens regeln. Und<br />
danach geschah allzulange gar nichts mehr. "Wenn Herr<br />
Lindström <strong>Ingrid</strong>s erstem Scheidungsantrag bereitwillig zugestimmt<br />
hätte", stellte R<strong>ob</strong>erto später im Jahr richtigerweise<br />
fest, "wäre uns bestimmt die ganze Kritik erspart geblieben,<br />
die über uns ausgeschüttet wurde."<br />
"Ich habe nichts anderes gesehen, <strong>als</strong> schlechte Presse<br />
aus der ganzen Welt", äusserte sich <strong>Ingrid</strong> in ihrem Brief an<br />
Joe Steele. "Hier wurden wir pausenlos gejagt. Die Fotographen<br />
waren überall. Es macht mich so schrecklich unglücklich,<br />
dass Petter und Pia für meine Sünden büssen müssen. Und<br />
auch, dass die an "Joan of Arc" beteiligten Leute möglicherweise<br />
darunter zu leiden haben. Ich denke, "Capricorn" ist nicht<br />
davon betroffen, weil ich dort ja keine Heilige bin."<br />
Mit Bezug auf Petter schrieb sie in einem Brief an Joe<br />
vom 30. Mai: "Ich kann nicht mit ihm nachhause fahren. Sag'<br />
mir, <strong>ob</strong> es stimmt (was Petter ihr erzählte), dass "Joan" (an<br />
den Kinokassen) wegen meines Skand<strong>als</strong> durchfällt. Es erscheint<br />
mir <strong>als</strong> eine solche Heuchelei, aus Geschäftsgründen<br />
wider sein besseres Wissen zu handeln. Letzten Endes würden<br />
mich die Leute noch mehr hassen, weil ich fürchtete, die<br />
Wahrheit könnte meiner Karriere schaden....Nun, ich mache<br />
mir keine Sorgen um mich, nur um Petters und Pias Zukunft<br />
und um RR's Arbeit. Das genügt, mir Angst zu machen." Um<br />
398
der Wahrheit vor der Welt die Ehre zu geben, sagte <strong>Ingrid</strong><br />
freimütig (naiv und tapfer) zu einem Journalisten, der sie ansprach:<br />
"Wir wollten es für uns behalten. Es wird zu gegebener<br />
Zeit ein Communiqué geben."<br />
Unnötig zu sagen, dass die Bemerkung innerhalb von<br />
S<strong>tu</strong>nden in Hollywood ankam, und Howard Hughes verkündete,<br />
dass er den Film auf schnellstem Wege fertigstellen wolle. Immer<br />
darauf aus, jeden möglichen Publicityerfolg einzustreichen,<br />
liess er verlauten, dass der Film unter dem Titel "Stromboli"<br />
veröffentlicht werde, und er entwarf eine Werbekampagne,<br />
die <strong>Ingrid</strong> vor dem Hintergrund des feuerspeienden Vulkans<br />
zeigte. Guter Geschmack war offensichtlich nicht seine<br />
starke Seite. Nun erschien sogar das TIME -Magazin mit einem<br />
Beitrag, "Fantasie auf der schwarzen Insel". Petter wurde mit<br />
der Bemerkung zitiert, Italien sei ein wunderschönes Land aber<br />
"zu voll von Fantasien", und der Artikel erinnerte den Leser<br />
daran, dass der Stromboli-Krater im Alter<strong>tu</strong>m <strong>als</strong> das Tor zum<br />
Hades betrachtet wurde.<br />
DANN GESCHAHEN ZWEI DINGE am selben Tag – das<br />
Zusammentreffen zweier Ereignisse, die sich kein Geschichtenschreiber<br />
getraut hätte, auch in den abgedroschensten Roman<br />
einzubringen.<br />
Am 6. Juni stellte <strong>Ingrid</strong> fest, dass sie – ja, dass sie<br />
eindeutig schwanger war; die Geburt stand für Ende Januar<br />
oder Anfang Februar zu erwarten.<br />
Und an diesem Abend brach der Stromboli mit einer<br />
Eruption aus, die Asche und Dampf in den Himmel hinauf und<br />
auf die Bewohner und Touristen tief unten spie. Glücklicherweise<br />
ergoss sich der Lavastrom nur über die nordwestlichen<br />
Hänge hinunter, sodass das Dorf verschont blieb.<br />
Der Ausbruch hinderte <strong>Ingrid</strong> an der Abreise nach London,<br />
wo sie – wie versprochen - Petter treffen wollte. Als er<br />
dann nach Kalifornien zurückkehrte, wusste er nur von den<br />
durch den Vulkan verursachten Unannehmlichkeiten; von der<br />
399
Schwangerschaft erfuhr während einer erstaunlich langen Zeit<br />
niemand etwas, <strong>ob</strong>schon einige die Ohren spitzten, <strong>als</strong> Art<br />
Cohn und Joe Steele die Neuigkeit flöteten, dass <strong>Ingrid</strong> von der<br />
Produktion derart erschöpft sei, dass sie danach wohl ein Jahr<br />
der Erholung brauche – wenn nicht deren zwei.<br />
Inzwischen sorgte Petter dafür, dass <strong>Ingrid</strong> über die<br />
Mühsal informiert war, die ihm ihr jetziges Leben verursachte.<br />
"Die Hyänen haben mich von Spital zu Spital verfolgt und über<br />
deine Liebesgeschichte ausgehöhlt", schrieb er von Los Angeles<br />
aus. Und dann schritt er zur indirekten Verurteilung <strong>Ingrid</strong>s<br />
indem er seinen Trumpf, Pia, ausspielte und <strong>Ingrid</strong>s alten<br />
Schuldkomplex wegen ihres Berufsprimats (à la Lena Geyer)<br />
neu anheizte.<br />
400<br />
"Ich denke, unser Mädchen erfasst die Lage nicht. Ich<br />
war ihr in meinem ganzen Leben nie näher <strong>als</strong> in den<br />
vergangenen zwei Wochen und ich bemühe mich, ihr<br />
den Ausgleich für die Zeit zu verschaffen, die ich für<br />
Unwichtigeres verschwendet habe. Sie ist jetzt in Minneapolis<br />
(für einen Sommerferien-Aufenthalt mit der<br />
Frau ihres Geschäftsleiters). Ich versuche mit allen<br />
Mitteln, ihr ein Gefühl der Geborgenheit vor dem drohenden<br />
S<strong>tu</strong>rm zu geben... Vor einiger Zeit sagtest du<br />
zu LIFE , du könntest nie mit einem Regisseur verheiratet<br />
sein. Welche Freiheiten und Unabhängigkeiten<br />
erwartest du jetzt?"<br />
Sein Kommentar traf ins Schwarze, und <strong>Ingrid</strong> rannte<br />
fast hysterisch vor Gewissensbissen zu R<strong>ob</strong>erto. Waren sie<br />
unverantwortlich in ihrer Handlungsweise und mit ihren Plänen?<br />
Würde sie nun ihre Tochter verlieren? Unsinn, sagte R<strong>ob</strong>erto,<br />
niemand verliert sein Kind, wenn es das nicht will. Zu<br />
gegebener Zeit werde Pia alles verstehen.<br />
Aber genau wegen der Art und Weise, wie die Dinge<br />
während der kommenden zwei Jahre gesteuert wurden, konnte<br />
Pia nichts verstehen – wie sollte sie auch? Zuerst wurde sie<br />
vernachlässigt, dann zuhause benutzt, dann in Briefen und<br />
vor Gericht benutzt: dieses einst reizende und fröhliche Kind
wurde (mit ihren eigenen Worten): "elend – es gibt kein anderes<br />
Wort dafür". Sie wurde zur ersten Nebendarstellerin auf<br />
den Seiten der regelmässig erscheinenden Serien der grossen<br />
Zei<strong>tu</strong>ngen und Magazine der Welt. Für den Rest ihres Lebens<br />
bedauerte <strong>Ingrid</strong> nur einen Aspekt ihrer Scheidung: ihre viel<br />
zu lange dauernde Entfremdung von ihrer Tochter, die 1949<br />
natürlich in dieser Form nicht vorhersehbar war. Wann immer<br />
<strong>Ingrid</strong> nach Amerika zurückkehren wollte, wurde das Vorhaben<br />
durch die Umstände verhindert; jedesmal, wenn sie Pia<br />
nach Europa holen wollte, gab es irgendwelche Hindernisse,<br />
die das undurchführbar machten. Sie wollte nie so lange vom<br />
Leben ihrer Tochter ausgeschlossen sein; aber sie war so lange<br />
vom Leben ihrer Tochter ausgeschlossen.<br />
"Ich dachte, sensible Menschen könnten scheiden und<br />
sich dennoch vernünftig zueinander verhalten", sagte <strong>Ingrid</strong><br />
später. "Es wollte nie in meinen Kopf gehen, dass ich auf soviel<br />
Bitterkeit stossen und Pia verlieren würde. Ich stellte mir vor,<br />
dass sie zeitweise bei mir und im übrigen bei ihrem Vater leben<br />
könnte. Ich dachte, er und ich könnten Freunde bleiben.<br />
War es denn so unmöglich, so zu denken? Verkehren nicht<br />
viele geschiedene Leute in Anstand miteinander?"<br />
Im Juni war praktisch alles ausser Kontrolle – der Film,<br />
ihr Leben und alle Beziehungen darin. Und sie war jetzt ebenso<br />
vollständig von R<strong>ob</strong>erto dominiert, wie zuvor von Petter.<br />
Aber sie vergass ihre Tochter nicht. "Unser Leben, liebste<br />
Pia, wird sich ändern", schrieb sie diesen Sommer.<br />
"Der Unterschied wird der sein, dass du mehr bei Papa<br />
leben wirst und Mama wie so oft zuvor woanders sein<br />
wird, nur wird sie diesmal für noch längere Zeit weg<br />
sein, was aber nicht heisst, dass wir uns nie sehen<br />
werden. Du wirst bei mir deine Ferien verbringen. Wir<br />
werden es lustig haben und Ausflüge machen. Du<br />
darfst nicht vergessen, dass ich Papa liebe und dass<br />
ich dich liebe, und daran kann sich nichts ändern. Aber<br />
manchmal möchte ein Mensch mit jemand anderem<br />
leben, der nicht zur eigenen Familie gehört. Das ist<br />
dann eine Trennung oder Scheidung. Ich weiss, wir<br />
401
402<br />
haben über manche deiner Freunde mit geschiedenen<br />
Eltern gesprochen. Es ist nichts Ungewöhnliches, einfach<br />
eher traurig... Schreib mir, und ich werde dir<br />
anworten, und die Zeit wird – so hoffe ich – schnell<br />
vergehen, bis wir uns wieder sehen."<br />
Obschon daraus in den folgenden Jahren viel Kummer<br />
resultierte, beruhte die Si<strong>tu</strong>ation nicht auf <strong>Ingrid</strong>s Gefühllosigkeit<br />
oder absichtlichem Im-Stich-lassen. Von allem Anfang an<br />
wollte sie für sich und ihre Tochter Besuche organisieren und<br />
hoffte, mehr von dem mit Pia zu verbringen, was man später<br />
<strong>als</strong> "intensiv genutzte Zeit" bezeichnete. Aber diese Erwar<strong>tu</strong>ngen<br />
erwiesen sich <strong>als</strong> schreckliche Fehlkalkulationen. Während<br />
Jahren danach gebaren auch andere Schauspielerinnen uneheliche<br />
Kinder. Aber Catherine Deneuve, Vanessa Redgrave, Susan<br />
Sarandon, Madonna und vielen andern wurde das alleinige<br />
Entscheidungsrecht über ihr Privatleben zuerkannt und sie hatten<br />
nicht unter der öffentlichen Diffamierung zu leiden – allerdings,<br />
ist zuzugeben, haben sie auch nicht ein Kind verlassen<br />
um andere Kinder zu bekommen. <strong>Ingrid</strong>s Si<strong>tu</strong>ation war 1949<br />
sehr schwierig; und leider sollte es 1950 noch schlimmer<br />
kommen.<br />
"Ich hätte die ganze Geschichte mit R<strong>ob</strong>erto Rossellini<br />
diskreter behandeln sollen", sagte sie Jahre später, indem sie<br />
die Verantwor<strong>tu</strong>ng für beide übernahm. "Aber ich war mir nicht<br />
bewusst, dass ich dem amerikanischen Volk gehörte und dass<br />
sich jedermann berechtigt glaubte, mir zu sagen was ich zu<br />
<strong>tu</strong>n und wie ich mein Privatleben zu gestalten hätte. Ein Filmstar<br />
ist ein lächerliches kommerzielles Produkt. Die Leute sagten<br />
einmal, ich sei das Vorzeigemodell einer Ehefrau und Mutter.<br />
Sie sahen mich <strong>als</strong> Jeanne d'Arc und glaubten, ich sei eine<br />
Heilige. Das bin ich nicht. Ich bin nur ein Mensch. Als Resultat<br />
davon fühlte ich mich schuldig – ein Leben lang." Dass ein Teil<br />
dieses Schuldgefühls berechtigt war, hat sie allerdings nie bestritten.<br />
Jeanne d'Arc wurde <strong>als</strong> Hexe verurteilt und in der Folge<br />
einer Justizfarce auf dem Scheiterhaufen verbrannt. <strong>Ingrid</strong> von
Hollywood wurde <strong>als</strong> Hure verurteilt und widerrechtlich im Feuer<br />
der öffentlichen Diffamierung verbrannt. Nur sie konnte das<br />
Ausmass einer gerechtfertigten Kritik ermessen und das neurotische<br />
Übermass erkennen. Aber der Gerichtshof der öffentlichen<br />
Meinung sprach das Urteil, und dieses war nahezu fatal.<br />
Die Verurteilung nahm ihren Anfang zu Beginn der<br />
"Stromboli"-Produktion, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> einen Brief von Joseph I.<br />
Breen, dem Direktor der Motion Pic<strong>tu</strong>re Production Code Administration<br />
– dem selbsternannten Wachhund über die moralische<br />
Reinheit Amerikas erhielt. "Kürzlich", begann er,<br />
"hat die amerikanische Presse einen ziemlich weitgestreuten<br />
Bericht veröffentlicht, wonach Sie sich von Ihrem<br />
Ehemann scheiden lassen, Ihr Kind im Stich lassen<br />
und R<strong>ob</strong>erto Rossellini heiraten.<br />
Unnötig zu sagen, dass diese Berichte bei weiten Teilen<br />
unseres Volkes grosse Bestürzung hervorrufen,<br />
werden Sie doch <strong>als</strong> unsere First Lady des Films betrachtet<br />
– sowohl <strong>als</strong> Mensch wie auch <strong>als</strong> Künstlerin.<br />
Von allen Seiten kommen mir nur Schreckensreaktionen<br />
auf ihre diesbezüglichen Pläne zu Ohren...<br />
Solche Berichte werden sich nicht nur negativ auf Ihr<br />
Renommé auswirken, sondern möglicherweise auch<br />
Ihre Karriere <strong>als</strong> Filmschauspielerin zerstören. Sie<br />
können die amerikanische Öffentlichkeit derart gegen<br />
Sie aufbringen, dass Ihre Filme ignoriert und Ihr<br />
Marktwert (an den Kinokassen) dadurch ruiniert werden."<br />
Sogar Walter Wanger sprang mit einem einmalig scharfen<br />
Telegramm auf den Moralistenzug auf. Aus Angst, dass der<br />
Erfolg von "Joan of Arc" durch ein Boykott durch Kirche und<br />
Erziehungs-Organisationen geschmälert werden könnte, beklagte<br />
er sich:<br />
"Ich habe eine Rieseninvestition gemacht, die meine<br />
Zukunft und die meiner Familie in Gefahr bringt, wenn<br />
du dich nicht benimmst... Wir beide tragen Verantwor-<br />
403
404<br />
<strong>tu</strong>ng für Victor Flemings Andenken (!!!) und für alle<br />
Menschen, die an uns glauben... Betrüge dich nicht<br />
selbst in der Meinung, dass was du <strong>tu</strong>st, von derart<br />
couragierter und künstlerischer Grösse sei, dass es<br />
sich selbst rechtfertigt."<br />
Später mag sich <strong>Ingrid</strong> über Wangers Hysterie grimmig<br />
belustigt haben. Er erwischte seine Frau im Bett mit ihrem<br />
Liebhaber und Agenten Jennings Lang – griff sich einen geladenen<br />
Revolver und schoss Lang in die Leisten. Das Trio realisierte<br />
dann, dass, sollte die Presse davon Wind bekommen,<br />
ihre Karrieren ebenfalls ernsthaften Schaden nehmen würden,<br />
weshalb Bennett und Wanger den blutenden Lang in ihren Wagen<br />
schleppten und mit ihm zu einem Parkplatz in Beverly Hills<br />
fuhren, wo Lang seinen eigenen Wagen parkiert hatte. Dort<br />
stellten die Drei eine filmreife Szene, die bei Eintreffen der<br />
alarmierten Polizei danach aussehen sollte, <strong>als</strong> <strong>ob</strong> Lang seinen<br />
eigenen Wagen mit dem Wangers verwechselt hätte und dabei<br />
von Wanger überrascht worden wäre – der verständlicherweise<br />
seinen Revolver zog, um sein Eigen<strong>tu</strong>m vor dem "Dieb" zu<br />
schützen. Lang erholte sich dann, und die Investition der Familie<br />
Wanger war für den Moment in Sicherheit. Hurra Hollywood!<br />
SCHMÄHBRIEFE GEGEN INGRID trudelten zu Tausenden<br />
und Zehntausenden ein. Sie war bekannt <strong>als</strong> treue Ehefrau<br />
und gute Mutter, die Leute weinten. Wie konnte sie auch<br />
im Entferntesten sowas in Betracht ziehen? "Wäre ich <strong>als</strong>o<br />
eine schlechte Frau und Mutter gewesen, wäre es dann in<br />
Ordnung gewesen?", fragte sie folgerichtig. "Werde ich <strong>als</strong>o<br />
dafür bestraft, dass ich eine gute Frau war?" Aber es war nicht<br />
der Moment für Logik, Selbstbeherrschung oder gar Anstand.<br />
Die Stellungen waren bezogen und es gab kein Pardon.<br />
Und dann geschah etwas, was Breen für ein Zeichen<br />
des Himmels gehalten hätte. Während den beiden letzten<br />
Drehtagen, am 1. und 2. August, liess R<strong>ob</strong>erto <strong>Ingrid</strong> die Flanke<br />
des Vulkans hochklettern. Aber sie war von den ausströmenden<br />
Gasen derart benommen, dass sie ausglitt und einige<br />
hundert Fuss tief hinunter schlitterte, sodass ihre Arme und
Beine schlimm aufgeschürft waren und bluteten. In der Tat<br />
hatte sie nur mit Glück keinen Abort erlitten. Immerhin erging<br />
es ihr besser <strong>als</strong> einem Produktions-Ingenieur namens Ludovico<br />
Muratori, der nach seiner Arbeit an der Vulkanflanke derart<br />
erschöpft war, dass er zusammenbrach und an einem Herzstillstand<br />
starb. "Stromboli" sei, wie Hitchcock von der fachlichen<br />
Seite her meinte, nicht bloss ein Film gewesen – sondern<br />
eine Folge von Unfällen und Katastrophen. Und wie oft sein<br />
Finale von RKO vor seiner Freigabe auch überarbeitet worden<br />
sein mag, der Film hat keinen Rhythmus, keinen Zug, weder<br />
emotionale Überzeugungskraft noch philosophische Klarheit.<br />
Rossellinis Methode, wie erfolgreich auch immer in<br />
"Open City", <strong>als</strong> er mit Fellinis Drehbuch arbeitete, hatte ihn<br />
nun fatal im Stich gelassen. "Stromboli" war nicht kontrovers,<br />
es war bloss monumental langweilig. Über des Regisseurs gute<br />
Absichten gibt es keinen Zweifel, aber edler Kampf – Mensch<br />
gegen Na<strong>tu</strong>r, Flüchtlinge auf der Suche nach einer Identität<br />
oder einsame Seelen, die zu Gott schreien – führt nicht zwingend<br />
zu einem überzeugenden Drama. Und weil Rossellini der<br />
uneingeschränkte Herr von "Stromboli" war, nachdem es so<br />
an jeder Zusammenarbeit fehlte, verlief sich auch die einzige<br />
Vision noch im Nichts.<br />
Nachdem der Film im August vollendet war, verbesserte<br />
sich die finanzielle Si<strong>tu</strong>ation nicht wesentlich, einfach weil<br />
sie von Stromboli nach Rom zurückkehrten. In Rossellinis geräumiger<br />
10-Zimmer-Wohnung an der Via Bruno Buozzi 49<br />
gab es zwar einigen zusätzlichen Komfort, aber nicht viel Geld<br />
für Luxus.<br />
Die ersten Tranchen von <strong>Ingrid</strong>s Salär für "Stromboli"<br />
wurden in Kalifornien an sie und Petter gemeinsam ausbezahlt,<br />
w<strong>ob</strong>ei sie auf ihren Anteil bereitwillig zugunsten von Pias<br />
Unterhalt verzichtete. Ausserdem legten die Steuerbehörden<br />
mit pfandrechtlichen Forderungen die Hand auf ihr Einkommen,<br />
nachdem noch namhafte Rechnungen aus den Jahren<br />
1946 und 1948 offen waren; <strong>als</strong> ihr Geschäftsführer, ein etwas<br />
sonderbarer Typ namens John Vernon, der Unterschlagung<br />
405
angeklagt wurde, wählte dieser die (für ihn) einfachste Lösung<br />
des Pr<strong>ob</strong>lems und beging Selbstmord. Von Seiten der Steuerbehörden<br />
hatten die Lindströms dafür keine Nachsicht zu erwarten.<br />
Die Verwendung von Rossellinis RKO-Salär war eine<br />
etwas geheimnisvolle Angelegenheit: er unterhielt, wie er geltend<br />
machte, seine Mutter, eine Schwester, eine Nichte, einen<br />
Sohn, verschiedene Tiere, eine unbestimmte Zahl von Ex-<br />
Mätressen und einen ganzen Zug von Automechanikern, die<br />
dauernd an seinen Sportwagen arbeiteten.<br />
Dennoch, nachdem der Film fertig war, fand <strong>Ingrid</strong><br />
wieder langsam zu ihren Kräften zurück – zweifelsohne mit<br />
Nachhilfe durch Rossellinis Hartnäckigkeit. Am 5. August brach<br />
sie das Schweigen und teilte der Presse (durch Joe Steele)<br />
mit, dass sie beschlossen habe, sich vom Film ins Privatleben<br />
zurückzuziehen und dass ihr Anwalt den Auftrag habe, die<br />
Scheidungsverhandlungen sofort einzuleiten. Am selben Tag<br />
brachte die Los Angeles Times eine armdicke Sensations-<br />
Headline zu<strong>ob</strong>erst auf der Titelseite: INGRID TRENNT SICH<br />
VON MANN, VERLÄSST FILM . Die Geschichte füllte viele Spalten<br />
darunter. Ausländische Zei<strong>tu</strong>ngen waren zurückhaltender,<br />
doch wurde die Neuigkeit nirgendwo unterdrückt. Die Kolumnistinnen<br />
Louella Parsons und Hedda Hopper in Hollywood waren<br />
höchst aufgebracht darüber, dass <strong>Ingrid</strong> ihnen nicht den<br />
exklusiven Vorabdruck gewährt hatte.<br />
R<strong>ob</strong>ertos Frau Marcella zeigte sich kooperativ und unterstützte<br />
seine Bemühungen, eine brauchbare Basis für die<br />
Trennung zu finden. "<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> ist die ideale Frau für ihn<br />
– hübsch, ruhig, ein Charmebündel. Miss <strong>Bergman</strong> und R<strong>ob</strong>erto<br />
werden baldmöglichst heiraten." Tatsächlich schien Marcella<br />
ganz zufrieden zu sein, die Formalität ihrer längst gestorbenen<br />
Ehe beenden zu können. Sie stimmte fröhlich zu, ein Dokument<br />
zu unterschreiben, in dem sie im Zeitpunkt der Eheschliessung<br />
mit R<strong>ob</strong>erto <strong>als</strong> unzurechnungsfähig bezeichnet<br />
wurde, was genügte, um vor einem Geschworenengericht in<br />
Österreich die Anullierung der Ehe zu erwirken; dank einigen<br />
persönlichen Beziehungen wurde dieses Urteil dann auch in<br />
Italien anerkannt. Ihr elfjähriger Sohn wurde ihr zugespro-<br />
406
chen.<br />
So feierte <strong>Ingrid</strong> am 29. August, ihrem 34. Geburtstag,<br />
die Beseitigung eines weiteren Hindernisses für ihre Heirat mit<br />
R<strong>ob</strong>erto. Sie genossen ein Auswärtsdinner in Rom und waren<br />
spontan umringt von einer begeisterten Menge von Gra<strong>tu</strong>lanten.<br />
Die Römer schienen die Liebenden zu verehren, und ein<br />
ganzer Zug begleitete sie auf ihrem Rückweg applaudierend,<br />
alte italienische Liebeslieder singend und auf jede andere<br />
mögliche Weise ihre Sympathie bekundend, ausser dass sie<br />
keine Münzen in den Brunnen warfen.<br />
DIESEN HERBST BEGANN INGRID mit dem langen Prozess,<br />
eine Fernscheidung zu erwirken.<br />
Zunächst wählten sie und R<strong>ob</strong>erto Monroe McDonald,<br />
einen amerikanischen Anwalt in Rom, der ihnen von Freunden<br />
wärmstens empfohlen worden war; er hatte den Auftrag, einen<br />
kalifornischen Anwalt zu suchen, mit dem er zusammenarbeiten<br />
würde. Ende September begab sich McDonald – ein unansehnlicher,<br />
schweigsamer und scheinbar publizitässcheuer<br />
Mann – nach Los Angeles mit einer umfassenden Erklärung,<br />
die ihm <strong>Ingrid</strong> diktiert und die sie unterzeichnet hatte, in der<br />
sie ihre Lebensgeschichte und die Gründe für die fortschreitende<br />
Zerrüt<strong>tu</strong>ng ihrer Ehe darlegte. Bestrebt, Petters Verhalten<br />
weder beleidigend noch verfälscht darzustellen, stellte sie doch<br />
klar, dass er ihr Leben und ihre Karriere zu dominant kontrolliert<br />
hatte und sie nur getrennt von ihm in Alaska, Europa und<br />
New York ihre eigenen Stärken kennenlernen konnte und dabei<br />
auch erkennen musste, wie weit sie sich inzwischen von einander<br />
entfernt hatten. Ohne Verbitterung und frei von Schuldzuweisungen<br />
stellte <strong>Ingrid</strong> immerhin fest, dass ihr kreatives und<br />
emotionales Leben nun wieder in Europa stattfinden werde.<br />
So gerüstet begab sich McDonald nach Los Angeles.<br />
Unterwegs hatte er einen Aufenthalt in New York, wo er etwas<br />
völlig Unvorstellbares und Ungeheuerliches tat. Im f<strong>als</strong>chen<br />
Glauben, es sei für <strong>Ingrid</strong> von Vorteil, die amerikanische Presse<br />
auf ihrer Seite zu haben, händigte er ihren vertraulichen<br />
Bericht dem Syndikats-Kolumnisten "Cholly Knickerbocker"<br />
407
(Übername des Salonlöwen Igor Cassini) aus, der unter der<br />
Hauptschlagzeile INGRID'S ANWALT IN U.S. ZUM KONTAKT<br />
MIT LINDSTROM eine Riesengeschichte veröffentlichte, die am<br />
21. September die Seiten von Hunderten von amerikanischen<br />
Zei<strong>tu</strong>ngen zierte. Zitat McDonald: "Ihr erstes und letztes Wort<br />
zu mir, bevor ich Rom verliess, war: 'Tun Sie nichts, was Petter<br />
verletzen könnte.'" - der verständlicherweise ausser sich<br />
war, nicht nur wegen der von McDonald in der Öffentlichkeit<br />
erfolgten Anklagen, sondern auch wegen dieser inakzeptabeln<br />
Art und Weise, eine private Scheidungsklage in die Öffentlichkeit<br />
zu tragen.<br />
Die Si<strong>tu</strong>ation verschärfte sich noch, <strong>als</strong> McDonald, der<br />
nun sein wahres Gesicht zeigte und offensichtlich den Ruhm<br />
seiner Beziehung genoss, die Publizität suchte und mit<br />
Klatschreporterin Louella Parsons ins Gespräch kam. Ihre Titelzeile<br />
gipfelte in der absurden Bestätigung "INGRID BIETET<br />
VERMÖGEN GEGEN FREIHEIT" und der anschliessende Artikel<br />
zitierte McDonalds verrückte Berichte über Einzelheiten privater<br />
Gespräche und Korrespondenzen zwischen <strong>Ingrid</strong> und Petter.<br />
Bis hierher hatte McDonald seine Kompetenzen schon<br />
derart überschritten, dass er offen über <strong>Ingrid</strong>s Vergangenheit,<br />
ihre psychologische Geschichte, Lindströms emotionale<br />
Befindlichkeit und beider Zukunftsaussichten zu theoretisieren<br />
begann.<br />
Mit diesem offensiven, extravaganten und durch und<br />
durch unprofessionellen Verhalten torpedierte McDonald tatsächlich<br />
jedes subtilere Vorgehen: Lindström, zu Recht erzürnt,<br />
stellte die Verhandlungen praktisch ein, je mehr der<br />
bunten Berichte er las, wie er seine Frau durch seine Dominanz<br />
ruiniert habe. Einige Märchen – zur Schönung der Leserquoten<br />
- liessen vage Anspielungen in Rich<strong>tu</strong>ng von Gewalt<br />
durchblicken, wofür es de facto natürlich keine Grundlagen<br />
gab. So begann die Raserei der amerikanischen Medien, die es<br />
von Herbst 1949 bis Ende 1950 schafften, gesamthaft mehr<br />
<strong>als</strong> 38'000 Zei<strong>tu</strong>ngs- und Magazinartikel, Editori<strong>als</strong>, Essays<br />
und Predigten über den <strong>Bergman</strong>-Lindström-Rossellini-Fall<br />
hervorzubringen.<br />
408
ALS INGRID VON MCDONALDS ungeheuerlichem Vorgehen<br />
erfuhr, war sie verzweifelt. Inzwischen hatte McDonald<br />
mit dem Hollywood-Anwalt Gregson Bautzer, einem grossen,<br />
braungebrannten, athletischen Salonlöwen Kontakt aufgenommen,<br />
zu dessen Klientschaft u.a. Howard Hughes und<br />
Louella Parsons zählten und der Stars wie Joan Crawford, Lana<br />
Turner und Ginger Rogers vertrat. Bautzer war beauftragt,<br />
McDonald zu entlassen, der laut protestierend nachhause<br />
hinkte, er habe doch nur im besten Interesse seiner Klientin<br />
gehandelt.<br />
Inzwischen hatte sich Petter einen Vorteil ergattert, indem<br />
er am 28. Okt<strong>ob</strong>er ganz einfach die amerikanische<br />
Staatsbürgerschaft annahm. <strong>Ingrid</strong> war nun eine im Ausland<br />
domizilierte Ausländerin, die gegen ihren amerikanischen<br />
Ehemann nebst Tochter klagte. Er begann nun über seine eigenen<br />
Anwälte zu verhandeln, die verlangten, dass a) <strong>Ingrid</strong><br />
ihre Tochter nur in den Vereinigten Staaten besuchen dürfe;<br />
b) dass Linström zu 50 % an den Gehaltszahlungen und Gewinnbeteiligungen<br />
aus "Stromboli" beteiligt werde; und c)<br />
dass <strong>Ingrid</strong> bei der materiellen Auseinandersetzung am Benedict<br />
Canyon Anwesen und den gemeinsamen Aktiven nur zu<br />
einem Drittel beteiligt werde – welchen Anteil Petter auf<br />
$ 50'000 bezifferte.<br />
Als diese Botschaft in Rom eintraf reagierte Rossellini<br />
zuerst und zwar mit einem seiner bühnenreifen Wutanfälle.<br />
Wie üblich stak er tief in den Schulden; <strong>Ingrid</strong> hatte kein Geld<br />
und auch keine Aussicht auf welches; ihre Lebenskosten und<br />
Berufsauslagen waren enorm; und in drei Monaten war ein<br />
Säugling fällig – von dem die Welt noch keine Ahnung hatte.<br />
Jede Erwähnung der bevorstehenden Geburt hätte den Kassenerfolg<br />
des Films torpediert, hätte wie eine Einladung zum<br />
massiven Boykott gewirkt. Das war die Macht der Sittenwächter<br />
im Nachkriegs-Amerika.<br />
DIE GERÜCHTE UM INGRIDS Schwangerschaft begannen<br />
schliesslich unweigerlich zu kursieren, und Ende Novem-<br />
409
er musste sie noch jemanden ins Vertrauen ziehen. Sie<br />
wandte sich natürlich an Joe Steele, der jetzt wieder in Hollywood<br />
und so loyal wie eh und je war. Gewisse Leute hatten ihr<br />
zur Abtreibung geraten, wie sie Joe im November schrieb,<br />
doch sie hatte das sofort <strong>als</strong> "billigen und armseligen Ausweg"<br />
aus ihrem Dilemma abgelehnt. Tatsächlich hatten einige Geistliche<br />
aus Rossellinis sozialem Umfeld <strong>Ingrid</strong> Freundschaft und<br />
Sympathie bekundet. "Ich lege alles in Gottes Hände, wie sie<br />
mir rieten", sagte sie Joe. "Kein S<strong>tu</strong>rm wird stark genug sein,<br />
um uns wegzufegen."<br />
Sie war indessen ständig Stürmen ausgesetzt – keiner<br />
schrecklicher <strong>als</strong> der von Petter entfesselte, der offensichtlich<br />
durch seine Tochter handelte. Pia schrieb <strong>Ingrid</strong> in einem<br />
Brief, sie könne in der Schule keine Landkarten ansehen, weil<br />
sie nichts von Italien sehen wolle. Dann wollte sie wissen, warum<br />
<strong>Ingrid</strong> das Dubbing des Dialogs in Italien und nicht in Hollywood<br />
mache: "Kein Film hat je so lange gedauert. Es muss<br />
sehr lustig sein dort drüben!" Natürlich erfasste <strong>Ingrid</strong> den<br />
Hintergrund der Sache sofort; ein Kind konnte nicht selbständig<br />
auf diese Ideen kommen.<br />
Ihre Freunde bewunderten stets <strong>Ingrid</strong>s Mut in diesem<br />
unnötigen Kampf um die Loyalität des Kindes; auch ihr Humor<br />
war ihr dabei eine Stütze. "R<strong>ob</strong>erto will einen neuen Film über<br />
San Francesco machen", schrieb sie Joe am 5. Dezember,<br />
"und der Vatikan hat sich sehr hilfsbereit erklärt und ist davon<br />
begeistert. Alle diese heiligen Männer scheinen R<strong>ob</strong>erto <strong>als</strong><br />
ihren Vorzugs-Sünder zu betrachten. Priester gehen bei uns<br />
ein und aus und leisten uns beim Abendessen Gesellschaft.<br />
Mein Ruf <strong>als</strong> Lutheranerin wurde in der Luft zerfetzt!" Und betreffend<br />
"Cholly Knickerbocker", der seine Liebe und Bewunderung<br />
gekabelt hatte – und dann um exklusive Details und ein<br />
Telefoninterview bat ! – sagte <strong>Ingrid</strong>, sie werde ihn bitten,<br />
"zur Hölle zu fahren".<br />
Als die Weihnachtszeit nahte, war <strong>Ingrid</strong> - nun im siebten<br />
Monat – in der Öffentlichkeit immer seltener zu sehen.<br />
Nachdem ihre Gagen von "Stromboli" in Hollywood blockiert<br />
410
waren, benötigten sie und R<strong>ob</strong>erto verzweifelt Geld, weshalb<br />
Steele direkt Howard Hughes anpeilte. Mit der Bitte um Verschwiegenheit<br />
erzählte er ihm von <strong>Ingrid</strong>s Schwangerschaft<br />
und drängte Hughes, den Film raschestens und noch vor der<br />
Geburt des Kindes freizugeben ("bevor ihn ein Bannstrahl<br />
trifft"). Hughes nickte.<br />
Am nächsten Morgen, 12. Dezember, informierte ein<br />
Buchhändler aus Beverly Hills Joe Steele telefonisch, dass der<br />
Los Angeles Examiner mit einer armdicken Schlagzeile die<br />
bevorstehende Geburt von <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s unehelichem Kind<br />
verkünde. Howard Hughes glaubte, ein Skandal könne der<br />
Publizität von "Stromboli" nur nützen und rief sofort Louella<br />
Parsons an, die die Geschichte ins Rollen brachte und damit<br />
eine lebenslange symbiotische Beziehung mit Hughes besiegelte.<br />
Und so geschah es, dass zur Zeit, da die Kaufleute im<br />
harten Weihnachtsgeschäft die Kassen klingeln liessen, eine<br />
ausgestossene Frau mit Kind von Küste zu Küste verleumdet<br />
wurde. R<strong>ob</strong>erto rauchte und fluchte, aber <strong>Ingrid</strong> war bemerkenswert<br />
ruhig. "Ich habe keine Angst", schrieb sie Joe am 13.<br />
Dezember, "es freut mich, wenn all die andern Frauen in grossen<br />
und kleinen Städten dieser Welt, die wegen ihrer 'Sünden'<br />
zu leiden haben, durch mich etwas Mut schöpfen können." Sie<br />
konnte sich sogar über Parsons lustig machen, die behauptete,<br />
sie habe über ihrer Schreibmaschine geweint, <strong>als</strong> sie die Meldung<br />
über die Schwangerschaft verfassen musste. "Es waren<br />
sicher Freudentränen", meinte <strong>Ingrid</strong>.<br />
Dann gab es einige vereinzelte Stimmen von liebenswürdiger<br />
Unterstützung.<br />
"Warum reden die von Skandal", fragte ein älterer italienischer<br />
Priester, "wenn doch Gott ihre Gemeinschaft mit einem<br />
Kind gesegnet hat?"<br />
"Liebste <strong>Ingrid</strong>", schrieb Cary Grant, "es ist nicht möglich,<br />
dir in einem einzigen Telegramm all die Freunde hier zu<br />
nennen, die dir ihre Liebe und Zuneigung senden."<br />
411
Und Alfred Hitchcock sandte herzliche Feriengrüsse und<br />
beschwor <strong>Ingrid</strong>, immer alles in den richtigen Proportionen zu<br />
sehen: "Schliesslich dauert nichts ewig, und die Menschen<br />
vergessen schnell."<br />
412<br />
Aber die Menschen vergassen gar nicht schnell.<br />
"Wurde ich einst so geliebt, war ich nun zutiefst verhasst,"<br />
schilderte <strong>Ingrid</strong> diese Zeit. Während des vergangenen<br />
Jahrzehnts steigerte sich ihr öffentliches Ansehen schrittweise<br />
bis hin zur totalen Identifikation mit Schwester Benedict und<br />
der Heiligen Jeanne. Aber der Heiligenschein wurde zur<br />
Schlinge, und nun – oh Schreck – ist sie gefallen aus Liebe zu<br />
einem Mann, der nicht der Ihre war und von dem sie nun ein<br />
Kind erwartete. Und dies sei – wie es hiess - nicht nur ihre<br />
Privatsache. Massen von sogenannten Durchschnittsamerikanern<br />
hatten sich in sie verliebt, in ein Symbol für moralische<br />
Stärke, und fühlten sich nun betrogen und verunsichert über<br />
sich selbst und ihre Zukunft.<br />
1939 wurde <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> <strong>als</strong> frischgesichtiges Mädchen<br />
gefeiert, "edel, graziös, unprätentiös und geistvoll", das<br />
alles repräsentierte, was Amerika liebte und brauchte. Sie war<br />
dam<strong>als</strong> verheiratet und Mutter, aber am häufigsten wurde sie<br />
mit dem Wort "unschuldig" beschrieben, womit in einem magischen<br />
Sinne so etwas wie "jungfräulich" gemeint war.<br />
Aber 1949 machte sie klar, dass sie überhaupt keine<br />
Nonne war und keineswegs beabsichtigte, für den Film-Mythos<br />
zur Märtyrerin zu werden. Und so wurde sie zur übelsten aller<br />
Sünderinnen erkoren, einer Abtrünnigen, deren "mächtiger<br />
Einfluss auf das Böse" bald nicht nur in Kirchen und Schulen,<br />
sondern auch im Amerikanischen Senat verdammt würde.
1949 - mit R<strong>ob</strong>erto Rossellini am Stromboli<br />
(Courtesy MOVIE ICONS-Verlag)<br />
413
414<br />
1951 - "Das Schlimmste..." ("Europa 51" mit Ettore Giannini),<br />
<strong>ob</strong>en: Pia Lindström
1950<br />
"Das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass ich meiner<br />
Tochter weh<strong>tu</strong>n musste. Ihr das an<strong>tu</strong>n zu müssen, wo sie<br />
doch keinerlei Schuld an allem hatte – das machte mich<br />
krank. Nichts anderes, was immer in meinem Leben sonst<br />
noch passierte, machte mich so kaputt."<br />
(<strong>Ingrid</strong> zur Verunmöglichung ihres Kontakts zu Pia)<br />
AB NOVEMBER 1949 war <strong>Ingrid</strong> praktisch eine Gefangene<br />
in ihrem Heim, denn die Via Bruno Buozzi war Tag und<br />
Nacht schwarz von italienischen Reportern und Fotographen,<br />
die nach einem Wort oder Bild gierten, das sich weltweit verkaufen<br />
liesse. Nach dem 12. Dezember, <strong>als</strong> Louella Parsons<br />
<strong>Ingrid</strong>s Schwangerschaft publik machte, wurden sie noch<br />
durch ihre internationalen Kollegen verstärkt. Am<br />
Dreiundzwanzigsten entwischte sie nach Mitternacht rasch zu<br />
einer Last-Minute-Dialogaufnahme für "Stromboli" in einem<br />
nahegelegenen Tons<strong>tu</strong>dio. Aber am 22. Januar, ihrem dritten<br />
Ausgang innerhalb von drei Monaten, missriet ihr der Versuch,<br />
mit R<strong>ob</strong>erto zu einer Ausfahrt rasch ein Auto zu besteigen, <strong>als</strong><br />
ein Fotograph hervorpreschte und einen Schnappschuss landete,<br />
der binnen S<strong>tu</strong>nden um die Welt ging. "Ist sie es, oder ist<br />
sie es nicht?" schrien die Schlagzeilen in Amerika, rhetorisch<br />
die Lesermeinungen herausfordernd, was wohl <strong>Ingrid</strong>s voluminöser<br />
dunkler Mantel zu bedeuten habe.<br />
Es war einem glücklichen Zufall zuzuschreiben, dass<br />
am Dienstag Nachmittag, 2. Februar, gerade keine Fotographen<br />
zur Stelle – vielleicht mit einem verlängerten Lunch beschäftigt<br />
- waren. Seit Tagen wurde <strong>Ingrid</strong> nicht einmal an<br />
einem Fenster gesehen, weshalb es Spekulationen gab, sie<br />
415
könnte Rom verlassen haben – vielleicht in Rich<strong>tu</strong>ng Amerika,<br />
weil die Lindström-Scheidung immer dornenvoller wurde und<br />
ein Aufschub dem andern folgte.<br />
Um drei Uhr an diesem Nachmittag setzten die Wehen<br />
ein und um vier Uhr wurde sie von ihrem Arzt, Dr. Pier Luigi<br />
Guidotti in ein Auto gepackt und zur Villa Margherita-Klinik<br />
gebracht, ein Block hinter Mussolinis ehemaligem Heim im<br />
nordöstlichen Teil Roms; kaum zu glauben, dass die Fahrt unbemerkt<br />
blieb. R<strong>ob</strong>erto gesellte sich in der Klinik zu ihnen, und<br />
um sieben Uhr, im Beisein von Dr. Guidotti und Dr. Giuseppe<br />
Sannicandro, gebar <strong>Ingrid</strong> einen gesunden Jungen, den sie<br />
Renato R<strong>ob</strong>erto Giusto Giuseppe – in der Jugend mit Rufnamen<br />
R<strong>ob</strong>ertino und später R<strong>ob</strong>in – nannten. *) Die Römer Presse<br />
verschlief die Ak<strong>tu</strong>alität noch während einer vollen S<strong>tu</strong>nde,<br />
weil die meisten Reporter bei der Fiamma Cinema zur Premiere<br />
von William Dieterles "Volcano" – Anna Magnanis Antwort<br />
auf "Stromboli" - versammelt waren.<br />
Der Abend geriet dann zu so etwas wie einer Farce –<br />
oder besser gesagt: einer Fantasie-Sequenz aus einem Fellini-<br />
Film. Zunächst erhellten die Fotographen – um ein Bild der<br />
Magnani balgend – die Nacht mit ihrem Blitzgewitter, das sie<br />
auf jede schwarzhaarige Frau losliessen, die beim Theater ankam:<br />
der Star war hier – nein, dort! – nein, sie entstieg eben<br />
einem Auto dort drüben! Aber die Magnani, die von <strong>Ingrid</strong>s<br />
Gang zur Klinik irgendwie Wind bekommen hatte, blieb ihrer<br />
eigenen Premiere tatsächlich fern und verfluchte Rossellini<br />
dafür, dass er so weit ging, ihr auf diese Weise noch die Show<br />
zu stehlen. Die Vorführung von "Volcano" , die etwa zeitgleich<br />
mit R<strong>ob</strong>ertinos erstem Schrei begonnen hatte, wurde plötzlich<br />
unterbrochen – wie auf Befehl, hätte Magnani wohl gesagt –<br />
<strong>als</strong> eine Projektorlampe verlosch. Ein Bote musste ausgesandt<br />
werden, um einen Ersatz aufzutreiben.<br />
*)<br />
416<br />
Das italienische Gesetz untersagt die Benutzung des ersten<br />
Vornamens eines lebenden Elternteils, sodass Renato<br />
nach einem von R<strong>ob</strong>ertos Lieblingscousins gewählt wurde,<br />
Giusto ist die italienische Form von Jus<strong>tu</strong>s, <strong>Ingrid</strong>s<br />
Vater, und Giuseppe hiess R<strong>ob</strong>ertos Vater.
So trat ein Mann namens Renzo Avanzo, der das Basis-<br />
Script zu "Volcano" geschrieben hatte (und vor allem ein<br />
Cousin Rossellinis war) auf die Bühne und begann das<br />
Fiamma-Publikum während dieses peinlichen Unterbruchs mit<br />
einer Steptanz-Einlage zu unterhalten. Aber die Presseleute<br />
langweilten sich, und einige von ihnen entschlossen sich,<br />
rasch in einen andern Stadtteil hinüberzuwechseln, wo eine<br />
private Vor-Premiere von "Stromboli" zu sehen war. Vielleicht<br />
konnten sie einige Kommentare von weggehenden Zuschauern<br />
einfangen, w<strong>ob</strong>ei sich das Publikum aus einem Dutzend Bischöfen<br />
und etwa vierhundert Priestern zusammensetzte, die<br />
sich davon überzeugen konnten, dass der Film in ein erbaulich<br />
religiöses Finale mündete (Karins Schrei, Wandlung und<br />
Schlussgebet).<br />
Doch der Zirkus hatte erst begonnen. Um neun Uhr<br />
wurde die Geburt von der italienischen Nachrichten-Agen<strong>tu</strong>r<br />
ANSA bekanntgegeben, worauf die Hölle losbrach. Während<br />
den beiden folgenden Wochen hatten die Weltnachrichten<br />
(einschliesslich jener über die Entwicklung der Wasserstoffbombe)<br />
nachrangige Bedeu<strong>tu</strong>ng nach all dem, was sich vor<br />
der Villa Margherita abspielte, und Rom machte eher den Eindruck<br />
eines Hollywood-Sets. Gelegentlich drang der Wahnsinn<br />
auch in die Klinik ein – nicht zuletzt in Form der wenigstens<br />
200 Briefe, die täglich auf <strong>Ingrid</strong>s Bett landeten. Etwa die<br />
Hälfte davon stammten von Filmfans rund um die Welt, die ihr<br />
sagten, wie mutig sie doch gewesen sei. Die andere Hälfte<br />
setzte sich aus Obszönitäten, Drohungen und Beschuldigungen<br />
zusammen. Es war aber nichts im Vergleich zu den 40'000<br />
Zuschriften, die sie seit ihrer Abreise von Amerika erhalten<br />
hatte.<br />
Das eiserne Gartentor der Klinik blieb für die Journalisten<br />
fortan geschlossen und wurde von einer Nonne bewacht,<br />
die von einem Mitglied der Associated Press unverblümt gefragt<br />
wurde, <strong>ob</strong> sie auf die Bibel schwören würde, dass die<br />
telefonisch von der Klinik erhaltene Auskunft, wonach keine<br />
Patientin namens Miss <strong>Bergman</strong> im Hause registriert sei, auf<br />
der Wahrheit beruhe. Die kleine Schwester, die entweder sehr<br />
417
naiv oder dann sehr clever war (und beschloss, die Frage<br />
wörtlich zu nehmen), antwortete, nein, es sei keine Signorina<br />
<strong>Bergman</strong> da. Da war eine Borghese, die Pricipessa Borghese,<br />
die etwas früher am Tag Zwillinge geboren hatte, aber nein,<br />
eine Miss <strong>Bergman</strong> gebe es hier nicht – was ja auch der<br />
Wahrheit entsprach, denn <strong>Ingrid</strong> wurde in der Klinik unter einem<br />
Pseudonym eingetragen.<br />
So blieben die Neuigkeiten während mehrerer S<strong>tu</strong>nden<br />
unbestätigt von der Klinikverwal<strong>tu</strong>ng, von den Rossellinis, von<br />
deren Freunden, den verschwiegenen Nonnen – e <strong>tu</strong>tti quanti.<br />
Auf gut Glück flunkerte die amerikanische Presse Geschichten<br />
über <strong>Ingrid</strong>s Freudentränen oder ihr entzücktes Lachen, <strong>als</strong><br />
man ihr das Baby brachte. In Tat und Wahrheit war sie von<br />
der Anaesthesie noch so benommen, dass sie sich beim ersten<br />
Schrei des Kindes nur zur Frage aufringen konnte: "Was ist<br />
los? Wieviel Uhr ist es?", um sofort in erschöpften Tiefschlaf zu<br />
fallen.<br />
Um Mitternacht begannen Journalisten und Fotographen<br />
über das Tor und die steinerne Klinikumfriedung zu klettern.<br />
Einsatz-Polizei wurde aufgeboten, um diese Invasion zu stoppen,<br />
aber die Presse wich um kein Yota aus dem Klinikgarten<br />
zurück. Am folgenden Morgen trat der Klinikverwalter heraus,<br />
der die Klinik kürzlich neu eröffnet hatte und nun etwas gute<br />
Presse dringend gebrauchen konnte, um (mit R<strong>ob</strong>ertos Erlaubnis)<br />
die Geburtszeit, das Geschlecht und das Gewicht des Neugeborenen<br />
bekanntzugeben. Und das sollte es dann gewesen<br />
sein.<br />
ABER DER KLINIKVERWALTER beschloss dann, einer<br />
Handvoll Reporter zu gestatten – bitte OHNE Kameras! – einige<br />
Aufenthaltsräume und die Kapelle der Klinik zu besichtigen.<br />
Aber Kameras wurden in den weiten Wintermänteln leicht hereingeschmuggelt,<br />
und dann eskalierte die Si<strong>tu</strong>ation plötzlich<br />
ins Chaotische. Wütendes Personal und entsetzte Nonnen<br />
rannten hinter den Fotographen her, die wie wild durch die<br />
Korridore hetzten, ihre Nasen in Privaträume streckten und ein<br />
418
Feuerwerk von Blitzlichtern veranstalteten. Doch niemand erhielt<br />
Zugang zur Suite 34, wo Polizeiwachen für die Sicherheit<br />
der berühmten Mutter und ihres Kindes sorgten.<br />
Bis zur Mittagszeit hatte sich die Szene wieder etwas<br />
beruhigt, doch das Spiel war noch nicht zu Ende. Journalisten<br />
wurden von ihren Auftraggebern ermächtigt, in einem Hotel<br />
der Klinik gegenüber Zimmer zu mieten, von wo aus sie ihre<br />
Objektive auf den Eingang der Klinik fokussieren und die Fassade<br />
nach einem Fenster absuchen konnten, durch welches<br />
eine grosse nordische Patientin even<strong>tu</strong>ell einen Blick ins Freie<br />
werfen würde. Aber <strong>Ingrid</strong>s Gefangenschaft dauerte an, gesichert<br />
durch die metallenen Rolläden ihres Zimmers, die während<br />
ihres ganzen Klinik-Aufenthalts unten blieben.<br />
Inzwischen wurden alle möglichen faulen Tricks versucht.<br />
Den hierfür immunen Nonnen wurden Bestechungsgelder<br />
für ein Bild angeboten. Ein Journalist brachte seine<br />
schwangere Frau zur Klinik, doch wurden beide hinausgeworfen,<br />
<strong>als</strong> sich herausgestellt hatte, dass die Frau noch mindestens<br />
sieben Wochen vor dem Geburtstermin war. Ein Fotograph<br />
kletterte vorsichtig am Wasserrohr zum Balkon von <strong>Ingrid</strong>s<br />
Zimmer hoch. Wieder ein anderer veranlasste eine Hebamme,<br />
irgend ein Neugeborenes zu wägen, und dieses Bild<br />
ging dann um die Welt mit der Legende: "Ist das <strong>Ingrid</strong>s kleiner<br />
R<strong>ob</strong>erto?" Gleich daneben war ein Bild aus der "Stromboli"-Werbung<br />
abgedruckt, das <strong>Ingrid</strong> mit traurigem Gesicht im<br />
schäbigen, gestreiften Kleid zeigt, das sie in einer Szene trug:<br />
"In der Villa Margherita hat <strong>Ingrid</strong> jetzt nichts zu lachen!"<br />
Einige Zei<strong>tu</strong>ngen gruben Fotos von "Notorious" aus, die<br />
<strong>Ingrid</strong> krank von der Vergif<strong>tu</strong>ng im Bett liegend zeigen ("<strong>Ingrid</strong><br />
erholt sich von ihren Qualen"). Wieder andere griffen in<br />
ihre ak<strong>tu</strong>elleren Dossiers und benutzten Bilder, die <strong>Ingrid</strong> vor<br />
einem Jahr bei der Ankunft auf dem Römer Flughafen zeigten,<br />
angesichts der sie erwartenden Presse mit vor Schreck weit<br />
geöffneten Augen und mit neuem Titel: "Verängstigte Ìngrid<br />
auf dem Weg ins Spital". Die einzigen Bilder mit echtem Bezug<br />
zum Anlass zeigten R<strong>ob</strong>erto, der einen Kameramann ins Ge-<br />
419
sicht schlug und seinen älteren Sohn, der Obszönitäten in die<br />
Kameras maulte.<br />
Die schwedische Presse begnügte sich mit<br />
unbebilderten Berichten, war aber nichtsdestoweniger begierig<br />
auf alles, was sich bot. Nachdem sie sich in den vergangenen<br />
zehn Jahren mit L<strong>ob</strong> für <strong>Ingrid</strong> sehr zurückgehalten hatte,<br />
rühmte sie sie jetzt <strong>als</strong> grosse, grosse Schauspielerin, die von<br />
einem wahnsinnigen Italiener ruiniert worden sei. Eine Stockholmer<br />
Zei<strong>tu</strong>ng ging andererseits so weit, sie <strong>als</strong> "einen Fleck<br />
auf der schwedischen Flagge" zu bezeichnen. Starke Reaktionen<br />
kamen aber von der einflussreichen Stockholmer Zei<strong>tu</strong>ng<br />
EXPRESSEN , die sich entschieden gegen die Formen der Heuchelei<br />
in dieser Sache wandte: "Hier in Schweden sehen wir es<br />
allgemein so, dass <strong>Ingrid</strong> ehrlich die Konsequenzen aus ihrer<br />
emotionalen Si<strong>tu</strong>ation zog. Das ist den Reaktionen der Puritaner<br />
vorzuziehen, die in Übereinstimmung mit einem heuchlerischen<br />
Moralcode öffentliche Untadeligkeit verlangen." Und so<br />
ging's, tagein tagaus, während <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> versuchte, zu<br />
ihrem sogenannten Privatleben zurückzufinden.<br />
Die letzte komische Demütigung geschah Mitte Februar,<br />
<strong>als</strong> R<strong>ob</strong>erto die Geburt des Kindes anmeldete und dessen<br />
Taufe durch seinen Freund, den Mönch, der in seinem Film<br />
Franz von Assisi spielte, vorbereitete. Das Kind wurde registriert<br />
<strong>als</strong> Sohn von R<strong>ob</strong>erto Rossellini – "Mutter zur Zeit unbekannt".<br />
Diese beispiellose Zumu<strong>tu</strong>ng entsprach einem italienischen<br />
Gesetz, wonach jedes Kind einer verheirateten Frau <strong>als</strong><br />
Kind ihres Ehemannes betrachtet wird; da die Lindströms noch<br />
immer nicht geschieden waren, wäre Petter <strong>als</strong> dessen Vater<br />
zu betrachten, und technisch könnte sich <strong>als</strong>o durchaus die<br />
Frage nach der Vaterschaft stellen. "Ist es nicht lustig", brachte<br />
es <strong>Ingrid</strong> mit Ironie auf den Punkt, "verrufen wie ich war,<br />
bin ich jetzt plötzlich unbekannt! Nein – zur Zeit unbekannt.<br />
Ich denke, das bedeutet wohl, dass wir ihnen – einmal verheiratet<br />
– dann sagen können, wer die Mutter wirklich war!"<br />
420
Sie behielt nur eine glückliche Erinnerung an den ganzen<br />
Klinikaufenthalt: "Ich werde nie vergessen, wie wundervoll<br />
die Nonnen und die Priester zur Zeit von R<strong>ob</strong>ertinos Geburt in<br />
der Villa Margherita zu mir waren. Sie beschützten mich und<br />
halfen mir. Es war ein wunderbarer Trost für mich, zu wissen,<br />
dass mir die wirklich religiösen Menschen Verständnis und<br />
Sympathie entgegenbrachten, <strong>als</strong> mir der S<strong>tu</strong>rm der öffentlichen<br />
Meinung kalt ins Gesicht blies." Tatsächlich fühlte sie sich<br />
weder von einer Nonne noch einem Priester in der Villa Margherita<br />
je verurteilt oder zurückgestossen, sie wurde von allen<br />
mit Zuneigung und Respekt behandelt – w<strong>ob</strong>ei einige von ihnen<br />
für die Betreuung der körperlichen Bedürfnisse der Sünderin<br />
öffentlich angeprangert wurden. In Amerika hätte die Reaktion<br />
des religiösen Establishments nicht unterschiedlicher<br />
sein können.<br />
MITTEN IN DIESEM PALAVER kam "Stromboli" in Amerika<br />
in die Kinos – aber nicht überall. Auf Betreiben von Senator<br />
Frank Lunsford von Georgia wurde im Senat dieses Staats<br />
eine Resolution gutgeheissen, die die öffentliche Vorführung<br />
aller Filme von Rossellini oder mit <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> untersagte,<br />
weil dieses Paar die freie Liebe glorifizierte und für die amerikanische<br />
Gesellschaft somit eine Gefahr darstellte. Soviel zu<br />
Senator Lunsfords Glaube an die Kraft des moralischen Rückgrats<br />
der Amerikaner.<br />
"<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Verhalten ist ein Gestank in den Nüstern<br />
anständiger Leute und eine Schande für die feinern weiblichen<br />
Sensibilitäten" (sic), donnerte ein Minister von Los Angeles<br />
in einer Explosion, die des Volcano würdig gewesen wäre.<br />
Ein anderer, in Philadelphia, geisselte <strong>Ingrid</strong> dafür, dass sie<br />
"den Dreck und Schlamm ihres unmoralischen Lebens" zurückgelassen<br />
habe. Und Dr. Norman Vincent Peale, der <strong>als</strong> die<br />
Seele der genialen, amerikanischen Hingabe an die Versöhnlichkeit<br />
von vielen verehrt wurde, donnerte, "<strong>Ingrid</strong> habe sich<br />
beruflich selbst disqualifiziert und gehöre von der Leinwand<br />
gefegt".<br />
421
Und so gings weiter. In Indiana, wo der Film nie gezeigt<br />
wurde, meinte ein einflussreicher Kirchenmann, "<strong>Ingrid</strong>s<br />
Verhalten sei ein Zeichen des moralischen Zerfalls". Der Federal<br />
Council of Churches mit Hauptsitz in Cleveland verdammte<br />
die Rossellini-<strong>Bergman</strong>-Affäre <strong>als</strong> "jene Art von sexuellem Exhibitionismus,<br />
die für den moralischen Niedergang des Westens<br />
Symbolcharakter hat", was nicht nur die Na<strong>tu</strong>r dieser<br />
Beziehung völlig verkannte, sondern ihr auch eine universelle<br />
Wirkung beimass, die weit jenseits ihrer Bedeu<strong>tu</strong>ng lag. Und<br />
die Heilsarmee, die in diesem Zusammenhang den Bezug zum<br />
Sinn ihres Namens völlig verlor, vernichtete alle Aufzeichnungen,<br />
die <strong>Ingrid</strong> anfangs 1949 zugunsten ihres jährlichen Spendenaufrufs<br />
gemacht hatte.<br />
Leider stammte 1950 einer der beiden schlimmsten<br />
Angriffe auf <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> von der Römisch-Katholischen<br />
Kirche Amerikas. Im Gegensatz zum europäischen katholischen<br />
Klerus, der das <strong>als</strong> private Gewissensfrage eins<strong>tu</strong>fte –<br />
und der noch viel intensiver unter den Kriegsfolgen zu leiden<br />
hatte – erwies sich der amerikanische Flügel der Kirche <strong>als</strong> der<br />
verbissenste Feind. "Der Teufel persönlich ist hier im Spiel"<br />
proklamierte der Boston Pilot , das offizielle Organ jener Diözese<br />
in einem für zahllose Beiträge in der katholischen Presse<br />
typischen Leitartikel. "Gewisse Kreise versuchen, aus einer<br />
billigen, miesen, unmoralischen Affäre eine 'Romanze' zu machen."<br />
<strong>Ingrid</strong> habe "öffentlich und schamlos die Gesetze Gottes<br />
missachtet", und "anständige, moralische Amerikaner sollten<br />
sich von diesem moralischen Abschaum fernhalten". Der<br />
Beitrag endete mit einem flammenden Beifall für die öffentlichen<br />
Aktionen in Georgia, Washington und anderswo, die<br />
"Stromboli" mit dem Bann belegten.<br />
Noch etwas anderes wird in diesem Zusammenhang<br />
deutlich: bis ans Ende ihres Lebens hat <strong>Ingrid</strong> nie gegen ihre<br />
Kritiker zurückgeschlagen – noch viel weniger hätte sie antikatholische<br />
oder antireligiöse Gefühle in sich aufkommen lassen.<br />
Man muss sich hier wirklich fragen, wer den christlichen Geist<br />
besser lebte. Es scheint, dass dam<strong>als</strong> nur sehr wenige Menschen<br />
realisierten, dass die Äch<strong>tu</strong>ng an sich tief unanständig<br />
422
ist – und in Wirklichkeit ein viel ungeheuerlicheres Symptom<br />
für Amerikas verkommene Religiosität darstellte. Die <strong>ob</strong>ern<br />
Zehntausend hielten sich in der Regel still, denn im amerikanischen<br />
Leben fand sich keine Zeit, die unkonventionellen Opfer<br />
des moralischen Sumpfs zu verteidigen. *)<br />
Gleichzeitig beantragte der Kirchenrat in Bellingham,<br />
Washington, und in Memphis, Tennessee, den beiden Stadtparlamenten<br />
mit Erfolg, "Stromboli" von diesen Städten zu<br />
verbannen. In Chicago liess Bundesrichter Michael L. Igoe ein<br />
früheres Gesetz wiederaufleben, das die Laufzeit erfolgreicher<br />
Filme im Stadtzentrum auf zwei Wochen beschränkte, wonach<br />
sie in den Vorstädten gezeigt werden konnten. Er tat dies gezielt<br />
im Hinblick auf "Stromboli" , w<strong>ob</strong>ei er gleichzeitig Walt<br />
Disneys "Aschenputtel" von dieser Verordnung ausklammerte,<br />
welcher Film, wie er sagte, so lange laufen dürfe, <strong>als</strong> er Publikum<br />
finde. Alles in allem 5,5 Millionen amerikanische Clubfrauen<br />
verlangten den Boykott von <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Filmen.<br />
Und im eiligen Bestreben, sich Amerika gefällig zu zeigen,<br />
wurde der Frauenclub von Manila durch die Regierung genötigt,<br />
die Äch<strong>tu</strong>ng aller Filme <strong>Ingrid</strong>s auf den Philippinen zu<br />
verkünden.<br />
Bemerkenswert aber ist, dass in Rom Il Popolo – die<br />
Zei<strong>tu</strong>ng der katholischen Partei – die Amerikanischen Verurteilungen<br />
<strong>als</strong> "einen von langer Hand vorbereiteten, kannibalischen<br />
Angriff gegen Miss <strong>Bergman</strong>" betrachtete, und sich die<br />
Vatikan-Zei<strong>tu</strong>ng jeder kritischen Bemerkung gegen "Stromboli"<br />
enthielt. Dennoch, ein alter, zäher Kirchenmann namens<br />
Monsignore Dino Staffa fuhr fort, auf R<strong>ob</strong>ertos und <strong>Ingrid</strong>s<br />
unmoralischen Lebenswandel einzuhämmern, w<strong>ob</strong>ei seine<br />
Meinung fälschlicherweise <strong>als</strong> die offizielle Stellungnahme der<br />
kirchlichen Insti<strong>tu</strong>tionen weltweit aufgefasst wurde. Tatsache<br />
ist, dass in Europa – aber nicht in Amerika – der Klerus sich<br />
um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte. Und sogar in<br />
*) Marion Davies, selbst Opfer von Moralzensur <strong>als</strong> sie die Geliebte von<br />
William Randolph Hearst war, sandte <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> Erste ein Zeichen der<br />
Sympathie und Solidarität.<br />
423
Amerika liess sich die von katholischer Seite finanzierte National<br />
Legion of Decency, deren Macht den finanziellen Erfolg<br />
eines mit dem Bann belegten Films ohne weiteres ruinieren<br />
konnte, erstaunlicherweise wie folgt vernehmen: "Es ist unsere<br />
Politik, einen Film inhaltlich zu beurteilen, und nicht die<br />
darin auftretenden Schauspieler." Und damit – oh Wunder –<br />
wurde "Stromboli" zur öffentlichen Vorführung zugelassen.<br />
AM 15. FEBRUAR BRACHTE RKO den Film heraus. Trotz<br />
einer Werbekampagne, die aus dem angeblichen Dolce vita<br />
von Regisseur und Star Kapital zu schlagen versuchte, wurde<br />
er vernichtend abgeschmettert – nicht <strong>als</strong> unmoralisch, sondern<br />
<strong>als</strong> künstlerisch "schwach, unklar, nichtssagend und<br />
peinlich banal", ein Urteil, dem nur schwer zu widersprechen<br />
war. So kam <strong>Ingrid</strong> erstm<strong>als</strong> in ihrem Leben zu schlechten<br />
Kritiken: ihr Spiel habe "keine Tiefe", ihr Ausdruck sei "leer".<br />
Jahre danach wird "Stromboli" – einzig in seiner Hughes-Version<br />
verfügbar – <strong>als</strong> armselig konzipiert und echt<br />
langweilig bezeichnet; und Rossellinis Anweisungen zum definitiven<br />
Schnitt – so sie überhaupt befolgt wurden – haben<br />
wohl auch nichts verbessert. Was <strong>Ingrid</strong>s schauspielerische<br />
Leis<strong>tu</strong>ng betrifft, ist klar, dass ihr Image neu beurteilt wurde,<br />
und nicht ihre Kunst: sie portraitierte Karin mit kontrollierter<br />
Panik <strong>als</strong> wäre es ein Handbuch über die Darstellung von<br />
Sehnsucht und Hass auf eine feindselige Gesellschaft.<br />
Während den ersten paar Tagen lockte der Film in 19<br />
Städten Massen in die Kinos, doch verblasste der Zustrom<br />
schnell bis zur Bedeu<strong>tu</strong>ngslosigkeit – ausser in den grossen<br />
Filmtempeln. Aber für den Entscheid, ihn zurückzuziehen, waren<br />
zwei sehr unterschiedliche Kriterien massgebend. Wo der<br />
Film an den Kassen keine Zugkraft hatte, wurde er mit der<br />
Begründung abgesetzt, dass <strong>Ingrid</strong> eine unmoralische Person<br />
sei, deren Werk nicht aufgeführt werden dürfe. Aber wo er<br />
Kasse machte, blieb er im Programm <strong>als</strong> Zeichen des Widerstands<br />
gegen jede Unterdrückung der künstlerischen Freiheit.<br />
"Wie können die sich öffentlich und unverschämt so heuchle-<br />
424
isch benehmen?", schnaubte <strong>Ingrid</strong>. "Und mich nennen sie<br />
eine unmoralische Person! Zusammen mit meinem Baby R<strong>ob</strong>ertino<br />
möchte ich gegen diese menschliche Blödheit nur<br />
schreien!" Nach einigen Wochen war von "Stromboli" nichts<br />
mehr zu hören.<br />
Dafür umso mehr von <strong>Ingrid</strong>. Weil Petter die Scheidung<br />
über die güterrechtliche Auseinandersetzung verschleppte,<br />
setzten sie und R<strong>ob</strong>erto eine Mexikanische Scheidung in Gang,<br />
die sie aufgrund von Zerrüt<strong>tu</strong>ng, mentaler Grausamkeit und<br />
Vernachlässigung anstrebte. Zusätzlich stellte sie – anfänglich<br />
gegen ihren Willen – wahrheitsgemäss fest, dass sie von ihren<br />
letzten Stromboli-Gagen noch nichts zu sehen bekommen habe,<br />
die von Lindström mit der Begründung zurückbehalten<br />
wurden, dass er sie <strong>als</strong> Unterhaltsbeitrag für Pia beanspruche.<br />
<strong>Ingrid</strong> hatte die erste Zahlung bereitwillig zu diesem Zweck<br />
hergegeben, doch jetzt verdiente Petter ebenfalls Geld. Am 9.<br />
Februar, während sie sich in der Klinik noch erholte, wurde ihr<br />
die Scheidung in absentia gewährt. Als er davon informiert<br />
wurde, verkündete Petter erwar<strong>tu</strong>ngsgemäss, dass er die<br />
Scheidung <strong>als</strong> ungültig betrachte und seinerseits ein Begehren<br />
stellen werde. Das dauerte sehr viel länger, <strong>als</strong> die kühnsten<br />
Erwar<strong>tu</strong>ngen hätten erahnen lassen.<br />
Und dann kamen die Politiker.<br />
Am 14. März 1950 trat Senator Edwin C. Johnson von<br />
Colorado ans Rednerpult des Senats:<br />
"Herr Präsident, nachdem der einfältige Film über eine<br />
schwangere Frau und einen Vulkan Amerika in gewohnter<br />
Weise und sehr zum beidseitigen Vergnügen von<br />
RKO und dem disqualifizierten Rossellini im Griff hat,<br />
können wir da nur müde gähnen und uns damit zufrieden<br />
geben, dass wir das scheussliche Ding nun vergessen<br />
können? Ich hoffe nicht. Wir müssen einen Weg<br />
finden, unser Volk in Zukunft vor solchem zu beschützen."<br />
425
Und dann leitete er über zum Abschuss, den er mit einer<br />
unbeabsichtigt komischen gemischten Metapher einleitete,<br />
w<strong>ob</strong>ei er Piraten und Indianer miteinander verwechselte:<br />
426<br />
"Als der Liebespirat Rossellini über seine Er<strong>ob</strong>erung<br />
höhnisch grinsend nach Rom zurückkehrte, baumelte<br />
nicht Mrs. Lindströms Skalp von seinem Gürtel, sondern<br />
ihre Seele. Was von ihr übrig blieb, hat nun zwei<br />
Kinder in die Welt gesetzt – das eine hat keine Mutter,<br />
das andere ist illegitim. Selbst in unserem modernen,<br />
an Überraschungen gewöhnten Leben, ist es unerträglich,<br />
unserer äusserst populären aber schwangeren<br />
Filmkönigin, deren Zustand das Ergebnis einer illegalen<br />
Affäre ist, zusehen zu müssen, wie sie die Rolle einer<br />
billigen, gr<strong>ob</strong>schlächtigen Frau spielt, um einer leblosen<br />
Geschichte etwas Würze zu geben. Um den Kasseneinnahmen<br />
auf die Beine zu helfen, braucht "Stromboli"<br />
schlicht und einfach einen privaten Skandal seitens der<br />
Hauptdarstellerin... und der gemeine und unbeschreibliche<br />
Rossellini etabliert ein Allzeittief hinsichtlich unverschämter<br />
Ausbeu<strong>tu</strong>ng und Missach<strong>tu</strong>ng der öffentlichen<br />
Moral."<br />
<strong>Ingrid</strong> wurde von Johnson <strong>als</strong> schizophren oder unter<br />
hypnotischem Einfluss stehend diagnostiziert; so oder so war<br />
sie sicher eine Verfechterin der freien Liebe und ein Apostel<br />
der Erniedrigung. Nathaniel Hawthornes Charakterschilderung<br />
hätte nicht besser sein können. Damit kam Johnson zum<br />
Punkt seiner Hetzrede, an welchem er <strong>Ingrid</strong> und R<strong>ob</strong>erto <strong>als</strong><br />
Startrampe für einen Gesetzesentwurf benutzte, der darauf<br />
abzielte, beim in eine verdrehte moralische Überlegenheit eingetauchten<br />
Amerika zu punkten: er verlangte, dass das Department<br />
of Commerce Schauspielerinnen, Produzenten und<br />
Filme offiziell nach ihrem moralischen Gehalt bewerte und lizenziere.<br />
<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> hatte sich "einen Angriff auf die Insti<strong>tu</strong>tion<br />
der Ehe zuschulden kommen lassen. Sie ist heute<br />
eine der mächtigsten Frauen der Welt – und ich bedaure, sa-
gen zu müssen: ein mächtiger Einfluss des Bösen". Zwei Wochen<br />
später sagte Johnson dasselbe von Rossellini, den er<br />
(ohne den geringsten Beweis dafür zu haben) <strong>als</strong> drogenabhängig,<br />
<strong>als</strong> Nazi-Kollaborateur und Schwarzmarkthändler bezeichnete.<br />
Wenigstens bezichtigte er ihn nicht, ein Politiker zu<br />
sein.<br />
Johnson folgerte daraus, dass jeder anständige Amerikaner<br />
erkennen müsse, dass "unter unseren Gesetzen kein<br />
der Verderbtheit schuldiger Ausländer seinen Fuss auf amerikanischen<br />
Boden setzen darf. Mrs. Petter Lindström hat aus<br />
eigenem Antrieb das Land verlassen, das so gut zu ihr war.<br />
S<strong>ob</strong>ald die im Zusammenhang mit "Stromboli" erlittene<br />
Schmach überwunden ist, können in Hollywood wieder Anstand<br />
und gesunder Menschenverstand Einzug halten, dann<br />
wird <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> ihre Karriere nicht sinnlos geopfert haben.<br />
Möge aus ihrer Asche ein besseres Hollywood erstehen."<br />
Und dann die dramatische Schlussfolgerung: "Da sich<br />
beide diese fremden Charaktere der moralischen Verderbtheit<br />
schuldig gemacht haben, ist es ihnen unter unseren Einwanderungsgesetzen<br />
verboten, amerikanischen Boden zu betreten."<br />
Über diesen Antrag wurde nie abgestimmt, doch hat<br />
<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Bewegungsfreiheit dadurch erheblichen<br />
Schaden genommen. Anfragen, <strong>ob</strong> für <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> (aufgrund<br />
der Ausländer- und Einwanderungsgesetze von 1907)<br />
die Bestimmungen bezüglich "moralischer Verderbtheit" überhaupt<br />
anwendbar seien, beantwortete der Immigration and<br />
Na<strong>tu</strong>ralisation Service in dem Sinne, dass Miss <strong>Bergman</strong> in der<br />
Tat keine U.S.-Bürgerin sei.<br />
Mehr dazu äusserte die Dienststelle nicht, aber die Verunsicherung<br />
war da. Bei einer neuen Reise nach Amerika hätte<br />
<strong>Ingrid</strong> bei der Einreise festgehalten werden können (ihr Visum<br />
war eben vor Jahresfrist abgelaufen). Sie hätte auch vorübergehend<br />
auf Ellis Island verbracht werden können. Diese Massnahme<br />
wäre zwar – auch nach Meinung verschiedener Experten<br />
– unwahrscheinlich gewesen, doch es war das Jahr 1950,<br />
<strong>als</strong> Hexenjagden über das Land fegten und keine auch noch so<br />
427
extreme Massnahme unvorstellbar gewesen wäre. Und für Pia,<br />
die womöglich Zei<strong>tu</strong>ngsberichte mit Bildern von ihrer wie ein<br />
gewöhnlicher Verbrecher in Handschellen abgeführten Mutter<br />
zu sehen bekommen hätte, wäre das – worin sich auch Petter<br />
und R<strong>ob</strong>erto einig waren – viel traumatischer gewesen. Die<br />
Presse, soviel war klar, hätte solche Neuigkeiten <strong>als</strong> die Story<br />
des Jahrhunderts ausgeschlachtet. "Das Schlimmste an der<br />
ganzen Sache", so <strong>Ingrid</strong>, "war, dass ich meiner Tochter weh<strong>tu</strong>n<br />
musste. Ihr das an<strong>tu</strong>n zu müssen, wo sie doch keinerlei<br />
Schuld an allem hatte – das machte mich krank. Nichts anderes,<br />
was immer in meinem Leben sonst noch passierte, machte<br />
mich so kaputt."<br />
IN DIESEM JAHR LEBTEN die Leute in Hollywood bereits<br />
unter den schlimmsten Verdächtigungen der ganzen Filmgeschichte.<br />
Das House Committee on Un-American Activities<br />
(HUAC) war am Herumwüten, durchwühlte das Leben der Filmemacher,<br />
Autoren, Schauspieler und sogar Kunstprofessoren<br />
im Bestreben, auch das geringste Anzeichen von kommunistischem<br />
Umtrieb unter "gefährlichen" Künstlern und Intellek<strong>tu</strong>ellen<br />
im Keime zu ersticken. Wenn verräterische Amerikaner<br />
nicht entlarvt würden (so die allgemeine Meinung), würden die<br />
Russen in die Häuser schleichen, während die anständigen<br />
Amerikaner schliefen, und plötzlich wäre Amerika unter der<br />
Kontrolle der Sowjets. Die Verräter seien vermutlich schon an<br />
ihren Plänen, wie sie das Gehirn unschuldiger Amerikaner<br />
atomisieren könnten: nach Meinung einer sehr aktiven (und<br />
fehlgeleiteten) Bürgergruppe, würde Amerika betäubt, s<strong>ob</strong>ald<br />
es den Kommunisten gelänge, die nationale Wasserversorgung<br />
mit Fluorid zu verseuchen.<br />
Diese Paranoia, die das Nachkriegs-Amerika erfasste,<br />
hatte mehrere Ursachen. Die erste von allen war, dass China<br />
1949 unter kommunistische Herrschaft geriet. Im gleichen<br />
Jahr kündigte Moskau die Zündung einer Atombombe an.<br />
Kommunistische Truppen bereiteten Anfang 1950 einen Krieg<br />
gegen das von Amerika unterstützte Korea vor. Und dann gab<br />
428
es – unglücklicherweise – einige Fälle von Spionage und Verrat<br />
an der Heimfront. Dies alles nährte eine schreckliche Verängstigung<br />
unter der Bevölkerung.<br />
Der Triumph über den Faschismus in Europa und die<br />
bisher in diesem Umfang unvorstellbare Machtdemonstration<br />
Amerikas durch die beiden Atombomben am Ende des zweiten<br />
Weltkriegs bewirkten die unausgesprochene Vorstellung, dass<br />
Amerika so etwas wie einen göttlichen Auftrag habe, alles<br />
"Reine" im Zusammenhang mit den amerikanischen Wertvorstellungen<br />
und Erfolgszielen zu beschützen. Im Juni 1949<br />
zeugten Friede und Prosperität für die Richtigkeit dieser Theorie.<br />
Unter solchen Umständen entsteht gerne eine gewisse<br />
moralische Selbstgefälligkeit, die an sich ausgefallene und<br />
unausgesprochene Vorstellung, Gott sei ein Amerikaner. So<br />
verschmelzen Stolz und Paranoia.<br />
Alles begann im Okt<strong>ob</strong>er 1947, <strong>als</strong> das HUAC, das unbeaufsichtigt<br />
von einem Kongresskommittee amerikanische<br />
Intellek<strong>tu</strong>elle nach verdächtigen Aktivitäten auszuforschen<br />
begann, sich in zunehmendem Masse der Methoden mittelalterlicher<br />
Kreuzritter bediente. 19 Prominente in Hollywood<br />
wurden vorgeladen, über ihre Verwicklung in kommunistische<br />
Aktivitäten auszusagen. Die erste Gruppe (die <strong>als</strong> die "Hollywood<br />
Ten" bekannt wurde) verweigerte zunächst die Aussage<br />
und verlor prompt ihre J<strong>ob</strong>s, wurde mit Gefängnis bestraft und<br />
wegen Missach<strong>tu</strong>ng des Kongresses gebüsst. *) S<strong>tu</strong>dio-<br />
Direktoren verurteilten diese Hexenjagd zuerst, aber nachdem<br />
sie mit dem Verlust der finanziellen Unterstützung durch die<br />
Ostküsten-Banken bedroht wurden, erwiesen sie sich <strong>als</strong><br />
Freunde des HUAC. Die innigste Loyalität des Moguls gilt immer<br />
dem Kassier. Deshalb auch die Heucheleien über den<br />
Kassenerfolg von "Stromboli".<br />
In kurzer Folge wurden jene, die verdächtigt waren,<br />
über kommunistische Verbindungen zu verfügen – oder gar<br />
*)<br />
Die "Hollywood Ten": Autoren Alva Bessie, Lester Cole, Ring Lardner<br />
Jr., John Howard Lawson, Albert Maltz, Samuel Ornitz, Adrian Scott<br />
und Dalton Trumbo; und Regisseure Herbert Biberman und Edward<br />
Dmytryk.<br />
429
einer gesellschaftskritisch intellek<strong>tu</strong>ellen Gruppe aus den 30er-<br />
Jahren anzugehören – auf eine schwarze Liste gesetzt, es sei<br />
denn, sie wären bereit gewesen, mit dem HUAC zu kooperieren.<br />
Das Ergebnis war, dass wer sich widersetzte, worunter<br />
sich auch erstrangige Hollywood-Talente befanden, dort nie<br />
wieder Arbeit fand oder aber eine lange Auszeit nehmen musste.<br />
Gleichzeitig wurden während eines Autoren-Streiks alle<br />
Angestellten, die sich der Zusammenarbeit mit dem HUAC<br />
verweigerten, von den S<strong>tu</strong>dios entlassen.<br />
All das erreichte den Höhepunkt mit dem Auftritt des<br />
berüchtigten Senators Joseph McCarthy, eines vierzigjährigen<br />
Wisconsin-Republikaners, der sich beeilte, einen der übelsten<br />
Angriffe auf die verfassungsmässigen Rechte Amerikas in der<br />
ganzen Geschichte des Landes zu starten. Fast im Alleingang –<br />
allerdings mit der lauten Unterstützung von Millionen – erweiterte<br />
McCarthy die Hexenjagd in Hollywood noch mit der Behaup<strong>tu</strong>ng,<br />
er habe Namen von Kommunisten, die in höchsten<br />
Regierungsstellen tätig seien. Die "Listen" dieser Namen legte<br />
er aber nie vor und ebensowenig konnte er je einen einzigen<br />
überzeugenden Fall gegen ein Individuum vorweisen. Nichtsdestotrotz<br />
schlug McCarthy Kapital aus den nationalen Ängsten<br />
bezüglich Korea und Osteuropa, er t<strong>ob</strong>te und wütete und<br />
trat die zivilen Rechte im Namen des Patriotismus mit Füssen.<br />
Schliesslich fiel McCarthy 1954 in Ungnade, nachdem<br />
ihn sein Wahnsinn dazu verleitete, (ausgerechnet) Präsident<br />
Eisenhower <strong>als</strong> Kommunisten-Sympathisanten zu bezeichnen.<br />
Aber bis ihn der Senat schliesslich aus dem Verkehr zog, hatten<br />
McCarthys Fantasien zahllose Leben ruiniert und dazu beigetragen,<br />
dass ein gefährliches Rechtsaussen-Verständnis<br />
Platz griff – eine Denkweise, die in einer Nation, die durch<br />
Revolution entstanden, mit gesunden Meinungsverschiedenheiten<br />
aufgewachsen und von einem vernunftbetont markigen<br />
Individualismus geprägt worden ist, eigentlich anomal ist.<br />
Die Senatoren McCarthy, Johnson und Co. waren sich<br />
einig um Gottes Segen für ihre Massnahmen und sie wussten<br />
genau, wohin diese führen und wo sie versagen würden. In<br />
der Unterhal<strong>tu</strong>ngsindustrie, einem ihrer treuesten Supporter,<br />
430
war Walter Winchell, dessen Berichte an "Herrn und Frau<br />
Amerika" das Blacklisting von Schauspielern, Autoren und<br />
Technikern in Radio und Fernsehen begrüssten.<br />
So war das Land sowohl von Wut wie auch von Angst<br />
vor den Leuten in Hollywood erfüllt. Kein Produzent, Autor<br />
oder Schauspieler, der arbeiten wollte, wagte sich an eine Geschichte,<br />
die auch nur im Entferntesten etwas kritisierte, was<br />
im Lande schief gelaufen war, und ebensowenig hätte er oder<br />
sie anzutönen gewagt, dass die Kul<strong>tu</strong>r zunehmend von paranoidem<br />
Wahn bestimmt würde. Ein entsetzlich dichter, konservativer<br />
Nebel verdüsterte das ganze Klima der<br />
Unterhal<strong>tu</strong>ngsdindustrie in jenem Moment, <strong>als</strong> sich <strong>Ingrid</strong><br />
<strong>Bergman</strong> verliebte und schwanger wurde.<br />
Für viele Amerikaner waren Filmschauspieler fremdartige,<br />
unmoralische Schurken. Die Zei<strong>tu</strong>ngen hatten die Lebensgeschichten<br />
von Lana Turner, Charles Chaplin, Mickey Rooney<br />
und Errol Flynn veröffentlicht. Wie Louella Parsons und Walter<br />
Winchell am Radio verkündeten, seien Filmstars nicht immer<br />
angenehme Leute. Manchmal tranken sie zuviel, manchmal<br />
würden sie arrestiert; sie hätten extravagante Häuser und<br />
feierten wilde Parties; am schlimmsten: sie schienen sich so<br />
oft zu scheiden, wie andere Leute Geburtstage feiern. Von<br />
alledem war <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> ausgenommen – bis jetzt. "Die<br />
Leute sahen mich in "Joan of Arc" und betrachteten mich wie<br />
eine Heilige", sagte <strong>Ingrid</strong>, "ich bin aber keine. Ich bin eine<br />
Frau, ein menschliches Wesen." Nun, das war keine Entschuldigung.<br />
Die puritanische öffentliche Schande schlug derart<br />
heftig über ihr zusammen, dass es wie ein Wunder anmutet,<br />
dass sie nicht einen Nervenzusammenbruch erlitt.<br />
AM 24. MAI HEIRATETEN <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> und R<strong>ob</strong>erto<br />
Rossellini im Abwesenheitsverfahren. In Juarez, Mexico, standen<br />
zwei Gentlemen – Javier Alvarez und Ar<strong>tu</strong>ro Trevino – vor<br />
Richter Raul Orozco und gaben das Eheversprechen an ihrer<br />
Stelle ab.<br />
431
Nur Mexico anerkannte die Scheidung, die <strong>Ingrid</strong> gewährt<br />
wurde, und weil weder sie noch R<strong>ob</strong>erto Lust hatten,<br />
nach Mexico zu reisen und womöglich amerikanischen Journalisten<br />
in die Hände zu laufen, entschieden sie sich für die ungewöhnliche<br />
– zwar gültige, aber seltsame – Ferntrauung.<br />
(Einen Präzedenzfall gab es 1945, <strong>als</strong> die Schauspielerin Merle<br />
Oberon den Filmer Lucien Ballard auf die selbe Art und Weise<br />
heiratete.) "Natürlich haben wir bedauert, dass wir an unserer<br />
eigenen Hochzeit nicht zugegen sein konnten", bemerkte <strong>Ingrid</strong><br />
später in ihrer humorvollen Art, "doch hat ihr das in unseren<br />
Augen keinen Abbruch getan." Zur S<strong>tu</strong>nde, <strong>als</strong> der Ehebund<br />
in der Ferne besiegelt wurde, kniete das glückliche Paar<br />
in einer ruhigen, dunkeln römischen Kirche, die während des<br />
ganzen Abends für sie offen gehalten wurde. Sie tauschten<br />
goldene Bänder aus und gel<strong>ob</strong>ten sich die Ehe ganz unter sich,<br />
ohne Zeugen und trafen sich danach zuhause mit einigen<br />
Freunden zu einem Glas Champagner.<br />
Einige Tage danach fuhren die Rossellinis zu einem<br />
Strandhaus, das R<strong>ob</strong>erto gekauft hatte – Santa Marinella, etwa<br />
40 km nördlich von Rom. Das Geld dafür, wie auch für den<br />
Unterhalt der Römer Wohnung, für das Personal und die Autos,<br />
stammte aus dem Verkauf von R<strong>ob</strong>ertos Auslandrechten<br />
an diesem oder jenem früheren Film, aus Anleihen zulasten<br />
seines "San Francesco"-Films, aus von künftigen Produzenten<br />
herausgeschmeichelten Darlehen und aus der Vorführung seiner<br />
grossartigen Frau, die immerzu nur süss lächelte und kurz<br />
und gut – ecco! – R<strong>ob</strong>erto erhielt ein Geschenk von diesem<br />
Fan oder ein unbefristetes Darlehen von jenem. Er hielt auch<br />
Geld in seiner Tasche zurück, indem er schlicht und einfach<br />
Rechnungen ignorierte, worüber sich gewisse Lieferanten gewundert<br />
haben mögen, die seine kleinen Reden über die Bedürftigen<br />
und Armen gehört hatten. "R<strong>ob</strong>erto lebte und arbeitete<br />
im kreativen Chaos", so <strong>Ingrid</strong>, "nichts war je organisiert."<br />
Santa Marinella hing malerisch über der Küste an einem<br />
kleinen Meeresarm etwas südlich vom alten römischen<br />
Hafen Civitavecchia. Während dieses ersten Sommers über-<br />
432
wachte <strong>Ingrid</strong> die Gärtner bei der Anlage der Blumenbeete im<br />
Garten und den Ausbau des behäbigen Garagebaus für R<strong>ob</strong>ertos<br />
Autoflotte. Das sieben acres umfassende Achtzimmerhaus<br />
war weiss, kühl und einfach struk<strong>tu</strong>riert. Ein Cheminée dominierte<br />
den gemütlichen Wohnraum, der auf eine geräumige<br />
Veranda mit Blick auf's Meer hinausführte. Das Anwesen hatte<br />
seinen privaten Strand und einen grossen Garten mit Palmen,<br />
Pinien und Blumen allüberall. Vom Sommer 1950 an teilten sie<br />
ihre Saisons zu gleichen Teilen auf beide Domizile auf, und<br />
R<strong>ob</strong>erto erstellte in Santa Marinella noch ein Redaktions-<br />
S<strong>tu</strong>dio, um seiner Familie während des ganzen Sommers nahe<br />
sein zu können.<br />
In beiden Haushalten kümmerten sich Bedienstete um<br />
die gr<strong>ob</strong>e Arbeit, aber <strong>Ingrid</strong>, deren schwedisches Auge noch<br />
überall Schmutz und Staub fand, war oft beim Scheuern und<br />
Polieren anzutreffen. "Lasst noch etwas Staub und Spinnweben<br />
übrig – Mutter kommt", war in späteren Jahren ein familiärer<br />
Scherz über <strong>Ingrid</strong>s Leidenschaft für Sauberkeit. Sie liebte<br />
auch das Einkaufen und Handeln mit den Fischhändlern<br />
über den besten Fang und die fairsten Preise. Stets mit einem<br />
Auge auf ihren Finanzen, war <strong>Ingrid</strong> immer die sparsame<br />
Schwedin, ganz im Gegensatz zu R<strong>ob</strong>ertos Rolle <strong>als</strong> verschwenderischer<br />
Grand Seigneur. Diesen Sommer erklärte<br />
<strong>Ingrid</strong> ihrem Mann, dass sie zur Arbeit zurückkehren möchte,<br />
dass sie Geld brauchten und dass sie mit ihrem Leben etwas<br />
unternehmen müsse. Selbstverständlich, antwortete er, aber<br />
bestimmt nur in einem Rossellini-Film. "Er wusste, dass Fellini<br />
und andere italienische Regisseure wie Visconti mit mir arbeiten<br />
wollten, aber R<strong>ob</strong>erto verweigerte dazu konstant seine<br />
Einwilligung...Er war sehr eifersüchtig und so viele von uns<br />
lebten im Schatten seiner jeweiligen Launen. R<strong>ob</strong>ertos Sorgen<br />
und Belas<strong>tu</strong>ngen übertrugen sich immer auf uns." Aber wenn<br />
ihr Gatte gut drauf war, schien die Sonne hell über allen.<br />
Im Spätsommer waren die Rossellinis ein attraktives<br />
Paar – sie schlank und gebräunt in einem langen, trägerlosen<br />
festlichen Kleid, er elegant im weissen Dinnerjacket – am<br />
Film-Festival von Venedig, wo "Stromboli" und "The Flowers of<br />
433
St. Francis" von einem überwältigenden Publikum laut gefeiert<br />
wurden und <strong>Ingrid</strong> öffentliches Interesse genoss. Da gab es<br />
kein Wort von Zensur oder irgendetwas anderes <strong>als</strong> Applaus<br />
und Ermutigung für sie. R<strong>ob</strong>ertos Filme erhielten keine Preise,<br />
doch wurde er <strong>als</strong> Grossmeister des Films gefeiert. Die Italiener<br />
liebten sie, wie Tennessee Williams bei seiner Rückkehr<br />
von einem Besuch berichtete, "aber <strong>Ingrid</strong> will nicht in die<br />
Vereinigten Staaten zurückkehren. Die amerikanischen Touristen<br />
in Rom meiden sie und machen beleidigende Bemerkungen.<br />
Aber sie sind ein glückliches Paar dort drüben."<br />
ENDLICH, NACH LANGWIERIGEN SCHLACHTEN um Finanzen<br />
und Pias Sorgerecht gewann Petter Lindström am<br />
1. November in Los Angeles seine Scheidung wegen Grausamkeit<br />
und Verlassens. Einige seiner Behaup<strong>tu</strong>ngen vor Richter<br />
Thurmond Clarke mögen <strong>Ingrid</strong> erstaunt haben, <strong>als</strong> sie diese<br />
in den Zei<strong>tu</strong>ngen nachlesen konnte.<br />
Das Heim der Lindströms war ein glückliches Heim,<br />
sagte Petter, und die Ehe war solide bevor sie (seine Frau)<br />
überstürzt floh "um eine gewisse Beziehung mit diesem italienischen<br />
Film-Regisseur aufzunehmen." Das sei für ihn, wie er<br />
sagte, ein grosser Schock gewesen, aber <strong>als</strong> er sie in Sizilien<br />
getroffen habe, hätte sie ihre Meinung über diesen Mann geändert<br />
gehabt und beabsichtigt, die Beziehung abzubrechen<br />
und nachhause zurückzukehren. War er verbittert von seiner<br />
Frau? "Ich fühle nur Mitleid mit ihr für die missliche Lage, in<br />
die sie sich selbst gebracht hat. Ich denke, sie hat viele Qualitäten<br />
ausser ihrer Schönheit, und sie ist eine sehr gute Schauspielerin."<br />
Aber das alles habe sie sich selbst zuzuschreiben,<br />
sagte er – und dann eine schockierende Behaup<strong>tu</strong>ng. <strong>Ingrid</strong><br />
hätte, wie er sagte, "bestimmt ohne jede Einmischung seitens<br />
ihres Mannes gearbeitet".<br />
<strong>Ingrid</strong> entsprach praktisch allen Forderungen Petters,<br />
hauptsächlich um die Sache hinter sich zu bringen und das<br />
erste Treffen mit ihrer Tochter planen zu können. Gemäss<br />
Scheidungsurkunde wurde das Haus am Benedict Canyon Pet-<br />
434
ter zugesprochen (<strong>ob</strong>schon es vollumfänglich von <strong>Ingrid</strong>s Einkommen<br />
gekauft worden war) wie auch das Sorgerecht für<br />
Pia. Sie musste bei ihm in Amerika bleiben, w<strong>ob</strong>ei <strong>Ingrid</strong> nur<br />
das Besuchsrecht während der halben Sommerferienzeit zustand<br />
– und Petter hätte sie nie nach Italien begleiten müssen.<br />
<strong>Ingrid</strong> gab auch die Kontrolle über ihre Finanzen auf, die sie<br />
verdient hatte und die treuhänderisch für Pia sichergestellt<br />
wurden. Die Bedingungen der Scheidung waren unbestritten<br />
und Richter Clarke gewährte eine verbale Verfügung bei Abwesenheit<br />
eines Kontrahenten.<br />
Als die Weihnachtszeit nahte, sagte R<strong>ob</strong>erto, er hätte<br />
ein spezielles Geschenk für <strong>Ingrid</strong> – eine wundervolle Idee für<br />
einen neuen Film, für den er mit mindestens zehn Autoren<br />
versuchte, eine Story zu finden. Die Idee dazu kam ihm während<br />
der Dreharbeiten zu "The Flowers of St. Francis": Wenn<br />
eine Frau wie Francesco im zwanzigsten Jahrhundert auf die<br />
Erde zurückkehren könnte und versuchte, in seinem Geiste zu<br />
leben, wie würde sie behandelt? Ohne Zweifel <strong>als</strong> verrückt.<br />
Aber R<strong>ob</strong>erto wollte auch einen Film über das soziale Gewissen<br />
machen, über die zeitgenössischen Pr<strong>ob</strong>leme Europas, und das<br />
brachte ihn noch während der Arbeit am Grundkonzept in<br />
Schwierigkeiten.<br />
Irgendwann mussten er und seine Schreiber <strong>Ingrid</strong> ja<br />
etwas vorlegen können. "Europa 51", wie ihr Titel lauten sollte,<br />
war die Geschichte einer in Rom lebenden reichen Amerikanerin<br />
(<strong>Ingrid</strong>), deren zwölfjähriger Sohn sich im Glauben,<br />
sie kümmere sich nicht mehr um ihn, die Treppe hinunterstürzt<br />
und einge Tage später stirbt. Unter dem Einfluss eines<br />
verbissenen Kommunisten, der ihr rät, ihren Kummer durch<br />
die Arbeit für die Armen zu überwinden, arbeitet sie zunächst<br />
in einer Fabrik und beginnt dann, Bedürftigen geistlichen Beistand<br />
zu spenden. Nachdem sie sich einer jämmerlichen Prosti<strong>tu</strong>ierten,<br />
die an Tuberkulose starb, und dann einer ledigen<br />
Mutter mit einem Trupp Kinder angenommen hatte, verhilft sie<br />
einem jungen Delinquenten zur Flucht aus der Haft und wird in<br />
der Folge durch ihren Ehemann, der durch die Aktivitäten seiner<br />
Frau in Verlegenheit kommt, in eine psychiatrische Klinik<br />
435
eingewiesen. Sie wird für den Rest ihres Lebens dort interniert<br />
bleiben.<br />
"Nun", fragte R<strong>ob</strong>erto seine Frau, nachdem er ihr das<br />
Konzept gegeben hatte, "ist das nicht eine wundervolle, tiefsinnige<br />
und überzeugende Geschichte?" Frohe Weihnacht, <strong>Ingrid</strong>!<br />
436<br />
*<br />
1948 - bei der Ankunft in Schweden
1949 - Stromboli<br />
437
438<br />
1951 - Die Rossellinis und Karin
"Die Spaghetti konnten mir nichts anhaben, ich wurde dünner<br />
und dünner."<br />
1951 - 1956<br />
(<strong>Ingrid</strong> über ihre Jahre in Italien)<br />
IN ROM WIDMETE SICH INGRID mit Hingabe dem Einkauf<br />
der Weihnachtsgeschenke für Pia, die dann per Luftpost<br />
nach Beverly Hills spediert wurden, damit sie rechtzeitig vor<br />
den Festtagen dort ankämen. Besondere Freude machte ihr<br />
eine elegante Armbanduhr, die sie für Pia gekauft hatte und<br />
die sie einem Freund zur persönlichen Übergabe mitgegeben<br />
hatte. Aber <strong>als</strong> sie nach Neujahr mit Pia telefonierte, stellte<br />
sich heraus, dass diese Uhr nirgends zu finden war. <strong>Ingrid</strong><br />
erfuhr dann, dass der Überbringer niemanden zuhause angetroffen<br />
hatte und das Paket einfach im Hundehaus deponiert<br />
hatte – "so wussten doch die Hunde, wie spät es war", wie<br />
<strong>Ingrid</strong> sagte, "doch niemand wusste, wo die Uhr geblieben<br />
war!" <strong>Ingrid</strong> ersetzte Pia das preziöse Stück dann mit erheblichem<br />
Aufwand, den sie anschliessend während Monaten am<br />
Haushaltsbudget einsparte.<br />
Währenddessen hatte R<strong>ob</strong>erto auch weiterhin keine Beziehung<br />
zum Wert des Geldes und fuhr fort mit seinen verschwenderischen<br />
Ausgaben für Familie, Freunde und sich<br />
selbst, <strong>Ingrid</strong>s ständigen Ermahnungen zur Sparsamkeit zum<br />
Trotz. Er hatte die Gewohnheit, wie <strong>Ingrid</strong> oft sagte, nicht nur<br />
sein Hemd wegzugeben, sondern im Laufe der Dinge gleich<br />
auch noch das Hemd aller andern. So lebte er in seiner Wohnung<br />
wie auch im Sommerhaus am Meer auf grossem Fusse,<br />
439
und wenn er je in's Fieber geriet, dann ausschliesslich für teure<br />
Rennwagen. "Warum verkaufen wir nicht einen davon",<br />
fragte er seine Sekretärin eines Tages. "Sehr gut", kam die<br />
Antwort, "dann können wir die Rechnungen für die andern<br />
bezahlen!"<br />
Langweilig war das Leben nie. "Im Gegensatz zu meinem<br />
grossen leeren Haus in Hollywood", sagte <strong>Ingrid</strong>, "war<br />
meine Wohnung in Rom stets voll von Leuten aus allen Bereichen<br />
des Lebens – Mönche, Schriftsteller, Rennfahrer, Bettler.<br />
Ich habe dabei so viel Wärme und Liebe erfahren, wie es an<br />
meinem Swimmingpool in Hollywood nie möglich gewesen<br />
wäre. Oh, es gab in Italien auch Schwierigkeiten, aber die italienischen<br />
Schwierigkeiten sind auch so viel interessanter."<br />
Über <strong>Ingrid</strong>s Ergebenheit R<strong>ob</strong>erto gegenüber, ihre Betreuung<br />
seiner weitreichenden Interessen und ihre Freude an<br />
den Vergnügungen, die er ihr und R<strong>ob</strong>ertino bot, gab es keinerlei<br />
Zweifel; dennoch gelang es ihrem Mann, "Schwierigkeiten"<br />
zu produzieren. Zusätzlich zu seinem mangelnden Sinn<br />
für Finanzen und seiner chronischen Unfähigkeit sich zu konzentrieren<br />
oder sich zur Arbeit zu zwingen, ging R<strong>ob</strong>erto auch<br />
fast unverantwortbare Risiken ein. Schlampig und unorganisiert,<br />
wie er bei der Arbeit war, gab es ihm auch nichts zu <strong>tu</strong>n,<br />
seinen Ferrari mit 150 Meilen pro S<strong>tu</strong>nde über die Aut<strong>ob</strong>ahn<br />
zu jagen, gleichviel wer neben ihm sass. Und seine sorglose<br />
Unbekümmertheit bezüglich Höflichkeit und Umgangsformen<br />
bescherte seiner Frau öfters erhebliches Ungemach: er lud hin<br />
und wieder zehn oder ein Dutzend Personen zum Abendessen<br />
ein, zu dem er selbst dann nicht erschien, womit er <strong>Ingrid</strong> zur<br />
Gastgeberin für ein Haus voller Fremden machte. "Er war so<br />
italienisch und chaotisch, und ich war so nordisch korrekt."<br />
Sie war methodisch, kam stets vorbereitet zur Arbeit,<br />
hatte perfekte Manieren und war zurückhaltend ohne jede Affektiertheit<br />
, und in ihrer Freizeit liebte sie es, langsam durch<br />
einen Hain oder dem Strand entlang zu wandern. "Ich entspanne<br />
mich bei meiner Familie", sagte <strong>Ingrid</strong>. "R<strong>ob</strong>erto entspannt<br />
sich beim Herumrasen in schnellen Autos. Das ist seine<br />
440
Art, ich warte einfach, bis er wieder zurück ist."<br />
"Es war nicht leicht, mit R<strong>ob</strong>erto zu leben", stellte sie<br />
sachlich fest. Aber sie glaubte an ihre Ehe. Es würde schon<br />
werden. Und Rossellini, der einen mit seiner flatterhaften und<br />
egozentrischen Art zum Wahnsinn treiben konnte, wusste sehr<br />
genau, wie er <strong>Ingrid</strong>s Gemüt wieder beschwichtigen konnte,<br />
wenn er einmal zu weit gegangen war: er inszenierte eine improvisierte<br />
Glosse, brachte sie zum Lachen, erzählte ihr alte<br />
Geschichten aus der bunten Vergangenheit seiner Familie; er<br />
übernahm die Küche und kochte ihr eine umwerfende Pasta,<br />
um dann in den Garten zu laufen und mit einem Arm voll Blumen<br />
zurückzukommen. Er war in jeder Beziehung das bare<br />
Gegenstück zum verlässlichen Petter.<br />
ZUVERLÄSSIG, WIE IMMER, kam Lindström seiner Vereinbarung<br />
nach, Pia einen Teil ihrer Sommerferien 1951 bei<br />
<strong>Ingrid</strong> verbringen zu lassen. Aus Angst, die Rossellinis könnten<br />
so weit gehen, sie zu kidnappen, brachte er sie nach London,<br />
und <strong>Ingrid</strong> hatte von Rom herzukommen, um sie Ende Juli zu<br />
treffen. Pia wurde herumkutschiert zwischen Sidney Bernsteins<br />
Landhaus (Hitchcocks Partner in "Under Capricorn"),<br />
Ann Todds und David Leans Londoner Stadthaus und einem<br />
Londoner Hotel. Petter war bei all diesen Besuchen anwesend,<br />
ausser während eines Nachmittags.<br />
Der Grund für seine ununterbrochene Präsenz wurde zu<br />
Beginn des Treffens klar, <strong>als</strong> die Leans die Lindströms zum<br />
Abendessen in ihrem Haus am Ilchester Place, Kensington,<br />
einluden. Sie hatten ein Gästezimmer für <strong>Ingrid</strong> und Pia für<br />
einige Tage vorbereitet, hatten aber kein zusätzliches für Petter,<br />
der erklärte, "er fürchte, dass wenn er das Haus verlasse,<br />
er nicht mehr eingelassen würde". Überdies vermutete er,<br />
dass <strong>Ingrid</strong> mit Pia entwischen und in England einen Rechtsstreit<br />
über eine Verlängerung des Besuchs ihrer Tochter vom<br />
Zaun brechen könnte.<br />
Das war nun nahe an reiner Paranoia. David Lean frag-<br />
441
te Petter, <strong>ob</strong> er gehen würde, wenn er ihm einen Schlüssel zur<br />
Hauseingangstür überlassen würde. Dieses Angebot wurde<br />
angenommen, und Petter begab sich zurück zu seinem Hotel.<br />
Aber sehr früh am folgenden Morgen fand Leans Hausmädchen<br />
Petter vor <strong>Ingrid</strong>s und Pias Zimmertür sitzend, um eine<br />
mögliche Entführung zu verhindern. Er kam nicht zum Frühstück,<br />
bevor er <strong>Ingrid</strong> und Pia im Auge hatte. Als <strong>Ingrid</strong> Pia an<br />
diesem Nachmittag zu einem Kin<strong>ob</strong>esuch im West End – Walt<br />
Disneys "Alice in Wonderland" – mitnehmen wollte, lehnte<br />
Petter diesen Wunsch glatt ab – bis Ann Todd sich einmischte<br />
und Petter garantierte, sie bringe Pia wieder zurück und dass<br />
sie, ihre Tochter und ihre Sekretarin sie begleiteten. Kay<br />
Browns Tochter Kate wurde von Amerika eingeladen, Pia <strong>als</strong><br />
Gesellschafterin zu begleiten. Die Mädchen versuchten, gute<br />
Miene zum bösen Spiel zu machen und die Reise zu geniessen.<br />
Logischerweise konnte sich Pia später nur noch an einen<br />
schrecklichen Spannungszustand und Stress während der ganzen<br />
Reise erinnern. Fast dreizehnjährig, reif, intelligent und<br />
gesittet, war sie einer im doppelten Sinn unmöglichen Aufgabe<br />
ausgeliefert: ihrem Vater gefällig zu sein und gleichzeitig zu<br />
versuchen, mit ihrer Mutter eine neue Beziehung aufzubauen.<br />
Die eisige Atmosphäre wurde nicht besser, <strong>als</strong> sie zwei<br />
Tage danach die Bernsteins in ihrem Landhaus in Kent besuchten.<br />
Begaben sich <strong>Ingrid</strong> und Pia auf einen Spaziergang,<br />
folgte ihnen Petter im Abstand von fünfzig Schritten, um sie<br />
nie aus den Augen zu lassen. Als <strong>Ingrid</strong> mit Pia vor dem Fernseher<br />
sass, hielt sich Petter in einem angrenzenden Durchgang<br />
auf, <strong>als</strong> wollten die beiden aus dem Haus bolzen – <strong>als</strong><br />
wartete ein Privatflugzeug auf dem Feld nebenan auf sie, um<br />
mit ihnen Gott weiss wohin zu flüchten.<br />
Schliesslich, nach nur dreitägigem Besuch, verkündete<br />
Petter, dass er nun mit Pia seine Verwandten in Schweden<br />
besuchen werde. <strong>Ingrid</strong> bat um etwas mehr Zeit, aber Petter<br />
blieb s<strong>tu</strong>r. Sie habe sein Leben ruiniert, sagte er kalt; er hätte<br />
schon seit langem eine Universitäts-Professur, aber das internationale<br />
Geschwätz habe seine Karriere aufgeschmissen. Er<br />
habe für sie alles getan, behauptete er, und sie habe dafür nur<br />
442
Undank gehabt. Er wisse auch, dass sie zu endloser Perversion<br />
fähig und vertrauensunwürdig sei – daher auch seine Überwachung<br />
Pias und die Verweigerung eines längern Besuchs. Nach<br />
Aussagen <strong>Ingrid</strong>s und ihrer Gastgeber, weinte sie praktisch<br />
nur noch und ihr Abschied von Pia war noch Formsache.<br />
"Das Kind war wundervoll", schrieb <strong>Ingrid</strong> Irene Selznick<br />
von Rom aus. "So ruhig bei alledem. So heiter. Sie spricht<br />
von R<strong>ob</strong>erto und dem Baby völlig unbelastet. Alles tönt so natürlich<br />
und einfach, wenn du ihr zuhörst. Sie liebt mich (ich<br />
bete darum) aber sie liebt ihren Vater wohl mehr, weil sie sich<br />
um ihn kümmern muss....Sie hat nichts dagegen, hierher zu<br />
kommen, im Gegenteil, sie hätte Freude daran, aber sie versteht,<br />
dass es ihren Vater schmerzt, so bat sie mich, Geduld zu<br />
haben!"<br />
GERADE SO, WIE INGRID MIT ROBERTO Geduld haben<br />
musste, der das Geld für die Finanzierung von "Europa 51" bis<br />
im Okt<strong>ob</strong>er nicht zusammenbrachte. Schliesslich kamen Carlo<br />
Ponti und Dino de Laurentiis <strong>als</strong> Produzenten an Bord, worauf<br />
die Dreharbeiten in einem sehr heissen Okt<strong>ob</strong>er begannen.<br />
Erinnerungswürdig nur <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong>s Portraits<strong>tu</strong>die – sanft aber<br />
eindrücklich hübsch, wehmütig, traurig, entschlossen, belustigt,<br />
verängstigt – litt der Film im übrigen an zu abrupten<br />
Wechseln, unklaren Motivationen und einem merkwürdigen<br />
Mix aus religiöser Überzeugung, sozialem Gewissen, politischer<br />
Wut und ungeschminktem Prediger<strong>tu</strong>m.<br />
Rossellini schien nie ganz sicher zu sein, <strong>ob</strong> er eine Geschichte<br />
über einen weiblichen San Francesco erzählt, den<br />
eine Tragödie in einen selbstlosen Heiligen verwandelt, oder<br />
<strong>ob</strong> er eine Meditation über die Tugenden der sozialen Revolution<br />
hält ("Wenn du jemandem die Schuld am Selbstmord deines<br />
Sohnes geben musst, dann gib sie der Nachkriegs-<br />
Gesellschaft!", schreit ein sympathischer Kommunist in der<br />
Geschichte). In erster Linie scheint der Film die Italiener dazu<br />
aufzufordern, reihenweise Kinder zu haben: Giulietta Masina<br />
spielt eine mittellose Frau, die in einem Glückswahn lebt, weil<br />
443
sie (ohne Ehemann) für eine Gruppe allerliebster Kinder sorgt<br />
und jedermann auffordert, Kinder bis zum Geht-nicht-mehr zu<br />
zeugen.<br />
Bei seinem Erscheinen im folgenden Jahr fand "Europa<br />
51" bei den Italienern Gefallen und wurde zum grossen Erfolg.<br />
Aber überall sonst wurde der Film nur ignoriert, und es fällt<br />
nicht schwer, den Grund dafür zu finden. Auf jeden Fall sahen<br />
die Rossellinis keine Lira Profit daraus, denn R<strong>ob</strong>erto hatte<br />
seine Rechte daran verkauft, um Schulden bezahlen zu können.<br />
Darin lag eine traurige Ironie, denn einige von R<strong>ob</strong>ertos<br />
engsten Teilhabern gingen davon aus, dass er <strong>Ingrid</strong> in diesem<br />
Film im Interesse der Kasseneinnahmen eingesetzt habe. Als<br />
er schliesslich unter dem Titel "The Greatest Love" 1954 nach<br />
Amerika kam, war es in den vergangenen vier Jahren (seit<br />
"Stromboli") der erste <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>-Film, der dort wieder<br />
zu sehen war. Wie das Publikum dam<strong>als</strong> und später feststellte,<br />
zeigte der Film (aufgenommen, <strong>als</strong> sie 36 war) eine Stärke<br />
und reife Schönheit in <strong>Ingrid</strong>, die noch während Jahren Bestand<br />
haben sollte.<br />
Die Produktion von "Europa 51" war ein Albtraum. Von<br />
R<strong>ob</strong>erto instruiert, ihren Dialog zu erfinden, während die Szene<br />
gedreht wurde, fand sie keine Worte. Sie versuchte es,<br />
aber gute Schauspieler brauchen eben gute Autoren und ihr<br />
wurde keiner gegeben. Verschlimmert wurde die Sache noch<br />
durch den Umstand, dass Rom im Griff einer entsetzlichen<br />
Hitzewelle war, weshalb R<strong>ob</strong>erto beschloss, nachts zu drehen<br />
und die Schauspieler tagsüber zu Bett zu schicken – <strong>ob</strong>wohl<br />
<strong>Ingrid</strong> während des Tages bei R<strong>ob</strong>ertino sein wollte. Ausserdem<br />
fiel sie einer schweren Erkäl<strong>tu</strong>ng zum Opfer, die sie während<br />
Wochen nicht los wurde. Und schliesslich und endlich<br />
mussten die Dreharbeiten diesen Herbst mit aller Eile vorangetrieben<br />
werden bevor sich <strong>Ingrid</strong>s Erscheinung dramatisch<br />
veränderte: sie war wieder schwanger. Wie sie ihren Freunden<br />
erzählte, gehörten die Geburten und die Erziehung von Rossellinis<br />
Kindern zu den glücklichsten Erfahrungen ihrer Zeit in<br />
Italien. Die Filme allerdings nicht.<br />
444
ALS SIE HOLLYWOOD VERLIESS, machte sich <strong>Ingrid</strong><br />
grosse Hoffnungen auf eine neue Aera ihrer Karriere, aber von<br />
Anfang an war klar, dass sie sich hinsichtlich ihrer Tauglichkeit<br />
für Rossellinis Arbeitsweise schwer verschätzt hatte. Die Produktion<br />
von "Stromboli" ist zu einer schrecklichen Enttäuschung<br />
geraten – doch <strong>Ingrid</strong> war bereits schwanger und auf<br />
Rossellini <strong>als</strong> die einzige Quelle angewiesen, die ihr Kraft und<br />
Schutz bot. Die Filme, die sie danach mit ihm drehte, waren<br />
gleichermassen enttäuschend, und – noch nicht ganz vierzig –<br />
akzeptierte sie gefasst, dass sie die Kontrolle über den weiteren<br />
Verlauf ihrer Karriere verloren hatte.<br />
Da sass sie <strong>als</strong>o – ihre Karriere blockiert, ihre Talente<br />
unterfordert und unbeachtet, die Beziehung zu ihrer Tochter in<br />
Gefahr, ihre weltweite Popularität im Schwinden begriffen, ihre<br />
einzige Beschäftigung die Haushaltaufgaben einer bürgerlichen<br />
Mutter. Am schlimmsten aber der Umstand, dass die Ehe, für<br />
die sie so viel aufgegeben hatte, schnell schal wurde und ihr<br />
R<strong>ob</strong>erto, wie sehr sie dringend auf einen finanziellen Erfolg<br />
angewiesen gewesen wären, nicht erlaubte, mit einem andern<br />
Regisseur zu arbeiten – was sie im Interresse ihrer gegenseitigen<br />
Beziehung auch nicht erzwingen wollte. Mit andern Worten:<br />
ihre derzeitige Lage war nichts anderes <strong>als</strong> eine Variante<br />
zu ihrer Ehe mit Petter.<br />
Als Künstlerin war <strong>Ingrid</strong> immer gierig auf Arbeit – oder<br />
dann auf's Reisen, wenn kein Projekt sie beschäftigte. Jene<br />
Projekte, die in den frühen Fünfzigerjahren auf sie zukamen,<br />
liessen befürchten, dass sie angesichts des plötzlichen Verblassens<br />
ihrer Karriere zusehends von ihrem Ehemann wegdriftete.<br />
Doch trotz ihres momentanen beruflichen Elends und<br />
des Umstands, dass ihr ihre Mutterpflichten keinen genügenden<br />
Ersatz dafür boten, hatte sich in ihrem Verhalten etwas<br />
geändert. Sie war fast verbissen entschlossen, dieser Ehe nun<br />
den Bestand zu sichern und sich ausserdem <strong>als</strong> gute Mutter zu<br />
erweisen. Und so übernahm sie klaglos die wohl ungewöhnlichste<br />
Rolle ihres Lebens, die der Signora Rossellini, der sie<br />
sich auch mit Brillanz <strong>als</strong> gewachsen erwies.<br />
445
In der strengen schwedischen Filmtradition der 1930er-<br />
Jahre erzogen, wurde sie in den Vierzigerjahren durch die anspruchsvolle<br />
Hollywood-Routine vom Erfolg gekrönt. Niemand<br />
und nichts hatte sie auf Rossellini vorbereitet – ausser vielleicht<br />
ihre erste Ehe. War sie während eines Dutzends von<br />
Jahren einem diktatorischen Ehemann unterworfen, fand sie<br />
sich jetzt in einer ähnlichen Si<strong>tu</strong>ation. War ihre bisherige Reaktion<br />
darauf Flucht, so verharrte sie jetzt an der Stelle, zu<br />
der sie von ihrem Schicksal geführt wurde – worüber sich <strong>Ingrid</strong><br />
<strong>Bergman</strong> selbst am meisten gewundert haben mag. Über<br />
ihre tiefe Frustration während ihrer Jahre in Italien erzählte sie<br />
nur, dass sie zwar wieder zu überfuttern begann, von ihren<br />
Pr<strong>ob</strong>lemen und ihrem Kummer aber schlank gehalten wurde;<br />
"die Spaghetti konnten mir nichts anhaben – ich wurde dünner<br />
und dünner". Wohlgemerkt, natürlich, vor und nach ihren<br />
Schwangerschaften. Als 1952 die Wintertage länger wurden<br />
und der Frühling nahte, war <strong>Ingrid</strong> ungewöhnlich breit – eine<br />
Entwicklung, die ihr einige Sorge bereitete, bis ihr Arzt ihr bestätigte,<br />
dass sie Zwillinge erwartete.<br />
Die Geburt der Kinder wurde im Juni erwartet, weshalb<br />
<strong>Ingrid</strong> im April einem Gericht in Los Angeles beantragte, ihr<br />
Pia während des Sommers zu überlassen, gegen Petters<br />
starrh<strong>als</strong>ige Versicherung, sie aus Angst vor Rossellinis Einfluss<br />
nie nach Italien gehen zu lassen. Es sei weder möglich<br />
noch sinnvoll, die Neugeborenen für einen Besuch in Kalifornien<br />
zurückzulassen, erklärte <strong>Ingrid</strong>; ausserdem könnten die<br />
öffentlichen Reaktionen auf ihre Rückkehr nach Amerika für<br />
Pia sehr unangenehm sein.<br />
Unter andern Freunden und Kollegen setzte sich David<br />
Selznick bei Gericht sehr intensiv für <strong>Ingrid</strong> ein. Er und Irene<br />
hatten <strong>Ingrid</strong> mehrfach in Rom und Santa Marinella besucht,<br />
weshalb er einen typischen, in Länge und Inhalt eindrücklichen<br />
Brief an den mit dem Fall betrauten Richter sandte. <strong>Ingrid</strong> und<br />
R<strong>ob</strong>erto seien die aufopferndsten Eltern, behauptete er, während<br />
Lindström offensichtlich ein verbittert rachsüchtiger Vater<br />
sei, dem es nur darum gehe, Pias Beziehung zu ihrer Mutter<br />
zu zerstören. Selznick stellte die rhetorische Frage, wie lange<br />
446
sie denn noch leiden müsse, wie lange noch ausharren in der<br />
Rolle der schuldbeladenen Magdalena.<br />
Dann fand sich aber ein noch wertvollerer Zeuge für<br />
<strong>Ingrid</strong>s Charakter und R<strong>ob</strong>ertos heiles Heim in der Person von<br />
Richter Thurmond Clarke, der Lindström 1950 die Scheidung<br />
gewährte. Er hatte die Rossellinis einmal in Santa Marinella<br />
besucht und bestätigte, dass Pia in einer sicheren und liebevollen<br />
Umgebung aufgenommen würde: "Ich würde sagen,<br />
dass das Verhalten der Rossellinis ihren Kindern gegenüber<br />
(R<strong>ob</strong>ertino und Renzo, der auf Besuch weilte) liebevoll und<br />
aufopfernd ist. Es war, was Sie <strong>als</strong> 'glückliches Familienleben'<br />
bezeichnen würden." Er könnte noch beigefügt haben 'ein<br />
fröhlich-chaotisches', wie es sich für R<strong>ob</strong>erto geziemt. Das<br />
Hauspersonal in Santa Marinella wurde ergänzt durch sechs<br />
Hunde, eine Schar Hühner, die frei ums Haus herum streiften,<br />
einige Möven und was immer sich sonst noch an fremden Krea<strong>tu</strong>ren<br />
aus der Umgebung des Hauses dazu entschloss, dem<br />
Anwesen einen längeren Besuch abzustatten.<br />
Petter seinerseits reichte inzwischen eine einundzwanzigseitige<br />
eidesstattliche Erklärung ein, mit welcher er den<br />
Antrag seiner Frau auf Gewährung des erbetenen Besuchsrechts<br />
seiner Tochter zurückwies – und zur Dokumentation<br />
seiner moralischen Erniedrigung fügte er gleich noch <strong>Ingrid</strong>s<br />
Brief an ihn vom 3. April 1949 hinzu, den sie ihm vom Albergo<br />
Luna Convento aus schrieb ("Lieber Petter, es wird dir sehr<br />
schwer fallen, dieses zu lesen....").<br />
Die Unterstützung, die <strong>Ingrid</strong> von Selznick, Clarke und<br />
andern erhielt, war nutzlos und ihr Antrag wurde abgelehnt,<br />
denn Petter hatte sich noch mit dem psychiatrischen Gutachten<br />
eines Psychiaters namens Charles S<strong>tu</strong>rdevant bewaffnet,<br />
welches bestätigte, dass eine Reise nach Italien für Pia eine<br />
emotionale Gefahr darstellen würde. Was er verschwieg, war<br />
Petters Bemerkung zu einem Kollegen, wonach er (Petter) "im<br />
Falle einer Anfrage an Pia schon dafür sorgen würde, dass sie<br />
eine Reise nach Italien selbst ablehnen würde."<br />
447
Und genau das tat Pia, dam<strong>als</strong> nicht ganz vierzehnjährig,<br />
am 13. Juni vor Gericht. "Ich liebe meine Mutter nicht",<br />
sagte sie stoisch. "Ich mag sie...ich will nicht nach Italien reisen...ich<br />
möchte lieber bei meinem Vater leben...ich denke,<br />
meine Mutter kümmert sich nicht gross um mich." Jahre später<br />
erklärte Pia zum Hintergrund dieses traurigen Tages: "Mein<br />
Vater hat mich vollkommen in der Hand gehabt – mit meinem<br />
Einverständnis. Er war verzweifelt, und ich fühlte, dass ich<br />
alles war, was er hatte." Der Richter lehnte <strong>Ingrid</strong>s Antrag auf<br />
einen Sommerferienbesuch ihrer Tochter ab, die ihre Mutter<br />
bis 1957 nicht mehr zu sehen bekam. *)<br />
Nach Beendigung der letzten Phase dieses Trauerspiels<br />
kehrten Petter und Pia in ihr neues Heim in Pittsburgh zurück,<br />
wo er den Posten des Chefs der Neurochirurgischen Abteilung<br />
des Aspinwall Veterans Hospital versah und ein Forschungsprojekt<br />
über Gehirnstörungen an der Universität von<br />
Pittsburgh leitete. Seine Karriere blühte dam<strong>als</strong> während einiger<br />
Jahre auf. 1954, mit siebenundvierzig Jahren, heiratete er<br />
Dr. Agnes Rovnanek, eine um einundzwanzig Jahre jüngere,<br />
begabte Ärztin. Als erfahrene und leidenschaftliche Pädiaterin<br />
wurde sie später klinische Professorin im öffentlichen Gesundheitswesen.<br />
Dr. Rovnanek schenkte Petter vier Kinder, und<br />
nach über vierzig Jahren waren sie noch immer ein glückliches<br />
Paar, das sich der beiden nächsten Generationen der Familie<br />
erfreute.<br />
AM 8. JUNI 1952 GEBAR INGRID in Rom Isabella Fiorella<br />
Elettra Giovanna und Isotta <strong>Ingrid</strong> Frieda Giuliana, die immer<br />
<strong>Ingrid</strong> genannt wurde. Diesen Sommer kam Signe Hasso<br />
zu Besuch. "Ich konnte diesen Unsinn, <strong>Ingrid</strong> sei eine schlechte<br />
Mutter, nie verstehen", erinnerte sie sich später. "Sie war<br />
ihren Kindern eine wundervolle Mutter und stets dafür besorgt,<br />
dass sie gut umsorgt und ausstaffiert waren. Gewisse<br />
*) Als Pia das U.S.-Bürgerrecht erhielt, wollte sie sich Jenny Ann nennen.<br />
Doch schloss sie nach und nach mit ihrem Taufnamen Frieden und nahm<br />
diesen wieder auf.<br />
448
Leute sagen, dass wir in unserem Beruf <strong>als</strong> Schauspieler keine<br />
Kinder haben sollten – wir immer viel zu beschäftigt seien<br />
– natürlich ist da auch etwas Wahres dran. Aber die Behaup<strong>tu</strong>ng,<br />
sie sei nachlässig gewesen, ist absolut lächerlich."<br />
Dass <strong>Ingrid</strong> nicht nach Amerika fuhr, um ihre Tochter<br />
zu sehen – und wäre es nur für einen kurzen Besuch während<br />
den kommenden Jahren gewesen, war nicht nur der Angst vor<br />
einer unangenehmen Si<strong>tu</strong>ation bei der Einreise (eine Ausflucht,<br />
deren Glaubwürdigkeit von Saison zu Saison verblasste)<br />
oder auch nur der Gefahr von negativer Werbung für sie<br />
und Pia zuzuschreiben.<br />
Der einzige Verhinderungsgrund für ein Zusammentreffen<br />
mit ihrer Tochter war R<strong>ob</strong>erto, der <strong>als</strong> ihr Lebenspartner so<br />
s<strong>tu</strong>r und dominant war, wie Petter. "Niemand wird je R<strong>ob</strong>ertos<br />
eisernen und wütenden Willen verstehen", sagte sie später,<br />
"ich war unfähig, gegen seinen Willen wegzufahren." Wäre sie<br />
gegangen, hätte sie bei ihrer Rückkehr eine gewalttätige Szene<br />
erlebt, denn R<strong>ob</strong>erto sagte, er würde einen solchen Besuch<br />
<strong>als</strong> Verrat betrachten, der ihrer Ehe irreparabeln Schaden zufügen<br />
würde. So blieb sie eben, zerrissen zwischen zwei gegensätzlichen<br />
Loyalitätspr<strong>ob</strong>lemen – und versenkte ihren<br />
Kummer in der intensiven Hinwendung zu ihren drei Jungen.<br />
Im Bestreben, keinen Schaden zu riskieren, beugte sie<br />
sich R<strong>ob</strong>ertos Eifersucht so, wie sie Petters gönnerhafte<br />
Herrschsucht akzeptierte. Bei wenigstens einigen Gelegenheiten<br />
während den sieben Jahren, die sie zusammen waren,<br />
wurde R<strong>ob</strong>erto gewalttätig. Er hatte Wutanfälle, sagte sie später,<br />
Episoden, die sie in Angst und Schrecken versetzten. Einmal,<br />
auf dem Höhepunkt seiner Raserei, sprang sie zu ihm<br />
und umarmte ihn, um ihn mit einer unterwürfigen Geste zu<br />
beruhigen – "doch klatsch! warf er mich so hart gegen die<br />
Wand, dass ich hätte zu Bruch gehen können. Ich konnte<br />
nichts machen. Nur in seine Nähe zu kommen, war lebensgefährlich."<br />
449
Es war eine bittere und anwachsende Ironie des<br />
Schicks<strong>als</strong>, dass sie Pia in Hollywood <strong>als</strong> eine Art Last und Eindringling<br />
in ihre Karrierepläne empfand, während ihre Rossellini-Kinder<br />
für sie einen Hort der Zuflicht und der erbaulichen<br />
Verantwor<strong>tu</strong>ng in Italien darstellten, wo ihre Karriere so enttäuschend<br />
verlief. Ein aussagekräftiges Beispiel dafür wurde<br />
vom Journalisten William Safire, dam<strong>als</strong> Armee-Korporal beim<br />
American Forces Network, aufgezeichnet. Wie dieser sich später<br />
in allen Einzelheiten erinnerte, berichtete sie lebhaft und<br />
aufgestellt über ihre Arbeit und ihr Leben – bis Rossellini den<br />
Raum betrat und sie einen abrupten Wandel vollzog, indem sie<br />
unterwürfig wurde und ihm in allem und jedem beipflichtete,<br />
<strong>als</strong> fürchtete sie sich, sich in Gegenwart ihres Mannes selbst<br />
auszudrücken.<br />
Im zweiten Halbjahr 1952 war <strong>Ingrid</strong> Vollzeitmutter,<br />
während R<strong>ob</strong>erto sich darauf vorbereitete, im Dezember in der<br />
San Carlo Opera in Neapel eine Produktion von Verdis "Othello"<br />
zu leiten. Auf der Reise dorthin trafen die Rossellinis zufälligerweise<br />
den Dichter Paul Claudel und den Komponisten<br />
Arthur Honegger. <strong>Ingrid</strong> besass eine Aufzeichnung von deren<br />
religiösem Oratorium "Jeanne d'Arc au Bûcher" , das 1938<br />
uraufgeführt wurde, und <strong>als</strong> sie ihre Bewunderung dafür zum<br />
Ausdruck brachte, schlugen ihr die Autoren vor, es auf einer<br />
Europa-Tournée aufzuführen. Die Rolle der Jeanne war keine<br />
Singrolle; Chor und Orchester sorgten für die Musik, während<br />
Jeanne in Versen über ihr Leben und den Prozess meditierte.<br />
R<strong>ob</strong>erto erkannte, dass sich hier seiner Frau eine ideale Chance<br />
bot, weshalb man übereinkam, das Projekt später im Jahr<br />
an die Hand zu nehmen. Wen wundert's, dass sich <strong>Ingrid</strong> für<br />
das Projekt begeistern konnte? "Da war sie ja, meine liebste<br />
Heilige kam mir einmal mehr zu Hilfe!"<br />
Während der Vertrag ausgehandelt wurde, schwamm<br />
<strong>Ingrid</strong> im Meer und spielte mit ihrer Nichte Fiorella, jetzt siebzehnjährig<br />
und wie eine Tochter zu ihr, Ping-Pong. <strong>Ingrid</strong><br />
sprach schon ausgezeichnet Italienisch und arbeitete fleissig<br />
an ihrem Französisch, denn für R<strong>ob</strong>erto stand fest, dass sie<br />
eines Tages ein Appartement in Paris haben und dort filmen<br />
450
würden. So konnte sie es mit der Aussicht auf gute Arbeit akzeptieren,<br />
unter R<strong>ob</strong>ertos dauernder Kontrolle zu leben.<br />
MIT LEERER KASSE, WIE IMMER, startete R<strong>ob</strong>erto am<br />
5. Februar 1953 in Neapel einen neuen Film; die Mittel dazu<br />
kamen von einem Mailänder Industriellen, der sich für "Open<br />
City" begeistert hatte. Wie sich <strong>Ingrid</strong> erinnerte, "begann R<strong>ob</strong>erto<br />
ohne Script, ja er hatte nicht einmal ein Konzept, nur<br />
gerade eine Idee ohne ein Ende!" George Sanders, ihr Co-Star<br />
in "Rage in Heaven" vor zwölf Jahren, wurde hergeholt, um<br />
ihren Konterpart zu spielen, und sehr bald stand er vor einem<br />
Nervenzusammenbruch. Noch mehr <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> zuvor trieb ihn<br />
R<strong>ob</strong>ertos Arbeitsmethode zur Verzweiflung, was auch Frühschichten<br />
in den Rossellini-Hotelsuiten in Neapel, auf dem<br />
Lande oder auf Capri (wo R<strong>ob</strong>erto einige Szenen drehen wollte,<br />
weil er einen Vorwand zum Harpunenfischen brauchte) mit<br />
einschloss. Alles rannte herum, ohne viel zu <strong>tu</strong>n – ein Produzent,<br />
ein Autor, zwei Assistenten und die drei herumwirbelnden<br />
Kinder – und <strong>Ingrid</strong> versuchte, alles im Griff zu behalten.<br />
Nach zwei Wochen begrub Sanders seine Hoffnung, die Dreharbeiten<br />
würden endlich seriös aufgenommen. Dieser Zustand<br />
zog sich über drei Monate hin, meistens völlig unproduktiv,<br />
weil R<strong>ob</strong>erto sich verschlief, Karten spielte und generell alles<br />
verschleppte.<br />
Auf zwei Uhr nachmittags angesetzte Szenen mit Sanders<br />
wurden auf morgen drei Uhr früh versch<strong>ob</strong>en, weil R<strong>ob</strong>erto<br />
nicht die entfernteste Idee hatte, wie es weitergehen sollte;<br />
von Tag zu Tag versch<strong>ob</strong>ene Szenen wurden schliesslich gestrichen,<br />
nachdem R<strong>ob</strong>erto es vorgezogen hatte, mit seinem<br />
Ferrari ein Privatrennen Neapel-Rom zu veranstalten. Nachgerade<br />
war Sanders über seine Untätigkeit, das fehlende Script<br />
und die allgemeine Führungslosigkeit so wütend, dass er verlangte,<br />
seine Frau nachkommen zu lassen. Mit der Ankunft<br />
von Zsa Zsa Gabor erreichten die chaotischen Zustände einen<br />
neuen Höhepunkt. Aber niemand hatte einen Nutzen davon –<br />
ausser vielleicht <strong>Ingrid</strong>, die zu den Kindern flüchtete. Ihre alte<br />
451
Flamme Larry Adler kam dieses Frühjahr für ein paar Tage zu<br />
Besuch: "Ich konnte sehen, dass sich Rossellini keinen Deut<br />
um <strong>Ingrid</strong>s berufliches Ansehen kümmerte, aber nicht, wie sie<br />
sich dabei fühlte. Aber sie spielte mit, machte den Film und<br />
nahm sich ihrer Kinder an."<br />
"Viaggio in Italia", wie der Film schliesslich genannt<br />
wurde, schlug in den Fünfzigerjahren keine grossen Wellen.<br />
Die Geschichte eines englischen Ehepaars, das in seinen Ferien<br />
in Italien mit der Leere einer toten Ehe konfrontiert wird,<br />
wirkt mehrheitlich wie ein Reisebericht auf der Suche nach<br />
Dialogen. Der Mann entscheidet sich für eine Scheidung, aber<br />
nachdem sie von einem religiösen Fest mitgerissen werden<br />
und die Menge "Wunder! Wunder!" schreit, erkennen die beiden<br />
(weshalb, bleibt ein Geheimnis) wie sehr sie auf einander<br />
angewiesen sind. Ende der sogenannten Geschichte. Wie verworren<br />
sie war, mag schon daraus hervorgehen, dass <strong>Ingrid</strong><br />
stets der Meinung war, das letzte Wunder sei der Umstand,<br />
dass die beiden die Liebe entdeckt hätten. R<strong>ob</strong>erto seinerseits<br />
bestand für den Rest seines Lebens darauf, "dass den beiden<br />
die Augen geöffnet wurden und sie erkannten, dass sie sich<br />
nicht liebten."<br />
Die Kritiken geisselten den Film <strong>als</strong> s<strong>tu</strong>mpf und langweilig,<br />
sein Script <strong>als</strong> armselig, die Regie <strong>als</strong> inkompetent,<br />
Redaktion, Schnitt und Montage <strong>als</strong> abscheulich. <strong>Ingrid</strong> wirkte<br />
nervös und steif, was der Figur durchaus gerecht wurde, die<br />
zumeist gezeigt wurde, wie sie Museumshallen und leere Villen<br />
durchstreifte. "Viaggio in Italia" wurde später aus unerklärlichen<br />
Gründen von der French New Wave in den Himmel gerühmt<br />
und ist aber ein Triumph der Geist tötenden, eleganten<br />
Leere. "Wir wussten nie, was wir <strong>als</strong> Nächstes <strong>tu</strong>n würden",<br />
verkündete R<strong>ob</strong>erto stolz. "Die Dinge fügten sich wie von<br />
selbst zusammen!" Nein, taten sie eben nicht.<br />
Eine kürzere und leichtere Episode der <strong>Bergman</strong>-<br />
Rossellini-Kooperation spielte sich noch vor Jahresende ab.<br />
R<strong>ob</strong>erto war eingeladen, einen kurzen komischen Sketch zum<br />
Anthologiefilm "Wir Frauen" beizusteuern, und wie üblich be-<br />
452
schloss R<strong>ob</strong>erto, sich die Sache einfach zu machen. Er baute<br />
die Kamera in Santa Marinella auf und dokumentierte einen<br />
Nachmittag im Alltagsleben seiner Frau in der Küche, wie sie<br />
sich mit einem Huhn herumschlägt, das ständig an ihren<br />
Lieblingsrosen naschte. Das war für <strong>Ingrid</strong>, die mit trockenem<br />
Ernst ihre Abneigung gegenüber dem Huhn zum Ausdruck<br />
brachte, offensichtlich ein mächtiger Spass; diesmal hatte die<br />
Anweisung ihres Mannes, den Dialog aus dem Stegreif zu führen,<br />
Erfolg. Mit geschickt inszeniertem, spontanem Witz murrte<br />
und schimpfte <strong>Ingrid</strong> hinter dem Huhn her, und mit einem<br />
maliziösen Grinsen drehte sie sich zur Kamera um, der sie<br />
anvertraute, dass sie nun den Hund auf den Vogel hetzen<br />
werde. Auch der dreijährige R<strong>ob</strong>erto hatte hier einen Mini-<br />
Auftritt.<br />
Im November 1953 hatte Rossellinis Bühnenstück<br />
"Jeanne d'Arc au Bûcher" in seinem "glücklichen Theater",<br />
dem Teatro San Carlo in Neapel, Premiere. Dem Stück war in<br />
Italien ein riesiger Erfolg beschieden, und weil <strong>Ingrid</strong> es liebte<br />
und R<strong>ob</strong>erto Geld brauchte wurde es noch für Palermo, Mailand,<br />
Paris, Barcelona, London und Stockholm gebucht – w<strong>ob</strong>ei<br />
<strong>Ingrid</strong> den Text schnell in fünf Sprachen lernen musste.<br />
"Sie lesen es so locker", stellte Honegger anerkennend fest.<br />
"Wer immer die Rolle schon gespielt hat, verfiel in übertriebene<br />
Dramatik und passte sich der Musik an." Claudel fügte lächelnd<br />
bei: "Aber Sie ncht." Das sei der Höhepunkt ihres Lebens<br />
gewesen, sagten diese gebrechlichen alten Männer. Beide<br />
starben 1955; <strong>Ingrid</strong> blieb ihren Familien sehr verbunden.<br />
Aber die Berichte ausserhalb Italiens fielen kühl aus,<br />
denn Rossellini hatte es versäumt, im Oratorium jenen Punkt<br />
anzusteuern, in dem die Handlung hauptsächlich von den<br />
Sängern getragen wird und <strong>Ingrid</strong> nahezu bewegungslos in<br />
mystischer Ruhe hätte verharren müssen. Sie war nie ausdrucksstärker<br />
<strong>als</strong> in den Szenen am Scheiterhaufen, aber im<br />
Laufe des Weiterzugs der Kompanie von Stadt zu Stadt wurde<br />
die Vorstellung flacher und flacher bis sie kaum noch mehr <strong>als</strong><br />
ein dramatischer Abend unter Rossellinis Lei<strong>tu</strong>ng war. Fasziniert<br />
vom Einsatz von Hintergrundprojektionen und vielleicht<br />
453
auch vom Gedanken an den neorealistischen Film verlor er<br />
den Bezug zum intimen, meditativen Wesen des Oratoriums.<br />
Die Kritiker bemängelten die Produktion <strong>als</strong> unbeholfen<br />
und statisch, doch <strong>Ingrid</strong> erhielt beachtliches L<strong>ob</strong>. Mitten in<br />
der Tournée sorgte R<strong>ob</strong>erto für eine Filmaufzeichnung; später<br />
erklärte er kurz und bündig, "es sei ein totaler Flop gewesen,<br />
den niemand habe sehen wollen. Basta!" <strong>Ingrid</strong> ergänzte: "Die<br />
Sprache musste synchron zur Musik gehen, und Rossellini achtete<br />
nicht sehr auf diesen Punkt. Er spielte die Musik im Playbackverfahren<br />
ein. In der Oper war das perfekt, aber im Film<br />
ging etwas daneben. Die Playback-Musik war ein Teil des<br />
Pr<strong>ob</strong>lems."<br />
Bezüglich ihres Einkommens erwähnte <strong>Ingrid</strong> in Briefen<br />
an Freunde, dass ihnen nach allen Spesen (sie hatten ihre drei<br />
Kinder und das Kindermädchen dabei) nicht mehr viel Bargeld<br />
übrig blieb. "Wenn ein guter Film entsteht, ist es wohl besser,<br />
sich nicht mehr vorzunehmen, <strong>als</strong> den Kindern neue Schuhe<br />
zu kaufen." Wie zu erwarten war, gab es auch Gemecker von<br />
Kolumnisten, die den Rossellinis vorwarfen, dass sie ihre noch<br />
kleinen Kinder quer durch Europa mit sich schleppten und sie<br />
einer derartigen Belas<strong>tu</strong>ng aussetzten. "Es ist nicht das erste<br />
Mal, dass ich solche Ratschläge zu hören bekomme", erwiderte<br />
<strong>Ingrid</strong>. "Ich habe Pia nie auf Tournée mitgenommen. Diesmal<br />
will ich meine Kinder aber bei mir haben!"<br />
R<strong>ob</strong>erto wollte wie üblich von einer Zusammenarbeit<br />
<strong>Ingrid</strong>s mit einem andern Regisseur nichts wissen – <strong>ob</strong>schon,<br />
wie ebenso üblich, bei <strong>Ingrid</strong> und Kay Brown wöchentlich Anfragen<br />
von europäischen Regisseuren eingingen, die <strong>Ingrid</strong><br />
nun erstm<strong>als</strong> selbst beantwortete. Die ersten Angebote kamen<br />
u.a. auch von Hollywood, von wo George Cukor schrieb um<br />
<strong>Ingrid</strong>s Interesse an einer Filmversion der Hawthorne-Novelle<br />
"The Marble Faun" zu erkunden. <strong>Ingrid</strong> musste ihm antworten,<br />
dass ihr Mann das Script gelesen und die italienische Version<br />
<strong>als</strong> völlig unglaubwürdig und unmöglich empfunden habe.<br />
Abgesehen davon, dass das Stück in Stil und Handlung mit<br />
Leichtigkeit hätte auf den Punkt gebracht werden können:<br />
454
Rossellini hat es abgeschmettert. Basta. Dies – wie ihr alter<br />
Freund Joe Steele zu berichten wusste – führte denn auch zu<br />
den ersten Rissen im Rossellini-Idyll.<br />
Inzwischen kam Rossellini mit einer Stefan Zweig-<br />
Geschichte mit Namen "Angst" daher, die sie 1954 in München<br />
(Wohnort der Produzenten) rasch in einer Pause der "Jeanne"-<br />
Tournée drehten. Nach mehrjähriger Pause betrachtet, wirkt<br />
"Angst" fast wie ein Erfolgsfilm. <strong>Ingrid</strong> (wieder mit Namen Irene,<br />
wie schon in "Europa 51") spielt die Rolle der Ehefrau eines<br />
erfolgreichen Wissenschafters und Industriellen. Sie hat<br />
sich einen Liebhaber zugelegt und wird nun von dessen früherer<br />
Mätresse erpresst – bis sie entdeckt, dass ihr Ehemann<br />
hinter der Erpressung steckt. Von ihren Kindern getrennt, die<br />
nach dem Willen ihres Mannes nun auf dem Land leben, und<br />
jetzt von Liebhaber und Ehemann verlassen, will sie sich das<br />
Leben nehmen, woran sie aber von diesem gehindert wird.<br />
"Ich liebe dich!" sagt sie sinnloserweise <strong>als</strong> sie sich umarmen.<br />
Ende der Geschichte.<br />
Mit etwas mehr Zuwendung zum Script und einem interessanteren<br />
Finale hätte "Angst" zu einer Art Renaissance für<br />
Rossellini werden können. Der Film verlief zügiger <strong>als</strong> jeder<br />
andere seit "Open City" (mit Ausnahme des kurzen hausgemachten<br />
Dokumentarstreifens in "Wir Frauen") und <strong>Ingrid</strong>s<br />
Spiel harmonierte gut mit dem ihrer Co-Stars. Speziell wirkungsvoll<br />
ist die zentrale Telefonszene: ihre Stimme zittert,<br />
<strong>als</strong> sie ihren Kindern ihre Liebe zum Ausdruck bringt und ihren<br />
bevorstehenden Selbstmord impliziert. Wie schon so oft,<br />
brachte sie einen Gefühlskonflikt mit minimalem Aufwand zum<br />
Ausdruck – ein Talent, das dam<strong>als</strong> von den wenigen Kritikern,<br />
die den Film gesehen hatten, erkannt wurde. Der Film selbst<br />
verschwand schnell und spurlos von der Bildfläche. Nachdem<br />
sie während zehn Tagen daran gearbeitet hatte, stand für <strong>Ingrid</strong><br />
fest, dass sie keinen weiteren Film mit ihrem Mann mehr<br />
drehen würde, dessen Selbstbewusstsein zu dieser Zeit völlig<br />
gebrochen war. Seine kreative Energie war am Boden zerstört.<br />
455
BOB CAPAS PLÖTZLICHER TOD im Mai 1954, <strong>als</strong> er einer<br />
Landmine in Indochina zum Opfer fiel, umnebelte <strong>Ingrid</strong>s<br />
Gemüt mit anhaltendem Kummer, der nur von den Kindern<br />
durchbrochen wurde. Sie hatte Capa während Jahren nicht<br />
mehr gesehen, doch ihre Zuneigung zu ihm hatte sich nach<br />
und nach in einer Ecke ihres Herzens eingenistet, wie sie Ruth<br />
und Kay schrieb. Und R<strong>ob</strong>erto, der auf alle seine Vorgänger<br />
eifersüchtig war, bot ihr keine Stütze.<br />
Am 2. Okt<strong>ob</strong>er kamen <strong>Ingrid</strong>, R<strong>ob</strong>erto, die Kinder und<br />
ein kleiner Stab von Helfern in London an, und drei Wochen<br />
später hatte "Joan of Arc at the Stake" Premiere im Stoll<br />
Theatre für insgesamt 29 Vorstellungen. Die Produktion wurde<br />
von den Kritikern allgemein <strong>als</strong> Synthese von Stilen, geschmäcklerisch<br />
erarbeitet und statisch bezeichnet. <strong>Ingrid</strong> wurde<br />
respektvoll (aber nicht überzeugend) gel<strong>ob</strong>t, w<strong>ob</strong>ei einige<br />
Stimmen sie <strong>als</strong> unverständlich und in schlechter Bühnenverfassung<br />
empfanden.<br />
ABER DIE REAKTION der Stockholmer Presse zu Beginn<br />
des folgenden Jahres war weit frostiger. "Jeanne", die am 17.<br />
Februar 1955 im Konserthus Premiere hatte, wurde von der<br />
Presse zerfetzt, und deren führender Kritiker nutzte die Gelegenheit,<br />
Charakter und Persönlichkeit der einheimischen Tochter<br />
zu demontieren. "Sie reist herum und stellt sich für Geld<br />
zur Schau", schrieb Stig Ahlgren im 'Vecko-Journalen'. "Der<br />
Zirkusdirektor ist Rossellini, mit dem sie drei Kinder und einen<br />
Rolls-Royce hat. Sie ist sehr gut bezahlt, <strong>ob</strong>schon sie nichts<br />
verdient, denn sie ist nicht einmal eine Schauspielerin, geschweige<br />
denn eine Künstlerin." Da gab es noch Schlimmeres,<br />
w<strong>ob</strong>ei praktisch alles auf ihr Privatleben abzielte; Ahlgren zum<br />
Beispiel ging so weit, <strong>Ingrid</strong>s hohe Absätze und die Kleidung<br />
der Kinder zu kritisieren.<br />
Nach Rücksprache mit Edvin Adolphson, mit dem sie ein<br />
freundschaftliches Wiedersehen hatte, beschloss <strong>Ingrid</strong>, zurückzuschlagen.<br />
Nach einer Wohltätigkeits-Matinée zugunsten<br />
von Kindern, die der in Schweden so schlimm verlaufenen Kin-<br />
456
derlähmungs-Epidemie zum Opfer fielen, wurde <strong>Ingrid</strong> eingeladen,<br />
die Gewinner einer Verlosung zu ziehen. Dann wandte<br />
sich Adolphson vereinbarungsgemäss an das Publikum: "<strong>Ingrid</strong><br />
<strong>Bergman</strong> möchte ein paar Worte an Sie richten." Ein Raunen<br />
von Überraschung und gespannter Aufmerksamkeit ging durch<br />
das Haus. "Würden Sie uns Bitte Ihre Eindrücke bei Ihrer<br />
Rückkehr nach Schweden schildern?"<br />
Bleich aber gefasst trat sie an die Rampe:<br />
"Ich bin sehr glücklich, wieder zuhause zu sein und<br />
wieder schwedisch sprechen zu können. Aber ein Trupp<br />
tapferer Ritter von der Presse preschte vor, um mich<br />
niederzumachen. Gestern las ich Stig Ahlgrens Artikel.<br />
Und überall werde ich angeklagt, nichts zu <strong>tu</strong>n ausser<br />
Publizität zu suchen. Aber nicht ich suche die Publizität!<br />
Ich schicke keine Fotographen los, die mich am Theater<br />
und im Hotel herumhetzen. Sie verdammen mich, weil<br />
ich ihnen nicht erlaube, meine Kinder zu<br />
fotographieren, und sie verdammen mich, weil ich den<br />
Widerstand schliesslich aufgab und einige Bilder freigab.<br />
Ich fühle mich wie Indras Tochter in Strindbergs<br />
"Dream Play" , deren Schicksal lautete: 'Schlagt sie,<br />
wenn sie antwortet, und schlagt sie, wenn sie<br />
schweigt!'<br />
Aber natürlich bin ich nicht die Einzige, die in diesem<br />
Land so behandelt wird – mit Garbo und andern war es<br />
nicht anders. Ich fürchte, die Schweden können nichts<br />
Ungewohntes akzeptieren – wie in Hans Christian Andersens<br />
Märchen, in welchem jeder, der Grösser ist <strong>als</strong><br />
die Menge, enthauptet wird, damit alle gleich gross<br />
sind.<br />
Ich wollte diese Gelegenheit benutzen, um zu Ihnen direkt<br />
sprechen zu können, nicht durch die Presse, die<br />
meine Worte nur verdrehen würde. Während der vergangenen<br />
sechs Jahre wurde ich dauernd von andern<br />
verleumdet, die mich verdammt und verurteilt haben,<br />
ohne das Geringste über mein Leben zu wissen. Ich<br />
457
458<br />
wollte, dass wenigstens Sie, liebe Leute, die unser Oratorium<br />
unterstützt haben, die Wahrheit wüssten."<br />
Damit trat sie zurück und verneigte sich vor dem Publikum,<br />
das nun mit den Füssen stampfte, klatschte, schrie und<br />
sich von den Sitzen erh<strong>ob</strong>. Ihr Triumph war perfekter <strong>als</strong> in<br />
der Vorstellung. Dennoch fanden böse Briefe ihren Weg in ihre<br />
Grand Hotel-Suite. "Sie haben mich zur Verzweiflung getrieben",<br />
kommentierte sie die hässliche Post. "Die seelische Belas<strong>tu</strong>ng,<br />
die mir meine Landsleute zumuten, raubt mir den<br />
Schlaf."<br />
ZUM SOMMERANFANG war die Tournée zu Ende, und<br />
die Rossellinis kehrten nach Rom zurück, wo sie eine Anfrage<br />
der rumänisch-französischen Schauspielerin Elvire Popesco<br />
erwartete, die nun Theater-Produzentin am Théâtre de Paris<br />
war. Tenessee Williams Stück "Katze auf dem heissen Blechdach"<br />
und R<strong>ob</strong>ert Andersons "Tee und Mitgefühl" sollten<br />
demnächst in Paris produziert werden: <strong>ob</strong> sie sich eine Rückkehr<br />
zur Bühne im einen oder andern dieser Stücke vorstellen<br />
könnte? Fraglos war <strong>Ingrid</strong>, die im August ihren 40. Geburtstag<br />
feierte, für die Rolle der Maggy in "Cat" zu alt. Aber die<br />
Rolle der Laura, des Rektors Gattin, die Tee und Mitgefühl anbietet<br />
und – wie in einer höchst delikaten Szene vor dem letzten<br />
Vorhang angedeutet wird - sich einem scheuen jungen<br />
Mann auch selbst anbietet, war für <strong>Ingrid</strong> massgeschneidert,<br />
weshalb sie sie unbedingt annehmen wollte. Deborah Kerr<br />
hatte in New York einen Riesenerfolg damit gehabt, und <strong>Ingrid</strong><br />
wollte es in Paris zu ihrem eigenen machen.<br />
Zunächst fürchtete Popesco, wie sich R<strong>ob</strong>ert Anderson<br />
nach Jahren erinnerte, einige kritische Stimmen, die bei der<br />
Erwähnung <strong>Ingrid</strong>s für diese Rolle bei Kritikern und Publikum<br />
laut wurden, sodass die Produzenten Anderson (dessen Frau<br />
dam<strong>als</strong> schwerkrank darniederlag) baten, mit den Rossellinis<br />
in Rom zu sprechen.
"Sie wünschte sehr, diese Rolle zu spielen", so Anderson,<br />
"und natürlich stimmte ich ihr sofort zu. Als ich in Rom<br />
war, hatte R<strong>ob</strong>erto von diesem Stück keine Ahnung, und er<br />
zog sich während unseres Gesprächs in einen andern Raum<br />
ihres Appartments zurück." Unmittelbar nach Andersons Abreise<br />
gab R<strong>ob</strong>erto seine Meinung zu "Tee und Mitgefühl" zum<br />
besten: "<strong>Ingrid</strong>, es ist Mist, wenn du es machst, wird es nach<br />
einer Woche aus sein!" Soviel zur Ermutigung unter Eheleuten.<br />
Auch hätte sich Rossellini nie dazu herabgelassen, für<br />
"Tee und Mitgefühl" Regie zu führen, wie Popesco und Anderson<br />
ursprünglich vorgeschlagen hatten, um <strong>Ingrid</strong>s Beteiligung<br />
zu sichern. R<strong>ob</strong>erto bereitete sich übrigens auf eine Reise nach<br />
Indien vor, wo er einen Dokumentarfilm zu produzieren gedachte,<br />
während sie die Kinder zu betreuen hatte. "R<strong>ob</strong>erto<br />
wünscht sich eine Frau, die zuhause sitzt und auf ihn wartet",<br />
sagte <strong>Ingrid</strong> dam<strong>als</strong>. "In seinen Augen bin ich eben sein Eigen<strong>tu</strong>m.<br />
Aber ich ertrage unseren unsicheren Von-der-Hand-inden-Mund-Lebensstil<br />
nicht. Wer weiss, hätten wir einen erfolgreichen<br />
Film zusammen gemacht, wäre es vielleicht anders.<br />
Ich muss zur Arbeit zurückkehren und er wird sich daran gewöhnen<br />
müssen. Ich muss etwas <strong>tu</strong>n – für mich selbst und um<br />
den Kindern Schuhe kaufen zu können. Unsere wachsenden<br />
Schulden belasten mich enorm."<br />
Die nachgerade offenkundige Disharmonie zwischen<br />
<strong>Ingrid</strong> und R<strong>ob</strong>erto verstärkte sich 1955 spürbar. Ihm bereitete<br />
der offensichtliche Zusammenbruch seiner Karriere zunehmende<br />
Angst, und noch mehr ängstigte ihn wohl die Möglichkeit<br />
einer Renaissance seiner Frau, käme sie dereinst von seinem<br />
Regiemonopol frei. "Er liebte den Streit", nach <strong>Ingrid</strong>, die<br />
erstm<strong>als</strong> von Mathias Wieman, ihrem Co-Star in "Angst" den<br />
Rat erhielt, diese Ehe zu beenden. Das stehe ausser Diskussion,<br />
antwortete sie dam<strong>als</strong>. Was würde aus ihm werden – und<br />
was aus ihren Kindern, die von jedem Gericht ihm zugesprochen<br />
würden? Was sie – nota bene – nicht beifügte, war, dass<br />
sie R<strong>ob</strong>erto noch immer liebte, weshalb man im Grunde genommen<br />
sagen müsste, die <strong>Bergman</strong>-Rossellini-Ehe sei ge-<br />
459
scheitert, weil ihre (Film-)Kunst gescheitert ist. Sein Versprechen<br />
an sie wurde nicht erfüllt, weshalb sich der Bund auflöste<br />
– genau wie ihre Ehe mit Lindström fallierte, <strong>als</strong> sein "Beitrag"<br />
zum leeren Geschäft wurde, ohne jeden Bezug zu ihrer künstlerischen<br />
Arbeit.<br />
SPÄTER DIESEN SOMMER ERHIELT SIE einen Anruf und<br />
dann einen Besuch von ihrem alten Freund Jean Renoir, der<br />
dabei war, speziell für sie ein Stück und ein Screenplay zu<br />
verfassen – eine Komödie mit Musik. Nun sass <strong>Ingrid</strong> in Santa<br />
Marinella am Meer und las ein wirkliches Drehbuch für einen<br />
Film mit historischen Kostümen, mit allen Angaben zur Vertonung,<br />
zu den Figuren des Films und den Darstellern – ein<br />
FILM!, akribisch vorbereitet, etwas, was sie seit sieben Jahren<br />
nicht mehr zu sehen bekam! Wann immer sie das Script beiseite<br />
legte und ihren Blick über das stille Wasser schweifen<br />
liess, entlockte ihr das ein ein Lächeln voll glücklicher Erwar<strong>tu</strong>ng<br />
auf das Kommende. Der Film mit Namen "Elena und ihre<br />
Männer" (der in Amerika "Paris Does Strange Things" genannt<br />
wurde) war eine gallische Farce über Prinzessin Elena<br />
Sorokowska (<strong>Ingrid</strong>), die mit Männern herumtrödelt, welchen<br />
sie damit erheblichen beruflichen Erfolg bringt: ein General<br />
(Jean Marais), der durch einen Staatsstreich zu einem wohltätigen<br />
Diktator werden will; ein junger Graf (Mel Ferrer), der<br />
sie wirklich liebt; und ein reicher, älterer Bürger (Pierre<br />
Bertin). Die Geschichte war wirr, unnötig verwickelt und gehaltlos<br />
– eine muntere Burleske über Chauvinismus, das französische<br />
Landleben und hohle Liebeleien – aber es war lebhaft<br />
und eingängig, und der Humor war ganau was sie jetzt<br />
brauchte. Mit andern Worten, es war völlig verschieden von<br />
der Kost, die ihr von Rossellini geboten wurde – der sie diesmal,<br />
wohl oder übel, wenn auch widerwillig gewähren liess.<br />
Seine Reise nach Indien war versch<strong>ob</strong>en worden, weshalb er<br />
sie mit den Kindern nach Paris begleitete.<br />
<strong>Ingrid</strong> bezog eine kleine Suite im Hotel Raphael, die<br />
während der kommenden Jahre oft zu ihrem Heim werden<br />
460
sollte, speziell wenn sie an der Bühne arbeitete. Ob sie Rom<br />
und Santa Marinella vermisste? Hatte sie denn je eines ihrer<br />
Heime in Stockholm und Beverly Hills vermisst? Nun, wann<br />
immer solche Diskussionen entstanden, erklärte sie, nie<br />
Heimweh nach früheren Lebensräumen gehabt zu haben. Zuhause<br />
war sie dort, wo sie eben war; von ihr könnte man sagen,<br />
was Marcia Davenport über Lena Geyer geschrieben hatte<br />
– "Sie war wirklich sentimental, aber nur mit ihren persönlichen<br />
Gefühlen, nicht mit Orten oder Dingen, auf die man sie<br />
durch eine echte Verbundenheit hätte fixieren können.<br />
KLAR – INGRID WAR WIEDER in ihrem Element in den<br />
Joinville S<strong>tu</strong>dios sechs Meilen ausserhalb von Paris. Mit ihrer<br />
gewohnt fleissigen Bereitwilligkeit lernte sie die Rolle in französischer<br />
wie auch in englischer Sprache für den Exportmarkt.<br />
In grossartige Gewänder gekleidet und in frisch-saftigem<br />
Technicolor fotographiert, sah sie bezaubernder aus, <strong>als</strong> je<br />
zuvor. Zeit und Kummer hatten ihrem Antlitz den Stempel von<br />
Stärke und Reife aufgedrückt – nicht aber von Härte – und<br />
ihre Lebhaftigkeit wurde von warmer Eleganz betont. Klugerweise<br />
machte Renoir eine polnische Prinzessin aus ihr, um ihr<br />
akzentiertes Französisch zu decken, das nun charmant statt<br />
störend wirkte.<br />
Die Produktion dauerte vom November 1955 bis Anfang<br />
März 1956, und natürlich wurde die Neuigkeit, wonach <strong>Ingrid</strong><br />
ohne Rossellini arbeitete, von der Weltpresse flugs<br />
herumposaunt. Und damit wurde Kay Brown aktiv. Twentieth<br />
Cen<strong>tu</strong>ry-Fox hatte die Filmrechte an einem britischen Bühnenstück<br />
gekauft, das 1954 in New York gut gelaufen war –<br />
"Anastasia" , die Geschichte von Anna Andersons Anspruch,<br />
die Grossherzogin und Tochter von Zar Niklaus II. zu sein, die<br />
das Massaker an den Romanovs von 1918 überlebt hatte. <strong>Ingrid</strong><br />
las das von Arthur Laurents modifizierte Script von Guy<br />
Boltons Bühnenstück; die Rolle bot eine traumhafte Reichweite,<br />
von ihren Szenen <strong>als</strong> schmutzige, suizidgefährdete Herumtreiberin<br />
zu ihrer Schulung <strong>als</strong> glaubhafte Grossherzogin und<br />
461
schliesslich zu ihrem Triumph durch ihre Aufnahme in die internationale<br />
Gesellschaft.<br />
Das war nicht nur eine glanzvolle, exotische Geschichte<br />
mit einer hochwillkommenen Hauptrolle: es könnte auch zu<br />
etwas wie einer Analogie ihres Ansehens in den Augen Amerikas<br />
werden (von der königlichen Prinzessin zum verstossenen<br />
Aschenputtel und zurück); jedenfalls war es ein gutes Script<br />
mit einer hochgradig sympathischen und seriösen Hauptfigur.<br />
(Allerdings war Anastasias Person in keiner Weise identisch<br />
mit der – vielfach vermuteten und später bestätigten - historischen<br />
Wahrheit, wonach die echte Grossherzogin mit ihrer<br />
Familie massakriert wurde und Anna Anderson nichts weiter<br />
<strong>als</strong> eine Betrügerin war.) Jedenfalls konnte eine derart wundervolle<br />
Hauptrolle <strong>Ingrid</strong>s Sache zur Wiederherstellung ihres<br />
Ansehens beim kritischen Amerika keinen Abbruch <strong>tu</strong>n.<br />
Die erste Wahl von Fox-Präsident Spyros Skouras für<br />
die Rolle der Anastasia war Jennifer Jones. Diese Wahl wurde<br />
aber von Produktions-Chef Darryl Zanuck in Frage gestellt, der<br />
mit Kay darin einigging, dass dies der ideale Moment dafür<br />
wäre, <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> nach Amerika zurückzubringen. Sie<br />
würde bestimmt nicht nur Neugier wecken, betonte Zanuck:<br />
die vor sieben Jahren erlebte Hysterie sei verebbt und sie<br />
würde bestimmt wieder <strong>als</strong> die grosse Schauspielerin akzeptiert,<br />
die sie war, und Fox sollte nun keine Produktionskosten<br />
scheuen, die den Ruf des Unternehmens nur stärken könnten.<br />
Aber Skouras erwiderte, dass <strong>Bergman</strong> ein Fluch für jedes<br />
Projekt wäre, was er durch die Ergebnisse einer Umfage erhärtete.<br />
"So lange ich hier Zensor bin", erklärte ein Beamter<br />
von Tennessee, "wird auf keiner Leinwand in Tennessee ein<br />
Film mit <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> erscheinen." Das genügt wohl, meinte<br />
Skouras.<br />
Aber Zanouk blieb hart, Tennessee hin oder Tennessee<br />
her, und bald erhielt er die Unterstützung von Buddy Adler,<br />
der den Film in London und Paris produzierte, und von Anatole<br />
Litvak, einem russischstämmigen Hollywood-Immigranten, der<br />
der Romanov-Kul<strong>tu</strong>r sehr verbunden war. Um es nicht auf eine<br />
462
Revolte dieser Talente ankommen zu lassen, lenkte Skouras<br />
ein, sein Verwal<strong>tu</strong>ngsrat stimmte zähneknirschend zu, und im<br />
Dezember 1955 unterzeichnete <strong>Ingrid</strong> den Vertrag, im kommenden<br />
Sommer <strong>als</strong> Anastasia aufzutreten. Der Film werde<br />
ein totaler Reinfall sein, murrte R<strong>ob</strong>erto, der den Raum verliess,<br />
<strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> bei der Unterzeichnung zur Feder griff. "Aber<br />
ich hatte beschlossen, ihm die Stirne zu bieten", sagte sie später,<br />
"ich war während sieben Jahren im beruflichen Exil, und<br />
das reichte." Sie stritten sich an jenem Abend heftig, und<br />
R<strong>ob</strong>erto drohte einmal mehr, mit seinem Ferrari in einen<br />
Baum zu rasen und sich so das Leben zu nehmen. <strong>Ingrid</strong><br />
machte sich einen Tee.<br />
IM MÄRZ BEGAB SIE SICH direkt von der Synchronisation<br />
von "Elena und ihre Männer" zu den Garder<strong>ob</strong>e- und Makeup-Tests<br />
für "Anastasia" mit Produktions-Horizont von Mai<br />
bis August 1956. R<strong>ob</strong>ertos Reise nach Indien wurde nochm<strong>als</strong><br />
versch<strong>ob</strong>en, diesmal bis zum Jahresende wegen Geldmangels<br />
und der jährlichen Regenzeit. En attendant nahm er ein Angebot<br />
an, die Regie für einen Film mit Namen "Sea Wife" zu<br />
übernehmen, ein Drama um ein Schiffswrack mit Richard Burton<br />
und Joan Collins in den Hauptrollen. Aber nach einer Arbeitswoche<br />
in Jamaica hatte er Schauspieler und Crew derart<br />
verärgert, dass Produzent André Hakim damit drohte, ihn aus<br />
dem Film zu nehmen.<br />
Nachdem R<strong>ob</strong>erto eine Besprechung mit Hakim in London<br />
verlangt hatte, wurde er dort bei seiner Ankunft von Laurence<br />
Evans, dem Direktor des MCA-Büros in London empfangen,<br />
dem Dekan der Londoner Agenten und einem Mann, der<br />
seinen beträchtlichen Einfluss mit einer seltenen Mischung aus<br />
scharfer Intelligenz, charmantem Witz und tadelloser Ethik<br />
ausübte. Er hatte sich während der Produktion von "Under<br />
Capricorn" um <strong>Ingrid</strong> gekümmert, der er zu einem guten<br />
Freund und klugen Berater geworden war und von der er nun<br />
mit der Bitte um Hilfe angegangen worden war, negative Publizität<br />
von ihrem Mann abzuwenden. Mit gewohnter Routine<br />
463
hiess er R<strong>ob</strong>erto, der Presse gegenüber kein einziges Wort<br />
verlauten zu lassen, und begleitete ihn zum Savoy Hotel, wo<br />
auch <strong>Ingrid</strong> abgestiegen war.<br />
Die Besprechung mit Hakim änderte nichts an allem,<br />
und R<strong>ob</strong>erto wurde aus "Sea Wife" entlassen. Jetzt be<strong>ob</strong>achtete<br />
er die wiederauflebende Karriere seiner Frau mit irrationalen<br />
Verdächtigungen und gewaltigem Verdruss. So, wie die<br />
Jahre von 1950 bis 1955 einen Niedergang in ihrem Leben<br />
bedeuteten, so reihten sich nun in einem einzigen Jahr eine<br />
lohnende Aufgabe an die andere. Während dieses Besuches<br />
entwickelte R<strong>ob</strong>erto die seltsame Idee, dass <strong>Ingrid</strong>s Tätigkeit<br />
ihr Familienleben gefährde, weshalb er drohte, die Kinder nach<br />
Italien und dann nach Indien mitzunehmen: es waren seine<br />
Kinder und sie war sein Eigen<strong>tu</strong>m.<br />
R<strong>ob</strong>ertos besitzergreifende Art, die oft verbal gr<strong>ob</strong> und<br />
gemein wurde, "dauerte so lange, ich wusste nicht mehr was<br />
ich glauben sollte", schrieb <strong>Ingrid</strong> einer Freundin. Nun verlangte<br />
er plötzlich die Trennung – mit dem uneingeschränkten<br />
Sorgerecht für die Kinder. Drohungen und Schmähungen folgten<br />
in rascher Folge; <strong>Ingrid</strong> war entsetzt. "Ich habe Angst,<br />
meine Kinder wieder zu verlieren; allein zu sein, fürchte ich<br />
nicht, aber vier Kinder zur Welt gebracht zu haben, die mir<br />
alle weggenommen werden." Und so nahm R<strong>ob</strong>erto R<strong>ob</strong>ertino,<br />
Isabella und klein <strong>Ingrid</strong> mit sich nach Santa Marinella, in sein<br />
Refugium, wo er mit ihnen allein sein konnte.<br />
"Anastasia" wurde dann vollständig in den Londoner<br />
Borehams<strong>tu</strong>dios gemacht, ausser für einige Nachtaufnahmen<br />
in Paris. Zanouk und Adler hielten ihr Versprechen: der Film<br />
hatte ein ungewöhnlich hohes Budget von $ 3.5 Mio., und es<br />
wurde an keinem Detail gespart, um eine erstklassige Produktion<br />
sicherzustellen. Am ersten Drehtag sagte <strong>Ingrid</strong>: "Ich bin<br />
so aufgeregt, wieder in einem Set arbeiten zu können." Gewisse<br />
Anwesende werden die Andeu<strong>tu</strong>ng wohl verstanden haben.<br />
Yul Brynner spielte die Rolle des ernsten Bounine, der<br />
Anna Anderson auf ihre Rolle vorbereitete bis auch er unsicher<br />
464
wird, weil sie Kenntnisse hatte, die nur ein Romanov haben<br />
konnte; und Helen Hayes spielte die betagte Kaiserin-Witwe<br />
Marie, Anastasias Grossmutter. *) Die Erkennungsszene – die<br />
damit beginnt, dass <strong>Bergman</strong> von der misstrauischen Hayes<br />
zurückgewiesen wird – haben die beiden Schauspielerinnen<br />
mit grossem gegenseitigem Respekt für ihre jeweiligen Stärken<br />
in der Szene privat eingeübt. Laurents verbesserte die<br />
Dialoge im ganzen Stück wesentlich, sodass die Darstellerinnen<br />
speziell in dieser Sequenz schrittweise von der Reue zur<br />
Querulanterie, vom Betteln schliesslich zur aus der Verzweiflung<br />
erwachsenen Liebe fanden.<br />
Litvak, Hayes, Brynner und der ganzen internationalen<br />
Besetzung war bald klar, dass <strong>Ingrid</strong>s Leis<strong>tu</strong>ng nichts weniger<br />
<strong>als</strong> traumhaft war. Sie portraitierte eine durch Zurückweisung<br />
verbitterte Frau, die gegen ihren Willen von macht- und geldgierigen<br />
Menschen missbraucht wird. Die Geschichte geht aber<br />
so weit, dass Anna Beweise dafür anbietet, dass sie die echte<br />
Anastasia sei – womit aus der verstörten Nomadin im Zuge<br />
eines Strudels von Konfusionen die königlichste der Prinzessinnen<br />
wird. Wahrscheinlich konnte zu dieser Zeit niemand in<br />
dieser Rolle so überzeugend wirken, wie <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>; ganz<br />
sicher hätten aber nur sehr wenige den inneren Kampf, das<br />
zwiespältige Gefühl von neidvoller und schmerzlicher Sehnsucht<br />
so eindrücklich zur Darstellung gebracht, wie ingrid das<br />
in jede Szene hineinprojizierte.<br />
Zanucks Leute, die hinter vorgehaltener Hand über die<br />
grosse Wahrscheinlichkeit eines Academy Awards spekulierten,<br />
äusserten sich auch der Presse gegenüber nicht allzu zurückhaltend<br />
– speziell dem Moderator einer populären Fernseh-Unterhal<strong>tu</strong>ngsshow,<br />
Ed Sullivan, gegenüber, der beabsichtigte,<br />
mit einer TV-Crew von New York nach London zu kommen,<br />
um ein kurzes Interview und ein paar Dokumentarszenen<br />
aus der laufenden Produktion aufzunehmen. Der Beitrag<br />
*)<br />
Die Bühnenrolle der Kaiserin-Witwe wurde in London von Helen Haye,<br />
einer klassischen englischen Schauspielerin und renommierten Lehrerin,<br />
mit grossem Erfolg gespielt. So hiess es im Telegramm von Fox' Londoner<br />
Büro an Litvak auch "VERPFLICHTET HELEN HAYE". Der Name wurde<br />
aber <strong>als</strong> Druckfehler interpretiert, sodass Helen HAYES verpflichtet<br />
wurde.<br />
465
sollte mit der begeisterten Zustimmung von Fox im folgenden<br />
August ausgestrahlt werden. Doch zuvor wollte Sullivan sein<br />
Fernsehpublikum auf nationaler Basis befragen. "Es ist euere<br />
Entscheidung", verkündete er am 29. Juli 1956. "Schickt mir<br />
eine kurze Notiz, <strong>ob</strong> ihr sie in der Show sehen wollt – und<br />
wenn nicht – gut, dann teilt mir das auch mit. Ich will euer<br />
Urteil." Überzeugt davon, wie er sagte, "dass sie für ihre Sünden<br />
genug gelitten und Busse getan habe (!)" und dass das<br />
Publikum <strong>Ingrid</strong> willkommen heissen würde, empfing er mit<br />
der Post auch den Schock: 5'826 Briefe lauteten zugunsten<br />
ihres Interviews in der Show, aber 6'433 dagegen. Als etwas<br />
einfallsloser aber wortgetreuer Mann hielt sich Sullivan widerstrebend<br />
an das Urteil. <strong>Ingrid</strong> war in den Augen Amerikas alles<br />
andere <strong>als</strong> nachhause zurückkgekehrt, wenn es sich dabei<br />
auch nur um die Augen handelte, die Ed Sullivans Show verfolgten<br />
und engstirnig genug waren, schriftlich ihre unverminderte<br />
Ablehnung zu bekunden.<br />
DIE HAUPTSÄCHLICHEN DREHARBEITEN zu "Anastasia"<br />
waren Ende August abgeschlossen, anschliessend wurden<br />
Schnitt und Montage durchgepeitscht, damit der Film im Dezember<br />
erscheinen konnte. Dann eilte <strong>Ingrid</strong> zu den Lesungen<br />
und Pr<strong>ob</strong>en für "Tee und Mitgefühl" mit Regisseur Jean<br />
Mercure und den Co-Stars Yves Vincent und Jean Loup Philippe<br />
nach Paris zurück. Dort fand sie R<strong>ob</strong>erto frostig, in sich<br />
gekehrt und übelgelaunt bei den Vorberei<strong>tu</strong>ngen zu seiner<br />
lange aufgesch<strong>ob</strong>enen Reise nach Indien. Alles scheine sich<br />
gegen ihn zu wenden, erklärte er, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> auf einer Erklärung<br />
für seine missmutige Verfassung bestand. Andererseits<br />
wusste sie natürlich, dass ihre Ehe gefährdet war, wenn sie<br />
mit "Tee und Mitgefühl" fortfahren würde. "Dass R<strong>ob</strong>erto und<br />
ich so lange zusammenblieben, geschah ausschliesslich der<br />
Kinder wegen", sagte sie nicht lange danach. "Er will, dass ich<br />
dieses nicht <strong>tu</strong>, er will, dass ich jenes nicht <strong>tu</strong>. Aber zur Abwechslung<br />
übernehme ich jetzt die Verantwor<strong>tu</strong>ng einmal für<br />
mich selbst."<br />
466
Die Pr<strong>ob</strong>en begannen zögerlich, denn <strong>Ingrid</strong> stolperte<br />
gelegentlich über die französischen Übersetzungen von Roger<br />
Ferdinand. Dann, am Samstag, 10. November, fühlte sie sich<br />
krank und behauptete, es handle sich um nichts weiter <strong>als</strong><br />
eine Verdauungsstörung. Drei Tage später konnte sie ihre<br />
Leibschmerzen, die sich durch weitere böse Symptome verstärkt<br />
hatten, nicht mehr überspielen. Am 14. November unterzog<br />
sich <strong>Ingrid</strong> im American Hospital in Neuilly einer Blinddarmoperation.<br />
Sie blieb dort für eine Woche – und lernte ihre<br />
Rolle <strong>als</strong> Laura.<br />
Inzwischen neigte sich in Amerika die lange Leidenszeit<br />
von R<strong>ob</strong>ert Andersons Frau Phyllis dem Ende zu; sie erlag ihrem<br />
Krebsleiden am 28. November nach einem bittern, fünfjährigen<br />
Kampf, während dem ihr Mann es irgendwie schaffte,<br />
seinen beruflichen Pflichten nachzukommen und sich gleichzeitig<br />
ihrer Pflege zu widmen. Dam<strong>als</strong> neununddreissigjährig,<br />
kämpfte Anderson nicht nur mit den im Zusammenhang mit<br />
dem Todesfall anstehenden Aufgaben und Formalitäten, sondern<br />
auch mit seinem tiefen Leid, das ihn an den Rand eines<br />
Zusammenbruchs führte, wovor ihn einzig die Aufmerksamkeit<br />
seiner Freunde und Familie bewahrte. Die Weihnachtsfeiertage<br />
standen bevor, weshalb Kay <strong>Ingrid</strong> anrief und <strong>Ingrid</strong> Anderson<br />
telephonierte: "Ich denke, du gehörst während dieser schwierigen<br />
Zeit hierher", sagte sie ihm, "es ist Weihnacht und das<br />
Theater wird dir ein familiäres Umfeld bieten." Und so wurde<br />
im Raphael-Hotel ein Zimmer für ihn gebucht.<br />
"Tee und Mitgefühl" wurde für den Autor wie für die<br />
Hauptdarstellerin zu einem gewaltigen Triumph. Das zwölfhundertköpfige<br />
Publikum holte <strong>Ingrid</strong> für 15 Vorhänge zurück,<br />
und sie erhielt ausgezeichnete Kritiken. In dieser Nacht verharrten<br />
Massen von Menschen noch S<strong>tu</strong>nden nach der Vorstellung<br />
vor dem Theater in der Hoffnung auf einen kurzen Blick<br />
auf eine Frau, die in der Lichterstadt zu keiner Zeit in Ungnade<br />
gefallen war. Die Kritiker beteten sie an, bis hin zur totalen<br />
Ignorierung ihres schweren Akzents in der französischen Sprache,<br />
was übrigens zu derart heiteren Flops führte, wie dass sie<br />
den jungen Tom statt korrekt <strong>als</strong> "champion" <strong>als</strong> "champig-<br />
467
non" (Pilz) bezeichnete. Das Publikum wie ihre Co-Stars waren<br />
zwar s<strong>tu</strong>mm, schüttelten sich aber vor Lachen und pressten<br />
Handtücher auf ihre Gesichter. <strong>Ingrid</strong> trat an die Rampe, hielt<br />
ihre Hand hoch zum Publikum und korrigierte sich:"Il est le<br />
champion de l'école!" Damit hatte sie die Leute auf ihrer Seite,<br />
die sich von ihren Sitzen erh<strong>ob</strong>en und ihr während drei Minuten<br />
zujubelten. Wie hätte sich Paris in eine solche Darstellerin<br />
nicht verlieben sollen?<br />
Nur ein Zuschauer war weit von jedem Wohlwollen entfernt.<br />
R<strong>ob</strong>erto sass während des ganzen Stücks hinter der<br />
Bühne, weigerte sich, das Stück aus dem Auditorium anzusehen,<br />
verweigerte seiner Frau auch nur ein einziges Wort der<br />
Ermutigung oder Anerkennung. Nach dem ersten Akt fragte er<br />
sie: "Ist noch jemand dort? Sind nicht schon alle gegangen?"<br />
Nach dem zweiten Akt, sagte er: "Haben sie schon angefangen,<br />
Gegenstände zu schmeissen?" Der tosende Applaus nach<br />
dem dritten Akt war dann für R<strong>ob</strong>erto wie eine schallende Ohrfeige.<br />
"Er war rot vor Wut", erinnerte sich die Schauspielerin<br />
Simone Paris, die im Stück mitwirkte. "Am Schluss", erzählte<br />
<strong>Ingrid</strong> B<strong>ob</strong> Anderson (der ein paar Tage nach der Premiere<br />
eintraf), "hatte ich eine vierzehnminütige Ovation. Aber <strong>als</strong> ich<br />
mich umwandte und R<strong>ob</strong>erto im Seitenflügel der Bühne sah,<br />
wusste ich, dass meine Ehe zu Ende war."<br />
Der zügellose Enthusiasmus des Publikums, der Strom<br />
der Verehrer hinter der Bühne und die verliebten Pressestimmen<br />
– all das war für R<strong>ob</strong>erto zuviel. Noch in derselben Nacht<br />
raste er von Paris nach Rom, von wo aus er endlich seine Reise<br />
nach Indien antrat. Seine letzten Worte an <strong>Ingrid</strong>: "Noch vor<br />
Ablauf einer Woche wirst du diese schreckliche Show gebodigt<br />
haben." Diese bösartige Prognose - wie weitab von den Realitäten<br />
sie auch liegen mochte, denn das Stück erlebte eine<br />
neunmonatig ausverkaufte Laufzeit in Paris – sass wie ein<br />
Dolch in ihrem Herzen. Wie glücklich wäre sie über ein einziges<br />
Wort der Anerkennung von jenem Mann gewesen, vor dessen<br />
Talent sie eine derart hohe Ach<strong>tu</strong>ng hatte.<br />
468
BEI SEINER ANKUNFT IN PARIS am 10. Dezember wurde<br />
B<strong>ob</strong> Anderson, der noch stark von seinem Leid gezeichnet<br />
war, sofort seelisch erwärmt durch die Aufführung jener<br />
Schauspielerin, die nach seinen Worten sein Stück mit ihrem<br />
Spiel, mit ihrer eigenen, ganz speziellen Anmut und ihrem Stil<br />
gesegnet hat. Nun pflegten sie gemeinsam ihre beiderseitigen<br />
Wunden: sie erzählte, was sich in Indien abspielte, und er<br />
klagte über seinen Verlust. Was Wunder <strong>als</strong>o, dass diese beiden<br />
Menschen nicht nur einen grossen Trost und festen Halt<br />
aneinander gefunden hatten, sondern dass sie während seines<br />
Aufenthalts in Paris auch zu hingebungsvoll Liebenden wurden,<br />
die sich gegenseitig um einander kümmerten und gemeinsam<br />
den Erfolg seines Stücks und ihres Spiels darin genossen.<br />
"Ein Kritiker", erinnerte sich Anderson, "liebte <strong>Ingrid</strong><br />
mehr <strong>als</strong> "Tee und Mitgefühl" und schrieb, '<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong><br />
rettet das Stück'." Schon bald danach fand der Autor selbst<br />
eine gute Gelegenheit, dieser Sicht der Dinge neuen Inhalt zu<br />
geben.<br />
Jeden Abend wohnte Anderson der Vorstellung bei oder<br />
kam hinter die Bühne, um <strong>Ingrid</strong> abzuholen und mit ihr zum<br />
Raphael zurückzukehren. Tagsüber pflegten sie gemeinsam<br />
die Ruhe, lunchten in einem Café im Bois de Boulogne, folgten<br />
Einladungen zu Parties, die zu <strong>Ingrid</strong>s Ehren gegeben wurden,<br />
kuschelten durch die kalten Dezemberlüfte und beschleunigten<br />
ihre Schritte, wenn sie die Rue de Rivoli entlang eilten. "Sie<br />
widmete mir wirklich ihre ganze Zeit", sinnierte Anderson vierzig<br />
Jahre später. "Und sie nahm sich nach der Vorstellung<br />
nichts vor, bevor sie wusste, dass für mich gesorgt war."<br />
Und so lief es diesen Winter. Einer von ihnen litt an der<br />
schrecklichen Wunde, die ihm der Tod eines geliebten Menschen<br />
verursacht hatte, und der andere hatte eben die fürchterliche<br />
Gewissheit erlangt, dass seine Ehe kaputt war. "Er war<br />
mir in jenen Tagen sehr nahe", schrieb <strong>Ingrid</strong> über diese wertvolle<br />
Episode in ihrer beider Leben. "Vielleicht brauchte auch<br />
ich jemanden. Ich wusste, dass es wohl für uns beide wichtig<br />
war." Wie Anderson bemerkt haben dürfte, liefen die Dinge<br />
gegenwärtig ähnlich wie in seinem Stück: ein sensibler Mann<br />
469
mit gebrochenem Herzen wurde von einer Frau geliebt, die<br />
sich ihrerseits in einem Zustand von hilfebedürftiger Konfusion<br />
befand, nachdem sie mit ihrem Ehemann gebrochen hatte. Auf<br />
der Bühne in Andersons klassicher, berührender Schlussszene<br />
näherte sich Laura Tom mit einer Feinfühligkeit, die Eingang in<br />
die Ikonographie des modernen Theaters gefunden hat. Im<br />
Leben boten sich <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> und R<strong>ob</strong>ert Anderson die<br />
Zärtlichkeit, das Mitgefühl und den Trost, die die scharfen<br />
Kanten ihres Kummers abs<strong>tu</strong>mpfen liessen. So liess sie ihn<br />
z.B. nicht S<strong>tu</strong>nden weinend über den Massen der Kondolenzpost<br />
verbringen, die er zu beantworten beabsichtigte. "Los,<br />
komm B<strong>ob</strong>", sagte sie und wischte die Briefe zur Seite. "Wir<br />
gehen raus und unternehmen etwas!"<br />
Oben auf ihrer Besorgungsliste stand ein Exemplar der<br />
neuen und hochgel<strong>ob</strong>ten Novelle "Geschichte einer Nonne" ,<br />
die B<strong>ob</strong> gelesen hatte und nun für <strong>Ingrid</strong> besorgen wollte. Basierend<br />
auf dem Lebensbericht einer Belgierin, die das insti<strong>tu</strong>tionelle<br />
religiöse Leben aufnahm und nach Jahren wieder verliess,<br />
war der Geschichte dieses Jahr ein grosser Erfolg beschieden.<br />
Die Filmrechte wurden an Warner Bros. verkauft,<br />
deren Produzent Henry Blanke den idealen Autor und die entsprechende<br />
Besetzung für das Projekt suchte. Phillis Anderson<br />
sah in B<strong>ob</strong> den richtigen Screenwriter, und Kay Brown hatte<br />
das Stück <strong>Ingrid</strong> empfohlen. Aber beim S<strong>tu</strong>dium der Rolle<br />
wurde <strong>Ingrid</strong> schnell klar, dass sie – ganz abgesehen von ihrer<br />
früheren Rolle <strong>als</strong> Schwester Benedict – für diesen Part eindeutig<br />
zu alt war; sie war aber dafür, dass B<strong>ob</strong> das Script<br />
übernehmen sollte. Der Rest, wie man so sagt, ist Geschichte:<br />
R<strong>ob</strong>ert Andersons Screenplay für Fred Zinnemanns Film "Geschichte<br />
einer Nonne" war ein Meisterwerk der Filmlitera<strong>tu</strong>r.<br />
Seine Hauptrolle war wohl auch Audrey Hepburns grösste<br />
Leis<strong>tu</strong>ng. Niemand freute sich über beider Erfolg mehr <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong>.<br />
DIE VIELFALT IHRER AKTIVITÄTEN diesen Winter diente,<br />
B<strong>ob</strong> war sich dessen wohl bewusst, nicht nur seiner Zer-<br />
470
streuung: sie lenkte auch sich selbst ab, denn im Tempo eines<br />
Rennfahrers hatte R<strong>ob</strong>erto innerhalb von Tagen seit seiner<br />
Ankunft in Indien einen waschechten Skandal entfacht. Tag<br />
und Nacht, an der Arbeit und beim Essen wurde er Hand in<br />
Hand mit einer exotischen Schönheit namens Sonali Senroy<br />
Das Goupta, fotographiert, ihres Zeichens Co-Writer am Film<br />
und Gattin seines indischen Produzenten. Die Presse stand<br />
sofort vor <strong>Ingrid</strong>s Tür, suchte sie am Theater, verfolgte sie<br />
telefonisch und sandte ihr Notizen. Konnte sie zu den Gerüchten<br />
um ihren Ehemann etwas sagen? Würdevoll mockierte sie<br />
sich über deren Kühnheit; privat vertraute sie B<strong>ob</strong> an, dass sie<br />
keineswegs überrascht sei. Gedankenverloren und ironisch sah<br />
sie die Si<strong>tu</strong>ation <strong>als</strong> Gegenstück zu ihrer eigenen vor sieben<br />
Jahren. Jetzt war es ihr Gatte, der sich in ein fremdes Land<br />
begab und eine Mitarbeiterin zur Geliebten nahm.<br />
Wie unglücklich und erniedrigt sie sich auch fühlte, <strong>Ingrid</strong><br />
blieb sich selbst treu. Weihnacht stand bevor, und bittersüss<br />
bemüssigten sie und B<strong>ob</strong> sich pauschaler Grosszügigkeit.<br />
Sie nahm sich alle Zeit und widmete sich mit enormer Sorgfalt<br />
dem Einkauf von Geschenken für ihn und ihre Kinder, die für<br />
die Feiertage von Rom hergebracht wurden, während er einen<br />
Baum in ihre Suite brachte und diesen dekorierte.<br />
Ganz im Gegensatz zum Fall von R<strong>ob</strong>erto und "Tee und<br />
Mitgefühl" , war B<strong>ob</strong> entzückt von den Neuigkeiten, die <strong>Ingrid</strong><br />
aus Amerika erreichten. "Anastasia" war mit Gala-Premieren<br />
in New York und Los Angeles angelaufen, und <strong>Ingrid</strong>s Kritiken<br />
und öffentliches L<strong>ob</strong> waren nichts weniger <strong>als</strong> brillant. Man<br />
hätte um zehn Jahre zurückgehen müssen, um ähnlich unbändige<br />
Zustimmung zu ihrem Spiel lesen zu können. Sie war<br />
"schlicht grossartig in einer prachtvoll gestalteten Darstellung,<br />
die eines Academy Awards würdig ist", schieb Bosley Crowther<br />
in der New York Times. Seine Kollegen standen seinem L<strong>ob</strong> in<br />
nichts nach. Indem sie die Wandlung einer Frau vom emotionalen<br />
Zusammenbruch über Zweifel zur Akzeptanz einer neuen<br />
Identität zeichnete – <strong>als</strong> die gefeierte "Entdeckung" Anastasia<br />
und <strong>als</strong> gewöhnliche, liebesfähige Frau – bot <strong>Ingrid</strong> den<br />
Kinogängern ein doppeltes Sinngebilde. Sie war eine gejagte,<br />
471
pathetische, in der Illusion verlorene Figur und dann erstrahlte<br />
sie neu in ihrer ganzen Würde.<br />
Es war vielleicht diese einst verlorene aber immer<br />
standhafte und schliesslich triumphierende Anastasia, wie <strong>Ingrid</strong><br />
<strong>Bergman</strong> selbst, die Publikum und Kritiker erkannten, <strong>als</strong><br />
sie sich Ende 1956 wieder und wieder in sie verliebten, denn<br />
Amerika liebt nichts so sehr wie die grosse Geste der Vergebung<br />
für einen Sünder, der – wie alle fühlten – genügend lange<br />
Zeit im Büssergewand zugebracht hat. Es war wirklich an<br />
der Zeit, ihr ihren Ruhm zurückzugeben.<br />
472<br />
Ca. 1955 - mit den drei Rossellini-Kindern in Italien unterwegs
1949/51 - Blick zurück aus "Europa51" auf die<br />
Set-Atmosphäre am Str<strong>ob</strong>oli<br />
473
474<br />
1957 - mit ihren vier Kindern in Santa Marinella
"....Ich danke Gott für dich und dafür, dass du meine Wege<br />
gekreuzt hast. Da bin ich nun – deine alte Dame, dein K<strong>ob</strong>old<br />
und dein Unglück – ich bin nun deine Bürde und werde dir<br />
zeitlebens am H<strong>als</strong> hängen....."<br />
1957 - 1964<br />
(<strong>Ingrid</strong> an Lars Schmidt, ihren dritten Ehemann)<br />
EINES SPÄTEREN ABENDS eilte <strong>Ingrid</strong> von einer Einkaufstour<br />
zu ihrer Suite im Raphael zurück. "Schau mal, was<br />
ich gekauft habe!" sagte sie aufgeregt zu B<strong>ob</strong> Anderson. Sie<br />
packte ein Päckchen von etwas mehr <strong>als</strong> der Grösse einer<br />
Postkarte aus, da kam ein Minia<strong>tu</strong>rgemälde von Auguste Renoir,<br />
dem Vater ihres kürzlichen Regisseurs, zum Vorschein.<br />
"Das", sagte sie mit Nachdruck zu B<strong>ob</strong>, "ist das erste Mal,<br />
dass ich über mein eigenes Geld verfügen konnte. Ich beschloss,<br />
mich selbst zu überraschen, ging aus und kaufte mir<br />
etwas!" Ihnen beiden war klar, dass dies den Beginn einer<br />
neuen Freiheit in ihrem Leben bedeutete, die sie allerdings<br />
teurer bezahlte <strong>als</strong> den Renoir. Was ihren Umgang mit ihrem<br />
eigenen Geld anbelangt, war klar, dass <strong>Ingrid</strong> bescheiden lebte.<br />
Sie musste auch: die Rossellini-Filme brachten kein Einkommen,<br />
und was sie von vor 1950 besass, ging für die<br />
Lindström-Scheidung flöten.<br />
Etwa gleichzeitig anfangs 1957 sassen <strong>Ingrid</strong> und B<strong>ob</strong><br />
nach einer "Tee und Mitgefühl"-Vorstellung in <strong>Ingrid</strong>s Suite im<br />
Raphael beim Abendessen, <strong>als</strong> ein Telefonanruf von Cary<br />
Grant aus Hollywood durchgestellt wurde. Er und Regisseur<br />
Stanley Donen hatten eben eine Produktionsgesellschaft gegründet<br />
und wollten, dass sich ihnen <strong>Ingrid</strong> für ihr erstes Pro-<br />
475
jekt anschliesse. Es handle sich um einen Film über Norman<br />
Krasnas Komödie von 1953 "Kind Sir", die am Broadway zwar<br />
durchgefallen war, der sie aber grosse Chancen <strong>als</strong> Film einräumten.<br />
<strong>Ingrid</strong> bat Cary um einen Moment Geduld, während<br />
sie einen Experten konsultiere.<br />
476<br />
"Kind Sir"? fragte sie zu B<strong>ob</strong> gewandt.<br />
"Eine Katastrophe!" flüsterte B<strong>ob</strong>, "<strong>tu</strong>'s nicht!"<br />
"Mein Berater hier sagt, es sei schrecklich" gab <strong>Ingrid</strong><br />
an Cary weiter, der nun fragte, <strong>ob</strong> sie bereit wäre, diesen<br />
Sommer einmal Donen zu treffen? Sie war.<br />
Eines andern Abends hatte "Tee und Mitgefühl" keine<br />
Vorstellung (eine Pariser-Tradition, damit alle aktiven Schauspieler<br />
Gelegenheit hatten, einmal ihre Kollegen in anderen<br />
Stücken spielen zu sehen), und <strong>Ingrid</strong> und B<strong>ob</strong> besuchten eine<br />
Vorstellung von "Katze auf dem heissen Blechdach". An einer<br />
Party hinter der Bühne stellte B<strong>ob</strong> <strong>Ingrid</strong> einem grossen, blonden,<br />
hübschen Mann vor – ein eleganter Kellner, dachte <strong>Ingrid</strong>,<br />
der durch die Vorstellung im Moment etwas verlegen<br />
wurde. Doch weit gefehlt, dieser "Kellner" war der europäische<br />
Produzent des Stücks, ein erfolgreicher Impresario namens<br />
Lars Schmidt – der zufälligerweise auch B<strong>ob</strong>s skandinavischer<br />
Agent war.<br />
Nicht lange danach und auf Empfehlung von Kay<br />
Brown, die fand, zwei Schweden in Paris müssten sich doch<br />
kennenlernen, rief Lars an und lud <strong>Ingrid</strong> zum Lunch ein. Sie<br />
bedauere, antwortete <strong>Ingrid</strong>, und erklärte (um die Sache nicht<br />
komplizierter zu machen), sie werde sich mit ihren Kindern ins<br />
Bois de Bouilogne begeben. Einige S<strong>tu</strong>nden später, nach dem<br />
Essen spazierten sie und B<strong>ob</strong> in den Park, wo ihnen niemand<br />
anderes <strong>als</strong> Lars Schmidt begegnete. "Ich sah ein Paar, das so<br />
verliebt aussah", erinnerte sich Lars, "und sich dann <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong><br />
und B<strong>ob</strong> entpuppte. Ich traf sie und sagte: 'Na <strong>als</strong>o, so spielt<br />
man mit den Kindern im Bois!' <strong>Ingrid</strong> errötete und bat mich,<br />
sie anzurufen. Wir dinierten an jenem Abend zusammen und
waren von da an nie mehr sehr lange voneinander getrennt."<br />
Vor seiner Rückkehr nach New York ging B<strong>ob</strong> zu Cartier's,<br />
wo er für <strong>Ingrid</strong> einen Silberteller kaufte. Darauf eingraviert<br />
war das Zitat eines Kritikers: "<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> rettete<br />
das Stück" – was er ergänzte mit: " – und einen Playwright".<br />
Bald bot sich ein guter Grund für einen Unterbruch von<br />
"Tee und Mitgefühl". <strong>Ingrid</strong> hatte den New York Film Critics<br />
Circle Award <strong>als</strong> beste Schauspielerin in "Anastasia" gewonnen,<br />
und Produzent Buddy Adler wünschte, sie möchte den<br />
Award persönlich in Manhatten abholen kommen. Schliesslich<br />
war es kalendarisch auch die Zeit, in der die Oscar-<br />
Nominationen fällig wurden, und die Publizität konnte weder<br />
dieser Chance noch dem Kassenerfolg von "Anastasia" etwas<br />
anhaben. Tatsächlich erhielt <strong>Ingrid</strong> später diesen Winter ihre<br />
fünfte Nomination <strong>als</strong> beste Schauspielerin.<br />
Verständlicherweise war sie über diese Rückkehr sehr<br />
nervös, nachdem sie sich darauf eingestellt hatte, vielleicht<br />
nie wieder nach Amerika zurückzukehren und ganz bestimmt<br />
der Presse den Grund für diese Reise nicht zu entschleiern.<br />
Aber ihr Vertrag enthielt Verpflich<strong>tu</strong>ngen für Publicity-Auftritte<br />
für "Anastasia", was sie eben honorierte. Twentieth Cen<strong>tu</strong>ry-<br />
Fox entschädigte Madame Popesco für die Schliessung ihres<br />
Theaters während der einen Nacht, in der <strong>Ingrid</strong> abwesend<br />
war: sie würde sofort danach auf der Bühne des Théâtre de<br />
Paris zurück sein. Und so schritt <strong>Ingrid</strong> am Samstag Morgen,<br />
19. Januar, die Treppe vom Flugzeug herunter, um eine Masse<br />
von Fans und einen Trupp Presseleute zu begrüssen, die sie<br />
am Idlewild Airport in New York erwarteten.<br />
Das war ihr erster Besuch in Amerika seit ihrer Abreise<br />
vor acht Jahren, und jeder Moment ihres Tages bis hin zur<br />
Abreise am Sonntag Abend war von Fox' Werbeteam (das ihr<br />
drei S<strong>tu</strong>nden für den Besuch einer Samstags-Theatermatinée<br />
zugestand) verplant. In erster Linie war eine Pressekonferenz<br />
am Flughafen vorgesehen – ein Anlass, den <strong>Ingrid</strong> mit erstaunlicher<br />
Ruhe und gutem Humor hinter sich brachte. Die<br />
Journalisten waren nicht scheu: Bereute sie etwas in ihrem<br />
477
Leben? Wenn sie nochm<strong>als</strong> von vorne beginnen könnte, was<br />
würde sie anders machen? Was sie von sich selbst halte?<br />
"Ich hatte ein wundervolles Leben", sagte sie ruhig und<br />
lächelte die Reporter der Reihe nach an. "Ich habe nie bereut,<br />
was ich tat. Ich bereue, was ich nicht tat. Mein Leben war<br />
reich und sehr interessant. Mein Leben lang tat ich, was ich<br />
<strong>tu</strong>n wollte, oft auch sehr spontan. Nun, mir war Mut gegeben,<br />
eine gewisse Abenteuerlust und auch etwas Humor...Es war<br />
sehr hart in jenen Tagen (1949 und 1950), aber die Zeit heilt<br />
alle Wunden. Ich denke, niemand hat das Recht, sich in dein<br />
Privatleben einzumischen, aber sie <strong>tu</strong>n das eben." Sie ging<br />
nicht in die Falle, und für jeden, der ihr literarisches Vorleben<br />
kannte, mochte es den Anschein haben, <strong>als</strong> hätte sie eine weitere<br />
Seite aus Lena Geyer aufgeschlagen, die sagte: "Ich bedaure<br />
nichts. Ich fühle alles – aber ich muss nach vorn schauen!"<br />
An diesem Nachmittag wurde sie unbemerkt durch den<br />
hintern Bühneneingang ins Mark Hellinger-Theater geschmuggelt,<br />
wo "My Fair Lady" gespielt wurde. Ein Raunen ging durch<br />
das Publikum, und nach dem letzten Vorhang erhielt <strong>Ingrid</strong><br />
eine stehende Ovation. Von da gings zum Roxy-Theater, wo<br />
ihr von Joan Crawford ein Award des LOOK-Magazins für<br />
"Anastasia" überreicht wurde. Am selben Abend nahm sie an<br />
einem Dinner-Empfang im Sardi's, dem legendären Theater-<br />
Restaurant, wo sie von Steve Allen für's Fernsehen interviewt<br />
wurde, den Film Critics Award entgegen. Nachdem sie am<br />
Sonntag Morgen verschiedene Interviews auf Schwedisch,<br />
Deutsch, Italienisch und Französisch gegeben hatte, bereitete<br />
sie sich auf die Abreise vor, w<strong>ob</strong>ei sie das Herz der Stadt in<br />
der Tasche und sich ihr Anrecht auf das Land gesichert hatte.<br />
"Niemand könnte sich mehr <strong>als</strong> ich über Miss <strong>Bergman</strong>s<br />
Comeback freuen", sagte Ex-Senator Edwin C. Johnson, der<br />
die Nation vor sieben Jahren aufforderte, <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> zu<br />
verbieten, je wieder einen Fuss in dieses Land zu setzen.<br />
478
DIESE DETAILS über <strong>Ingrid</strong>s Tour-Programm wären<br />
nicht von Belang, ausser im Zusammenhang mit einem hässlichen<br />
Gerücht, das seit einem Jahrzehnt kursierte – nämlich<br />
dass <strong>Ingrid</strong> sich weigerte, Pia zu treffen, die jetzt S<strong>tu</strong>dentin an<br />
der Universität von Colorado war.<br />
<strong>Ingrid</strong> fühlte genau, dass wenn sie ihre Tochter nach<br />
New York geholt hätte, die Presse sie bei ihrer Ankunft beide<br />
überwältigt hätte und sie (weniger Pia) wohl die Fassung verloren<br />
hätte. Sie wäre glücklich gewesen, während dieses<br />
dreissigstündigen Aufenhalts einige Momente mit ihrer Tochter<br />
allein zu sein, was von den Journalisten unweigerlich <strong>als</strong><br />
trivial oder aber <strong>als</strong> Zeichen des Bruchs zwischen ihnen misinterpretiert<br />
worden wäre. <strong>Ingrid</strong> und Pia hatten einen telefonischen<br />
Kontakt, der aber den sechsjährigen Graben nicht gross<br />
zu überbrücken vermochte.<br />
AUCH FÜR ROBERT ANDERSON, der sich inzwischen<br />
hoffnungslos in sie verliebt hatte, fand <strong>Ingrid</strong> privat keine Zeit<br />
mehr. Sie trafen sich, allerdings nur kurz, an einer Party bei<br />
Irene Selznick vor dem Award-Dinner. In einem Brief, den sie<br />
bei ihrer Abreise von New York auf einer Seite eines kleinen<br />
Taschennotizbuchs geschrieben hatte und der dann später in<br />
Paris spediert wurde, erklärte sie ihre Gefühle über ihre Beziehung,<br />
warum sie ihn veranlasste, sein Leben wieder in die<br />
Hand zu nehmen und warum sie glaubte, dass ein gewisser<br />
Realismus – wie hart das nun auch tönen mochte – den weiteren<br />
Verlauf ihrer Leben bestimmen sollte.<br />
"Lieber B<strong>ob</strong>,<br />
Ich muss dir jetzt schreiben! Das Flugzeug hat eben<br />
abgeh<strong>ob</strong>en. Ich heulte. Ich habe mein Gesicht zum<br />
Fenster gedreht, damit man es nicht sehen konnte. Ich<br />
bin so müde, B<strong>ob</strong>, aber ich war auch sehr gerührt von<br />
den vielen Leuten, die zum Abschied herkamen und<br />
winkten und in der Kälte ausharrten, bis wir starteten.<br />
Es gibt so vieles, wofür ich dankbar bin. Ich musste<br />
479
480<br />
Fernsehen, Radio und Fotos hinter mich bringen, fast<br />
so schlimm, wie dam<strong>als</strong>, <strong>als</strong> ich hier ankam. Ich war<br />
drauf und dran, zusammenzubrechen und vor ihnen allen<br />
loszuheulen.<br />
Es war zuviel. Ich hielt es daher für besser, dass du<br />
nicht zum Flughafen kommst. Du hast mich so oft gefragt<br />
(wann du zu mir nach Paris zurückkommen könnest),<br />
und ich sagte immer: "Warte". Es ist nicht so,<br />
dass ich das nicht möchte. Aber ich möchte, dass du<br />
dich selbst wieder auffängst. Ich kann dir dabei nicht<br />
helfen. Gerade jetzt musst du es selbst durchstehen.<br />
Wieder in Paris zu sein, würde bedeuten, dich bei einer<br />
andern Person zu verstecken. Du weißt, dass es am<br />
Ende für dich nur schlimmer würde. Es wird immer eine<br />
Zeit kommen, wo du mit der Einsamkeit fertig werden<br />
musst. Ich werde morgen an dich denken, wenn sich<br />
der Vorhang hebt und ich Auge in Auge mit dem Publikum<br />
stehe.<br />
Schlaf wohl<br />
<strong>Ingrid</strong>"<br />
Anderson war gerührt und dankbar für ihre Aufrichtigkeit.<br />
Ja, er hatte sich in sie verliebt. Aber das geschah sehr<br />
schnell, und wie tief die Anhänglichkeit und echt die gegenseitige<br />
Zuneigung auch war, sie war die Folge eines kritischen<br />
Moments, einer tiefgründigen Notlage in ihrer beider Leben.<br />
Sie hätte die Affäre leicht noch weiterziehen können, doch am<br />
Ende wäre sie nach wie vor beides gewesen: Frau Rossellini<br />
und <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>, eine Frau deren Leben sich einmal mehr<br />
privat und beruflich dramatisch veränderte. Ein Leben mit ihr<br />
hätte für Anderson das geographische Chaos und die Desorientierung<br />
bedeutet, denn er war eine wichtige Stimme im<br />
amerikanischen Theaterleben und stand für bedeutende Drehbuchaufträge<br />
unter Vertrag.<br />
Ohne ihr gemeinsames Leben konnte sich sein Talent<br />
entfalten und erweitern; hätten sie aber ihre Schicksale miteinander<br />
verbunden – na ja, wenigstens sie hätte Drachen ge-
sehen, und zwar zu Recht. Er war noch immer ein trauernder<br />
Witwer, und es war nicht die Zeit, Verpflich<strong>tu</strong>ngen einzugehen.<br />
Letzten Endes waren <strong>Ingrid</strong> und B<strong>ob</strong> zwei gute und anständige<br />
Menschen, die sich um einander kümmerten, und sie<br />
wollte, dass sie ihre gegenseitige Liebe jenseits jeder Leidenschaft<br />
in dauernder Freundschaft weiterlebten. Dass das möglich<br />
war, bezeugt ihrer beider Reife, ihre Würde und den tiefen,<br />
liebevollen Respekt, den sie immer für einander hatten.<br />
INGRID KEHRTE ZURÜCK zu ihrem anstrengenden Bühnen-Pensum<br />
mit "Tee und Mitgefühl", einer Routine, die sie bis<br />
zum Sommer 1957 beschäftigte. Sehr bald schon rief Lars<br />
Schmidt an.<br />
Lars Schmidt, am 11. Juni 1917 geboren, war der Sohn<br />
von Hugo Schmidt, einem Offizier der schwedischen Armee,<br />
und seiner Frau Sigrid. Ursprünglich hatte sich Lars auf eine<br />
Karriere im Schiffbaugeschäft vorbereitet, aber er fühlte sich<br />
immer zum Theater hingezogen und begann 1941 mit der Produktion<br />
von Bühnenstücken, meistens in Göteborg und später<br />
auch anderswo in Schweden und auf dem Kontinent, wo er<br />
Werke von Arthur Miller und Tennessee Williams und vielen<br />
andern vorstellte. 1954 zog er nach Paris und etablierte sich<br />
später <strong>als</strong> massgebender Produzent mit dem Erfolgsstück "Katze<br />
auf dem heissen Blechdach". 1957 verhandelte er um die<br />
Rechte an "My Fair Lady". Intelligent, scharfsinnig, gewitzt und<br />
unaffektiert charmant wie er war, hatte er weltweit gute<br />
Freunde und Bewunderer. Eine frühere Ehe wurde geschieden,<br />
und er hatte die Tragödie des Unfalltods seines einzigen Kindes<br />
zu verkraften. Dieses Frühjahr nun genossen <strong>Ingrid</strong> und Lars<br />
ihre Gesellschaft enorm – aber für den Moment war es für <strong>Ingrid</strong><br />
nicht mehr <strong>als</strong> Freundschaft.<br />
Dieses Verhältnis wurde am 27. März sehr augenfällig,<br />
<strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> ihren zweiten Oscar <strong>als</strong> beste Darstellerin erhielt,<br />
den Cary Grant in ihrem Namen entgegennahm: "Liebe <strong>Ingrid</strong>,<br />
wenn du mich jetzt hören kannst oder diese Fernseh-<br />
Aufzeichnung später einmal siehst, möchte ich, dass du weißt,<br />
481
dass alle andern Nominierten und alle, mit welchen du in<br />
"Anastasia" zusammengearbeitet hast, und Hitch, und Leo Mc-<br />
Carey und wirklich alle, die heute Abend hier versammelt sind,<br />
dir ihre Glückwünsche und Liebe und Bewunderung und alle<br />
guten Gedanken schicken." Zwei Tage später antwortete <strong>Ingrid</strong><br />
Cary:<br />
482<br />
"Ich erhielt die Mitteilung über den Award heute um<br />
sechs Uhr früh. Ich fragte am Telefon, "Ich habe ihn erhalten?".<br />
Die Antwort war "Ja", und ich schlief wieder<br />
ein. Wohl eine etwas gleichgültige Art, einen Oscar entgegenzunehmen...Einige<br />
S<strong>tu</strong>nden später, <strong>als</strong> ich in der<br />
Badewanne sass, stürmte R<strong>ob</strong>ertino mit dem tragbaren<br />
Radio herein, ich hörte meinen Namen und hörte dich<br />
sagen, "Wenn du mich jetzt hören kannst...", und ich<br />
sagte "Hier bin ich, Cary, im Bad!". Das war der Moment,<br />
in dem ich den Oscar wirklich erhielt und ich<br />
spürte, wie mir Tränen in die Augen traten...Ich erhielt<br />
ihn im Bad. Was für ein Ort, einen Oscar entgegenzunehmen."<br />
Zu dieser Zeit verbrachten Lars und <strong>Ingrid</strong> mehr und<br />
mehr Zeit zusammen, und er lernte sie <strong>als</strong> eine bemerkenswert<br />
aufrichtige Person kennen, die ungeachtet ihrer Pr<strong>ob</strong>leme<br />
eine bewundernswerte Leidenschaft für das Leben und die Arbeit<br />
bewahrt hatte. Zu Beginn ihres gemeinsamen Lebens hatte<br />
Lars den Eindruck, dass die physische und emotionale Verbindung<br />
zu <strong>Ingrid</strong> "auf rückhaltloser Preisgabe und grenzenloser<br />
Grosszügigkeit ihrerseits beruhte. Ich gab ihr die Sicherheit,<br />
die ihr fehlte, und sie gab mir die Leidenschaft und das<br />
Vertrauen zur Vollendung der Gemeinschaft."<br />
Sie waren sich nach ihren beiderseitig zerbrochenen Beziehungen<br />
begegnet – sie nach zwei fallierten Ehen, er nach<br />
einer solchen und dem Tod seines Sohnes. Und trotzdem ihre<br />
ständigen Begleiter während der beiden ersten Jahre ihres gemeinsamen<br />
Lebens Anwälte in Rom, Paris, London und Stockholm<br />
(i.S. Rossellini-Scheidung) waren, war <strong>Ingrid</strong> immer für
Lars da – und verliess sich ihrerseits mehr auf ihn <strong>als</strong> je zuvor<br />
auf Petter und R<strong>ob</strong>erto.<br />
Aber nicht alles lief in diesem Frühjahr 1957 so pr<strong>ob</strong>lemlos.<br />
Mitten in der Nacht des 17. Mai erhielt <strong>Ingrid</strong> in ihrer<br />
Suite im Raphael einen Anruf aus Bombay (Mumbay), Indien.<br />
R<strong>ob</strong>erto warnte sie, dass ein Skandal im Entstehen sei, von<br />
dem sie aber kein Wort glauben solle – was natürlich den genau<br />
gegenteiligen Effekt hatte. Zwei Tage danach platzte die<br />
Presse mit der Geschichte heraus über die Affäre des einundfünfzigjährigen<br />
Rossellini mit der siebenundzwanzigjährigen<br />
Sonali Das Gupta, die zwei Kinder hatte. <strong>Ingrid</strong> wischte die<br />
Fragen der Reporter mit einer Handbewegung und einem verharmlosenden<br />
Lächeln beiseite, doch die Vorstellung konnte<br />
nicht überzeugen. Aus Indien waren während der folgenden<br />
Monate einige halbherzige Dementi zu vernehmen.<br />
DIESEN SOMMER ERLEBTE INGRID eine hochwillkommene<br />
Ablenkung von ihren Gedanken an die Ehekrise, respektive<br />
immer wahrscheinlicher: ihre bevorstehende Trennung.<br />
Am 8. Juli kam Pia nach einem Besuch mit ihrem Vater in<br />
Schweden alleine in Paris an. Die erste Begegnung von Mutter<br />
und Tochter nach den paar schwierigen Tagen in London vor<br />
sechs Jahren war zunächst etwas unangenehm; <strong>Ingrid</strong> war<br />
ausserordentlich erschöpft, weil sie tags zuvor H<strong>als</strong> über Kopf<br />
nach Paris zurückkehren musste, nachdem die fünfjährige Isabella<br />
einer Blinddarm-Notoperation unterzogen werden musste.<br />
Pia war von einem schnippischen Mädchen von zwölf zu<br />
einer sehr attraktiven jungen Frau von 18 Jahren herangewachsen.<br />
Sie hatten sich viel zu erzählen, aber ihr Treffen in<br />
Paris wurde durch die Paparazzi, die sie wie die Fliegen umschwärmten,<br />
nicht gerade erleichtert. <strong>Ingrid</strong> fürchtete, dies<br />
könne Pia auf unerträgliche Art belasten, aber sie hatte nicht<br />
berücksichtigt, dass ihre Tochter Kraft und Zähigkeit von ihr<br />
geerbt hatte.<br />
"Ich erlebte dieses Treffen in Paris und den ganzen<br />
Rummel <strong>als</strong> sehr aufregend", sagte Pia Jahre später. "Hunderte<br />
483
und aberhunderte von Menschen waren am Flughafen, um<br />
meine Mutter und mich zu sehen. Ich meine, es war wirklich<br />
eine Mischung aus Aufregung und vermutlich auch Verlegenheit<br />
und Missbehagen." Einige Tage später begaben sie sich<br />
nach Santa Marinella, wo Pia den Sommer mit R<strong>ob</strong>ertino, Isabella<br />
und <strong>Ingrid</strong> verbrachte. "Manchmal dachte ich, das sei<br />
doch lächerlich", fügte Pia bei. "Was soll ich hier? Was würde<br />
mein Vater dazu sagen? Sicher hätte er keine Freude daran –<br />
er muss gedacht haben, es sei für mich schrecklich gewesen,<br />
nach Italien zu kommen und mit diesen drei Kindern zu leben.<br />
Trotzdem, ich tat es und dies manchmal mit einem sehr speziellen<br />
Gefühl."<br />
Alle gaben sich eine enorme Mühe in diesem Sommer,<br />
aber die lockere und herzliche Verbundenheit zwischen <strong>Ingrid</strong><br />
und Pia, wie sie von der Presse geflissentlich verbreitet wurde,<br />
war leider eine weitere Illusion. Pia stellte sich <strong>als</strong> geschickte<br />
und flinke Helferin an, lernte mit erstaunlicher Leichtigkeit Italienisch,<br />
akzeptierte, dass sie Mamas Aufmerksamkeit mit ihren<br />
Halbgeschwistern teilen musste und bewies eine Reife, die<br />
ihre Jahre bei weitem übertraf. "Vermutlich suchte ich eine<br />
Familie", sagte Pia später, "und im wahrsten Sinne fand ich<br />
erstm<strong>als</strong> eine in jenem Sommer." Aber die Sensibilität beider,<br />
von Mutter und Tochter, gestaltete ihr Wiedersehen so delikat,<br />
wie sie beide voll Sehnsucht und unausgereifter Liebe füreinander<br />
waren.<br />
Am 18. August kehrte Pia in ihr College in Amerika zurück,<br />
und wenige Tage nachdem sie ihr am Flughafen zum Abschied<br />
zugewinkt hatte, kehrte <strong>Ingrid</strong> zurück um einen andern<br />
Reisenden zu treffen – Regisseur Stanley Donen, der herkam,<br />
um sie dafür zu gewinnen, mit Cary Grant in einem Film Namens<br />
"Kind Sir" aufzutreten. Aber er hatte keine schwierige<br />
Aufgabe. "Ich will es Ihnen leicht machen", sagte <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> sie<br />
im Rossellini-Apartment ankamen. "Ich werde den Film machen.<br />
Ich habe einen Artikel über Sie gelesen, wonach Sie sehr<br />
talentiert seien ...und auch Cary will offenbar mit Ihnen arbeiten.<br />
Das genügt mir. Aber, Bitte, würden Sie mir sagen, worum<br />
es in diesem Film eigentlich geht?"<br />
484
Das war einfach – es ging um nichts weiter <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong><br />
<strong>Bergman</strong> und Cary Grant, die in Technicolor betörend aussehen.<br />
Natürlich äusserte Donen nichts dergleichen. Die Geschichte<br />
handelt von einem Mann, der um Junggeselle zu bleiben,<br />
jeder Frau – vor dem Beginn einer Affäre – erzählt, er sei<br />
verheiratet. Er begegnet dann einer erfolgreichen Schauspielerin<br />
(<strong>Ingrid</strong>), die ihn verblendet und, wie sie die Wahrheit über<br />
ihn erfährt, den Spiess umdreht. Am Schluss ist klar, dass sie<br />
heiraten werden. Viel Lärm um nichts, und die Zensoren hätten<br />
ihren Frieden. Nachdem Donen die Geschichte auf seine charmante<br />
Art umrissen hatte, bestätigte <strong>Ingrid</strong> ihre Bereitschaft,<br />
die Rolle der Anna Kalman zu übernehmen.<br />
Was sie bei dieser schnellen Zustimmung verschwiegen<br />
hatte, war, dass sie dringend Geld brauchte. Steuerplanung<br />
war ihr aus ihren Lindström-Rossellini-Jahren überhaupt kein<br />
Begriff, doch plötzlich musste sie erkennen, dass die französischen<br />
Behörden ihre Theatergagen mit massiven Forderungen<br />
belegten und dass sich auch Italien ein Anrecht auf Teile davon<br />
sicherte. R<strong>ob</strong>erto war in Indien praktisch so arm wie ein Bettler<br />
und lieferte dieses Jahr nichts weiter <strong>als</strong> Liebesgrüsse an seine<br />
Kinder; seiner Frau sandte er einfach mehr Rechnungen, die<br />
sie zu begleichen hatte. <strong>Ingrid</strong> sollte für den Film $ 125'000<br />
erhalten und weil sie <strong>als</strong> Ausländerin galt, nahm die amerikanische<br />
Produktionsgesellschaft auch keinen Steuerrückbehalt vor<br />
– aber Frankreich und Italien machten happige Forderungen<br />
geltend. Während der nächsten Jahre hatte sich <strong>Ingrid</strong> selbst<br />
auf ein ausgewogenes Budget festgelegt, und bis 1961 gelang<br />
es ihr, auf einem Schweizer Bankkonto mehrere hunderttausend<br />
Dollar zurückzulegen.<br />
Was den Titel von Donens Film anbelangt – nun, "Kind<br />
Sir" war am Broadway ein verheerender Misserfolg und wurde<br />
daher <strong>als</strong> Titel aufgegeben, und logischerweise mussten sie<br />
(nachdem <strong>Ingrid</strong> unterzeichnet hatte) auch die Vorschläge<br />
'Mister and Mistress' oder 'As Good as Married' oder 'They're<br />
not Married' fallenlassen. Kurz bevor die Dreharbeiten diesen<br />
Herbst in London begannen, wurde der Titel dann definitiv auf<br />
"Indiskret" festgelegt.<br />
485
Für diese Nachricht hatte <strong>Ingrid</strong> nur ein müdes Lächeln<br />
übrig, denn sie widerspiegelte fast genau die Si<strong>tu</strong>ation ihrer<br />
eigenen Vergangenheit – und der ak<strong>tu</strong>ellen ihres Gatten. Ihm<br />
war noch nicht bewusst, wie einfach er die Trennung von ihr<br />
haben könnte, denn sosehr sie den Gedanken an eine Kampfscheidung<br />
um die Kinder und die damit verbundene neue Negativpropaganda<br />
hasste, war sie doch entschlossen, einen<br />
Strich unter diese Ehe zu ziehen. Die Bestätigung für diese<br />
Entscheidung erhielt sie am 1. Okt<strong>ob</strong>er, <strong>als</strong> sie die Tür zu ihrem<br />
Appartement im Raphael öffnete und niemand anderes <strong>als</strong><br />
Sonali Das Gupta, braunhäutig, exotisch und schön, ihr eine<br />
Hand hinstreckte, während sie mit der andern ein Baby trug.<br />
Blitzartig kalkulierte <strong>Ingrid</strong> die Zeit, seit welcher ihr Mann abwesend<br />
war und erhielt von Sonali aber im nächsten Moment<br />
die Bestätigung: es war nicht R<strong>ob</strong>ertos Kind. Sonali war jetzt<br />
aber von R<strong>ob</strong>erto schwanger und ein anderes Kind hatte sie<br />
noch in Indien zurückgelassen.<br />
So befand sich <strong>Ingrid</strong> nun in einer ähnlichen Si<strong>tu</strong>ation<br />
wie Anna Magnani vor acht Jahren. Jetzt war sie die Frau, die<br />
von R<strong>ob</strong>erto für eine andere verlassen wurde; und da war nun<br />
Sonali – "Ist das nicht seltsam", sagte <strong>Ingrid</strong> später, "dass sie<br />
ein Kind zurückgelassen hat, genau wie ich?" Über das Treffen<br />
mit Sonali ist nichts genaues bekannt, ausser dass sie erklärte,<br />
ihren geliebten R<strong>ob</strong>erto heiraten zu wollen und <strong>Ingrid</strong> ihr versprach,<br />
ihr diesbezüglich keine Steine in den Weg zu legen.<br />
Fünf Tage danach traf R<strong>ob</strong>erto in Paris ein, zehn Monate<br />
nachdem er <strong>Ingrid</strong>s Pariser Premiere fluchtartig verlassen hatte.<br />
Für die Fotographen mimten sie ein liebevolles Wiedersehen<br />
und begaben sich dann unverzüglich zum Raphael, um<br />
ihre Trennung zu besprechen. Mit seiner Frage nach dem Stück<br />
konnte er einmal mehr nicht punkten: "Machst du diesen Mist<br />
immer noch?"<br />
Am 7. November unterzeichneten sie in Rom eine Trennungs-Vereinbarung.<br />
Vorderhand hatte <strong>Ingrid</strong> das Sorgerecht<br />
für die Kinder, aber R<strong>ob</strong>erto hatte das uneingeschränkte Besuchsrecht<br />
erhalten. Dagegen hatte er keinerlei Verfü-<br />
486
gungrecht über den in Indien vollendeten Film, denn sein<br />
Schuldenberg war dort inzwischen derart angewachsen, dass<br />
die Regierung das Negativ beschlagnahmte und dessen Ausfuhr<br />
aus Indien verbot. Ohne einen Moment lang zu zögern<br />
unternahm <strong>Ingrid</strong> eine Nachtreise nach London, suchte Premierminister<br />
Nehru auf (der dort seine im Exil lebende<br />
Schwester besuchte) und bezirzte diesen zugunsten der Kunst<br />
ihres Mannes. Innerhalb von 24 S<strong>tu</strong>nden wurde der Film für<br />
R<strong>ob</strong>erto freigegeben.<br />
NUN BEGANN EINE NEUE PHASE von juristischem Hick-<br />
Hack zur Scheidung der <strong>Bergman</strong>-Rossellini-Ehe. Die Trennung<br />
war ja nur eine vorübergehende Regelung, doch jetzt kamen<br />
die grossen Pr<strong>ob</strong>leme daher.<br />
Erstens war 1957 in Italien keine Scheidung möglich.<br />
Die einzig mögliche Lösung bestand in der Feststellung, dass in<br />
erster Linie ernste Gründe den gesetzesmässigen Vollzug der<br />
Ehe verunmöglichten und diese daher <strong>als</strong> anulliert erklärt wurde.<br />
Dass zweitens die Rossellini-Kinder italienische Staatsbürger<br />
waren. Drittens, dass <strong>Ingrid</strong> nichts unternahm, um R<strong>ob</strong>erto<br />
die Kinder vorzuenthalten oder deren Loyalität zu ihm zu untergraben.<br />
Viertens verbot er ihr, sich wieder zu verheiraten,<br />
ansonsten er sie <strong>als</strong> unfähige Mutter deklarieren und ihr alle<br />
Besuchsrechte an den Kindern absprechen würde. Fünftens,<br />
dass, wenn <strong>Ingrid</strong> sich nach einer im Ausland vollzogenen<br />
Scheidung wieder verheiraten würde, sie in Italien <strong>als</strong> Bigamistin<br />
gelten würde.<br />
Irgendwann, nach endlosen Diskussionen und viel akademischer<br />
Haarspalterei hatte <strong>Ingrid</strong>s gewiefter Anwalt, Ercole<br />
Graziadei, eine Lösung gefunden. <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> schwedische<br />
Staatsangehörige hatte ihre Scheidung in Schweden ebensowenig<br />
registiert, wie ihre Heirat mit Rossellini. So galt <strong>Ingrid</strong>,<br />
die Schwedin, nach einem alten italienischen Gesetz bei ihrer<br />
Heirat mit Rossellini noch immer <strong>als</strong> die Frau von Dr. Lindström<br />
– was sie vor den römischen Gerichten auch jetzt noch war.<br />
Und so begründete Graziadei seinen Scheidungsantrag für die<br />
487
<strong>Bergman</strong>-Rossellini-Ehe: sie hat gar nie existiert. Glücklicherweise<br />
hatte das italienische Gesetz auch für den würdigen Sta<strong>tu</strong>s<br />
der Kinder vorgesorgt: kein italienisches Kind ist unehelich,<br />
solange der Vater seine Vaterschaft anerkennt. Graziadeis<br />
Plaedoyer war so genial, um nicht zu sagen: einmalig, dass der<br />
Richter in Rom am Schluss der Verhandlung nur zustimmend<br />
mit dem Kopf nickte und sich zum Lunch begab. Damit war<br />
noch eine Hürde nicht beseitigt: Schweden aberkannte <strong>Ingrid</strong><br />
ihr Bürgerrecht, falls sie ihre italienische Ehe 1950 in einen<br />
ungeschiedenen Zustand umwandeln würde. Auch dieses Pr<strong>ob</strong>lem<br />
sorgte noch während des ganzen Jahres 1958 für Juristenfutter;<br />
dann wurde ihr schwedisches Bürgerrecht aber wieder<br />
neu anerkannt.<br />
488<br />
"Ich war nicht sehr traurig", kommentierte <strong>Ingrid</strong> später<br />
das Ende ihrer Ehe.<br />
Sicher, ich war unglücklich. Man glaubt an etwas, das<br />
sich dann <strong>als</strong> Fehler entpuppt. So ist das Leben eben.<br />
Aber ich habe eine Kraft, die nicht allen Frauen gegeben<br />
ist, und die kommt aus meiner Arbeit. Das kann mir<br />
niemand nehmen. Wäre ich eine Frau, die vollständig<br />
auf ihren Mann angewiesen ist, auf sein Geld, auf seinen<br />
Schutz, dann wäre das etwas ganz anderes.<br />
Sie hätte vielleicht noch beifügen können, dass sie während<br />
der Rossellini-Jahre viel Nützliches über das Leben, die<br />
Liebe und den Misserfolg gelernt hat – nicht zuletzt, wie sich<br />
von Zeit zu Zeit etwas zu entspannen und zu verhindern, dass<br />
man unter dem Druck des ständigen Arbeitsdrangs nicht zerbricht.<br />
Sie wurde durch die Schwierigkeiten auch stärker, wie<br />
verschiedene Freunde wie Kay Brown bemerkten: "Sie hatte<br />
nie das Gefühl, die Jahre mit R<strong>ob</strong>erto seien für sie ein Zeitverlust<br />
gewesen. Ich glaube, in wesentlichen Dingen ist sie gewachsen."<br />
UND SO TRAF INGRID AM 10. NOVEMBER für "Indiskret"<br />
in London ein, wo ihr Kummer durch die Anwesenheit
ihres alten Freundes Cary Grant in den Hintergrund verdrängt<br />
wurde. Er holte sie am Flughafen ab und schirmte sie vor den<br />
üblichen Paparazzi-Attacken ab. Drei Tage danach begannen<br />
die Dreharbeiten, die nur durch <strong>Ingrid</strong>s Festhalten an der Forderung,<br />
die Weihnachtstage zuhause bei den Kindern in Rom<br />
zu verbringen, unterbrochen wurden: "Sie fand, die Familie<br />
müsse an Weihnachten beisammen sein", sagte der Produktionspublizist<br />
Phil Gersdorf, "und sie nahm Mengen von Geschenken<br />
für die Kinder mit."<br />
<strong>Ingrid</strong> war, wie Signe Hasso über diese Jahre erzählte,<br />
die besorgtere Mutter <strong>als</strong> je zuvor – aber es war oft eine Sorge<br />
aus der Distanz, weshalb gewisse Leute behaupteten, diese<br />
Sorge habe auch ihre Grenzen. Ab 1958 war <strong>Ingrid</strong> einmal<br />
mehr der erfolgreiche Star, und sie fühlte, sie könnte eine hingebungsvolle<br />
Mutter sein, auch wenn es ihr nicht möglich war,<br />
ständig bei den Kindern zu sein. In ihrer Arbeit konnte sie ihre<br />
Persönlichkeit entfalten, weshalb sie glaubte, gerade dadurch<br />
ihren Kindern mehr bieten zu können – vor allem die alles<br />
überstrahlende Freude an der Arbeit und am Leben.<br />
Sie war bestimmt keine schlechte Mutter, und ihre Kinder<br />
versicherten vor und nach ihrem Tod immer wieder, sie<br />
hätten sich jederzeit auf ihre Mutterliebe verlassen können.<br />
Aber <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> – die unvergleichliche Frau, Freundin,<br />
Geliebte und Künstlerin – war auch <strong>als</strong> Mutter eine Kategorie<br />
für sich, mehr in der englischen oder französischen Tradition,<br />
<strong>als</strong> in der amerikanischen. "Es ist nicht meine besondere Freude,<br />
ständig zuhause und Mutter zu sein", bekannte sie in ihrer<br />
üblichen Offenheit. "Ich geniesse es, wenn ich nicht arbeite –<br />
und das ist oft!"<br />
Isabella sprach für sich und ihre Geschwister, <strong>als</strong> sie<br />
sagte: "Es tat mir nicht weh, dass meine Mutter nicht täglich<br />
bei mir war. Wir verbrachten im Sommer zwei Monate mit ihr,<br />
einen Monat um Weihnachten, zwei Wochen an Ostern – und<br />
sie sorgte dafür, monatlich wenigstens eine Woche bei uns zu<br />
sein. So sahen wir uns wirklich oft...und wenn Mama kam, hatte<br />
sie nichts anderes zu <strong>tu</strong>n, <strong>als</strong> sich um uns zu kümmern. Sie<br />
489
kam zur Schule, um zum Rechten zu sehen. Sie ging abends<br />
nie aus. Sie lud nicht einmal je Gesellschaft zum Nachtessen<br />
ein, um sich etwas Abwechslung von uns zu verschaffen. Sie<br />
gehörte nur uns."<br />
Zu <strong>Ingrid</strong>s Schuldgefühl für ihre ungewöhnliche Art der<br />
Mutterschaft, fügte Isabella bei:<br />
490<br />
"An uns vier Kindern fühlte sie sich nicht so sehr schuldig,<br />
weil sie eine Schauspielerin war. Es waren vielmehr<br />
die Streitereien mit Lindström und meinem Vater, die<br />
sie uns gerne erspart hätte – und dass der Streit so unglaublich<br />
heftig werden konnte. Sie fragte sich, was sie<br />
hätte <strong>tu</strong>n können, um die Wut der Väter zu beschwichtigen."<br />
Am 6. Februar 1958 war "Indiskret" vollendet und wurde<br />
zur Veröffentlichung im Juni vorbereitet. Trotz ihren praktisch<br />
täglichen Kontakten mit Anwälten und ihrer unverwüstlichen<br />
Geduld mit der zunehmend aufsässigen Presse war <strong>Ingrid</strong><br />
in diesem Film erstm<strong>als</strong> in ihrer englischsprachigen Karriere<br />
eine strahlende, hochperfekte Kommödiantin. Ihre subtilen<br />
Reaktionen, zeitlich fein auf Grants schickes Verhalten abgestimmt,<br />
boten dem Publikum neue Aspekte ihrer Schauspielkunst.<br />
"Wie kann er es wagen, mich zu lieben ohne verheiratet<br />
zu sein!" schrie sie, w<strong>ob</strong>ei dieser abgedroschene Spass nie<br />
amüsanter wirkte, <strong>als</strong> hier. Auch ihr Auftritt in den von Dior,<br />
Balmain und Lanvin eigens für sie entworfenen Kleidern war<br />
spektakulär.<br />
Eines von diesen trug sie an einem Abschiedsdinner,<br />
das Cary Grant zu ihren Ehren gab und an dem er ein hübsch<br />
verpacktes kleines Päckchen mit Geschenkkarte an ihren Platz<br />
legte. Wie sie es öffnete, erkannte sie sofort den Weinkellerschlüssel<br />
aus "Notorious", das Requisit, das er in der Hoffnung<br />
entwendet hatte, es werde ihm eine neue Tür in seiner Karriere<br />
öffnen. Nun, sagte er, der Talismann habe seinen Dienst in<br />
den vergangenen Jahren getan. Jetzt sollte er ihr gehören, und<br />
er verband es mit der liebevollen Hoffnung, der Schlüssel werde<br />
nun auch ihr ein verheissungsvolles Tor in ihrer Karriere
öffnen. <strong>Ingrid</strong> behielt den Schlüssel während einundzwanzig<br />
Jahren, bevor sie ihn an einen weiteren würdigen Empfänger<br />
weitergab.<br />
In gewissem Sinne war bereits eine Tür dabei, sich in<br />
<strong>Ingrid</strong>s Leben neu zu öffnen, und zwar nicht nur beruflich. Ihre<br />
Freundschaft zu Lars Schmidt wurde zusehends vertrauter und<br />
auch intimer. Sie bewunderte sein Selbstvertrauen, sein Verständnis<br />
für das Temperament eines Schauspielers und seinen<br />
Verzicht darauf, sie zu kontrollieren: schliesslich hatte er eine<br />
eigene herausfordernde Karriere zu bewältigen und unterstützte<br />
ausserdem <strong>Ingrid</strong>s Wunsch, die ihre weiterzuführen. Sie<br />
bemerkte, dass er ihre Gefühle kannte, noch bevor sie sie zum<br />
Ausdruck brachte und dass ihnen ein Blick genügte, um sich<br />
gedanklich zu verständigen. "Was ich an ihm auch mochte,<br />
war, dass wir uns in unserer Sprache über unsere schwedischen<br />
Landsleute amüsieren konnten", fügte <strong>Ingrid</strong> noch bei.<br />
"Übrigens war es auch ein grosses Vergnügen, die Presse zu<br />
überrumpeln. Da kamen sie, um über die arme, verlassene<br />
<strong>Ingrid</strong> zu schreiben – und dann tauchte ich mit Lars auf! Mit<br />
ihm werde ich nun mein drittes Leben beginnen."<br />
Lars seinerseits war nicht nur vom bildhübschen, begnadeten<br />
Filmstar entzückt, sondern auch von der warmherzigen,<br />
aufrichtigen Frau, die es verstand, den Mann den sie liebte,<br />
zu verwöhnen und zu verehren. "Ich bewundere ihre In<strong>tu</strong>ition,<br />
ihren Willen, ihre Kraft und ihren Humor", sagte er dam<strong>als</strong>.<br />
"Das Beste von allem: wir sprechen dieselbe Sprache."<br />
Als ihre Freundschaft zur Romanze wurde, begannen sie, ganz<br />
offen von Heirat zu sprechen – "s<strong>ob</strong>ald alle rechtlichen Voraussetzungen<br />
erfüllt sind", wie <strong>Ingrid</strong> sagte. Das war aber bis Dezember<br />
1958 nicht der Fall, denn wie Rossellini von <strong>Ingrid</strong>s<br />
Heiratsplänen hörte, machte er seine Drohung wahr, brandmarkte<br />
sie öffentlich <strong>als</strong> unfähige Mutter und focht um das<br />
vollständige Sorgerecht für ihre drei Kinder – was ihm das italienische<br />
Gericht auch gewährte und dem sich <strong>Ingrid</strong>, viel später,<br />
auch endgültig fügte, weil sie den Kindern eine öffentliche<br />
Schlammschlacht, wie Pia sie seinerzeit durchleben musste,<br />
ersparen wollte.<br />
491
Adler, Skouras und Co. bei Fox bedrängten nun Kay<br />
Brown mit Angeboten, <strong>Ingrid</strong>s Dienste für einige Filme zu gewinnen<br />
– und zwar zur bisher unerreichten Gage von $ 1 Million<br />
(was dasselbe S<strong>tu</strong>dio später Elizabeth Taylor für "Cleopatra"<br />
bezahlte). Zur allgemeinen Überraschung lehnte <strong>Ingrid</strong> das<br />
Angebot aber mit der Begründung ab, sie wolle nicht in den<br />
Sta<strong>tu</strong>s der Vertrags-Schauspielerin zurückkehren und dass,<br />
wenn es ihr mit individuellen Engagements gelinge, genügend<br />
Geld zur Deckung ihres Lebensbedarfs und zur Finanzierung<br />
einer guten Ausbildung ihrer Kinder zu verdienen, ihr das genüge.<br />
Ihr einziger Wunsch diesen Winter: "Ich will bei dir leben",<br />
schrieb sie Lars am 21 Januar, "und ich sehne mich nach<br />
Frieden und Ruhe und nach Arbeit, wenn sie mir Spass macht."<br />
War Petter Lindström der Finanz- und Vertrags-Produzent vom<br />
Dienst und R<strong>ob</strong>erto Rossellini der wandernde Geschichtenerzähler,<br />
der ihr Schicksal umschrieb, dann war Lars Schmidt<br />
eindeutig der Verleger, der endlich der Ordnung zum Durchbruch<br />
verhalf und dem Glanz auf dem Endprodukt ermöglichte,<br />
unbehindert weiterzustrahlen.<br />
Die Briefe, die sie Lars dieses Jahr schrieb, lassen eine<br />
leidenschaftliche Frau erkennen, nicht die nordischkühle, wie<br />
sie von der Presse oft dargestellt wird; tatsächlich erlebte sie<br />
mit zweiundvierzig das Entzücken einer jungen Braut. Am 13.<br />
Februar, unterwegs von London nach Rom, wo sie einige Advokaten-Termine<br />
wahrzunehmen hatte, schrieb <strong>Ingrid</strong>:<br />
492<br />
"Ich liebe dich mehr <strong>als</strong> alles auf Erden...ich denke an<br />
uns und all das Schöne, das wir mit Gottes Hilfe erleben<br />
dürfen...ich stelle mir vor, du seist hier, ich küsse<br />
dich...Mein Liebster, ich danke dir für deine Liebe, vor<br />
allem aber für dein Verständnis. Noch sind es kaum<br />
eineinhalb S<strong>tu</strong>nden, seit wir uns trennten, und schon<br />
fehlst du mir. Es gab bisher nichts Besseres <strong>als</strong> uns<br />
zwei. Ich danke Gott für dich und dass du meine Wege<br />
gekreuzt hast. Da bin ich nun – deine alte Dame, dein<br />
K<strong>ob</strong>old und dein Unglück – ich bin nun deine Bürde und<br />
werde dir zeitlebens am H<strong>als</strong> hängen."
Bald danach reisten <strong>Ingrid</strong> und Lars für zwei Wochen<br />
nach Schweden, wo ihn mehrere geschäftliche Termine erwarteten.<br />
Dieses Jahr produzierte Lars einige Stücke in Europa,<br />
worunter "Das Tagebuch der Anne Frank" und "Twelve Angry<br />
Men" ; ausserdem bereitete er die Stockholmer-Premiere von<br />
"My Fair Lady" vor. Genau so wichtig war ihm aber, <strong>Ingrid</strong> seinen<br />
wertvollsten Besitz zu zeigen – die Zwei-Acre-Insel Dannholmen,<br />
einige Meilen vor der schwedischen Westküste gelegen,<br />
die er vor einigen Jahren gekauft hatte.<br />
Eine der Voraussetzungen für eine Ehe zwischen ihnen,<br />
machte Lars klar, sei <strong>Ingrid</strong>s Bereitschaft, die Sommerferien<br />
mit ihm hier zu verbringen. So kletterten sie in Fjällbacka, einem<br />
verschlafenen Fischerdorf, in ein kleines Boot und stiessen<br />
ab – Schatten ihrer ersten Überfahrt nach Stromboli – in<br />
Rich<strong>tu</strong>ng eines blanken Felsens in einem windgepeitschten Archipel<br />
in der Nordsee. Aber beim Näherkommen erkannte <strong>Ingrid</strong><br />
bald, dass kein Vergleich mit der Vulkaninsel angebracht<br />
war, wiewohl hier auch kein schwieriges Projekt auf sie wartete.<br />
Eine blau-weisse See donnerte endlos gegen die farbigen<br />
Felsen von Dannholmen, und den schneidenden Märzwinden<br />
zum Trotz hatte diese Na<strong>tu</strong>r eine Reinheit, die <strong>Ingrid</strong>s eigener<br />
geistiger Strenge gefiel – nicht Lars zuliebe, wie er bald erkannte,<br />
sondern weil die Insel ihren lange unterdrückten<br />
Wunsch nach gelegentlicher Einsamkeit, Ruhe und Einfachheit<br />
zu erfüllen versprach.<br />
Auf einer kleinen Anhöhe erh<strong>ob</strong> sich – einer einfachen<br />
Salzbüchse gleich – eine Hütte mit einer kleinen Küche, einem<br />
Schlafzimmer und einem gemütlichen Wohn-Ess-Raum. Eine<br />
spezielle Anlage bereitete Seewasser zu Trinkwasser auf, aber<br />
es gab da keine Elektrizität, weder Wasserlei<strong>tu</strong>ngen noch Telefon.<br />
Nach und nach richteten <strong>Ingrid</strong> und Lars modernen Komfort,<br />
ein Gäste- und ein Arbeitszimmer ein. "Und mit <strong>Ingrid</strong><br />
kam das Telefon, denn sie wollte mit ihren Kindern natürlich im<br />
Kontakt bleiben." Dennoch blieb Dannholmen eine antike, fast<br />
zeitlose kleine Welt für sich. <strong>Ingrid</strong> hatte kein Heim, das ihr<br />
mehr bedeutete, <strong>als</strong> dieser Ort, wo sie jene Stille und jenen<br />
Frieden fand, welche die zermürbenden Nebenfolgen ihrer Be-<br />
493
ühmtheit zu lindern vermochten. Gegen Ende ihres Lebens<br />
liebte sie es, den rauhen Felsen entlang zu klettern, wo sie<br />
eine glatte Granitplatte gefunden hatte, auf die sie sich mit<br />
ihrem Script oder einem Buch hinsetzte, ihre Texte lernte und<br />
am Wasser zu froher Heiterkeit zurückfand – wie zu ihrer Jugendzeit,<br />
<strong>als</strong> sie auf den Bänken am Strandvägen oder im<br />
Djurgården, später in Santa Monica, Malibu und Santa Marinella<br />
immer einen Ort der Besinnung fand.<br />
DIE ZEIT GAB IHREM HÜBSCHEN GESICHT charakteristische<br />
Züge um Mund und Augen, und die Kon<strong>tu</strong>ren ihres Antlitzes<br />
erschienen fortan gebräunter, markiger und dennoch<br />
strahlender. Selbst später, während ihrer vernichtenden<br />
Krankheit, hat sich dieses Leuchten erhalten.<br />
Anfangs März stellte Lars <strong>Ingrid</strong> seiner Familie und seinem<br />
alten Freund Baron Göran von Essen und seiner Frau Marianne<br />
vor. Alle waren sowohl von ihrer unaffektierten Art<br />
überrascht, wie auch von ihrem Auftritt nach einer Late-night-<br />
Party mit Mengen von Champagner, <strong>als</strong> sie (gemäss den von<br />
Essens) am nächsten Morgen wie eine frisch erblühte Rose<br />
erschien: der ausgesprochen 'feuchte Nachtbetrieb' und ihr<br />
Schlafmangel waren ihr überhaupt nicht anzusehen. "Das ist<br />
nicht gerecht!", sagte Marianne und wiederholte damit die Klage<br />
zahlloser anderer Frauen. Sogar die schwedische Presse, die<br />
Lars und <strong>Ingrid</strong> in Lars' Elternhaus belagerte, war neu gewonnen,<br />
vielleicht weil ihr neuer Partner ein Einheimischer war.<br />
Mitte März, unmittelbar nach einem Besuch bei den<br />
Kindern, kehrte <strong>Ingrid</strong> für einen neuen Film mit Fox-Produzent<br />
Buddy Adler nach London zurück – es handelte sich ausgerechnet<br />
um eine Frau, die hundert Kinder adoptiert. "Ich<br />
schwor, dass ich keine weiteren Heiligen oder Nonnen mehr<br />
spielen werde, und nun spiele ich eine Missionarin!", kommentierte<br />
sie die "Herberge zur sechsten Glückseligkeit", deren<br />
Dreharbeiten in London und in Wales (substi<strong>tu</strong>ierend für China)<br />
im März 1958 begannen. Der Film basierte auf der wahren Geschichte<br />
der Gladys Aylward, einer Haushälterin, die England<br />
494
verlässt, um in China missionarisch zu arbeiten, wo der Krieg<br />
mit Japan und soziale Missstände ihre humanitäre Arbeit aber<br />
nahezu verunmöglichen. Das Finale, in dem sie Massen von<br />
Kindern auf einer entbehrungsreichen Flucht über einen Gebirgszug<br />
in Sicherheit bringt, gräbt sich dem Betrachter durch<br />
den wiederholten Kinderchor des Liedes "This Old Man" ins<br />
Gedächtnis ein.<br />
Trotz "Anastasia" und der allgemeinen Sympathie zu<br />
<strong>Ingrid</strong> während des gegenwärtigen Rossellini-Debakels, waren<br />
Adler und seine Kollegen in Sorge darüber, <strong>Ingrid</strong> einer spezifischen<br />
Konfession zuzuordnen – sodass wir sie nie beim Religionsunterricht<br />
sehen oder gar beim Betreten einer Kapelle.<br />
Trotz den vielen Script-Unstimmigkeiten, auf die sie Adler und<br />
Regisseur Mark R<strong>ob</strong>son (der die meisten ihrer Vorschläge sofort<br />
übernahm) aufmerksam machte, gelang es ihr nicht, Klarheit<br />
darüber zu schaffen, was Miss Aylward eigentlich glaubte.<br />
Sie musste sogar sagen, "sie sei eine unakkreditierte Missionarin"<br />
und damit den Verdacht andeu<strong>tu</strong>ngsweise in den Raum<br />
stellen, sie sei eine Freiberuflerin ohne Credo, die ohne so etwas<br />
Störendes wie das Mysterium des Glaubens predige.<br />
So kam es, dass dieser etwas lahme Film (über zweieinhalb<br />
S<strong>tu</strong>nden in der Original-Version) erst am Schluss bei<br />
der Ret<strong>tu</strong>ng der chinesischen Kinder zu etwas Leben erwachte,<br />
einer langen Sequenz, die durch <strong>Ingrid</strong>s Weigerung, Herzlichkeit<br />
durch Gemeinplätze zu ersetzen, viel Ausdruckskraft erhielt.<br />
Im übrigen ist diese Herberge mit einer Besetzung von<br />
über Zweitausend Personen überfüllt und glich, wie ein Witzbold<br />
einmal sagte, nichts so sehr wie Cecil B. DeMilles Version<br />
von "Now I Lay Me Down to Sleep".<br />
Was immer auch seine Mängel waren, der Film "Die<br />
Herberge zur sechsten Glückseligkeit" konnte die Rehabilitation<br />
seiner Hauptdarstellerin nicht behindern, denn er fand Ende<br />
der 50er-Jahre grosse Beach<strong>tu</strong>ng <strong>als</strong> inspirierender Film – vielleicht<br />
teils auch vor dem Hintergrund des eskalierenden Kalten<br />
Krieges und dem internationalen Säbelrasseln, das bald überall<br />
zu hören war. Unter anderem spielte eben Deborah Kerr eine<br />
495
höchst beeindruckende Nonne in "Heaven Knows, Mr. Allison" ,<br />
Audrey Hepburn arbeitete an der "Geschichte einer Nonne"<br />
und "Ben Hur" war in Vorberei<strong>tu</strong>ng. Was <strong>Ingrid</strong> anbelangt, so<br />
war sie in der öffentlichen Gunst so rehabilitiert, dass ihr Akzent<br />
ebenso bereitwillig ignoriert wurde, wie ihr ehem<strong>als</strong><br />
schlechter Ruf: sie wurde glatt <strong>als</strong> British verkauft, wie ihr<br />
deutscher Co-Star Curd Jürgens <strong>als</strong> chinesischer Offizier und<br />
der Engländer R<strong>ob</strong>ert Donat <strong>als</strong> Mandarin.<br />
ABER DA STAND NOCH EINE ANDERE Wiederherstellung<br />
an, nachdem der Film diesen Sommer fertiggestellt war. Gemeinsam<br />
hatten <strong>Ingrid</strong> und Lars eine Liegenschaft im ländlichen<br />
Frankreich gefunden, ein dreihundert Jahre altes Gebäude,<br />
das geradewegs einem Märchenbuch entsprungen zu sein<br />
schien und dessen Renovation und Modernisierung sie nun zu<br />
überwachen hatten. Eine S<strong>tu</strong>nde von Paris entfernt und zwei<br />
Meilen ausserhalb des winzigen Dörfchens Choysel im Chevreuse-Tal<br />
gelegen, war es ein üppiges Anwesen mit einem reichen<br />
Bestand an alten Zedern, Zypressen, Pappeln, Nussbäumen<br />
und Tannen. Versteckt darin lag "La Grange aux Moines",<br />
die Mönchs-Scheune, ein Haus aus Bruchsteinmauern, mit<br />
Dachgauben und alten Ziegeln. Seit Jahren wünschte sich <strong>Ingrid</strong><br />
ein Stück französischen Boden wegen ihrer tiefen Beziehung<br />
zu Jeanne d'Arc. Nun hatte sie es – ein Ort zum Entspannen,<br />
nahe und doch fern vom Moloch Paris, ein Ort auch für<br />
ihre Kinder.<br />
AM SONNTAG MORGEN, 21. Dezember 1958, gaben<br />
sich <strong>Ingrid</strong> und Lars im Zivilstandsamt von Claxton Hall, London,<br />
in Anwesenheit einiger Freunde das Jawort. Dann begaben<br />
sie sich gemütlich hinüber zur schwedischen Kirche, wo sie<br />
den Segen empfingen, schlürften Champagner beim Lunch im<br />
Connaught Hotel und – noch bevor das Blitzgewitter sie blenden<br />
konnte – bestiegen sie ein Flugzeug nach Choysel. Die<br />
Frage ihrer Trennung oder Scheidung von R<strong>ob</strong>erto Rossellini<br />
konnte Graziadeis Gewieftheit zum Trotz noch nicht gelöst<br />
496
werden, aber dieser Präzedenzfall im englischen Gesetz – gepriesen<br />
sei sein ungeschriebenes, tolerantes Herz – betrachtete<br />
die Lindström-Scheidung <strong>als</strong> definitiv und die Rossellini-Ehe<br />
<strong>als</strong> ungültig, weil sie vor jener Scheidung geschlossen wurde.<br />
So waren Lars und <strong>Ingrid</strong> rechtmässig verheiratet.<br />
Monat für Monat während des ganzen Jahres 1959 setzte<br />
sich die Sorgerechts-Schlacht um die Kinder durch R<strong>ob</strong>ertos<br />
unverminderte Bitterkeit fort – uncharakteristisch, meinte <strong>Ingrid</strong>,<br />
denn die wahren Verlierer seien ja der Junge und die Mädchen.<br />
R<strong>ob</strong>erto focht weiter und wollte nicht zulassen, dass die<br />
Kinder Choysel oder Dannholmen besuchten, bevor ein italienisches<br />
Gericht möglicherweise einmal auf das Selbstbestimmungsrecht<br />
der Kinder erkannte – aber das würde noch Jahre<br />
dauern. "Ich komme vom warmherzigen Süden", sagte er einem<br />
Reporter giftig, "sie aber kommt vom frigiden Norden. Ich<br />
bin den Kindern die bessere Mutter, <strong>als</strong> sie." Und an <strong>Ingrid</strong><br />
schrieb er in einem Ton, der dem seines Vorgängers Lindström<br />
in nichts nachstand: "Mach bloss keine Fehler. Du musst sehr<br />
vorsichtig sein. Du begehst immer Fehler. Zu Beginn unserer<br />
gerichtlichen Auseinandersetzung konnte ich dafür sorgen,<br />
dass du die Kinder nach Belieben sehen konntest, aber jetzt<br />
machst du es sehr schwierig."<br />
Diese Art der Stellungnahme verschaffte ihm bei eben<br />
den Kindern, die er für allezeit behalten wollte, natürlich keine<br />
Sympathie. Auch von <strong>Ingrid</strong> erhielt er keine Anwort. "Er ist ein<br />
grosser Regisseur und der Vater von dreien meiner Kinder",<br />
antwortete sie einem Journalisten auf dessen Frage nach diesem<br />
Ausbruch. "Ich kann Hass und Rache nicht weiterziehen.<br />
Das sind Charakterzüge, die andern Menschen abgehen und in<br />
meinem eigenen Leben schon gar keinen Platz haben! Es mag<br />
ja auch sein, dass er meinetwegen eine schlimme Zeit hatte."<br />
"Zwei Jahre lang dauerte der Kampf um die Kinder noch<br />
an", sagte sie später, "und dann sah ich, dass meine Kinder<br />
beim Klingeln des Telefons sich versteiften und fragten: 'Ist<br />
das der Anwalt?' So gab ich eben auf, und sie zogen nach Italien.<br />
Seither haben wir Ruhe." Nun, vielleicht nicht ganz. Aber<br />
497
von den späten 1960er-Jahren an waren R<strong>ob</strong>erto und <strong>Ingrid</strong> –<br />
einzig dank ihrer Beharrlichkeit – doch fähig, sich in einer weniger<br />
explosiven (gelegentlich sogar herzlichen) Atmosphäre zu<br />
begegnen.<br />
Eine sogar sehr freundschaftliche Atmosphäre umgab<br />
<strong>Ingrid</strong> bei ihrer Ankunft in Los Angeles am 3. April. Es war ihre<br />
erste Rückkehr nach Hollywood seit zehn Jahren und einem<br />
Monat; sie und Lars unternahmen die Reise auf Einladung<br />
durch die Motion Pic<strong>tu</strong>re Academy. Es gab ein Wiedersehen mit<br />
Pia, die einen Tag schwänzte, um von Mills College in Oakland<br />
herzukommen; und dann gabs Parties bei Buddy Adler und<br />
Alfred Hitchcock, der <strong>Ingrid</strong> ganz besonders vermisst hatte.<br />
Am 6. April brachte Cary Grant <strong>Ingrid</strong> ins Pantages Theater,<br />
wo sie zur Übergabe des Awards für den besten Film (an die<br />
Produzenten von "Gigi") auftrat, durch eine lang andauernde<br />
stehende Ovation aber hingehalten wurde. "Es ist so herzerwärmend,<br />
auf diese Art begrüsst zu werden", sagte sie<br />
schliesslich – worauf der Applaus von Neuem losging, bevor sie<br />
beifügen konnte: "Ich fühle mich wieder zuhause. Ich bin so<br />
dankbar dafür."<br />
BIS IM HERBST WAR INGRIDS ZEIT durch die Renovation<br />
des Hauses in Frankreich, das endlose juristische Hick-<br />
Hack um die Kinder und die Rossellini-Ehe – wie auch durch<br />
die Suche, mit Lars' Hilfe, nach einem geeigneten Film- oder<br />
auch TV-Projekt, das sie erstm<strong>als</strong> dieses Jahr wieder angehen<br />
wollte, völlig ausgebucht. Ausserdem beschäftigte sie der Ankauf<br />
einiger Möbelstücke zur Möblierung einer kleinen Wohnung<br />
in Paris, die sie und Lars gleich neben seinem Büro an<br />
der Avenue Vélasquez, mit Blick über den Parc Monceau gemietet<br />
hatten. Als sie im August vierundvierzig wurde, freute<br />
sich <strong>Ingrid</strong>, jetzt für eine Charakterrolle in Betracht gezogen zu<br />
werden. So übernahm sie die Rolle der namenlosen Gouvernante<br />
in einer stark komprimierten TV-Version von Henry James'<br />
klassischer Novelle "The Turn of the Screw". Das Stück<br />
wurde am 20. Okt<strong>ob</strong>er von NBC ausgestrahlt, und <strong>Ingrid</strong> er-<br />
498
hielt für ihre Darstellung den Emmy (das amerikanische TV-<br />
Gegenstück zum Oscar) <strong>als</strong> beste dramatische Schauspielerin<br />
des Jahres.<br />
Diese Anerkennung fiel ihr nicht in den Schoss, denn<br />
James Costignans Script für eine neunzigminütige TV-Sendung<br />
(mit Zeit für Werbespots) gab der brillanten Zweideutigkeit des<br />
Origin<strong>als</strong>tücks vollkommen den Rest und wurde schlicht zu<br />
einem trägen und kraftlosen Märchen von zwei nicht sonderlich<br />
schrecklichen Geistern und zwei seltsamen Kindern. Aber <strong>Ingrid</strong>s<br />
Spiel war voll von nervöser Spannung und flatternder Aufregung<br />
– ein Stil, wie sie später zugab, der zur Hauptsache<br />
ihrer Unzufriedenheit mit dem jungen Regisseur John Frankenheimer<br />
zuzuschreiben war – "ein verrückter Kerl, einer der sich<br />
selbst nicht unter Kontrolle hatte." Seine im Kontrollraum herumgebellten<br />
Wutausbrüche liessen darüber keine Zweifel offen.<br />
"Wenn du mich anschreist, dann schreie ich zurück!" antwortete<br />
<strong>Ingrid</strong> ins Boom-Mikrofon.<br />
"Ich schreie nicht!" brüllte Frankenheimer im F<strong>als</strong>ett.<br />
"Hier tönt es aber so!" gab <strong>Ingrid</strong> zurück. Und so gings<br />
bis zum Ende der Aufnahmen nach mehr <strong>als</strong> zwei Pr<strong>ob</strong>enwochen.<br />
"Sie ist die grösste Schauspielerin der Welt", sagte ein<br />
Kameramann, <strong>als</strong> die NBC-Crew <strong>Ingrid</strong> nach der letzten Szene<br />
applaudierte. "Nein", korrigierte ein Kollege, "sie ist die grossartigste<br />
Frau der Welt". Variationen aller Schattierungen solch<br />
spontaner Bel<strong>ob</strong>igungen von Filmtechnikern und Bühnenarbeitern<br />
(zwei von Stars nicht leicht zu beeindruckende Gruppen)<br />
waren während dem Rest ihrer Karriere immer wieder zu hören.<br />
Zur Weihnachtszeit erging sie sich glücklich im Einkaufsri<strong>tu</strong>al.<br />
Laurence Evans bemerkte, dass sich <strong>Ingrid</strong> scheinbar<br />
an jedermanns Weihnachtsgewohnheiten erinnerte. Er erinnerte<br />
sich daran, wie sie an einer Weihnacht zu den MCA-<br />
Büros kam mit einem Berg von sorgfältig verpackten kleinen<br />
Päckchen für ihn und seine Mitarbeiter, was sie in den folgenden<br />
Jahren gewohnheitsmässig wiederholte. Einmal brachte<br />
<strong>Ingrid</strong> Laurence und Mary Evans einen silbernen Baum ge-<br />
499
spickt mit weissen Keramik-Tauben. <strong>Ingrid</strong> wurde in den späteren<br />
Jahren zu einem häufigen Gast bei den Evans in London<br />
und Sussex, und Marys Vertrautheit und Hilfe waren für sie<br />
speziell wertvoll, nachdem sie nach London gezogen war.<br />
ANFANGS 1960 MUSSTEN AUCH GESCHENKE nach<br />
Amerika versandt werden, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> die überraschende Nachricht<br />
erhielt, dass Pia, dam<strong>als</strong> zwanzig und in ihrem letzten<br />
College-Jahr, am 21. Februar durchgebrannt war, um einen<br />
Mann mit dem beeindruckenden Namen Fuller E. Callaway III.<br />
zu heiraten. Die Vermählung in Elko, Nevada, war so überstürzt<br />
vollzogen worden, dass weder Braut noch Bräutigam<br />
Trauzeugen mitbrachten, sodass ein verwirrter Friedensrichter<br />
den Vollzugsbeamten des Stadtgefängnisses <strong>als</strong> Trauzeugen<br />
bestellen musste. Acht Jahre älter <strong>als</strong> Pia, gross und bestechend<br />
attraktiv, war Callaway Direktor einer Elektronikfirma in<br />
Palo Alto und hatte bereits eine Ehe plus Scheidung hinter sich.<br />
Aber für dieses Detail hätte Pia wohl denselben Kommentar zur<br />
Wahl des ersten Ehemannes bereitgehabt, wie ihre Mutter:<br />
finanziell stabiler, hübscher Kerl mit guter Karriere. Dann kam<br />
ein ominös-prophetischer Moment, <strong>als</strong> Callaway an diesem<br />
Abend in Nevada nach Pias Ring in die Tasche griff: dem Hund<br />
des Vollzugsbeamten missfiel diese Bewegung, weshalb er sich<br />
auf den Bräutigam stürzte.<br />
Dies schien, leider, auch den Ton in dieser Ehe zu<br />
bestimmen, die schnell sauer wurde. Während den ersten<br />
sechs Monaten ihrer Lebensgemeinschaft reisten die beiden<br />
umher, w<strong>ob</strong>ei sie feststellen konnten, dass sie einen Fehler<br />
begangen hatten. Sie trennten sich im darauffolgenden Jahr<br />
und wurden im Dezember 1961 geschieden, nachdem Pia extreme<br />
Grausamkeit geltend machte, da ihr Mann sie geschlagen<br />
und eine Treppenflucht hinunter gestossen habe. "Naiverweise<br />
glaubte ich, durch eine Heirat alle meine Pr<strong>ob</strong>leme lösen<br />
zu können", gab sie zu und bezog sich damit vielleicht auch auf<br />
ihr instabiles Verhältnis zu ihren Eltern. "Weder Fuller noch ich<br />
waren reif genug für die Ehe. Fuller war intelligent, hypersen-<br />
500
sibel und ein vielseitiges Talent. Ich war ein junges Mädchen,<br />
das sich auf Kerzenlicht-Dinners für zwei freute und 'Das eigene<br />
Heim' spielen wollte. Unsere Ehe dauerte eineinhalb Jahre.<br />
Bald fand sich Callaway mit seinen persönlichen Pr<strong>ob</strong>lemen<br />
nicht mehr zurecht und nahm sich das Leben.<br />
IM GLEICHEN MONAT wie diese unglückselige Eheschliessung,<br />
im Februar 1960, erwarben Buddy Adler und<br />
Twentieth Cen<strong>tu</strong>ry-Fox die Filmrechte an Friedrich Dürrenmatts<br />
Stück "Der Besuch der alten Dame", das 1958 von den Lunts<br />
am Broadway aufgeführt wurde. Das S<strong>tu</strong>dio hatte nicht die<br />
entfernteste Idee, wie mit dieser grimmigen Fabel über die<br />
menschliche Korrumpiertheit umzugehen: zuerst dachten sie<br />
daran, es <strong>als</strong> Western zu bringen, à la Nicolas Rays Freud'schem<br />
Cowboyfilm "Johnny Guitar". Aber <strong>Ingrid</strong> hatte Adler<br />
gebeten, es für sie zu beschaffen: sie sagte, es sei so verschieden<br />
von den üblichen Damenrollen, die sie spielte. Das<br />
Stück erzählte die Geschichte einer der reichsten Frauen der<br />
Welt, die einen teuflischen Plan schmiedet, um sich an ihrem<br />
früheren Liebhaber zu rächen. Adlers Tod kurz nach dieser Ankündigung<br />
verzögerte die Produktion dann um fast drei Jahre.<br />
Inzwischen genoss <strong>Ingrid</strong> ihre Rolle <strong>als</strong> Herrin von<br />
Choysel und <strong>als</strong> Sommergastgeberin für jene Freunde, die die<br />
Reise nach Dannholmen schafften – unter ihnen ein hübscher<br />
und hochintelligenter junger Mann namens Stephen Weiss, der<br />
mit Pia befreundet war und folglich auch zu einem nahen<br />
Freund von Lars und <strong>Ingrid</strong> wurde – und später übrigens auch<br />
zu einem unschätzbaren Finanzberater. Weiss war – wie allen<br />
ihren Freunden – bald klar, dass – wie er es ausdrückte –<br />
"neunzig Prozent ihres Lebens ihrer Karriere gehörten und sich<br />
die restlichen zehn Prozent darum herum zu legen hatten." Sie<br />
liebte Choysel und Dannholmen, kein Zweifel, "aber dann wurde<br />
sie ihrer überdrüssig, wurde rastlos und machte sich auf<br />
und davon, um sich wieder ihrer beruflichen Tätigkeit widmen."<br />
Für gewöhnlich lehnte es <strong>Ingrid</strong>, auf Wunsch von Lars,<br />
ab, im Sommer, ihrer unantastbaren Zeit mit Lars auf Dann-<br />
501
holmen, zu arbeiten. "Dort lebte sie in einer vollständig andern<br />
Welt <strong>als</strong> der, in welcher sie arbeitete", sagte ihr Freund Lasse<br />
Lundberg, der lange in Fjällbacka lebte. Er erinnerte sich, dass<br />
<strong>Ingrid</strong> pr<strong>ob</strong>lemlos mit Einheimischen und Besuchern in Kontakt<br />
kam, die Konversation von ihrer Person abzulenken wusste<br />
und den Damen, die während der jährlichen "Ladies Week"<br />
segeln lernten, Kaffee servierte, ja sogar während der Hauptzeit<br />
des Kurses bereitwillig auch in ein Dinghi sprang um es<br />
überzukippen. "Wir offerierten ihr einen privaten Segelkurs,<br />
doch sie lehnte jede Spezialbehandlung ab und bestand darauf,<br />
ein Teil der Gruppe zu sein. <strong>Ingrid</strong> war immer sehr misstrauisch<br />
gegenüber Schweden und dem Verhalten der Schweden<br />
ihr gegenüber, aber für sie bedeutete Schweden Fjällbacka und<br />
Dannholmen."<br />
Im Herbst 1960 nahm <strong>Ingrid</strong> das Angebot von Anatole<br />
Litvak, dem Regisseur von "Anastasia", an, erstm<strong>als</strong> seit zwei<br />
Jahren wieder eine Filmrolle zu übernehmen – die der unglücklichen<br />
Paula Tessier in "Goodbye Again". Samuel Taylors bittersüsses,<br />
provokatives Script von Françoise Sagans Novelle<br />
(Aimez-vous Brahms?) bot ihr Gelegenheit, die treffenden Nuancen<br />
von Leidenschaft, Hoffnung, Enttäuschung und grimmiger<br />
Akzeptanz im Leben einer vierzigjährigen Frau zu finden.<br />
Paula, trostlos über ihren treulosen Liebhaber (Yves Montand),<br />
geht kurz auf die Werbung eines um fünfzehn Jahre jüngeren<br />
Mannes (Anthony Perkins) ein.<br />
Einsamkeit und romantische Verzweiflung waren nie<br />
Attribute von <strong>Ingrid</strong>s Film-Image, was genau der Grund dafür<br />
war, dass sie den Vertrag unterzeichnete – sie wollte einfach<br />
etwas anderes, <strong>ob</strong>schon <strong>Ingrid</strong> mit fünfundvierzig viel zu attraktiv<br />
war, um glaubhaft eine um Aufmerksamkeit verzweifelnde<br />
Frau zu spielen. So stand ihr Makeup-Spezialist, John<br />
O'Gorman, diesmal vor einer gegenteiligen Aufgabe: "Wir<br />
mussten ihr Schatten um die Augen legen und Falten ins Genick,<br />
um ihr die gewünschte Reife zu geben!"<br />
Ihr Charakter in "Goodbye Again" hätte mit einer weniger<br />
instinktiv arbeitenden Schauspielerin leicht zur Karika<strong>tu</strong>r<br />
502
verkommen können, aber <strong>Ingrid</strong> gab Paula eine mit Stärke<br />
gepaarte Wehmut. Das lezte Bild, in dem sie sich im Spiegel<br />
betrachtet, macht jeden Kommentar überflüssig und bleibt ein<br />
tief ergreifendes Bild des Verlusts; <strong>Ingrid</strong> hatte den Geist der<br />
unhysterischen Resignation gefunden, der z.B. an die elegante<br />
Würde der Marschallin in Richard Strauss' "Rosenkavallier" erinnert.<br />
Der Film, der diesen Sommer in Paris gedreht wurde,<br />
liess plötzlich Gerüchte aufkommen, wonach <strong>Ingrid</strong> eine Affäre<br />
mit Yves Montand habe, wie in gewissen Pariser Salons herumgeflüstert<br />
wurde; nein, sie habe versucht, Anthony Perkins<br />
zu verführen; aber ganz im Gegenteil, meine Liebe, sie hat den<br />
jungen Mr. Perkins verdorben. Tatsächlich geschah nichts von<br />
alledem während der Produktion von "Goodbye Again", ausser<br />
dass hart gearbeitet wurde.<br />
Dieses Geschwätz wurde genährt durch ein Vorkommnis<br />
während der Produktion, das von Perkins verbreitet wurde:<br />
Miss <strong>Bergman</strong> habe ihn in ihre Garder<strong>ob</strong>e bestellt, sagte er<br />
nach ihrem Tod, wo sie (Schande!) fand, sie sollten ihre Kussszenen<br />
üben. Aber sie sei damit zu weit gegangen, sagte Perkins,<br />
indem er sein bestes Norman Bates/Psycho-Grinsen aufsetzte,<br />
und Momente später entkam er seinen Zuhörern knapp<br />
unbeschadet.<br />
Die Geschichte beleuchtet, wie ernst der junge Mann –<br />
dam<strong>als</strong> ach<strong>tu</strong>ndzwanzig und selbst überrascht, <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s<br />
Liebhaber zu spielen – seinen Part in diesem Film nahm.<br />
Nur war der Vorfall in Wahrheit ganz anders. Perkins, wie allgemein<br />
bekannt war, hüpfte vom Bett eines Mannes in Hollywood<br />
auf die Couch eines Jungen in New York, und diesen<br />
Sommer hatte er seine Affärenliste auf Paris ausgedehnt. <strong>Ingrid</strong>,<br />
in ihrer gewohnten Toleranz, fand, sein Privatleben gehe<br />
weder sie noch sonst wen etwas an. Dennoch waren sie und<br />
Litvak echt erstaunt über seine Schwierigkeiten bei der ersten<br />
Liebesszene mit ihr. Sie entschloss sich daher, das Pr<strong>ob</strong>lem mit<br />
ihm unter vier Augen zu besprechen, um eine entspannte,<br />
freundliche Atmosphäre zwischen ihnen zu schaffen, damit<br />
503
Perkins vor der Kamera nicht so erscheine, wie im Leben: starr<br />
vor Widerwillen bei der Berührung einer Frau. Sie fand sein<br />
Missbehhagen völlig überflüssig, und die Konversation und<br />
Gesten in der Garder<strong>ob</strong>e waren absolut professioneller Na<strong>tu</strong>r.<br />
<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> hatte wirklich kein Interesse daran, einen<br />
schwulen jungen Mann zu verführen.<br />
Perkins' Bemerkungen wiesen entweder auf eine hyperaktive<br />
Fantasie oder aber auf seinen Wunsch hin, in die Rolle<br />
des Tom in "Tee und Mitgefühl" zu schlüpfen, die er am Broadway<br />
spielte; er mag sich gedacht haben, dass auch <strong>Ingrid</strong> ihre<br />
Rolle in diesem Stück gerne ausspielen würde und ihn damit<br />
ins heterosexuelle Leben führen könnte, das er sich zwar<br />
wünschte, von dem er aber weit entfernt war. Perkins war in<br />
einem bemitleidenswerten Zustand, in Angst darüber (wie so<br />
mancher andere), dass ihn die Enthüllung seines Privatlebens<br />
seine Karriere kosten würde. In Anlehnung an den Schlussdialog<br />
in R<strong>ob</strong>ert Andersons Stück: wenn er später davon sprach –<br />
was er auch tat – dann nicht im guten Sinne.<br />
Was immer der Grund für Perkins' kleine Fiktion war,<br />
sie schadete ihm selbst mehr <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong>, die darauf hinwies,<br />
dass wenn sie wirklich eine Affäre mit jemandem im Cast von<br />
"Goodbye Again" gesucht hätte, Yves Montand es hinreichend<br />
klargemacht hatte, dass er verfügbar wäre. Aber, honni soit,<br />
<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> war sehr glücklich verheiratet, hatte überhaupt<br />
kein Interesse, sich einen Liebhaber zuzulegen und war<br />
wohl für den Rest ihres Lebens mit niemand anderem mehr<br />
intim, <strong>als</strong> mit Lars Schmidt. Und darin liegt natürlich das Pr<strong>ob</strong>lem:<br />
wo es für's Geschwätz keine Beweise gibt, genügt oft die<br />
Fantasie.<br />
"Good Bye Again" war kein Kassenerfolg, denn der internationale<br />
Filmstil machte zu Beginn der 1960er-Jahre wesentliche<br />
Veränderungen durch – und im Zusammenhang damit<br />
machte sich ein erheblicher Mangel an guten Rollen für<br />
Schauspielerinnen von anfangs vierzig bemerkbar. Sie hätte<br />
gerne den Sprung von ihren 45 Jahren zu 50 oder darüber gemacht,<br />
erklärte <strong>Ingrid</strong> dam<strong>als</strong> und danach immer wieder, denn<br />
504
dann hätte sie den Zugang zu guten Charakterrollen gehabt.<br />
Zu ihrem Alter stand sie immer offen und amüsierte sich über<br />
Ratschläge, wie sie ihr Äusseres – ausser vielleicht einer andern<br />
Frisur oder etwas Lippenrot – verändern könnte und<br />
machte klar, dass sie sich in allererster Linie darauf freute,<br />
wieder zu seriöser Arbeit am Theater zu kommen.<br />
Nach Fertigstellung des Films in Paris traf ein neues Angebot<br />
vom amerikanischen Fernsehen bei ihr ein – diesmal von<br />
der Geschäftslei<strong>tu</strong>ng von CBS. "Wir hätten nie geglaubt, einmal<br />
zusammenzuarbeiten", sagte Lars, "doch dann kam diese<br />
Geschichte und wir fanden beide, dass wir uns gerne daran<br />
beteiligen würden." Er unterschrieb <strong>als</strong> Produzent von John<br />
Mortimers neunzigminütigem Script zu einem Stück von Stefan<br />
Zweig. Sie waren überzeugt, im Casino von Monte Carlo, wo<br />
sich die Geschichte zur Hauptsache abspielt, drehen zu können,<br />
doch scheiterten dann die Verhandlungen darüber, und<br />
die ganze Produktion wurde in der Folge nach New York verlegt.<br />
"<strong>Ingrid</strong> hatte keinen Kommentar dazu" nach Lars, "aber<br />
ihres Erachtens konnte das Programm nie das Niveau erreichen,<br />
auf das sie in der natürlichen Umgebung gehofft hatte."<br />
"Twenty-Four Hours in a Womans Life", unter Regisseur<br />
Silvio Narizzano – im Februat 1961 in New York geschnitten<br />
und einen Monat später gesendet – war ein Musterstück der<br />
Langeweile. Aber es bot <strong>Ingrid</strong> die Möglichkeit, ihrem Repertoire<br />
eine überragende neue Charakterrolle hinzuzufügen: die<br />
einer alternden Dame, die in einer ausgedehnten Rückblende<br />
in einer jugendlichen Eskapade mit einem hübschen aber suizidgefährdeten<br />
Angeber (Rip Torn) gezeigt wird.<br />
Auf <strong>Ingrid</strong> lastete die ganze Bürde einer windigen, undramatischen<br />
und mit einer f<strong>als</strong>chen Moral überlagerten Geschichte.<br />
Wie immer entledigte sie sich dieser Aufgabe mit<br />
Bravour, doch vermochten ihre starke Rhetorik und ihre blendende<br />
Erscheinung in den langen Gewändern jener Epoche das<br />
schwache Script und die unbeholfene Inszenierung nicht wettzuschlagen.<br />
"Ich bin an einem sehr schwierigen Punkt meiner<br />
Karriere angelangt", sagte sie nach dieser Sendung. "Wenn ich<br />
505
jetzt nichts Interessantes finden kann, dann setzte ich mich<br />
hin und warte auf das richtige Stück oder den richtigen Film."<br />
Eine kluge Entscheidung, fand Lars. Sie hatte das Recht, wählerisch<br />
zu sein. Dennoch war sie, wie sie selbst sagte, "quirlig<br />
und schnell gelangweilt".<br />
Ihr wachsender Eifer <strong>als</strong> Folge der zunehmenden Rastlosigkeit<br />
war nicht zu übersehen: sie hatte weniger Sorgen und<br />
rauchte mehr denn je zuvor. Der Sommer 1961 auf Dannholmen<br />
war einer der entspanntesten, denn sie hatte alle vier<br />
Kinder während mehrerer Wochen bei sich. Der Schriftsteller<br />
Pierre Barillet, der mit Lars in verschiedenen Produktionen zusammengearbeitet<br />
hatte, war zu einem Besuch eingeladen, der<br />
zu einer lebenslangen Freundschaft führte. Er erinnerte sich an<br />
die sonnigen, langen Tage, an welchen die ganze Familie<br />
schwamm, ein Sonnenbad genoss, fischte, las, segelte und<br />
sich mit Begeisterung dem elementar einfachen Leben hingab.<br />
Der einzige Schatten, der sich über diese Saison legte,<br />
war dem Tod der beiden alten Freunde <strong>Ingrid</strong>s, Gary Cooper<br />
und Ernest Hemingway, zuzuschreiben, die im Abstand von<br />
sechs Wochen im Mai und Juli 1961 starben. "Es <strong>tu</strong>t so entsetzlich<br />
weh", schrieb sie Ruth R<strong>ob</strong>erts, "komisch doch, wie sie<br />
miteinander die Welt verliessen (Cooper starb an Krebs, Hemingway<br />
nahm sich das Leben). Als <strong>ob</strong> sie es geplant hätten.<br />
Von einem gemeinsamen Freund hörte ich, dass die beiden<br />
während ihrer ganzen Krankheitszeit miteinander telefonierten<br />
und scherzten: "I'll race you to the grave".<br />
Wie sich Barillet nach Jahren noch erinnerte, sprach<br />
<strong>Ingrid</strong> noch während derselben Saison mit Regisseur Ingmar<br />
<strong>Bergman</strong>, der ihr schon vor langer Zeit die Möglichkeit einer<br />
Zusammenarbeit in Aussicht gestellt hatte. Mit <strong>Ingrid</strong> zusammenzuarbeiten,<br />
wäre für ihn deshalb ungewöhnlich gewesen,<br />
weil er grundsätzlich auf internationale Stars verzichtete und<br />
sich wenn immer möglich an einen kleinen Kreis von Schauspielern<br />
hielt, die er kannte, die er mochte und denen er vertraute<br />
– mit Ausnahme der Norwegerin Liv Ullman alles<br />
schwedische Landsleute wie <strong>Ingrid</strong> Thulin, Gunnel Lindblom,<br />
506
Max von Sydow, Bibi Andersson und Gunnar Björnstrand. Ingmar<br />
hatte eine vage Idee für eine Rolle für <strong>Ingrid</strong>, aber er hatte<br />
weder eine Story noch ein Konzept dafür, und alle seine<br />
Projekte gründeten auf spontanen Ideen. Und jetzt half auch<br />
sein guter Wille nicht mehr weiter, da er eben die Lei<strong>tu</strong>ng des<br />
Königlichen Dramatischen Theaters von Stockholm übernommen<br />
hatte.<br />
Inzwischen erreichte sie diesen Sommer auf der Insel<br />
doch ein Script zum "Besuch der alten Dame", doch gab es da<br />
ernsthafte Pr<strong>ob</strong>leme: die Produzenten wollten <strong>Ingrid</strong> nicht <strong>als</strong><br />
eine Frau darstellen, die Leute dazu aufstachelt, ihren Ex-<br />
Geliebten umzubringen. Auch wünschten sie sich eine stärkere<br />
Persönlichkeit <strong>als</strong> William Holden, der unbedingt mit <strong>Ingrid</strong><br />
arbeiten wollte und sogar bereit war, die Zahlung seiner Gage<br />
aufzuschieben, um dies zu ermöglichen. Sie hatte mit keinem<br />
dieser Punkte ein Pr<strong>ob</strong>lem. Aber <strong>als</strong> Anthony Quinn die abgelaufenen<br />
Filmrechte <strong>als</strong> Co-Produzent übernahm, trat er selbst<br />
an die Stelle von Holden und akzeptierte die Forderung seiner<br />
Partner nach einem wesentlich milderen Ausgang der Geschichte,<br />
<strong>als</strong> im Original vorgegeben. Jahre später behauptete<br />
Quinn s<strong>tu</strong>r, <strong>Ingrid</strong> selbst habe das härtere Konzept des Origin<strong>als</strong><br />
abgelehnt und ihn <strong>als</strong> ihren Co-Star gefordert. Aber Produktions-Dokumente<br />
beweisen, dass ihn diesbezüglich das<br />
Gedächtnis im Stich gelassen hat. Zweifellos suchte er dringend<br />
einen Grund für den totalen Durchfall des "Besuchs der<br />
alten Dame", der schliesslich 1963 in Rom produziert und im<br />
darauffolgenden Jahr veröffentlicht wurde.<br />
"JA, DA BIN ICH NUN", sagte <strong>Ingrid</strong> diesen Sommer<br />
1961 zu Pierre Barillet, "zu alt für jüngere Rollen und zu jung<br />
für ältere! Was soll ich denn <strong>tu</strong>n? Mit einem Film pro Jahr wäre<br />
ich schon glücklich, aber er muss zu mir passen. Und ich bin<br />
nicht wie diese jungen Schauspieler, die alle 'Regisseur' werden<br />
wollen!" Auch wollte sie nicht nur um die Welt reisen um in<br />
Retrospektiven geehrt zu werden, die bewusst machten, dass<br />
es keine Gegenwart mehr gibt. Wohl kaum eine andere Epoche<br />
507
verschrieb sich so sehr der Jugend, wie die Sechzigerjahre,<br />
und <strong>Ingrid</strong> mit noch nicht einmal 50 Jahren wusste, dass sie<br />
für viele Kinogänger schlicht eine Erinnerung an die Vergangenheit<br />
war.<br />
Diesen Herbst entschlossen sie und Lars sich, etwas zu<br />
unternehmen. Sie war die einzige skandinavische Schauspielerin<br />
in Paris und er der einzige skandinavische Produzent – so<br />
einigten sie sich auf eine Bühnenproduktion in französischer<br />
Sprache von Ibsens "Hedda Gabler" , die erste skandinavische<br />
Klassik in <strong>Ingrid</strong>s Repertoire. Gerade weil Berühmtheiten wie<br />
die Duse, Nazimova und Le Gallienne die bekannte und entsetzlich<br />
sadistische Hedda gespielt hatten, war <strong>Ingrid</strong>s Wahl<br />
ein weit riskanteres Projekt, <strong>als</strong> "Tee und Mitgefühl" es war.<br />
Diesmal hatte sie nicht nur die französische Sprache zu meistern,<br />
sondern auch die Feinheiten einer der unsympathischsten<br />
Figuren der dramatischen Litera<strong>tu</strong>r. Den ganzen Frühling und<br />
Sommer 1962 widmete sie dem anspruchsvollen Texts<strong>tu</strong>dium,<br />
der Textinterpretation und den Details von Gilbert Signaux<br />
Übersetzung. Regisseur Raymond Rouleau war über ihren<br />
Fleiss des L<strong>ob</strong>es voll. Nun, meinte <strong>Ingrid</strong>, sie wolle eine seriöse<br />
Bühnenschauspielerin werden und über die Klassik könne sie<br />
das erreichen.<br />
Ebenfalls sehr hilfreich war ihre Vorberei<strong>tu</strong>ng während<br />
der Montage einer stark gekürzten Version (75 Minuten) von<br />
"Hedda Gabler" in London mit Co-Stars wie Michael Redgrave,<br />
Ralph Richardson und Trevor Howard – eine Sendung, die bald<br />
von CBS in Amerika ausgestrahlt und in Fernseharchiven aufbewahrt<br />
wurde. Selbst in dieser radikal gekürzten Fassung<br />
fand <strong>Ingrid</strong> Heddas giftige Eleganz und wandelte ihr übliches<br />
warmes Lächeln in einen Ausdruck frostigen Ernsts.<br />
Die Premiere der Bühnenproduktion fand am 10. Dezember<br />
1962 im Théâtre Montparnasse statt, wo es leider zu<br />
Anlaufsschwierigkeiten kam. Ihren Anstrengungen zum Trotz<br />
hatte <strong>Ingrid</strong> Pr<strong>ob</strong>leme mit dem kompletten französischen Text,<br />
über den sie wiederholt stolperte und damit auch ihre Kollegen<br />
verunsicherte. Aber nach mehreren Vorstellungen wurde sie<br />
508
gelassener, und die Kritik bewunderte ihre Prägnanz in der<br />
Darstellung amoralischer Boshaftigkeit. Das Stück lief gut ins<br />
Jahr 1963 hinein, und <strong>Ingrid</strong> war <strong>als</strong> Hedda viel erfolgreicher,<br />
denn <strong>als</strong> die rachsüchtige Frau in Dürrenmatts Geschichte.<br />
"Man liebt fast alles, was <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> macht", schrieb der<br />
Kritiker des Le Figaro , indem er "ihre spezielle Stimme und<br />
ihren künstlerischen Auftritt" l<strong>ob</strong>te; "es ist ein Erlebnis, sie zu<br />
sehen und zu hören." France Soir betonte "ihren traumhaften<br />
Stolz – noch nie wurde Ibsen so grossartig gespielt".<br />
Als alles vorüber war, begaben Lars und <strong>Ingrid</strong> sich auf<br />
eine exotische Expedition in den Osten. Katmandus sogenanntes<br />
Royal Palace Hotel war nicht eben königlich (Wasser am<br />
Wasserhahn gab's nur zwischen vier und sechs Uhr früh und<br />
das Essen war unbeschreiblich, aber die Schmidts kamen damit<br />
zurecht); sie stiegen die Berge hoch und nahmen beim<br />
Besuch von Patan und Bathgaon eine glückliche Erschöpfung in<br />
Kauf. Von dort ging's nach Darjeeling und Sikkim und weiter<br />
nach Laos, Kambodscha und Malaysia. In Djakarta lud Präsident<br />
Sukarno zu ihren Ehren zu einem Dinner.<br />
1964 ERLEBTE LARS eines seiner lebhaftesten und erfolgreichsten<br />
Jahre mit seinen Produktionen "How to Succeed<br />
in Business Without Really Trying", "My Fair Lady", "Annie, Get<br />
Your Gun", "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" und "Barefoot<br />
in the Park", die in ganz Europa Publikumsmagneten waren.<br />
Nachdem sie Alfred Hitchcock in Paris zu einem kurzen Besuch<br />
empfangen hatte, begab sich <strong>Ingrid</strong> im Mai nach London, wo<br />
sie in einem Anthologiefilm auftrat, in der visuell umwerfenden<br />
Schlusssequenz von "Der gelbe Rolls-Royce".<br />
Als übellaunige, reiche Amerikanerin, beim Ausbruch<br />
des zweiten Weltkriegs auf Ferientour in Europa, begegnet sie<br />
einem slawischen Patrioten (Omar Sharif), der gegen die Nazis<br />
kämpft. Nachdem sie sich zunächst über seine Politik und die<br />
Störung ihrer luxuriösen Ferienreise in ihrem dito Wagen ärgerte,<br />
muss sie bald die Realität der Weltlage erkennen – und<br />
damit wird sie durch die Liebe im Handumdrehen von der teil-<br />
509
nahmslosen Eigenbrötlerin zur leidenschaftlichen Florence<br />
Nightingale. Mit Leichtigkeit von der Komödie (sie füttert ihren<br />
Hund, während Bomben den Hotel Speisesaal durchschlagen)<br />
zum Drama (der Pflege von Verwundeten) wechselnd, machte<br />
<strong>Ingrid</strong> alles glaubhaft. Wenn sie zu ihrer kurzen Affäre in der<br />
Story sagt: "Herzen sind nie gebrochen – sie werden dann und<br />
wann etwas gequetscht, aber sie heilen immer wieder", lag in<br />
diesen Worten ein wehmütiger Unterton von Wahrheit.<br />
Noch erfreulicher verlief ihr Wiedersehen mit ihrem alten<br />
Freund und Regisseur Gustav Molander, für den sie diesen<br />
Herbst in einem andern Anthologiefilm in Stockholm auftrat –<br />
ihrem ersten Film in Schweden seit über fünfundzwanzig Jahren.<br />
Jetzt 76 und nahezu taub, kehrte Molander zu jener ruhigen,<br />
gemimten Regie zurück, die er Jahrzehnte zuvor mit <strong>Ingrid</strong><br />
angewandt hatte. In ihrer Darstellung einer törichten, gierigen<br />
sozialen Aufsteigerin in einem Kurzfilm von Guy de Maupassants<br />
Stück "The Necklace" schwang ein Hauch von nostalgischer<br />
Betroffenheit mit, und diesmal waren sich die<br />
schwedischen Kritiker ausnahmslos einig in ihrem L<strong>ob</strong> für den<br />
alternden Mentor und seinen berühmten Schützling.<br />
EIGENTLICH WOLLTE INGRID LÄNGER in Stockholm<br />
bleiben, doch dann brauste sie ab nach Rom, <strong>als</strong> eine frühe<br />
Winter-Grippe den ganzen Rossellini-Haushalt lahmlegte und<br />
R<strong>ob</strong>erto der Hysterie nahe war. Zur Weihnachtszeit war <strong>Ingrid</strong><br />
Krankenpflegerin wie dam<strong>als</strong> im "Gelben Rolls-Royce", nur<br />
diesmal erfreulicherweise unter Pias Mithilfe.<br />
Nach dem S<strong>tu</strong>dienabschluss, einer gescheiterten Ehe<br />
und einer kurzen Tätigkeit bei der UNESCO stand Pia mit 26<br />
ziellos vor einer perspektivenlosen Zukunft – "ich konnte mir<br />
keinen Beruf vorstellen, den ich hätte ausüben können". Einige<br />
Versuche <strong>als</strong> Schauspielerin scheiterten (meistens, weil ihre<br />
kleinen Rollen – nicht wegen mangelndem Talent - wegfielen),<br />
sodass sie bei <strong>Ingrid</strong> und Lars in Paris, wie auch bei R<strong>ob</strong>erto in<br />
Rom ein willkommener Gast war und in Rom so etwas wie der<br />
510
Major Domus für die Kinder wurde. Diese liebten sie und vertrauten<br />
ihr bald wie einer älteren Schwester.<br />
Wohl weil sie eine isolierte Jugendzeit verlebt hatte, genoss<br />
Pia das tägliche Familienleben und gewöhnte sich an Rossellinis<br />
ständige Geldsorgen und den chaotischen Haushalt,<br />
dem zeitweise eine Brigade von Kindern (einschliesslich zweier<br />
von Sonali Das Gupta) aus Rossellinis früheren und jetziger<br />
Ehe angehörte. Ihr Kampf gegen Unordnung und einen Haufen<br />
von eigenwilligen Persönlichkeiten, der sie zu schnellen, sinnvollen<br />
Entscheidungen zwang, mag schliesslich zu Pias späterem<br />
Erfolg <strong>als</strong> Fernsehjournalistin und Kunstkritikerin beigetragen<br />
haben – einem Beruf, den sie dann in San Francisco und<br />
New York mit Hingabe ausübte.<br />
Gegen Jahresende war <strong>Ingrid</strong> müde, aber sie begleitete<br />
Lars zu einigen seiner Premieren und bereitete die Feiertage<br />
für die ganze Familie vor. "<strong>Ingrid</strong> war die perfekte Ehefrau",<br />
sagte Lars. "So perfekt, wie man(n) es sich nur wünschen<br />
kann. Sie war Gattin und hätte alles getan, um ihren Mann<br />
zufriedenzustellen. Aber sie war auch ein Wandervogel, der<br />
leidenschaftlich nach den besten Schauplätzen für sein Talent<br />
suchte. Ihre Liebe zur Schauspielerei kannte keine Grenzen<br />
und sie war jederzeit zu einem neuen Abenteuer bereit."<br />
Michael Redgrave, ihr Co-Star in der englischen Fernsehversion<br />
von "Hedda Gabler", gab dann den Anstoss zum<br />
nächsten Abenteuer, <strong>als</strong> er <strong>Ingrid</strong> eben gegen Ende 1964 anrief.<br />
Er sollte die Regie in Turgenjews elegischem Stück "A<br />
Month in the Country", das im kommenden Frühjahr in Guildford<br />
aufgeführt werden sollte, übernehmen, und wollte <strong>Ingrid</strong><br />
für die Rolle der Natalia. Natürlich, sagte sie spontan – war es<br />
nicht logisch, nach Molnàr, O'Neill, den beiden Andersons und<br />
Ibsen einen russischen Klassiker zu spielen? Nahezu zwanzig<br />
Jahre waren es nun her, seit sie letztm<strong>als</strong> in englischer Sprache<br />
auf der Bühne auftrat.<br />
511
Am Neujahrstag 1965 schlürfte sie Champagner und las<br />
die Geschichte des russischen Theaters. <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> war<br />
auf dem besten Weg – wie sie es sich immer schon wünschte,<br />
eine echte Bühnenschauspielerin zu werden, und nicht nur ein<br />
Filmstar zu sein – und dies nicht nur notgedrungenerweise,<br />
weils sie – wie zur Zeit – auf eine passende Rolle für eine Frau<br />
über 19 warten musste. Aber das alles kostete sie einen enormen<br />
Preis. "Ich wusste, gleichgültig wie glücklich wir waren",<br />
sagte Lars, "dass <strong>Ingrid</strong> Künstlerin, ein Star war – und dass ihr<br />
Publikum und ihre Arbeit ihr Leben waren".<br />
512<br />
1961 - In "Lieben Sie Brahms" mit Anthony Perkins
1958 - Mit Cary Grant in "Indiskret"<br />
513
514<br />
1958 - in "Indiskret"
1958 - mit Cary Grant in "Indiskret"<br />
515
516<br />
1958 - mit Lars Schmidt, <strong>ob</strong>en: R<strong>ob</strong>ert Anderson
"Es gibt keine Filmrollen für eine Frau meines Alters! Da bin<br />
ich, in meinen Fünfzigern eine alte Frau; gut, vielleicht kann<br />
ich eines Tages noch eine der Macbeth-Hexen spielen!"<br />
1965 - 1970<br />
(<strong>Ingrid</strong> zur damaligen Marktsi<strong>tu</strong>ation für<br />
Schauspielerinnen ihres Alters)<br />
INGRIDS ALTER FREUND Alfred Hitchcock sagte oft,<br />
dass man die besten Schauspieler nie bei der Arbeit antraf,<br />
dass - mit andern Worten - die echte Kunst darin bestand, die<br />
Kunst selbst und die Arbeitsmethode des Schauspielers unsichtbar<br />
werden zu lassen. "Was muss ich <strong>tu</strong>n?" war eine ihm<br />
von eifrigen Schauspielern oft gestellte Frage. "Gar nichts",<br />
war seine Antwort. Was im Moment zwar keine grosse Hilfe,<br />
aber dennoch der beste Rat der Welt war.<br />
In dieser Beziehung ist es interessant, festzustellen, wie<br />
wenige Schauspieler sowohl auf der Bühne wie auch vor der<br />
Kamera wirklich überragende Leis<strong>tu</strong>ngen zu erbringen vermochten<br />
– wohl weil die Techniken beider Darstellungsformen<br />
so verschiedenartig voneinander sind. Für einen Film musste<br />
man alles herunterspielen (ebenfalls ein von Hitchcock häufig<br />
erteilter Rat), um Reaktionen zu mildern, um durch eine leichte<br />
Drehung des Kopfs, Senkung des Blicks oder der Stimme eine<br />
starke Emotion anzudeuten. Aber im Theater braucht es andere<br />
Mittel – auch der Zuschauer auf dem <strong>ob</strong>ersten Balkon muss<br />
die Gefühlsregungen einer Figur erkennen können. So war es<br />
wirklich bemerkenswert, dass <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> ihre Bühnenprofessionalität<br />
nach so langer Lehrzeit bei der Produktion von<br />
517
Filmszenen, die sich aus Stückchen und Details zusammensetzen,<br />
perfektionieren konnte.<br />
Sie hatte keine "Technik" erarbeiten können, keine "eigene<br />
Methode", und Diskussionen hierüber pflegten sie ausnahmslos<br />
zu langweilen. Aber wenn sie die Bühne betrat klickte<br />
in ihr fraglos ein innerer Schalter und ihre Figur erstrahlte<br />
durch den komplexen Filter des Verstehens und das Licht der<br />
In<strong>tu</strong>ition. Dies alles kam so richtig zum Ausdruck, <strong>als</strong> sie von<br />
Juni 1965 bis März 1966 in "A Month in the Country" auftrat:<br />
sie spielte die gelangweilte, vereinsamte Natalia, die sich unversehens<br />
in den Privatlehrer ihres Sohnes verliebt sieht, aber<br />
verlassen wird, durch Umstände, die sie sich weitgehend selbst<br />
zuzuschreiben hat, und am Schluss verlassener, unzufriedener<br />
und einsamer <strong>als</strong> je zuvor dasteht.<br />
Aber wie bei "Hedda Gabler" lief nicht alles von Anbeginn<br />
an rund, wie sich die Kritiker festzustellen beeilten, <strong>als</strong><br />
das Stück im Guildford im Juni anlief. "Ich war nicht bereit",<br />
gab sie in ihrer typischen Offenheit zu. "Wir pr<strong>ob</strong>ten während<br />
vier Wochen, und das genügte mir nicht. Englisch ist nicht<br />
meine Muttersprache, und trotzdem ich meine Texte kann,<br />
habe ich sie vermutlich nicht genügend verinnerlicht." Anfangs<br />
Sommer benötigte sie mehrere Wochen um die Texte und damit<br />
auch die Figur in den Griff zu bekommen.<br />
Nach der Sommersaison gab's nur eine kurze Pause bevor<br />
das Stück im September nach London verlegt wurde, und<br />
<strong>Ingrid</strong> schaffte eben noch einen kurzen Besuch in Dannholmen.<br />
Sie sei sich bewusst, dass sie Lars die Sommeraufenthalte in<br />
Dannholmen versprochen hatte, sagte sie ihm entschuldigend,<br />
und natürlich versicherte er sie seines Verständnisses. Aber<br />
ihre Bühnenverbissenheit führte zum ersten klar erkennbaren<br />
Riss in ihrer Ehe – entstanden nicht durch Streit, Lieblosigkeit<br />
oder Untreue, nein: nur durch ihre Leidenschaft für ihre Karriere.<br />
Natürlich hatte auch Lars sein Berufsleben. War er in Paris,<br />
war sie in London; reiste er in den Orient, war sie in Rom;<br />
wenn sie gerade in New York war, weilte er in Kopenhagen.<br />
518
Daraus entstand eine Art circulus viciosus: <strong>Ingrid</strong> stürzte<br />
sich in ihre Kunst, weil ihr Mann beschäftigt war. Was die<br />
Kinder anbetraf, war R<strong>ob</strong>ertino fünfzehnjährig, die Zwillinge<br />
dreizehn; sie hatten sich inzwischen an die gelegentlichen Besuche<br />
von Mama gewöhnt. Das ist keine seltene Familiensi<strong>tu</strong>ation:<br />
ein Veranstalter (oder Diplomat oder wer immer in einem<br />
hochqualifizierten Beruf) gibt nichts weniger <strong>als</strong> alles für eine<br />
Karriere, die eine ausgedehnte Reisetätigkeit mit sich bringt –<br />
und bezahlt dafür einen ausserordentlich hohen Preis. Dies gilt<br />
auch für die man liebt.<br />
<strong>Ingrid</strong>s kurzer Abstecher auf die Insel im August fiel mit<br />
ihrem 50. Geburtstag zusammen, einem Anlass, den sie Lars<br />
zu ignorieren bat, dann aber zum Teufel doch fand, es sei ein<br />
guter Grund für eine Party. "Wir hatten einige Leute eingeladen",<br />
erinnerte er sich, "aber dann lief alles aus dem Ruder,<br />
und die internationale Gesellschaft reiste en masse an". Sie<br />
habe ein wundervolles Leben gehabt, erwiderte <strong>Ingrid</strong> auf die<br />
Toasts, und so lange sie bei guter Gesundheit sei und ein<br />
schlechtes Gedächtnis für die unglücklichen Momente der Vergangenheit<br />
habe, sei sie entschlossen, weiterhin ein wundervolles<br />
Leben zu führen. "Ich weiss nicht, warum mein Haar<br />
nicht grau wird", sagte sie lachend, "ich <strong>tu</strong> wirklich nichts um<br />
jung zu bleiben, im Gegenteil, alles was alt macht – ich trinke,<br />
ich rauche und esse Desserts. Vielleicht wird mein Gesicht eines<br />
Tages kollabieren wie ein Stück aus 'Lost Horizon'."<br />
Als "A Month in the Country" am 23. September im<br />
Cambridge Theater, London, wieder anlief, war sie vollkommen<br />
Natalia, <strong>ob</strong>schon Michael Redgrave fand, "sie war nicht in<br />
Hochform, aber für die meisten Leute und mich selbst spielte<br />
das keine Rolle". In einen Schleier von Pastelltönen gekleidet,<br />
beherrschte sie die Bühne mit strahlender Präsenz. Ihr grosser<br />
Monolog hielt das Publikum fast atemlos vor Neugier gefangen:<br />
"Bin ich verliebt in ihn, oder was?" fragte sie indem sie die Tiefe<br />
der Verwirrtheit ihrer Figur durch eine gewisse Starrheit betonte.<br />
"Wie kam es dazu?" fuhr sie fort, mit dem leichtesten<br />
bühnengerechten Bewegung. "Wurde ich vergiftet? Plötzlich ist<br />
alles zerbrochen, zerstreut und weggewischt".<br />
519
Die tragische Torheit menschlicher Selbstisolation wurde<br />
aus ihrer tonlosen Stimme und ihrem beinahe leeren Blick<br />
über das Publikum hinweg erfühlbar. "Ich habe nur eine Entschuldigung<br />
anzuführen", sagte sie ihrem jungen Liebhaber,<br />
"und das ist, dass ich die Kontrolle über mich verlor." Die darauf<br />
folgende Stille war nicht peinlich, sondern erfüllt von ihren<br />
unterdrückten Gefühlen. <strong>Ingrid</strong> vermittelte den Eindruck, dass<br />
sie nach ihrem Abgang von der Bühne sich nicht in ihre Garder<strong>ob</strong>e<br />
zurückzog, sondern in einen andern Teil des Hauses ihrer<br />
Figur, um dort das Leben aufzunehmen, von dem sie momentan<br />
bestimmt war.<br />
Über dieser Vorstellung lag ein fühlbarer Geist von<br />
Reue, und die Londoner Kritiker, die sicher nicht leicht zu übertölpeln<br />
waren, reagierten leidenschaftlich. "Miss <strong>Bergman</strong>s<br />
Spiel hat nun einen komischen Nebeneffekt, der ihrer pathetisch<br />
überzeichneten Rolle besser proportionierte Struk<strong>tu</strong>ren<br />
verleiht..." oder "Ein meisterhaft integriertes und überzeugendes<br />
Portrait..." oder "Durch ihre Natalia wird sie fortan in mir<br />
weiterleben..." oder "<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> hat ihre Interpretation<br />
verfeinert und vertieft und liefert eine brillante Schilderung der<br />
Verfassung einer in den Stürmen der Liebe gefangenen Frau".<br />
Als die Produktion anfangs März 1966 schliesslich zu Ende<br />
ging, verliess <strong>Ingrid</strong> London so traurig, wie Natalia in ihrer<br />
Schlussszene. Wie immer hatte sie am Abschiedsfest für jedes<br />
Cast-Mitglied ein exquisit verpacktes Geschenk bereit.<br />
SIE BEGAB SICH DANN SCHNELLSTENS nach Rom, wo<br />
alarmierende Neuigkeiten über Isabellas Gesundheitszustand<br />
(jetzt noch nicht ganz 14-jährig) sie erwarteten. Seit ungefähr<br />
einem Jahr be<strong>ob</strong>achtete die Familie eine Fehlentwicklung ihres<br />
Körpers, indem sie leicht gebeugt ging, <strong>als</strong> hätte sie Angst, zu<br />
schnell und zu stark zu wachsen. Eine der Nonnen ihrer Schule<br />
unternahm im Einverständnis mit einem Arzt der Familie gewisse<br />
Übungen mit ihr, doch begann sich Isabella dann über<br />
heftige Schmerzen zu beklagen. R<strong>ob</strong>erto wurde sofort herbeigeholt.<br />
Bis Februar konnte das Mädchen nur noch mit grössten<br />
520
Schwierigkeiten gehen und weinte vor Schmerz und Anstrengung.<br />
Und dann, praktisch über Nacht, war sie nicht mehr in<br />
der Lage, ihren Rücken zu strecken.<br />
Oscar Scagliatti, ein führender Orthopädie-Chirurg, diagnostizierte<br />
eine schwere lähmende Scoliose, eine Verkrümmung,<br />
die die Wirbelsäule bis zu einer Schlangenlinie deformieren<br />
konnte. Ohne einen sofortigen und entschlossenen Eingriff<br />
bestand die Gefahr, dass Isabella nie fähig wäre, aufrecht<br />
zu stehen – geschweige denn zu gehen. Am Morgen des 21.<br />
April brachte <strong>Ingrid</strong> Isabella zum Trauma Center in Careggi, in<br />
der hügligen Toscana ausserhalb von Florenz, einer der fortschrittlichsten<br />
Kliniken Irtaliens. Sämtliche Kosten für die aufwändigen<br />
und schwierigen Behandlungen der kommenden eineinhalb<br />
Jahre wurden ausschliesslich von <strong>Ingrid</strong> getragen; R<strong>ob</strong>erto<br />
teilte die emotionale Belas<strong>tu</strong>ng. (Während den achtzehn<br />
Monaten nach "Indiskret" hatte sie ihm freiwillig 75 % ihrer<br />
Gage von $ 125'000 für den Unterhalt ihrer drei Kinder zukommen<br />
lassen.)<br />
Aber das Vorgehen war weit entfernt von einfach und<br />
schmerzlos. Bevor operiert werden konnte, musste Isabella<br />
vom Nacken bis zum Becken eingegipst werden und eine Reihe<br />
entsetzlich schmerzhafter Streckübungen über sich ergehen<br />
lassen: ihr Kopf musste stark nach hinten gedrückt werden,<br />
damit der Gipspanzer nicht zu einer Deformierung der Wirbelsäule<br />
führen konnte. Das war eine grauenhafte Qual für das<br />
Mädchen, gegen die es aus drei Gründen keine Anästhesie<br />
gab: die Ärzte mussten wissen, wann die Krümmung der Wirbelsäule<br />
im richtigen Mass korrigiert war; ihr Kopf durfte durch<br />
die Verkrümmung nicht ins Gips-Korsett sinken, und schliesslich<br />
musste verhindert werden, dass sich Isabella während dieser<br />
zweijährigen Behandlung an Narkotika gewöhnte. Und so<br />
widmete <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> vom Frühjahr 1966 bis zum Sommer<br />
1967 praktisch ihr ganzes Leben der Pflege ihrer Tochter (mit<br />
Ausnahme eines zweiwöchigen Aufenthalts in London zur Erfüllung<br />
einer Auftragsverpflich<strong>tu</strong>ng). Es machte den Eindruck, <strong>als</strong><br />
wollte sie um jeden Preis eine Wiederholung dessen verhindern,<br />
was sich vor 17 Jahren zutrug und wofür sie sich Pia ge-<br />
521
genüber schuldig fühlte. Sie wollte Isabella die Tor<strong>tu</strong>r der<br />
Streckübungen nicht allein verkraften lassen und war daher<br />
täglich zugegen, wenn sich ihre Tränen mit jenen des Mädchens<br />
vermischten und Isabella, mit Leinen auf einen grossen<br />
Tisch gebunden, erdulden musste, dass eine Nonne mit Hilfe<br />
von <strong>Ingrid</strong> den Nacken des Mädchen so lange streckte, bis es<br />
vor Schmerz fast das Bewusstsein verlor. Die Ärzte liessen sich<br />
von Isabellas Schreien leiten, denn wäre sie schmerzfrei gewesen,<br />
wäre sie unter Umständen so weit überstreckt worden,<br />
dass irreparable Schäden daraus hätten entstehen können.<br />
"Ich wollte stark sein", sagte <strong>Ingrid</strong> über diese Zeit, "doch ich<br />
weinte immer, während sie vor Schmerz schrie. Ich konnte uns<br />
beiden nicht helfen." In Tat und Wahrheit hatte sie aber sehr<br />
geholfen – wie auch Lars, der sie durch seine häufigen Besuche<br />
moralisch unterstützte (und es irgendwie fertigbrachte, nicht<br />
mit Rossellini zusammenzutreffen).<br />
Isabella war viermal in der Careggi-Klinik für diese<br />
schrecklichen "Streckungen", doch schliesslich kam der Tag, an<br />
dem die schwierige und heikle sechsstündige Operation an ihrer<br />
Wirbelsäule von Dr. Alberto Ponte (assistiert von Dr.<br />
Scaglietti) durchgeführt wurde. An jenem Tag schritten <strong>Ingrid</strong><br />
und R<strong>ob</strong>erto nervös einen Besucherraum auf und ab, rauchten<br />
endlos Cigaretten und versuchten sich im Flüsterton zerstreut<br />
über Politik, Wetter und Filme abzulenken. Dann entfernte sich<br />
<strong>Ingrid</strong> plötzlich und verschwand in einem Korridor. Nach zwanzigminütiger<br />
Abwesenheit folgte ihr R<strong>ob</strong>erto und fand sie in<br />
einer kleinen Toilette, wo sie ein Becken requiriert hatte und<br />
dabei war, sich die Haare zu waschen. Was sie zum Teufel hier<br />
mache? wollte er wissen. Er sehe es ja, tönte es unter dem<br />
Seifenschaum hervor. Aber warum das? Sie hätte etwas <strong>tu</strong>n<br />
müssen, um nicht verrückt zu werden vor Angst, erklärte sie,<br />
und zudem habe sie schon das dritte Paket Cigaretten hinter<br />
sich.<br />
Die Operation war kompliziert. Zuerst wurde Isabellas<br />
Bein Knochen entnommen, der in zündholzfeine Stückchen<br />
zerschnitten wurde. Dann wurde die Wirbelsäule freigelegt –<br />
endgültig geradegestreckt - , worauf die feinen Schien-<br />
522
einstückchen an den dafür bestimmten Stellen eingesetzt<br />
wurden. Während dreier Wochen nach dem Eingriff hatte Isabella<br />
Rossellini ein unkontrollierbares Martyrium durchzustehen;<br />
ein weiteres Jahr lang hatte sie mit ernstem Missbehagen<br />
zu kämpfen. Als sie von 1966 bis 1968 in den Spitälern wie<br />
zuhause in ihren Gipspanzer verdammt war, hatte sie ihre Mutter<br />
buchstäblich täglich bei sich, die versuchte, zu helfen und<br />
zu trösten, ihr Gesicht und Füsse mit Eau de Cologne wusch,<br />
ihr beim Essen und Trinken half und ihr überhaupt bei der Bewältigung<br />
aller Traumata einer Pubertierenden zur Seite stand.<br />
"Mama arbeitete meinetwegen überhaupt nicht mehr",<br />
sagte Isabella später, "und das hat mich sehr berührt, denn ich<br />
wusste ja, wie sehr sie an ihrer Arbeit hing und ich liebte es,<br />
sie arbeiten zu sehen. Während achtzehn Monaten arbeitete<br />
sie nicht – mit Ausnahme von zwei Wochen, <strong>als</strong> sie für einen<br />
Fernseh-Film über Jean Cocteaus "Human Voice" unter Vertrag<br />
stand.<br />
IRONIE DES SCHICKSALS, dass <strong>Ingrid</strong> ihren Kummer<br />
über Isabella sehr passend in die Londoner Aufnahme von Cocteaus<br />
Stück einbrachte: "The Human Voice" (von <strong>Ingrid</strong> früher<br />
für eine kommerzielle Sendung eingelesen) wurde von David<br />
Susskind zusammen mit Lars Schmidt im Dezember 1966 produziert.<br />
Cocteaus Stück (1948 von Rossellini mit Anna Magnani<br />
italienisch verfilmt) ist nichts anderes <strong>als</strong> ein fünfzigminütiger<br />
Monolog einer Frau am Telefon. Sie wartet, zündet eine Cigarette<br />
an, hört zu, regt sich auf, pafft wütend herum, sie flirtet,<br />
versucht das Unvermeidliche zu akzeptieren, drückt die Cigarette<br />
aus und zündet gleich die nächste an, sie resigniert – und<br />
all das wegen des Verlusts ihres Liebhabers an eine andere<br />
Frau. Der Kummer steht im Zentrum dieses Stücks, und Kummer<br />
war <strong>Ingrid</strong>s ständiger Begleiter während der vergangenen<br />
achtzehn Monate.<br />
Ihr Regisseur, Ted Kotcheff, bemerkte während der<br />
zweiwöchigen Pr<strong>ob</strong>en ihre Bedrücktheit und Unsicherheit, <strong>als</strong><br />
sie die neue Übersetzung von David Exton kritisierte. Bei jeder<br />
523
dritten Zeile hielt sie inne und reklamierte, dieser Text sei ungenau,<br />
jener unlesbar, dieser Satz unverständlich und jener<br />
einfach schlecht. Kotcheff, ein geduldiger junger Regisseur, der<br />
für das gelegentlich fragile Temperament der Schauspieler<br />
Verständnis aufbrachte, veranlasste <strong>Ingrid</strong> zu einer besonnen<br />
Gangart und versprach, sich vor den Aufnahmen noch um alle<br />
diese beanstandeten Stellen zu kümmern. Aber je mehr er sie<br />
hätschelte, desto forscher und kantiger wurde sie, bis Kotcheff,<br />
mit jedem Atemzug lauter werdend, brüllte: "<strong>Ingrid</strong>, hör' sofort<br />
auf mit dieser Hysterie! Mach vorwärts mit der Pr<strong>ob</strong>e und lies<br />
die Texte so, wie ich sagte – nichts ist in Stein gemeisselt! Es<br />
geht jetzt um's Timing – ich verspreche dir, wir werden diese<br />
Pr<strong>ob</strong>leme lösen, und wir werden – bitte fahr' fort und mach'<br />
vorwärts."<br />
Damit hatte er ihrer Beziehung auf sicher den Todesstoss<br />
gegeben, weshalb er Susskind anrief und ihm seinen<br />
Rücktritt bekanntgab. Aber am nächsten Morgen rief Susskind<br />
Kotcheff an, um ihm mitzuteilen, dass jedes Gerede um einen<br />
Rücktritt Unsinn sei. Er habe mit <strong>Ingrid</strong> gesprochen, die ihren<br />
Regisseur liebe und bewundere, ihn nicht verlieren möchte und<br />
alles zu <strong>tu</strong>n bereit sei, um zu kooperieren. Fortan verliefen die<br />
Pr<strong>ob</strong>en und Aufnahmen in aller Minne – und Kotcheff bestand<br />
darauf, ohne Besucher oder Crew weiterzumachen. Er wollte<br />
mit <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> Paar arbeiten.<br />
Und dann hatte der Regisseur eine blendende Idee: für<br />
den fiktiven Liebhaber am andern Ende der Lei<strong>tu</strong>ng wurde ein<br />
Dialog erstellt, auf den <strong>Ingrid</strong> während den Pr<strong>ob</strong>en dann antwortete.<br />
Von da an waren Regisseur und Schauspielerin feste<br />
Freunde. "Wenn du ihr erlaubt hättest, mit diesem Benehmen<br />
durchzukommen", sagte Lars zu Ted, "hätte sie dir nie wieder<br />
geglaubt. Als du sie anschriest, wurde ihr klar: 'Aha, der Mann<br />
weiss genau was er will und was er <strong>tu</strong>t – und ich bin bei ihm<br />
sicher."<br />
Seit dem Ende der Rossellini-Ära, angefangen bei Jean<br />
Renoir und Anatole Litvak mit Elena und Anastasia wollte <strong>Ingrid</strong><br />
auf die Stärken ihrer Regisseure vertrauen können, und der<br />
524
einzige Weg, hierüber Klarheit zu gewinnen, war zu fragen und<br />
zu beanstanden, zu motzen und zu streiten – nicht immer und<br />
nicht für lange Zeit. Sie war nicht der Typ des launischen,<br />
<strong>ob</strong>erflächlichen Stars, der sich ständig <strong>als</strong> das Gelbe vom Ei<br />
sieht. Aber sie hatte ein gesundes Vertrauen in ihre eigene<br />
Erfahrung und ihre Talente und musste sich daher stets vergewissern,<br />
dass ihr Regisseur auch das Beste aus ihr herauszuholen<br />
vermochte.<br />
Es war nicht ihre Art, hart aufzutreten, noch weniger,<br />
persönliche Attacken zu reiten. Kotcheff beschrieb sie <strong>als</strong> die<br />
ultimativ romantische Schauspielerin, unsentimental dank ihrer<br />
Gefühlstiefe und Offenheit, "ihrem grossen Humor und ihrem<br />
enorm grosszügigen Denken – nicht nur dadurch, dass sie alles<br />
für ihre Rolle gab, sondern auch alles für die Produktion". Hätte<br />
sie ihren Regisseur nicht gekannt, hätte sie Mittel und Wege<br />
finden müssen, ihn kennenzulernen, und in dieser Beziehung<br />
war ihre Taktik alles andere <strong>als</strong> "romantisch".<br />
Unsicherheit ist eine vielen - sogar talentiertesten -<br />
Künstlern gemeinsame Eigenschaft. Ganz besonders die<br />
Schauspieler – in Abhängigkeit von Stimme, Erscheinung, Gedächtnis<br />
und Fantasie wie auch von den wechselnden Echos<br />
aus Publikum und Presse oder der Einschätzung durch oft eifersüchtige<br />
Kollegen – sind diesen Sorgen extrem unterworfen.<br />
Laurence Olivier, um nur einen Meister der Gilde zu erwähnen,<br />
litt während einer zehnjährigen Periode spät in seiner Karriere<br />
dermassen unter Angst und Lampenfieber, dass er psychisch<br />
nahezu aktionsunfähig war und ihn nur seine Willenskraft vor<br />
dem totalen Zusammenbruch rettete. Sein Leiden war permanent.<br />
Anders in <strong>Ingrid</strong>s Fall, die nach so langer Arbeitspause<br />
immerhin in eine Einfrau-Show zurückkehrte: die Aufmerksamkeit<br />
aller ruhte konstant auf ihr. Und ihre Beklemmung<br />
wurde durch das Erscheinen einiger Produktions-Financiers, die<br />
die grosse Dame einmal in einem Solostück bei der Arbeit sehen<br />
wollten, nicht eben gemindert. Wie sich Kotcheff erinnerte,<br />
hat sie das eingeschüchtert und geschmissen.<br />
525
"Alles, was ich nicht erwähne, ist gut", versicherte er ihr<br />
zu Beginn der Aufnahmen in der dritten Woche. An einer Stelle<br />
warnte er sie vor einer kleinen Übertreibung, was ihre Zustimmung<br />
fand. "Weißt du, Ted, es passiert, weil ich mich zurück<br />
im Theater wähne und glaube, für den dritten Balkon<br />
spielen zu müssen. Dabei stehe ich doch vor der Kamera – ."<br />
Ja, ich weiss, antwortete Kotcheff, "ich weiss, du wirst das<br />
herunterspielen." Was sie auch tat. <strong>Ingrid</strong> achtete auf jede<br />
Bewegung, jede Pause, jedes Zögern und jedes Schweigen,<br />
und an der Hauptpr<strong>ob</strong>e lieferte sie den gesamten Monolog um<br />
lediglich 35 Sekunden mehr <strong>als</strong> die erforderlichen 50 Minuten.<br />
Auch diese glich sie leicht aus, und <strong>als</strong> das Stück im<br />
Frühling 1967 gesendet wurde (ihr erster Farbfernseh-Auftritt),<br />
würdigten Kritiker und Zuschauer es <strong>als</strong> eine vir<strong>tu</strong>ose Vorstellung<br />
von etwas, was oft <strong>als</strong> langweiliger Schmarren empfunden<br />
wird. Sie spielte mit grimmiger Entschlossenheit und einer tragischen<br />
Verzweiflung, was man kaum unberührt mitansehen<br />
konnte. "Wir sollten immer mit einem Cast dieser Grössenordnung<br />
spielen", sagte Susskind zu Lars. "Es ist wirtschaftlich".<br />
Lars entgegnete ironisch: "Aber sie ist Kettenraucherin. Vielleicht<br />
müssten wir das Budget dort in den Griff bekommen".<br />
Ein düsterer Unterton lag in seinen Bemerkungen zu <strong>Ingrid</strong>s<br />
Rauchgewohnheiten.<br />
NACH WEITEREN AUFENTHALTEN in Spitälern von Florenz<br />
und Rom wurde Isabella im Sommer 1967 endlich in die<br />
Pflege durch ihre Familie entlassen, nachdem ihr das Gipskorsett<br />
am 3. Juli entfernt worden war. <strong>Ingrid</strong> und die andern<br />
Kinder begleiteten sie zur Villa von R<strong>ob</strong>ertos Schwester Marcella<br />
an der Küste, wo sie mit grösster Liebe umsorgt wurde.<br />
Schliesslich, nachdem ihr Körper nochm<strong>als</strong> für ein Jahr in ein<br />
kürzeres Korsett gesteckt worden war, kehrte sie in die Schule<br />
und ins normale Leben eines Teenagers nach Rom zurück. Zu<br />
dieser Zeit hatte sich R<strong>ob</strong>erto mit <strong>Ingrid</strong>s Ehe abgefunden, und<br />
es kam bei Gelegenheit sogar zu einer Einladung an Lars. Und<br />
nachdem für Isabella für die nächste Zeit gesorgt war, sah sich<br />
526
<strong>Ingrid</strong> nach Arbeit um. Mit der Zeit erholte sich Isabella vollständig<br />
und reifte zu einer grossen, geschmeidigen, kerzengeraden<br />
Schönheit heran und erfreute sich einer erfolgreichen<br />
Karriere <strong>als</strong> Model und Schauspielerin.<br />
Bevor sich <strong>Ingrid</strong> ihrer eigenen Karriere wieder zuwenden<br />
konnte, galt es aber, noch eine kleine Revanche zu üben.<br />
Im vergangenen Jahr unterzog sich <strong>Ingrid</strong> Lars' Party-Angebot<br />
zu ihrem 50. Geburtstag. Jetzt war sie an der Reihe, im Stillen<br />
eine solche für ihn vorzubereiten. Sie sagte ihm bloss, ja, sie<br />
habe ein paar Freunde und Verwandte zu einem Lunch in Choisel<br />
eingeladen.<br />
Aber <strong>Ingrid</strong> hatte für diesen Abend etwas ganz anderes<br />
vor. Lars wollte seiner Mutter sein Theater in Paris zeigen,<br />
weshalb sie vom Land dorthin fuhren – nur um das Theater<br />
(entgegen den Instruktionen von Lars an seinen Hausmeister)<br />
– dunkel und verlassen vorzufinden. Mama, <strong>Ingrid</strong> und Lars<br />
standen einen Moment konsterniert da, worauf Lars nach einem<br />
Bühnenarbeiter rief. Im gleichen Moment nun h<strong>ob</strong> sich<br />
der Vorhang und 150 Stimmen von Freunden und Kollegen<br />
sangen das traditionelle Geburtstagslied. Auf <strong>Ingrid</strong>s Einladung<br />
waren sie aus aller Welt hergekommen. Sie hatte ein üppiges<br />
Nachtessen für alle organisiert, vollständig mit francoschwedischer<br />
Dekoration und einem riesigen Geburtstags-<br />
Kuchen.<br />
INGRIDS NÄCHSTES PROJEKT wurde zu Beginn des<br />
Frühjahrs entschieden. Ursprünglich hatte sie mit Lars die<br />
Möglichkeit einer Pariser Bühnenproduktion von "Anna Karenina"<br />
diskutiert. Aber sie war sich noch immer nicht voll im Klaren<br />
darüber: das Stück war einer von Greta Garbos grossen<br />
Erfolgen und ihre schwedische Kollegin war noch immer am<br />
Leben, wenn auch weit entfernt vom realen Leben. <strong>Ingrid</strong> wollte<br />
nach so langer Abwesenheit unbedingt zur Bühne zurückkehren,<br />
aber mit zweiundfünfzig befand sie sich in einem<br />
schwierigen, für die Schauspielerei nahezu unbrauchbaren Al-<br />
527
ter. Sie war zu alt für Natalia, doch hat das niemanden gekümmert.<br />
Was <strong>als</strong>o nun?<br />
Und eben dann, wie auf Bestellung, meldete sich Kay<br />
Brown im März am Telefon. Sie hatte eine Anfrage von Theater-Direktor<br />
Elliot Martin, der an einem unvollendeten Text von<br />
Eugene O'Neills letztem Stück "More Stately Mansions" arbeitete.<br />
Der Schriftsteller hatte angeordnet, dass nach seinem Tod<br />
alle seine unvollendeten Stücke zu vernichten seien, aber dieses<br />
eine tauchte in einer Bibliothek der Universität Yale auf<br />
und wurde, im Einverständnis mit O'Neills Witwe, 1962 in<br />
Stockholm zu einer provisorischen Aufführung gebracht. Nun<br />
teilte sich José Quintero, der 1946 "The Iceman Cometh" und<br />
eine Dekade später "Long Day's Journey into Night" leitete, mit<br />
Martin in die Textüberarbei<strong>tu</strong>ng, indem sie das sprühende Märchen<br />
einer neurotischen Familie im Boston des 19. Jahrhunderts<br />
schnitten und neu arrangierten. "Das unvollendete Manuskript<br />
war etwa eineinviertel Inch dick, wie O'Neill es geschrieben<br />
hatte, und in dieser Form hätte es einer fünfstündigen<br />
Aufführung entsprochen", erinnerte sich Elliot Martin. "Unvollständig<br />
und ungenau, war es auch über viele Seiten in O'Neills<br />
winziger Handschrift geschrieben."<br />
Im September wollte Martin das neue, zweitausendplätzige<br />
Ahmanson-Theater in Los Angeles mit der amerikanischen<br />
Premiere von "More Stately Mansions" eröffnen, wozu er zusätzlich<br />
zu den beiden andern begabten Schauspielern, Colleen<br />
Dewhurst und Arthur Hill, unbedingt <strong>Ingrid</strong> gewinnen wollte.<br />
Sie sollte die Rolle von Deborah Harford übernehmen, einer<br />
Ehefrau und Mutter, die so gierig auf Besitz<strong>tu</strong>m und die Seelen<br />
anderer ausgerichtet war, dass sie sich in einer fiktiven Welt<br />
von Machtwahn verlor. Sehr ähnlich wie Christa Mannon in<br />
"Mourning Becomes Electra" (eine Rolle, die <strong>Ingrid</strong> dieses Jahr<br />
ebenfalls ins Auge fasste), plant und erduldet Deborah vieles,<br />
um die Kontrolle über ihren introvertierten, idealistischen Sohn<br />
gegenüber dessen ebenso entschlossener Frau zu behalten. In<br />
einer inzestösen Fantasie verloren und rachsüchtig, befindet<br />
sie sich im Zentrum eines Strudels von Materialismus und<br />
528
Habgier, die nicht nur eine Familie, sondern – andeu<strong>tu</strong>ngsweise<br />
– auch eine ganze entartete Gesellschaft infizieren.<br />
"More Stately Mansions" war von "A Touch of the Poet"<br />
inspiriert und teilte das Schicksal der Melody-Familie; es war<br />
eines der neun Stücke im von O'Neill geplanten Zyklus zum<br />
Thema des Schnittpunkts zwischen amerikanischer Sozial- und<br />
Familiengeschichte. Vor mehr <strong>als</strong> zwanzig Jahren, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong><br />
Anna Christie spielte, wurde sie vom Schriftsteller persönlich<br />
eingeladen, sich für die gesamten geplanten Serien zu verpflichten.<br />
Als Martin und Quintero am 2. April zur Besprechung<br />
des Scripts in Choisel eintrafen, betrachtete sie die Angelegenheit<br />
somit <strong>als</strong> eine Erfülling ihrer Theater-Laufbahn. Mit Lars'<br />
Zustimmung sagte <strong>Ingrid</strong> sofort zu, diese zutiefst unsympathische<br />
Rolle zu spielen.<br />
Im Juli begab sie sich nach Dannholmen, wo sie las und<br />
das in Arbeit befindliche Stück s<strong>tu</strong>dierte, täglich auf den sonnenexponierten<br />
Felsen sass und in ihren Gedanken vom Rauschen<br />
des Meeres begleitet wurde. Inzwischen ist die Kunde<br />
vom Aufbegehren gewisser Verwal<strong>tu</strong>ngsräte des Ahmanson<br />
durchgedrungen, denen zufolge <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Name umsatzschädigend<br />
sei – <strong>ob</strong> denn nicht Jessica Tandy die bessere<br />
Wahl wäre? Martin und Quintero blieben fest, der Verwal<strong>tu</strong>ngsrat<br />
fügte sich murrend, und alle erwarteten <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s<br />
erstmalige Rückkehr zur Amerikanischen Bühne seit über 20<br />
Jahren.<br />
AM 3. AUGUST traf sie in Los Angeles ein und stand einem<br />
175-köpfigen Korps der Weltpresse gegenüber. Aus Rücksicht<br />
auf den Umstand, dass sie Isabella in letzter Zeit übermässig<br />
viel Zeit gewidmet hatte und nun auch ihr Zwilling<br />
dringend etwas Zuwendung durch die Mutter benötigte, brachte<br />
sie die kleine <strong>Ingrid</strong> zu einem langen Besuch in Kalifornien<br />
mit.<br />
"Am Flughafen stellten die Reporter einige gr<strong>ob</strong>e Fragen<br />
zu Dingen, die mittlerweile achtzehn Jahre zurücklagen", be-<br />
529
ichtete Elliot Martin, "aber <strong>Ingrid</strong> hatte ein Rückgrat aus Stahl<br />
und bot den Burschen an diesem Tag die Stirn. Dennoch war<br />
sie gleichzeitig eine angenehme, sanfte Person". Sein Cast,<br />
fügte er bei, habe <strong>Ingrid</strong> dabei brillant und liebenswürdig unterstützt,<br />
mit Dewhurst und Hill habe sie sich schnell angefreundet.<br />
"Alle in der Kompanie beteten sie an", erinnerte sich Arthur<br />
Hill nach Jahren. "<strong>Ingrid</strong> arbeitete mit ihrem Instinkt und<br />
nicht mit dem Intellekt, und in dieser Beziehung hätte sie die<br />
Rolle wohl besser nicht angenommen – nicht weil sie nicht<br />
dazu fähig gewesen wäre, sondern weil das Stück ein echter<br />
Schlamassel war! Und natürlich war sie auch etwas in Sorge<br />
um ihren ersten Bühnenauftritt in Amerika nach über zwanzig<br />
Jahren. Sie verliess sich auf Ruth R<strong>ob</strong>erts' Hilfe bei der Diktion<br />
und auf José für die Regie.<br />
"Mein Gott", schrie Colleen Dewhurst nachdem sie eine<br />
Woche lang mit <strong>Ingrid</strong> gearbeitet hatte, "ich wusste ja, wie gut<br />
sie aussieht. Aber das war ja lächerlich! Jetzt (mit zweiundfünfzig)<br />
sieht sie besser aus, <strong>als</strong> ich mit dreissig! Sie trinkt ihren<br />
Whisky, ist eine Nachteule und treibt ihre Spässe und sieht<br />
immer noch grossartig aus. Was immer sie mimisch von sich<br />
gibt, ist echt und stimmt – nichts gekünstelt."<br />
Wie <strong>Ingrid</strong> Lars gegenüber zugab, hatte sie an Quintero<br />
mehr auszusetzen, <strong>als</strong> er an ihr, und die Atmosphäre war viel<br />
angespannter <strong>als</strong> seinerzeit mit John Frankenheimer oder Ted<br />
Kotcheff. Zeitweise fand er sie gar nicht so "anbe<strong>tu</strong>ngswürdig".<br />
"Zugegeben, ich trieb den armen José zur Verzweiflung. Es ist<br />
ja bekannt, wie sicher ich meiner Sache bin." Die Wahrheit ist<br />
allerdings, dass sie ihrer Sache gar nicht so sicher war – daher<br />
die Zusammenstösse. Während den Pr<strong>ob</strong>en rief sie Quintero<br />
laut zu: "Oh, das ist f<strong>als</strong>ch!" und dann äusserte sie sich auch<br />
noch zu den Kommentaren, die andere Schauspieler zu seiner<br />
Regieführung abgaben. Diese Szenen wiederholten sich so oft,<br />
bis der Regisseur "ausrastete, mich anbrüllte und mich ausschimpfte"<br />
– und später sah sie ein, dass er damit vollkommen<br />
im Recht war.<br />
530
Die Verbindung von tiefer Sorge um das Stück und dem<br />
ebenso festen Vertrauen in ihr Talent führte <strong>Ingrid</strong> in eine nervöse<br />
Anspannung, die sich während einer gewissen Zeit wie<br />
ein Virus in der Produktion festsetzte. Was Hill und Dewhurst<br />
erkannt hatten, wurde <strong>Ingrid</strong> zu spät bewusst: nämlich, dass<br />
gewisse Dinge in diesem Stück sich nicht leicht (wenn überhaupt)<br />
lösen liessen, dass aber ein unperfekt dargebotenes<br />
O'Neill-Stück immer noch besser ist, <strong>als</strong> vieles andere, was<br />
1967 <strong>als</strong> Theater durchging. Elliot Martin und José Quintero<br />
hatten den mutigen Entschluss gefasst, das letzte Stück eines<br />
grossen Schriftstellers aufzuführen, und so führte die Kompanie<br />
ihre Arbeit spielerisch zu Ende.<br />
Die Premiere am 12. September in Los Angeles erwies<br />
sich zunächst <strong>als</strong> Reinfall. Langer Applaus begleitete ihren ersten<br />
Auftritt, doch plötzlich erstarrte <strong>Ingrid</strong>: sie hatte ihren Dialog<br />
ganz einfach vergessen. Nach einem schrecklichen Moment<br />
lieferte ihr der Souffleur die erste Zeile, womit die Panne beh<strong>ob</strong>en<br />
war. Doch ungeachtet der Pr<strong>ob</strong>leme, hatten die drei<br />
Hauptdarsteller die Kritiker von Los Angeles für sich gewonnen.<br />
Bezüglich <strong>Ingrid</strong>s Verkörperung der fürchterlichen Deborah,<br />
kam ihr Monolog im ersten Akt in metallisch klingender Stimme<br />
daher, voller Erstaunen über ihre eigene Boshaftigkeit:<br />
"Wirklich, Deborah", sprach sie zu sich selbst, <strong>als</strong> <strong>ob</strong> sonst<br />
noch jemand im Raum anwesend wäre, "ich beginne wirklich<br />
zu glauben, du seist etwas verrückt!" Ihre Augen leuchteten,<br />
ein leichtes Lächeln kräuselte sich auf ihren Lippen.<br />
"Du solltest dich in Acht nehmen. Eines Tages kannst<br />
du dich derart tief in diesem romantischen Bösen verlieren,<br />
dass du den Weg zurück nicht mehr findest.<br />
Nun gut, soll es geschehen! Ich würde mich ja gerne<br />
verlieren. Doch wie s<strong>tu</strong>pid. Diese krankhaften, endlosen<br />
Selbstgespräche!"<br />
Nach einer kurzen Pause richtete sie ihren Körper auf<br />
und h<strong>ob</strong> ihre Stimme an, um einen inneren Entschluss anzudeuten:<br />
531
532<br />
"Ich muss jemanden ausserhalb meiner selbst finden,<br />
auf den ich mich verlassen und durch den ich mir<br />
selbst entfliehen kann – einen Starken, mit gesundem<br />
Körper und Geist, der es wagt, das Leben gierig zu leben,<br />
anstatt davon zu lesen und zu träumen. Ah – (ihr<br />
Sohn) Simon – Simon wär's, dein Simon!"<br />
<strong>Ingrid</strong> wurde zu Deborah indem sie zunächst die kalte<br />
Herzlosigkeit der Figur im Umgang mit den Menschen begriff,<br />
dann ihr rationales Denken ausschaltete um zu einer Hal<strong>tu</strong>ng<br />
von kalter Verach<strong>tu</strong>ng zu finden.<br />
IHRER BEKLEMMUNG AN DER PREMIERE zum Trotz tat<br />
<strong>Ingrid</strong> etwas, was Elliot Martin <strong>als</strong> für sie typisch bezeichnete:<br />
sie sandte ihm einen Blumenstrauss mit den Worten: "Ich bin<br />
die Frau eines Produzenten und weiss daher, dass die einzige<br />
an der Premiere vergessene Person der Produzent ist." Die<br />
Presse versammelte sich nach der Vorstellung zur Premieren-<br />
Party, und "tout" Hollywood war anwesend; es schien, jedermann<br />
wollte sie berühren, <strong>als</strong> wäre sie die heimgekehrte Majestät.<br />
Lars und Pia fanden sich zur Vorstellung und Party ein.<br />
Unter all den Verehrern war Alfred Hitchcock wohl der<br />
glühendste. "H<strong>als</strong>- und Beinbruch!" wünschte er <strong>Ingrid</strong>. Sie sah<br />
ihn ratlos an und er fragte: "Weisst du, was das bedeutet?" Sie<br />
schüttelte den Kopf. "Viel Glück und Erfolg!" antwortete Hitch,<br />
indem er sie wie ein verknallter Schuljunge seine geliebte Lehrerin<br />
anstrahlte. Bald danach fand <strong>Ingrid</strong> an einem ruhigen<br />
Nachtessen bei den Hitchcocks Gelegenheit, Reminiszenzen<br />
aufzuwärmen und ihn in ihren momentanen Lebenslauf einzugleisen.<br />
Hitch hatte in seiner langen Karriere einen schwierigen<br />
Punkt erreicht: sein jüngster Film "Torn Curtain" war von der<br />
Kritik zerrissen worden. Und er litt – nach über drei Jahren -<br />
noch immer an einer sehr tiefen Wunde – einer selbstzerstörerischen<br />
Leidenschaft, die er für die Schauspielerin Tippi Hedren<br />
hegte, die er in seinen beiden vorangehenden Filmen "Die Vö-
gel" und "Marnie" präsentierte. Dabei handelte es sich um die<br />
beiden ersten Filme der Schauspielerin nach einer erfolgreichen<br />
Model-Karriere; sie war die willigste Darstellerin, und in<br />
beiden diesen Filmen bot sie eine solide Leis<strong>tu</strong>ng.<br />
Wie <strong>Ingrid</strong>, hatte es auch Tippi Hedren zunächst erfolgreich<br />
geschafft, eine freundschaftliche Nähe zu ihrem Regisseur<br />
zu halten. Aber spätestens während der Produktion von<br />
"Marnie" Ende 1963 wurde klar, dass Hitchcock viel mehr <strong>als</strong><br />
eine freundschafliche Kollegialität wollte, doch Tippi Hedren<br />
widersetzte sich seinen Erwar<strong>tu</strong>ngen. Die seit Jahrzehnten anhaltende<br />
Entsagung führte schliesslich zu einer Eruption, und<br />
Hitchcock beantwortete die höfliche aber bestimmte Zurückweisung<br />
mit offenem Ärger und unstillbarer Bitterkeit; letztlich<br />
schadete er sich selbst damit mehr <strong>als</strong> Tippi Hedren. So verschaffte<br />
ihm <strong>Ingrid</strong>s Besuch, die ihm in Witz und In<strong>tu</strong>ition<br />
ebenbürtig war, eine grosse seelische Erleichterung, denn sie<br />
holte ihn zurück in jene Zeit, <strong>als</strong> er noch wesentlich diskreter<br />
war.<br />
NACH SECHS WOCHEN in Kalifornien wurde "More Stately<br />
Mansions" nach New York verlegt, wo am 31. Okt<strong>ob</strong>er im<br />
Broadhurst-Theater die Premiere stattfand. "Die Schweden<br />
halten alles von der Länge eines O'Neill-Stücks durch", pflegte<br />
<strong>Ingrid</strong> dam<strong>als</strong> zu sagen, "aber die Amerikaner kommen mit<br />
einigen Martinis in<strong>tu</strong>s ins Theater und wollen einfach unterhalten<br />
sein." Im vorliegenden Fall galt das allerdings weder für<br />
das Publikum noch für die Kritiker. "Es leistet der Erinnerung<br />
an O'Neill einen Bärendienst", schrieb der TIMES-Kritiker, und<br />
fügte bei, dass <strong>ob</strong>schon <strong>Ingrid</strong> "<strong>als</strong> Frau so hübsch ist, dass sie<br />
selbst <strong>als</strong> Kunstwerk empfunden wird.....sie merkwürdig unbeholfen<br />
gewirkt hat. Sie setzt ihren natürlichen Charme kräftig<br />
ein und macht aber aus ihrer Rolle weniger, <strong>als</strong> man gehofft<br />
hätte". Seine Kollegen fanden das Stück düster, langweilig und<br />
einschläfernd, aber die meisten äusserten sich netter über <strong>Ingrid</strong>.<br />
Sie brauche keine Nettigkeiten, betonte sie, <strong>als</strong> sie die we-<br />
533
nig enthusiastischen Berichte las – aber die Gr<strong>ob</strong>heiten gegenüber<br />
Quintero, Martin und O'Neill machten sie fuchsteufelswild.<br />
Trotz allem: das Stück lief bis März 1968 während sechzehn<br />
Wochen, was zu jener Zeit schon etwas heissen wollte.<br />
Weder sie noch ihre Kollegen bereuten es, diese Erfahrung<br />
gemacht zu haben. "Sie hatte überhaupt keine Starallüren",<br />
stellte Arthur Hill fest und fügte bei, dass sie alle bemerkten,<br />
dass <strong>Ingrid</strong> es an einem Abend sehr spät werden liess, weil sie<br />
die Backstage-Zone, die Treppenhäuser und Garder<strong>ob</strong>en mit<br />
bunten Dekorationen und schwedischen Trollen ausschmückte.<br />
Die Weihnacht 1967 fiel zusammen mit Kay Browns<br />
fünfundsechzigstem Geburtstag, wozu <strong>Ingrid</strong> "Eine Ode an<br />
Kay" schrieb, die nicht nur <strong>Ingrid</strong>s warmherzigste Seite enthüllte,<br />
sondern auch ihre erstaunliche Gabe zur Verfassung<br />
leichter englischer Verse:<br />
534<br />
"I sat up one night rather late,<br />
Thinking up rhymes for my Kate,<br />
But could find only "holy"<br />
To rhyme with "Stromboli"<br />
So I quickly called in Mrs. Haight. *)<br />
I first met this Lady named Brown<br />
When she flew into my dark, frozen town<br />
With a contract to sign<br />
On the cold, dotted line<br />
And a smile I couldn't <strong>tu</strong>rn down.<br />
In New York, as Mrs. James Barrett,<br />
She said, to meet all, I must dare it.<br />
Both you and your Jim<br />
Took me into the swim<br />
With you at my side I could bare it.<br />
With the flick crowd your girl was soon in<br />
So you warned her of whiskey and gin.<br />
You advised how to dress her,
Was her mother confessor,<br />
And taught her the wages of sin.<br />
*) Eine Nachbarin von Kay Brown<br />
But on Stromboli, that glamorous isle,<br />
Where you came at the height of your style<br />
In a lovely mink coat<br />
And a small fishing boat,<br />
But you failed, Kay, in spite of your guile.<br />
You continued your <strong>Ingrid</strong> to sell<br />
Though things didn't go very well.<br />
Life just didn't fit<br />
Work wasn't it<br />
My luck seemed to quit.<br />
Love was – oh, well!<br />
So instead of a hit<br />
You found me Lars Schmidt<br />
With his island, his dogs and Choisel.<br />
With "Mansions" you found me a part in<br />
A drama I lost my whole heart in.<br />
When I accepted, you cried,<br />
Saying, "It's so dignified."<br />
Then you sent me Quintero and Martin.<br />
After opening, we all went to dine<br />
And to greet me, you headed the line.<br />
And the pic<strong>tu</strong>re will show,<br />
What I already know:<br />
I'm safest, when your hand's holding mine.<br />
In your capable hands I am still,<br />
And God help me, I always will.<br />
Men have tried to replace you<br />
They still push and race you -<br />
As you <strong>als</strong>o can see in the still.<br />
535
536<br />
Now these silly verses must end.<br />
As you hear them you must comprehend<br />
That what these verses say<br />
Is "I love you, dear Kay,<br />
My matchmaker, angel and friend."<br />
AUCH FÜR EINEN ANDERN GUTEN FREUND hatte <strong>Ingrid</strong><br />
diesen Winter gute Worte. Am 25. Januar 1968 eilte sie nach<br />
der Vorstellung ins Sardi's zur Premieren-Party für "I Never<br />
Sang For My Father" von R<strong>ob</strong>ert Anderson. Seit jenem Winter<br />
1957 in Paris hatte er sich <strong>Ingrid</strong>s Rat zu Herzen und sein Leben<br />
wieder in die Hände genommen: einige Monate nach ihrer<br />
Trennung hatte er Teresa Wright kennengelernt, die er 1959<br />
heiratete. Teresa, deren bevorstehende und Award-trächtige<br />
Bühnen-, Film- und Fernseh-Karriere neue Impulse erhielt,<br />
spielte nun <strong>als</strong> Co-Star neben Hal Holbrook und Lillian Gish in<br />
B<strong>ob</strong>s neuem Stück.<br />
Als <strong>Ingrid</strong> im Sardi's eintraf, wartete alles gespannt auf<br />
die ersten Zei<strong>tu</strong>ngsberichte über das Stück. Wie sich dann herausstellte,<br />
war alles begeistert ausser der New York Times.<br />
"Oh B<strong>ob</strong>", sagte <strong>Ingrid</strong> in Anbetracht der Erfahrungen, die sie<br />
eben selbst mit derselben Zei<strong>tu</strong>ng gemacht hatte, "lies lieber<br />
deine Anzeigen, nicht die Rezension!" "I Never Sang For My<br />
Father" lief dann während einer beachtlichen Zeit am Broadway,<br />
wurde erfolgreich verfilmt und später oft wiederaufgeführt.<br />
Immer auf der Suche nach einem geeigneten Projekt<br />
für <strong>Ingrid</strong>, sichtete Kay Brown Woche für Woche die neuesten<br />
Novellen, die der Litera<strong>tu</strong>rabteilung von MCA zugesandt wurden.<br />
Unter den Submissionen war eine des Autors und Produzenten<br />
Stirling Silliphant, der eine Bearbei<strong>tu</strong>ng von Rachel<br />
Maddox' Roman "A Walk in the Spring Rain" vorlegte. Es war<br />
die Geschichte einer Professorengattin mittleren Alters, die<br />
ihren Mann während den Semesterferien für einen Bildungsurlaub<br />
zum Schreiben ins ländliche Tennessee begleitet. Dort<br />
erlebt sie eine kurze Romanze mit einem sehr verschiedenartigen<br />
Mann – einem der primitiven Sorte, passenderweise ge-
spielt von Anthony Quinn. Aber am Ende kehrt sie doch zu ihrem<br />
weniger unabhängigen aber umso realistischeren Leben in<br />
der Stadt zurück.<br />
<strong>Ingrid</strong> las die Bearbei<strong>tu</strong>ng mit einigem Missbehagen.<br />
Der Film sollte in Amerika produziert werden, doch hatte sie in<br />
den vergangenen Jahren in Europa wirklich wenig gemeinsame<br />
Zeit mit Lars verbringen können. "Unser Berufsleben hat uns<br />
getrennt, nachdem wir ständig an verschiedenen Orten in der<br />
Welt arbeiteten", sagte er. "Obschon wir alles Menschenmögliche<br />
unternahmen, um in engem Kontakt zu bleiben, waren wir<br />
doch immer wieder während längerer Zeit allein." Nachdem<br />
dieses Frühjahr "More Stately Mansions" abgesetzt war, versuchte<br />
<strong>Ingrid</strong> zur französischen Landfrau zu werden, doch wie<br />
üblich genügte ihr das Leben in Choisel nicht. Sie und Lars waren<br />
nun während fast zehn Jahren verheiratet, und <strong>ob</strong>schon es<br />
auf beiden Seiten weder Streit noch Argwohn gab, "war es<br />
nicht wirklich ein verheiratetes Leben", wie sie zugab.<br />
Ihr zweiter Grund, mit der Annahme der Rolle zu zögern,<br />
hatte mit dem ersten Entwurf von Silliphants Drehbuch<br />
zu <strong>tu</strong>n, das sie ihm gespickt mit kritischen Bemerkungen zurücksandte.<br />
Dies, dachte sie, würde die Verhandlungen wohl<br />
platzen lassen.<br />
Aber genau das Gegenteil passierte, und die Gerüchte<br />
über <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Rückkehr zum amerikanischen Film nach<br />
einundzwanzig Jahren verursachten einen Wirbel von Interesse<br />
bei andern Produzenten. Mike Frankovich z.B., um einen zu<br />
nennen, der die Filmrechte an der erfolgreichen Komödie "Kak<strong>tu</strong>sblüte"<br />
erworben hatte, war rund um die Welt tätig und feierte<br />
eben einen riesigen Erfolg in New York. Während sich Silliphant<br />
mit den Pr<strong>ob</strong>lemen von "Walking in the Spring Rain"<br />
abmühte, spurteten Frankovich und Regisseur Gene Saks mit<br />
dem Drehbuch von I.A.L. Diamond für "Kak<strong>tu</strong>sblüte" nach<br />
Choisel. Ihre Rolle – die einer scheinbar geschlechtslosen<br />
Zahnarzt-Praxisgehilfin, die dem Titel entsprechend blüht –<br />
könne im kommenden Frühjahr in Hollywood sehr schnell gedreht<br />
werden, sagten sie, und dafür wurde ihr eine so hohe<br />
537
Gage angeboten ($ 800'000 für ein paar Wochen Arbeit), dass<br />
sie nicht ablehnen konnte.<br />
Aber sie sei nahezu dreiundfünfzig, sagte <strong>Ingrid</strong>, und<br />
die Rolle verlange nach einer Frau in den Dreissigern. "Ich bin<br />
eher stolz auf meine Fältchen und habe nie versucht, mein<br />
Alter zu verschleiern." Aber vielleicht möchten Frankovich und<br />
Saks zuerst einen Screentest vornehmen, um sicherzustellen,<br />
dass sie sich <strong>als</strong> Partnerin des um fünf Jahre jüngeren Walter<br />
Matthau eigne? Ausserdem habe sie nie eine Diskothek besucht<br />
und habe keine Ahnung von den neuen, wilden Diskotänzen,<br />
die im Drehbuch erwähnt sind – <strong>ob</strong> das nicht auch zum<br />
Pr<strong>ob</strong>lem werden könne? Die Männer sahen sich an. Eine mittlerweile<br />
legendäre Schauspielerin fragt nach einem Test? Das<br />
Resultat bestätigte dann ihre Beharrlichkeit, und der Handel<br />
wurde besiegelt.<br />
Die Bekanntmachung von <strong>Ingrid</strong>s Teilnahme – und der<br />
Oscar, den Stirling Silliphant im April <strong>als</strong> Autor von "In the<br />
Heat of the Night" erhielt – waren genau die Impulse, die er<br />
benötigte. Diesen Sommer begab er sich nach Dannholmen<br />
und brachte den zweiten Entwurf mit sich – der, wie sie sagte,<br />
stark verbessert war. Nun, meinte Silliphant, er werde den<br />
Film ebenfalls produzieren, und wenn sie sich für "Kak<strong>tu</strong>sblüte"<br />
nach Amerika begebe, könne er später in diesem Frühjahr einen<br />
ebenso flotten Fahrplan für "A Walk in the Spring Rain"<br />
arrangieren. Zwei aufeinanderfolgende Filme mit hohen Gagen,<br />
eine triumphale Rückkehr nach Hollywood, und sie wäre im<br />
Sommer bei Lars in Europa zurück. <strong>Ingrid</strong> unterschrieb.<br />
UND SO KAM SIE ANFANGS 1969 in Los Angeles an, wo<br />
sie im Beverly Hills Hotel untergebracht wurde und Walter<br />
Matthau sowie die dreiundzwanzigjährige Goldie Hawn traf. Im<br />
Ungewissen darüber, wie sie in einem Hollywood-Set empfangen<br />
würde, war <strong>Ingrid</strong> bei Ankunft in den Columbia-S<strong>tu</strong>dios<br />
sehr nervös. Matthau schlug daher vor, dass sie am ersten Tag<br />
zusammen lunchten. Sie kippte drei Martinis, bevor sie stocknüchtern<br />
zur Arbeit in die S<strong>tu</strong>dios zurückkehrten. "Ich stellte<br />
538
fest, wie gut sie dem Alkohol standhielt", erinnerte sich<br />
Matthau, und sie entgegnete: "Ya, schlimm, nicht wahr?"<br />
Goldie Hawn fürchtete, "von ihr so eingeschüchtert zu<br />
werden, dass ich nicht arbeiten kann. Aber nichts von alledem<br />
geschah. Ich hatte nie das Gefühl, in Konkurrenz zu ihr zu stehen.<br />
Ich fühlte mich einfach geehrt, mit ihr im gleichen Film<br />
aufzutreten. Sie hat mich mit grosser Liebenswürdigkeit aufgenommen<br />
und mir vieles beigebracht in meinem ersten Film"<br />
(für den Goldie Hawn den "Supporting Actress Oscar" gewann).<br />
Nach einigen Wochen Arbeit im Set hatte sich in Hollywood<br />
herumgesprochen, dass (wie das Sprichwort sagt) ein<br />
alter Stern ein heisser neuer Stern sei, und so wurde <strong>Ingrid</strong><br />
eingeladen, an der Frühjahrsveranstal<strong>tu</strong>ng den Oscar für die<br />
beste Schauspielerin zu überreichen. Sie öffnete den Umschlag<br />
und verkündete den Award mit einem trällernden Kichern, welches<br />
das Publikum zum Mitlachen animierte noch bevor sie<br />
verkünden konnte, dass es diesmal zwei Gewinner gebe (Katherine<br />
Hepburn und Barbra Streisand).<br />
Wie unter José Quintero machte sich <strong>Ingrid</strong> auch hier<br />
ihre Gedanken zur Regie und scheute sich nicht, mit Gene<br />
Saks darüber zu sprechen. Mochte sie in Bezug auf ihre Rolle<br />
etwas zurükhaltender sein, so beeinflusste im Set ihre wache<br />
Intelligenz alle Aspekte dieser Produktion. <strong>Ingrid</strong> hatte sich<br />
selbst perfekt unter Kontrolle, gemäss Saks – und manchmal<br />
ihn dazu. Lebhaft und auf ihre Erfahrung vertrauend, konnte<br />
sie gelegentlich auch zu weit gehen, w<strong>ob</strong>ei die Diplomatie in<br />
dieser dritten Phase ihrer Karriere des öftern nicht zu ihren<br />
Stärken zu zählen war.<br />
"Ich glaube, Gene Saks ist sehr dankbar für all' die guten<br />
Ratschläge, die ich ihm gebe", schrieb sie Lars im März.<br />
"Wie üblich, mische ich mich in seine Regie ein!" Tatsächlich<br />
empfand Saks sie <strong>als</strong> "eine sensationelle Mischung von Irritation<br />
und Charme", wenn sie Kleinigkeiten in Script oder Regie<br />
aufgriff, die er längst <strong>als</strong> erledigt betrachtet hatte. "Aber dann<br />
lachte sie oft über sich selbst, womit sie mich wieder vollkommen<br />
in der Tasche hatte." Ihre Vorschläge, die nie trivial wa-<br />
539
en, glätteten einige scharfe Kanten im Script, das leider viel<br />
von der brillanten Leichtigkeit des französischen Origin<strong>als</strong> verloren<br />
hatte – "Fleur de cac<strong>tu</strong>s" von <strong>Ingrid</strong>s Freund Pierre<br />
Barillet und Jean-Pierre Grédy.<br />
Wie nicht anders zu erwarten war, sah <strong>Ingrid</strong> sehr<br />
hübsch aus – sei es im Weiss der Schwesterntracht oder im<br />
Paillettenkleid. Sie tanzte die wilden Schwünge der späten<br />
1960er-Jahre im echt fiebernden Stil und schuf durch ihr typisches<br />
Understatement jenen wundervollen Anflug von Komödie,<br />
der seit ihren schwedischen Filmen vor dreissig Jahren bei<br />
ihr nicht mehr zu sehen war – womit ihre Wandlung vom nordischen<br />
Eisberg zur leidenschaftlichen Geliebten weder unfein<br />
noch unglaubwürdig wirkt.<br />
GENAU WIE WÄHREND DEN SELZNICK-JAHREN sprintete<br />
<strong>Ingrid</strong> von einem Film zum andern. Ungeachtet etlicher<br />
Schwierigkeiten mit Script und Besetzung war "A Walk in the<br />
Spring Rain" inzwischen produktionsreif geworden, und eine<br />
Woche nach der Oscar-Verleihung war <strong>Ingrid</strong> in den Smoky<br />
Mountains mit Anthony Quinn, Fritz Weaver und Regisseur Guy<br />
Green, der durch seine erfolgreichen und sensibeln Filme "The<br />
Mark" und "A Patch of Blue" von sich reden machte. Vor Jahren<br />
hatte Green sein scharfes Künstlerauge auf die Verfilmung verschiedener<br />
David Lean-Filme geworfen, und durch eine personelle<br />
Umbesetzung in letzter Minute gab er "Spring Rain" viel<br />
von dessen bildhafter Attraktivität und erzählerischen Einfachheit.<br />
Vom 21. April bis zum 13. Juni 1969 arbeitete <strong>Ingrid</strong> in<br />
Tennessee, New York und Hollywood an diesem Film.<br />
Mehr <strong>als</strong> jede andere Schauspielerin, die er in seiner<br />
Karriere getroffen hat, empfand Green <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> "kooperativ,<br />
bescheiden, immer angenehm und nie ein Pr<strong>ob</strong>lem. Für uns<br />
alle in Cast und Crew war sie eine bemerkenswerte Person –<br />
um jedermanns Pr<strong>ob</strong>leme immer genau so besorgt, wie z.B.<br />
um die quietschenden Räder eines Kamerawagens. Sie ging in<br />
540
der Produktion völlig auf."<br />
Manchmal war sie vielleicht zu sehr engagiert, denn <strong>ob</strong>schon<br />
sie sich nie <strong>als</strong> Regisseur betätigen wollte, handelte sie<br />
jetzt tatsächlich wie einer, und das stellte Anthony Quinns Geduld<br />
auf die Pr<strong>ob</strong>e. Bei den Dreharbeiten zu einer Aussenszene<br />
in Tennessee herrschte eines Tages pefektes Sonnenlicht und<br />
alles war zur Aufnahme bereit. Aber nach einer kurzen Pr<strong>ob</strong>e<br />
für die Szene drehte sich <strong>Ingrid</strong> zu Quinn um und fragte ihn:<br />
"Aber so wirst du die Szene nicht spielen, oder?"<br />
Quinns mexikanisch-irisches Temperament flatterte:<br />
"Wer führt hier eigentlich Regie – du oder Guy?" Unvermittelt<br />
drohte er, den Film zu verlassen; sie sollen Burt Lancaster <strong>als</strong><br />
Ersatz für ihn holen, schlug er vor. Quinn und Green steckten<br />
dann die Köpfe zusammen, während <strong>Ingrid</strong> sich mit Ruth R<strong>ob</strong>erts<br />
unterhielt. "Die Sonne steht schon tief", sagte sie zu<br />
Ruth, "mein Gott, wir könnten einen ganzen Drehtag verlieren,<br />
und alles durch meine Schuld!" Und damit gewann ihr professionelles<br />
Bewusstsein wieder die Oberhand. "Es <strong>tu</strong>t mir entsetzlich<br />
leid", sagte sie auf Green und Quinn zugehend, "ich<br />
werde meinen Mund nie wieder aufmachen darüber, wie du<br />
eine Szene spielen sollst. Lasst uns doch weitermachen, damit<br />
wir die Szene noch in den Kasten bekommen."<br />
BEI IHRER ARBEIT in den frühen Sechzigerjahren konnte<br />
<strong>Ingrid</strong>, wie sie dieses Frühjahr in einem Brief an Lars eingestand,<br />
"ziemlich mühsam sein, wie mir Tony Quinn und Guy<br />
Green klarmachten und aber auch halfen, die Fehler zu erkennen.<br />
Ich höre nie zu und unterbreche ein im Gange befindliches<br />
Gespräch mit völlig bezugsfremden Themen; du kennst<br />
das ja. Das hat mir Tony Quinn abgewöhnt. Er fixiert mich<br />
schweigend bis ich mich entschuldigt habe. Wart's nur ab, ich<br />
bin jetzt viel angenehmer." Bestimmt war sie am Ende der<br />
Aufnahmen angenehmer, <strong>als</strong> sie Tony Quinn und Guy Green<br />
ein Geschenk präsentierte – Malerutensilien für ihren Co-Star<br />
(der inzwischen zu malen begonnen hatte) und eine elegante<br />
Geldkassette für ihren Regisseur, auf deren Deckel eingraviert<br />
541
stand:<br />
542<br />
Within you see<br />
what pleases me<br />
- und Green öffnete die Kassette um in einem kleinen<br />
Spiegel darin sein eigenes Konterfei zu sehen. Wie immer auch<br />
die Umstände, <strong>Ingrid</strong> war nie undankbar, sondern wusste, was<br />
sie geduldigen Kollegen zu verdanken hatte.<br />
Aber sie war in ihrer späten Karriere auch von jedem<br />
Projekt zunehmend gestresst – zum Teil wegen des Mangels an<br />
guten neuen Scripts, aber zum Teil auch weil sie spürte, dass<br />
ihre Ehe durch Zeit und Distanz langsam ausgehöhlt wurde.<br />
Sie rauchte mehr, gelegentlich trank sie auch etwas zuviel<br />
(<strong>ob</strong>wohl nie bis zur Trunkenheit) und wirkte oft kantig und<br />
verwirrt. Gleichzeitig fühlte sie sich oft undefinierbar krank,<br />
aber ohne greifbare Symptome und angesichts so vieler anderer<br />
klarer Befindlichkeiten ignorierte sie ihr Unbehagen einfach<br />
und setzte ihren Lebensstil im gewohnten Sinne fort.<br />
Doch die allgemeine Besessenheit vom Jugendwahn<br />
regte sie auf: "Es gibt keine Filmrollen für eine Frau meines<br />
Alters! Da bin ich, in meinen Fünfzigern eine alte Frau", sagte<br />
sie zu einem Autor, "gut, vielleicht kann ich eines Tages noch<br />
eine der Macbeth-Hexen spielen!" Und dann sprudelte ihr unwiderstehliches<br />
Lachen aus ihr hervor. Aber sie war nicht immer<br />
in guter Verfassung.<br />
"A Walk in the Spring Rain" hatte hübsche Momente,<br />
aber 1970, <strong>als</strong> der Film veröffentlicht wurde, war kein guter<br />
Zeitpunkt für Liebesgeschichten von Erwachsenen. <strong>Ingrid</strong> warb<br />
in ganz Amerika für den Film, der aber nicht gut ankam, und<br />
die Komplimente, die sie erhielt, betrafen gerade noch ihre<br />
Erscheinung – so weit so gut, aber es genügte nicht. So würden<br />
Filmsternchen erwähnt, sagte sie: aber sie war etwas anderes<br />
– eine ernsthafte Schauspielerin, die nach wie vor an<br />
schwierigen und herausfordernden Projekten arbeitete.
INGRID KEHRTE NACH PARIS ZURÜCK, wo Lars sie erwartete.<br />
Sie schilderte lebhaft den derzeitigen Stand im neuen<br />
Hollywood, wo das traditionelle S<strong>tu</strong>dio-System und die Langzeitverträge<br />
durch ein seelenloses, jugendorientiertes und jugendkontrolliertes<br />
Geschäftsgebaren ersetzt wurden. Technisch,<br />
sagte sie, hätte Amerika die weltweit allerbesten Voraussetzungen,<br />
aber diese würden für einige der dümmsten,<br />
hirnlosesten Geschichten eingesetzt, die man sich vorstellen<br />
könne. "Casablanca", gewiss nicht ihr Lieblingsfilm, hätte 1970<br />
niem<strong>als</strong> hergestellt werden können, sagte sie, und sie hatte<br />
Recht damit: es gab darin keinen augenfälligen Sex, keine<br />
sichtbare Gewalt, keine Auto-Hetzjagden und keinen Rock-<br />
Soundtrack. Und "Notorious"? Hitch hätte eine derart subtile<br />
und ausgereifte Idee dieser wilden neuen Welt nie verkaufen<br />
können.<br />
Aber es war nicht nur ihr Berufsumfeld, das sich verändert<br />
hatte, wie <strong>Ingrid</strong> am Abend ihrer Ankunft erfahren sollte.<br />
Auch ihr Leben veränderte sich schnell. So schonend wie möglich<br />
erklärte ihr Lars, dass er sich in eine junge Frau namens<br />
Kristina Belfrage verliebt habe, die in Paris lebte und arbeitete.<br />
Ihre Beziehung sei ernsthafter und für ihn wichtiger geworden,<br />
<strong>als</strong> er ursprünglich erwartet habe. Zwanzig Jahre seien nun<br />
seit dem Tod seines Kindes verstrichen und sein Wunsch nach<br />
einem weiteren Kind sei intensiv und dauerhaft.<br />
<strong>Ingrid</strong> nahm die Neuigkeit nicht ruhig auf. Sie wusste,<br />
dass sie eine Frau in Abwesenheit war und dass dies eine solche<br />
Entwicklung vielleicht unausweichlich machte. Sie besprachen<br />
die Scheidung, aber keiner von ihnen wäre dazu bereit<br />
gewesen. Plötzlich hatte <strong>Ingrid</strong> den Eindruck, dass sich hier<br />
das Ende ihrer Ehe mit R<strong>ob</strong>erto wiederhole und dass Kristina<br />
die neue Sonali Das Gupta war. Sollte ihr ganzes Leben eine<br />
einzige Sühne für 1949 sein?<br />
<strong>Ingrid</strong> gab der Ehe eine letzte, lange Chance, und während<br />
Lars seine Zeit zwischen ihr und Kristina aufteilte, wartete<br />
sie in Choisel buchstäblich Abend für Abend während acht Monaten<br />
– bemüht, Scripts zu lesen, ihre Kinder und einige<br />
543
Freunde zu Besuch zu empfangen, Freunde zu kontaktieren;<br />
erstm<strong>als</strong> in ihrem Leben fühlte sie sich unnütz und unerwünscht.<br />
"Ein Teil in ihr sagte: 'Oh, weiterleben so'", erinnerte<br />
sich Stephen Weiss, "weil die Sache mit Kristina und Lars ihrer<br />
eigenen Vergangenheit so nahe kam. Aber bei all ihrer Stärke<br />
war sie scheu und verängstigt und sie brauchte ihn – <strong>ob</strong>schon<br />
sie ihre Karriere vor allem Andern brauchte."<br />
"Selbst in dieser Si<strong>tu</strong>ation bewies <strong>Ingrid</strong> ihre Grösse",<br />
sagte Lars. "Sie war eine einmalige Künstlerin und eine wunderschöne<br />
Frau von aussergewöhnlicher innerer Stärke. Sie<br />
hatte den Mut, bei ihrer Arbeit, im häuslichen Bereich und in<br />
ihren zwischenmenschlichen Beziehungen ihre Meinung stets<br />
frei zu vertreten. Sie suchte Liebe, sie gab Liebe und wurde<br />
geliebt. Sie war glücklich und eine fröhliche Na<strong>tu</strong>r." Aber das<br />
Lachen verging ihr in dieser Saison.<br />
Dann, eines Abends, kam ein Telefonanruf vom Londoner<br />
Theater-Produzenten Hugh ("Brinkie") Beaumont. Er plante<br />
die Neuauflage einer kleineren Shaw-Komödie, "Captain<br />
Brassbounds Conversion" . 1899 für Ellen Terry geschrieben,<br />
handelte es sich dabei um ein etwas schäbiges Stück, aber<br />
dessen Zentrum wurde bestimmt durch eine brillant entworfene<br />
Rolle, die der Lady Cicely Waynflete. Nach Ellen Terry haben<br />
weitere grosse Bühnendarstellerinnen (u.a. Gladys Cooper,<br />
Sybil Thorndike und Edna Best) <strong>als</strong> Lady Cicely enorme Erfolge<br />
gefeiert.<br />
<strong>Ingrid</strong> las das Stück und, ja, Brinkie hatte Recht: es war<br />
nicht sehr gut. Aber welch eine Rolle für sie – die einzige Frau<br />
unter fünfundzwanzig Mitspielenden, und ihr fielen alle zündenden<br />
Texte zu. <strong>Ingrid</strong> akzeptierte, Laurence Evans handelte<br />
für sie 10 % der wöchentlichen Brutto-Kasseneinnahmen aus,<br />
und nach Weihnacht 1970 reiste sie ab zu den Pr<strong>ob</strong>en nach<br />
London. Ob Lars sein Leben mit Kristina nun weiterführte oder<br />
nicht, war nun, wie sie es sah, ausschliesslich seine Sache;<br />
jedenfalls konnte sie nicht zuhause sitzen und in ständiger<br />
Sorge die Daumen drehen.<br />
544
1969 - "Kak<strong>tu</strong>sblüte", mit Goldie Hawn und Walter Matthau in der<br />
berühmten Tanzszene<br />
545
546<br />
1969 - "Kak<strong>tu</strong>sblüte", mit Walter Matthau
1969 - "Kak<strong>tu</strong>sblüte", mit Goldie Hawn<br />
547
548<br />
1970 - mit Guy Green und Anthony Quinn<br />
in "A Walk in the Spring Rain"
"Sehr geehrter Senator Percy,<br />
mein Krieg mit Amerika ist längst beendet. Die Wunden sind<br />
mir allerdings geblieben. Nun, durch Ihre galante Geste mit<br />
Ihrer grosszügigen und verständnisvollen Adresse an den Senat<br />
sind auch sie für immer verheilt.".<br />
(<strong>Ingrid</strong>s Antwort auf die Entschuldigung aus dem U.S. Senat)<br />
1971 - 1975<br />
"Die Tränen, die du vergossen hast, machen dich zum<br />
menschlichen Wesen, und dafür sollten wir dankbar sein", erklärte<br />
<strong>Ingrid</strong> den Reportern aus dem Stegreif, <strong>als</strong> sie im Januar<br />
1971 in London eintraf. Während Jahren ahnte niemand, dass<br />
sie von ihrer dritten Ehe sprach. Wie immer ihr privater Kummer<br />
aussah, <strong>als</strong> sie sich diesen Winter im Connaught Hotel<br />
einquartierte, sie trug die Maske ihrer üblichen ungezwungenfröhlichen<br />
Eleganz. Ihre Rolle in "Captain Brassbounds Conversion"<br />
kam ihr dabei zustatten.<br />
So charmant, dass sie alle Männer in ihrem Umfeld um<br />
den Finger wickeln kann, ist Lady Cicely Wainflete eines von<br />
Shaws intrigantesten Geschöpfen und zwar ungeachtet der<br />
Tatsache, dass sie in einem Stück agiert, das seit seiner Premiere<br />
ganz allgemein <strong>als</strong> "schön langweilig" beurteilt wird. In<br />
Marokko begegnen sie und ihr Schwager dessen Neffen, dem<br />
berüchtigten Räuber "Black Paquito", alias Captain<br />
Brassbound, der eine alte Rechnung zu begleichen hat. Mit<br />
Humor und Logik befreit sie den Titelhelden von seinen Rachegelüsten<br />
und kämpft für die Gerechtigkeit. Listig, offen, misstrauisch<br />
der Liebe gegenüber und schlau die männlichen<br />
Schwächen ausnutzend, verfügt Lady Cicely über männliche<br />
Boshaftigkeit und steuert aber dank ihrer betont mütterlichen<br />
Na<strong>tu</strong>r ihre Welt in eine bessere Rich<strong>tu</strong>ng.<br />
549
Die Pr<strong>ob</strong>en nahmen im Januar 1971 einen erstaunlich<br />
ruhigen Verlauf, vielleicht weil sich <strong>Ingrid</strong> keinen Illusionen<br />
hingab und wusste, dass sie auf Frith Banburys Regie hinsichtlich<br />
Shaws Subtilitäten angewiesen war. Dennoch hatte sie ihre<br />
eigene Meinung. "Das darfst du nicht <strong>tu</strong>n, weil die Leute ihn<br />
ansehen müssen, während er spricht", wies Banbury <strong>Ingrid</strong><br />
zurecht, <strong>als</strong> sie sich bewegte, während ein anderer Darsteller<br />
seinen Dialog sprach. "Aber meine Reaktion darauf ist wichtig",<br />
konterte sie. "Nicht seine Worte, meine Reaktion. Schliesslich<br />
bestimmt im Leben oft die nicht sprechende Person den Verlauf<br />
einer Handlung." Diese Lektion hatte sie von Hitchcock gelernt<br />
und in diesem Fall war sie auch absolut im Recht.<br />
Die Premiere vom 18. Februar im Cambridge Theatre,<br />
nach einem zweiwöchigen Pr<strong>ob</strong>elauf in Brighton, überraschte<br />
einige Kritiker: wozu eine Neuinszenierung eines unbedeutenden<br />
Shaws und wozu eine Schwedin in der Rolle einer britischen<br />
Aristokratin? Und warum stotterte <strong>Ingrid</strong> (nach ihren<br />
eigenen Worten) "in den ersten Aufführungen wie üblich mit<br />
meinem Dialog herum?" Sie hatten den Nagel auf den Kopf<br />
getroffen, denn es war weit entfernt von Shaws besten Stücken,<br />
<strong>Ingrid</strong> begriff nicht sehr viel davon und ihre Rolle war für<br />
sie nicht geeignet. Trotz alledem, Beaumont kannte sein Publikum<br />
– das dem Stück dann eine Laufzeit von neun Monaten<br />
bescherte – und was den Dialog anbetraf, war dieser für <strong>Ingrid</strong><br />
während der ersten Woche immer etwas risik<strong>ob</strong>ehaftet.<br />
Sie konnte in diesem Stück aber auch grossartig sein,<br />
und ihre polyvalente Diktion verschiedener Dialoge brachte<br />
genau den beabsichtigten feinen Humor hervor. Wenn von einem<br />
Schurken behauptet wurde, er sei ein vernünftiger Mann<br />
geworden, entgegnete sie mit einem leicht bittern Trällern:<br />
"Oh, du glaubst, er habe sich so stark verändert?"<br />
INGRID HATTE DIESEN SOMMER verschiedene ruhige<br />
Dinners mit Hitchcock; er drehte in London "Frenzy", und sie<br />
plauderten, höhlten eine Flasche Champagner, beklagten den<br />
neuen Stil der Filmemacher und feierten eine Freundschaft, die<br />
550
nun über siebenundzwanzig Jahre lang andauerte. Durch<br />
"Brassbound" kamen nun zwei neue Freundschaften dazu – die<br />
zu ihrem Co-Star Joss Ackland, der die Hauptrolle spielte, und<br />
die zu Griffith James, Company und Stage Director der Produktionsgesellschaft.<br />
An Sonntagen kam <strong>Ingrid</strong> öfters zu Ackland,<br />
um mit seinen Kindern im Richmond Park Rad zu fahren.<br />
Was Griff James betrifft, begrüsste er <strong>Ingrid</strong> anlässlich<br />
der ersten Pr<strong>ob</strong>e, zu der sie mit etwa viertelstündiger Verspä<strong>tu</strong>ng<br />
eintraf, mit einem leichten Tadel: seine Professionalität<br />
und Strenge gefielen ihr, womit sich sehr bald eine feste Allianz<br />
bildete. Für den Rest ihres Lebens war Griff ihr ein treuer<br />
Freund, der an all ihren Auftritten in England und Amerika beteiligt<br />
war.<br />
Im Hochsommer war <strong>Ingrid</strong> dankbar für die Ruhe auf<br />
Dannholmen, wohin sie ihre Kinder mitbrachte. "Weißt du",<br />
sagte sie zu einem Freund, "Mutterschaft ist eher eine Frage<br />
der Qualität <strong>als</strong> der Quantität. Ich meine, geht es nicht in erster<br />
Linie darum, wie man die Zeit mit seinen Kindern verbringt,<br />
<strong>als</strong> um die Dauer? Ich sehe meine Kinder nicht sehr oft, aber<br />
wenn, dann gehöre ich ihnen mit Haut und Haar."<br />
Das war ihre Mutterschafts-Philosophie, <strong>ob</strong>schon sie<br />
einsah, dass sie ungewöhnlich sei. "Ich wollte den Erfolg, einen<br />
grossen Erfolg <strong>als</strong> Schauspielerin, ein Zuhause und Kinder. Ich<br />
bin glücklich, alles zu haben. Wenn der Preis dafür zu hoch<br />
war, hoffe ich nur, dass ich ihn allein bezahlt habe. Meine Kinder<br />
haben auch daran bezahlt. Ihre Wege waren gesäumt von<br />
zerbrochenen Heimen." Und dafür fühlte sie sich ein Leben<br />
lang schuldig – was es vielleicht verständlich macht, warum sie<br />
sich in ihrem späten Leben oft mit mütterlicher Zärtlichkeit um<br />
Einsame kümmerte, seien es nun Freunde oder Kollegen gewesen.<br />
Diesen Sommer engagierte Lars einen jungen finnischen<br />
Universitätsabgänger mit einer Mordsbegabung für die Logistik<br />
der Haushaltsführung und mit den Fähigkeiten eines Weltklasse-Chefs.<br />
In den folgenden Jahren wurde Paavo Turtiainen ein<br />
enger Freund von Lars und <strong>Ingrid</strong>, und er war es auch, der ihr<br />
551
ei der komplexen Aufgabe der Sich<strong>tu</strong>ng ihrer Manuskripte und<br />
Dossiers an die Hand ging, <strong>als</strong> sie endlich begann, mit einem<br />
Mitarbeiter an ihren Memoiren zu arbeiten. Paavos Diskretion<br />
und tiefe Verbundenheit zu ihnen beiden waren Lars und <strong>Ingrid</strong><br />
in den folgenden zwölf Jahren eine wertvolle Hilfe, und noch<br />
lange nach <strong>Ingrid</strong>s Tod blieb er ein enger Vertrauter von Lars'<br />
Familie.<br />
In jenem Dezember fand ein Familienfest statt, <strong>als</strong> sich<br />
<strong>Ingrid</strong> nach New York begab, wo sich Pia in zweiter Ehe mit<br />
dem Finanz-Broker Joseph Daly vermählte. Mama wurde von<br />
Sidney Bernstein zur kirchlichen Trauung begleitet, wo auch<br />
ein paar höfliche Floskeln mit Petter gewechselt wurden, der<br />
seine Tochter zum Altar führte. Im Jahr danach wurde <strong>Ingrid</strong><br />
durch die Dalys erstm<strong>als</strong> Grossmutter. Pia zufolge war <strong>Ingrid</strong><br />
"wahrscheinlich die vernarrteste, eifrigste und anhänglichste<br />
Grossmutter, die die Welt je gesehen hat".<br />
ANFANGS 1972 begann sie die kanadische Tournée mit<br />
"Captain Brassbounds Conversion" – in mehreren Städten<br />
während einiger Wochen bis zum Sommer. Während der Spielzeit<br />
im Kennedy Center akzeptierte sie die Einladung zu einem<br />
Frage und Antwort-Forum mit der National Press Association.<br />
Die üblichen Klichees kamen auf's Tapet – Fand sie die Komödie<br />
schwieriger <strong>als</strong> das Drama? Wie beurteilt sie das Kennedy<br />
Center? Wie schafft sie es, so jugendlich zu bleiben? Sollten<br />
sich Schauspieler mit der Politik beschäftigen? Und dann wollte<br />
ein Reporter wissen, wie <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> eine Rolle eins<strong>tu</strong>dierte.<br />
Ihre Antwort war geradeheraus und lehrreich zu einer Zeit,<br />
<strong>als</strong> über die Kunst eines Schauspielers noch viel Ge<strong>tu</strong>e und<br />
selbstgefällig-akademische Weitschweifigkeiten abgezogen<br />
wurden:<br />
552<br />
"Ich habe nicht viel Litera<strong>tu</strong>r über die Schauspielerei<br />
gelesen. Instinktiv und schon beim ersten Durchgang<br />
eines Scripts weiss ich, wer die betreffende Frau ist.<br />
Deshalb lasse ich auch einiges beiseite, was ich nicht<br />
verstehe. Ich muss eine Figur genau verstehen; ich
meine, etwas von dieser Person muss in mir sein, und<br />
dann fühle ich plötzlich, wer sie ist. Es geht hier mehr<br />
um eine Gefühlssache <strong>als</strong> um Technik."<br />
Sie entliess die Journalisten dann im Gelächter über ihre<br />
letzte Anwort: nachdem sie so lange in Italien gelebt hatte,<br />
was hat sie über die Italiener und das zeitgenössische Theater<br />
zu sagen? "Die Italiener kümmern sich nicht sonderlich um das<br />
Theater – weil sie schliesslich alles, was sie auf der Bühne sehen,<br />
zuhause viel besser bekommen."<br />
ABER DEN HÖHEPUNKT erlebte die Tournée nach der<br />
gut benoteten Premiere in New York (wo "Captain Brassbounds<br />
Conversion" das einzige von sechsundfünfzig Stücken dieser<br />
Saison war, das einen Gewinn abwarf). Am 19. April verlas<br />
Senator Charles Percy von Illinois eine nationale Entschuldigung<br />
an die Adresse von <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> für das Unrecht, das<br />
ihr vor zweiundzwanzig Jahren von Senator Johnson angetan<br />
worden ist. Seine Erklärung, ergänzt durch verschiedene Kritiken<br />
und Artikel über sie, die diese Saison erschienen waren,<br />
wurde im Kongressprotokoll dieses Tages festgehalten:<br />
"Herr Präsident,<br />
Eine der hübschesten, anmutigsten und talentiertesten<br />
Frauen der Welt wurde vor zweiundzwanzig Jahren in<br />
diesem Haus zum Opfer von bittersten Angriffen. Heute<br />
möchte ich <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>, einem echten Star im<br />
wahrsten Sinne des Wortes, den längst überfälligen<br />
Tribut zollen."<br />
Nachdem er die Einzelheiten ihres Besuchs in Washington<br />
und die Höhepunkte ihrer Bühnen-, Film- und Fernseh-Karriere<br />
zusammengefasst hatte, stellte er weiter fest, dass<br />
<strong>Ingrid</strong> offensichtlich eine überwältigende Bewunderung<br />
und Zuneigung durch das amerikanische Volk geniesse<br />
– und zwar sowohl für ihr brillantes und einfühlsames<br />
Schauspiel, wie auch für ihren Mut, ihre Ausgeglichen-<br />
553
554<br />
heit und Wärme <strong>als</strong> Individuum .......Unsere Kul<strong>tu</strong>r wäre<br />
ohne ihre Kunst ärmer.....Sie ist eine der grössten aktiven<br />
Schauspielerinnen unserer Zeit.<br />
Und dann kam der Grund für den ganzen Sermon:<br />
"Ich weiss, dass ich für Millionen von Amerikanern rede,<br />
wenn ich <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> deren Bedauern für die persönliche<br />
und berufliche Verfolgung ausspreche, die sie<br />
veranlasste, unser Land auf dem Höhepunkt ihrer Karriere<br />
zu verlassen. Miss <strong>Bergman</strong> ist nicht nur willkommen<br />
in Amerika; wir fühlen uns durch ihre Besuche hier<br />
zutiefst geehrt."<br />
Elf Einträge über <strong>Ingrid</strong> wurden seinem Kongress-<br />
Protokoll dieses Tages noch beigefügt.<br />
"Sehr geehrter Senator Percy", schrieb <strong>Ingrid</strong> von New<br />
York aus, "mein Krieg mit Amerika ist längst beendet.<br />
Die Wunden sind mir allerdings geblieben. Nun, durch<br />
Ihre galante Geste mit Ihrer grosszügigen und verständnisvollen<br />
Adresse an den Senat sind auch sie für<br />
immer verheilt."<br />
Während ihrer Anwesenheit in New York erschien sie<br />
kurz in einem eher unbedeutenden Film <strong>als</strong> exzentrische, reiche<br />
alte Dame, die sich in "From the Mixed-Up Files of Mrs.<br />
Basil E. Frankweiler" mit zwei einsamen Kindern anfreundet.<br />
Wie sie Freunden erzählte, nahm sie die Rolle nicht nur wegen<br />
des vielen Geldes an, das ihr dafür geboten wurde, sondern<br />
auch weil sie den Charakter dieser Rolle – den einer Perrücke<br />
tragenden, gepuderten Einsiedlerin – <strong>als</strong> herrliche Gelegenheit<br />
für eine Satire über die wenigen Rollen erkannte, die es für<br />
Frauen um die fünfzig noch gibt: Frauen über achtzig, die sich<br />
vom dürren, bissigen alten Weib zur verehrten alten Dame<br />
mausern.
ZURÜCK AUF DANNHOLMEN und gelegentlich auch in<br />
Choisel unterbrach sie im Sommer und Herbst 1972 ihren Urlaub<br />
durch verschiedene Reisen nach London, um Projekte zu<br />
besprechen, doch im Moment gab es nichts Sicheres – weder<br />
in der Kunst noch im Leben. Ihr häufiges Erscheinen an Flughäfen<br />
und das zwangsläufig öffentliche Leben von <strong>Ingrid</strong> und<br />
Lars machten die Presse hellhörig, die nun Pr<strong>ob</strong>leme im Eheparadies<br />
zu wittern begann. "Die Leute fragen mich über Lars<br />
aus", sagte sie einem Reporter, "wir sind immer noch verheiratet<br />
und ich hoffe, wir werden wieder klarkommen und verheiratet<br />
bleiben. Das ist alles, was ich im Moment sagen kann. In<br />
den Zei<strong>tu</strong>ngen lese ich, 'Ein Freund sagt....Freunde von Miss<br />
<strong>Bergman</strong> sagen...' und ich wundere mich, wer diese Freunde<br />
alle sein sollen? Ich glaube nicht, dass sich meine Freunde<br />
über meine Ehe äussern, weil sie – wie ich selbst – noch nicht<br />
wissen, was sie sagen sollen." Auch Lars, der Kristina Belfrage<br />
nicht heiratete, wusste es nicht.<br />
Aber <strong>Ingrid</strong> hatte die Antwort sofort bei der Hand, <strong>als</strong><br />
Binkie Beaumont neuerdings von London anrief mit der Idee<br />
für eine weitere Neuaufführung – diesmal von Sommerset<br />
Maughams Komödie "The Constant Wife" aus dem Jahre 1927.<br />
Die zentrale Figur war Constance, eine elegante und<br />
clevere Frau, seit fünfzehn Jahren mit John Middleton verheiratet,<br />
einem renommierten Arzt, der mit ihrer besten Freundin<br />
ein Verhältnis hat. Während ihre Freunde sie aufstacheln,<br />
durchzubrennen und ihre Mutter ihr rät, sich mit der männlichen<br />
Schürzenjägerei abzufinden, wählt Constance einen dritten<br />
Weg: sie versucht, sowohl ihre Selbstach<strong>tu</strong>ng wie auch<br />
ihre finanzielle Unabhängigkeit zu bewahren und eröffnet John,<br />
dass auch sie ihn nicht mehr liebt, dass sie arbeiten wolle um<br />
ihn für ihren Lebensunterhalt entschädigen zu können: "Es gibt<br />
nur eine wirklich wichtige Freiheit, das ist die wirtschaftliche<br />
Selbständigkeit."<br />
Ein Jahr später - solvent und zu haben – erklärt sie<br />
John zu dessen Entsetzen, dass sie nun eine romantische Reise<br />
mit einer alten Flamme unternehmen werde. "Ich war so vor-<br />
555
sichtig, einen Gentleman zu heiraten", sagt sie, "und ich weiss,<br />
dass du mich nie für dasselbe verlassen würdest, das auch du<br />
getan hast." Nach ihrem Abenteuer verspricht sie, zu ihrem<br />
Mann zurückzukehren, der sie zurücknimmt, weil sie – wie er<br />
zugibt – "die betörendste, mutwilligste, kapriziöseste, dickköpfigste,<br />
wunderbarste und bezauberndste Frau ist, die zur Ehefrau<br />
zu haben, ein Mann je verflucht sein kann. Ja, verdammt<br />
nochmal, so komm zurück!"<br />
Als ein ein halbes Jahrhundert altes Stück schien es<br />
bestens geeignet, die allgemeine Stimmung um die Emanzipationsbewegung<br />
der 1970er-Jahre perfekt aufzufangen. Im<br />
Spätherbst las <strong>Ingrid</strong> das Stück, besprach es mit Lars, überprüfte<br />
den Handlungsverlauf und stellte fest, dass die Figur der<br />
Constance von Ethel Barrymore mehr schlecht <strong>als</strong> recht gezeichnet<br />
und später von Katharine Cornell elegant überarbeitet<br />
wurde. Wie die Lady Cicely war auch Constance eine grossartige<br />
Rolle, und <strong>Ingrid</strong> konnte sich – Beaumont sei Dank - zudem<br />
auf eine exquisite Garder<strong>ob</strong>e freuen. Das ausschlaggebende<br />
Argument aber, das <strong>Ingrid</strong>s Beteiligung schliesslich sicherte,<br />
war Sir John Gielguds Zusage, die Regie zu übernehmen.<br />
Selbstverständlich hätte sie es vorgezogen, anstelle von<br />
Neuaufführungen neue, moderne Stücke zu spielen, aber niemand<br />
schrieb Rollen für Frauen mittleren Alters, "und es ist<br />
sehr schwierig, heutzutage gute Scripts zu finden. Die meisten<br />
Autoren scheinen unangenehme Stücke für unattraktive Leute<br />
mit ordinärer Sprache zu schreiben. Ich spiele keine gemeinen<br />
Rollen. Ich möchte meinem Publikum Vergnügen bereiten,<br />
nicht es abstossen."<br />
Und so begaben sich am 20. März 1971 <strong>Ingrid</strong> und Gielgud<br />
nach London zu Gesprächen bei Beaumont zuhause. "Wir<br />
fanden ihn mit Rückenschmerzen im Bett liegend", erinnerte<br />
sich Sir John. Er wollte sich eben zu einer Untersuchung zu<br />
seinem Arzt in der Harley Street begeben. <strong>Ingrid</strong> und ich verbrachten<br />
eine halbe S<strong>tu</strong>nde zu beiden Seiten seines Betts.<br />
Dann war sein Wagen da, und <strong>Ingrid</strong> und ich konnten uns über<br />
einer Tasse Tee im Salon allein weiterunterhalten." Zwei Tage<br />
556
später erlag Beaumont einem Herzversagen im Alter von 64<br />
Jahren.<br />
ENDE MAI WURDE INGRID EINGELADEN, das Präsidium<br />
der Jury der Filmfestspiele von Cannes zu übernehmen, wo<br />
Ingmar <strong>Bergman</strong>s "Cries and Whispers" ausser Konkurrenz<br />
aufgeführt wurde. Wie sie eben Choisel in Rich<strong>tu</strong>ng Riviera<br />
verlassen wollte, fand sie des Regisseurs schriftliches Versprechen<br />
– jetzt über ein Jahrzehnt alt, einen Film mit ihr zu produzieren.<br />
Dem Brief fügte sie einen Zettel mit der Notiz bei:<br />
"Die Zeit läuft!" und steckte beides zusammen am Festival inmitten<br />
des Fotographengerangels in Ingmars Tasche.<br />
Die Produktion von "The Constant Wife" lief gut, mit den<br />
Pr<strong>ob</strong>en im Spätsommer für eine Premiere am 29. September<br />
im Albery-Theater. "Ich erlebte sie bezaubernd bereitwillig und<br />
empfänglich für die Anweisungen der Regie", erklärte Gielgud.<br />
Gerade weil sie sowohl die ersten Anzeichen von Untreue wie<br />
auch die daraus resultierende Notwendigkeit zur Selbständigkeit<br />
der Frau kannte, brachte sie einen verschmitzten Realitätssinn<br />
in die Rolle ein und jene Ironie, die es ihr ermöglichte,<br />
die Spitzen der ehelichen Dissonanzen so unter Kontrolle zu<br />
halten, dass ein Abgleiten in publikumswirksame Sentimentalitäten<br />
vermieden wurde. "Am ersten Abend war ich so nervös<br />
und durcheinander", gestand <strong>Ingrid</strong> bald danach ein. "Ich habe<br />
derart Lampenfieber im Theater, aber überhaupt keines vor<br />
der Kamera. Ich empfand die Kamera immer <strong>als</strong> meinen<br />
Freund, und dann kann man es schliesslich wiederholen, wenn<br />
nötig. Das geht im Theater eben nicht."<br />
Wie schon zuvor, benötigte sie eine Woche nach der<br />
Premiere, um sich in ihrer Rolle zurecht zu finden, aber dennoch<br />
kam es zu Heiterkeit erzeugenden Schnitzern, die das<br />
Vergnügen des Publikums noch zu erhöhen schienen. An einem<br />
Punkt, wo sie ihren Mann dazu bringen sollte, die Menügestal<strong>tu</strong>ng<br />
der Köchin zu überlassen, wäre ihr Dialog gewesen: "Give<br />
the cook her head!" (etwa: überlass das doch der Köchin!),<br />
doch stattdessen sagte sie in beschwörendem Crescendo: "Gi-<br />
557
ve the cook your head!" (etwa: gib der Köchin deinen Kopf!).<br />
Für einen kurzen Moment wunderte sie sich, weshalb sich ihre<br />
Mitspieler vor Lachen schüttelten. "Was hat sie wohl heute<br />
Abend mit uns vor?" war dann das liebevolle Passwort im Cast.<br />
WIE SICH GIELGUD ERINNERTE, machte <strong>Ingrid</strong> eines<br />
Abends aus der Not eine Tugend, <strong>als</strong> sie backstage eben vor<br />
ihrem Auftritt in ein eifriges Gespräch mit Griff James verwickelt<br />
war. Ihr Auftritt war dran, doch sie bemerkte es nicht, im<br />
Gegensatz zu Griff, der sie rasch durch die Tür auf die Bühne<br />
sch<strong>ob</strong>. Atemlos und fast stolpernd erholte sie sich sofort und<br />
wandte sich an ihre Mitspieler mit den Worten – <strong>als</strong> wären sie<br />
Bestandteil ihres Dialogs: "Oh, Entschuldigung - ich sprach<br />
eben mit Griff."<br />
"The Constant Wife", der grösste Renner der Saison,<br />
war am Albery täglich ausverkauft und machte <strong>Ingrid</strong> zu einer<br />
sehr reichen Frau: wiederum Dank Laurence Evans kassierte<br />
sie nun 12,5 % der Bruttoeinnahmen. Ungeachtet einiger bissiger<br />
Kommentare von Kritikern – die wohl mehr aus sprachlichen<br />
Gründen <strong>als</strong> im Zusammenhang mit Shaws Stück zutiefst<br />
bedauerten, dass eine Schwedin eine Engländerin zu spielen<br />
hatte – lief "The Constant Wife" in London während acht Monaten<br />
bis Mai 1974.<br />
Doch was sind schon Kritiker: wirklich in Aufregung versetzte<br />
sie der Zustand ihrer Wohnung an der Mount Street, <strong>als</strong><br />
sie nach der Vorstellung vom Montag, 29. Okt<strong>ob</strong>er nachhause<br />
zurückkehrte. Sie fand die Tür aufgebrochen, die Wohnung<br />
verwüstet, Schmuck im Wert von $ 25'000 gestohlen, ihr<br />
Nerzmantel und etwelche Familienstücke von emotionalem<br />
Wert waren weg. Die Versicherung deckte den materiellen<br />
Schaden, aber <strong>Ingrid</strong> kämpfte bei der nächtlichen Heimkehr<br />
nach der Vorstellung noch während Wochen gegen ein tiefes<br />
Gefühl von Unsicherheit.<br />
558
DOCH DANN traten schwerwiegendere Gründe zur Besorgnis<br />
auf. Am 26. September 1973 starb Anna Magnani im<br />
Alter von 65 Jahren an Krebs. <strong>Ingrid</strong>, die nun in einem freundschaftlichen<br />
Kontakt zu Rossellini stand, hatte den verheerenden<br />
Verlauf von Magnanis Krankheit mitverfolgt. Die exzentrische,<br />
unbändige Künstlerin war in ihren letzten Tagen völlig<br />
einsam – wenn man von R<strong>ob</strong>erto absieht, der sie besuchte,<br />
Blumen brachte und ihre Hand auch durch den Nebel der<br />
Schmerzen und der Narkotika hielt, bis sie starb.<br />
Magnanis alte Verbitterungen, die Missgeschicke, Wutanfälle<br />
und Eifersuchten auf R<strong>ob</strong>erto hatten in den letzten Monaten<br />
an Bedeu<strong>tu</strong>ng verloren, und <strong>Ingrid</strong> sprach fortan stolz<br />
und respektvoll von der liebevollen Zuwendung, die ihr vormaliger<br />
Ehemann Magnani in diesen schrecklichen letzten Wochen<br />
zuteil werden liess. Alle Glocken Roms wurden zu ihrer Beerdigung<br />
geläutet, Tausende von Menschen umstanden die Kirche,<br />
und <strong>als</strong> ihr Sarg herausgetragen wurde, war es totenstill – bis<br />
ein S<strong>tu</strong>rm von Applaus losbrach, wohl die einzige Art, wie ein<br />
dankbares Publikum einer seiner beliebtesten Künstlerinnen<br />
die Ehre erweisen konnte. Als sich in der Folge herausstellte,<br />
dass für ihre Beisetzung keinerlei Vorssorge getroffen worden<br />
war, bestand R<strong>ob</strong>erto darauf, dass sie in seinem Familiengrab<br />
beigesetzt werde.<br />
Vielleicht hat sich <strong>Ingrid</strong> einige Wochen danach an Magnanis<br />
Krebstod erinnert.<br />
Nach einer Vorstellung im November las sie zuhause im<br />
Bett den Brief einer dankbaren Leserin an den Herausgeber der<br />
Zei<strong>tu</strong>ng, die berichtete, dass ein Artikel über die Selbstkontrolle<br />
der Brust ihr das Leben gerettet habe. Noch beim Lesen fuhr<br />
<strong>Ingrid</strong>s Hand sorgfältig über ihre rechte Brust. Kein Knoten,<br />
nichts Ungewöhnliches. Gut so. Beim Weiterlesen ertasteten<br />
ihre Fingerspitzen einen kleinen Knoten unter der linken Brust.<br />
Nein, sagte sie sich, das kann nichts Ernstes sein.<br />
Doch dann griff sie plötzlich zum Telefon und rief Lars in<br />
Choisel an und holte ihn nach Mitternacht aus dem Schlaf. Für<br />
gewöhnlich sprachen sie sich jeden Tag einmal, weil <strong>Ingrid</strong><br />
559
stets praktische Alltagsfragen hatte über Dinge, die sie nicht<br />
meistern konnte, wie: wie finde ich ein gutes Hotel oder eine<br />
anständige Wohnung, wieviel Trinkgeld gibt man dem Gepäckträger,<br />
wie behandelt man einen tropfenden Wasserhahn,<br />
wann bespricht man ein Pr<strong>ob</strong>lem mit dem Produzenten oder<br />
wie buche ich eine Flugreservation.<br />
Ihr Leben lang verliess sie sich hinsichtlich der praktischen<br />
Lebensfragen auf ihre Ehemänner oder Liebhaber, während<br />
sie sich selbst ihrer Kunst widmete. "Sie war wirklich keine<br />
praktisch veranlagte Person – in Tat und Wahrheit war sie<br />
in mancherlei Hinsicht wie ein Kind", wie es Stephen Weiss<br />
ausdrückte. "Es mag ja komisch tönen, aber <strong>Ingrid</strong> war ausserhalb<br />
der Bühne eine sehr unselbständige Person. In ihrer<br />
Arbeit fühlte sie sich stark, anderswo aber nicht." Und s<strong>ob</strong>ald<br />
es um Gesundheitsfragen ging – nun, sie hatte eine bemerkenswerte<br />
Konsti<strong>tu</strong>tion, endlose Ausdauer und erlebte in ihrem<br />
ganzen Leben nur sehr wenige Krankheitstage. 1943 hatte sie<br />
einen Anfall von Lungentzündung, 1956 eine Blinddarmoperation<br />
und einige Jahre danach einen kurzen Spitalaufenthalt für<br />
einen kleinen gynäkologischen Eingriff. Im Übrigen war ein<br />
gelegentlicher Schnupfen ihr grösstes gesundheitliches Pr<strong>ob</strong>lem.<br />
Lars entging ihre beherrschte Angst nicht, <strong>als</strong> sie ihn in<br />
jener Novembernacht anrief. Er riet ihr, noch am folgenden<br />
Tag den Arzt aufzusuchen. Aber <strong>Ingrid</strong> suchte keinen Arzt auf.<br />
Stattdessen erkundigte sie sich während des Makeups beiläufig<br />
bei Griff, <strong>ob</strong> sie und das Theater versichert wären, wenn sie<br />
nicht auftreten könnte. Ihr Ton und Verhalten waren, wie er<br />
sich erinnerte, ruhig und undramatisch, <strong>als</strong> <strong>ob</strong> es sich um die<br />
Besprechung der Pläne für ein künftiges Projekt handelte.<br />
"Versichert?" fragte Griff erstaunt, "warum fragst du? Bist du<br />
krank? Für mich siehst du gesund aus!" Damit hatte <strong>Ingrid</strong> ihre<br />
Antwort erhalten: sie war nicht versichert und das Stück –<br />
Londons grösster Hit dieser Saison – würde bei ihrem Ausfall<br />
ausgesetzt. Keine <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>, keine Constance Middleton,<br />
keine Aufführung.<br />
560
Einige Tage danach erschien sie in der Praxis eines Spezialisten<br />
namens Dr. David Handley. Sein Rat war einfach: viele<br />
kleine Knoten dieser Art sind bösartig, aber nur eine Biopsie<br />
könnte klaren Aufschluss darüber geben, und die müsse sofort<br />
vorgenommen werden. Aber <strong>Ingrid</strong> musste ihr Theaterleben im<br />
Auge behalten – ihr Leben bestand schliesslich zu 90 Prozent<br />
aus ihrer Kunst, wie Lars, Stephen, Pia und viele andere wussten.<br />
Alles andere hatte sich dieser Priorität unterzuordnen.<br />
So beschloss <strong>Ingrid</strong>, immer optimistisch und nie sich irgendwelchem<br />
Selbstmitleid ergebend, sich zu jenen Menschen<br />
zu zählen, welchen eine kleine körperliche Unpässlichkeit keinen<br />
Grund zur Sorge lieferte. Die Biopsie lehnte sie ab. "Man<br />
konnte sie nicht dazu bringen", sagte Laurence Evans, "sie war<br />
eine intelligente Frau und wusste, dass der Knoten bösartig<br />
sein konnte und zog es dennoch nicht einmal in Erwägung,<br />
"The Constant Wife" zu verlassen und die andern Schauspieler<br />
und die Produktion sich selbst zu überlassen".<br />
Vielleicht steckte sie den Kopf in den Sand, vielleicht<br />
war es eine Art Flucht nach vorn: was immer der Grund dafür<br />
war, <strong>als</strong> ihr Sidney Lumet die Gelegenheit bot, ihren S<strong>tu</strong>ndenplan<br />
durch die Übernahme einer Rolle in seinem All-Star-Cast<br />
im Film "Mord im Orient-Express" etwas auszubauen, sagte sie<br />
zu. Lumet, der in vielen hervorragenden Filmen (wie z.B. "Long<br />
Day's Journey into Night" oder "The Pawnbroker") Regie geführt<br />
hatte, hatte keinerlei Pr<strong>ob</strong>lem, <strong>Ingrid</strong> an Bord zu ziehen –<br />
<strong>ob</strong>schon er sie ursprünglich für die Rolle der russischen Prinzessin<br />
Dragomiroff vorgesehen hatte. Nein, sagte <strong>Ingrid</strong>, sie<br />
wolle die Rolle der lustigen schwedischen Missionarin, Greta<br />
Ohlsson, spielen. Das tat sie dann auch bei einem Salär von $<br />
100'000 für ein paar wenige Arbeitstage.<br />
Die Aufnahmen für den so unterhaltenden, wie amüsanten<br />
und spannenden Film gingen zu Beginn des Frühjahrs 1974<br />
in Elstree bemerkenswert flott voran, <strong>ob</strong>schon die meisten der<br />
hochkarätigen Schauspieler, wie auch <strong>Ingrid</strong>, nach den Dreharbeiten<br />
zu ihrem nächsten Auftritt in einem Theater hasteten.<br />
Zum beeindruckenden Ensemble gehörten u.a. Albert Finney,<br />
561
Lauren Bacall, Martin B<strong>als</strong>am, Jacqueline Bisset, Sean Connery,<br />
George Coulouris, John Gielgud, Wendy Hiller (wunderbar<br />
<strong>als</strong> die alte, runzlige Prinzessin), Anthony Perkins (<strong>Ingrid</strong> hatte<br />
keine Szenen mit ihm), Vanessa Redgrave, Rachel R<strong>ob</strong>erts,<br />
Richard Widmark und Michael York. <strong>Ingrid</strong> war speziell erfreut<br />
über den Umstand, dass Lumet beschloss, ihre einzige längere<br />
Szene in einer ununterbrochenen Sequenz aufzunehmen, weil<br />
sie in diesem Film ohnehin nur einige kurze Momente und<br />
Reaktions-Aufnahmen (weniger <strong>als</strong> eine Minute) zu bestreiten<br />
hatte.<br />
"Sie bot eine absolut saubere Leis<strong>tu</strong>ng", sinnierte Lumet<br />
Jahre später. "Sie unternahm keinerlei Versuch, hübsch auszusehen<br />
oder der Rolle Glanz zu geben." Die einzige viereinhalbminütige<br />
Aufnahme – während welcher <strong>Ingrid</strong> das ganze<br />
Spektrum von Langeweile zu Kummer, Angst und einer Art<br />
genervter Nettigkeit einer mädchenhaften, älteren Missionarin<br />
spielte – wurde von der Kritik wie vom Publikum gleichermassen<br />
gel<strong>ob</strong>t. Das war ein wundervolles Stück Komödie und Pathos<br />
(wenn auch fast etwas übertrieben), das Publikum bewunderte<br />
es, und <strong>Ingrid</strong> war erstaunt darüber, dass ihr eine<br />
der fünf Oscar-Nominationen für diesen Film zugesprochen<br />
wurde.<br />
IM MAI 1974 nach Abschluss ihrer Doppelbelas<strong>tu</strong>ng<br />
durch die Arbeit im Tons<strong>tu</strong>dio und im West End, hatte <strong>Ingrid</strong><br />
den Eindruck, der Knoten in ihrer Brust sei grösser geworden.<br />
Einmal mehr suchte sie Dr. Handley auf. Nun, ja, meinte sie,<br />
sie würde sich dem Test unterziehen – nur müsse sie zuvor<br />
noch Pia und ihren Enkel in New York besuchen, wo sie auch<br />
eine zweite diagnostische Meinung einholen wolle.<br />
Der amerikanische Arzt teilte die Meinung seines britischen<br />
Kollegen voll und ganz: eine Biopsie müsse vorgenommen<br />
werden, weil der Knoten doch sehr verdächtig sei. Sie<br />
sagte zu, die Sache nach ihrer Rückkehr nach London an die<br />
Hand zu nehmen – doch zuvor sei am 11. Juni noch Lars' Geburtstag<br />
in Europa zu feiern und dann... "Was ist Ihnen eigent-<br />
562
lich wichtiger", unterbrach sie der Arzt gereizt, "der Geburtstag<br />
Ihres Mannes oder Ihr Leben?" Die Antwort kam wie aus der<br />
Kanone: "Natürlich die Geburtstagsparty für meinen Mann!"<br />
Tags darauf radelte sie – ihre Angst verdrängend – durch den<br />
Central Park um dann abends mit Freunden zu dinieren.<br />
Am 11. Juni empfing und betreute sie Lars' Partygäste<br />
in Paris, und tags darauf reiste sie nach London ab. Vier Tage<br />
danach entnahmen die Ärzte ihrer linken Brust eine Gewebepr<strong>ob</strong>e,<br />
deren Analyse die schlimmsten Befürch<strong>tu</strong>ngen aller bestätigte.<br />
Ihre Brust musste auf der Stelle amputiert werden.<br />
"Es traf mich nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte",<br />
sagte <strong>Ingrid</strong>, während ihr Sohn und die Töchter, die sie<br />
unverzüglich im Spital besuchten, ihren Kummer zu verbergen<br />
suchten. Während den verbleibenden sechs Monaten des Jahres<br />
1974 unterzog sich <strong>Ingrid</strong> einem erschöpfenden Therapieprogramm<br />
und einer entkräftenden Bestrahlungskur. Nur ihre<br />
Familie, Griff James und Laurence Evans wussten von ihrer<br />
Krankheit und kannten den Grund für ihren langen Rückzug<br />
aus dem öffentlichen Leben. Was immer sie an Ängsten empfand,<br />
wurde durch ihren dezidierten Genesungswillen überlagert.<br />
Einige Wochen nach dem Eingriff war <strong>Ingrid</strong> am<br />
Schwimmen und Einkaufen, sie besuchte mit ihren Kindern das<br />
Theater und benahm sich überhaupt so, <strong>als</strong> hätte sie nichts<br />
weiter <strong>als</strong> einen Grippeanfall gehabt. Aber sie erwähnte nie<br />
auch nur mit einer Silbe, was jedermann beschäftigte: dass ihr<br />
Vater mit ach<strong>tu</strong>ndfünfzig an Krebs gestorben war und dass die<br />
moderne Medizin den klaren Zusammenhang zwischen dem<br />
Rauchen und dem Krebs nachgewiesen hatte.<br />
UM NEUJAHR 1975 bestand <strong>Ingrid</strong> darauf, nun ihrer<br />
Verpflich<strong>tu</strong>ng zur Amerika-Tournée mit "The Constant Wife"<br />
nachzukommen, ungeachtet der anstrengenden Reisen nach<br />
Los Angeles, Denver, Washington, Boston und New York zwischen<br />
Januar und Mitte Mai. In allen Städten brach das Stück<br />
563
sämtliche Besucherrekorde der betreffenden Häuser. Niemand<br />
in der Kompanie hatte eine Ahnung von ihrer kürzlich überstandenen<br />
Operation. Im Gegenteil: sie war bei bester Laune<br />
und fröhlich und verbreitete nicht den geringsten Anflug von<br />
dem, was gelegentlich <strong>als</strong> "Starallüren" bezeichnet wird.<br />
Im Shubert Theatre in Cen<strong>tu</strong>ry City, Los Angeles, ereignete<br />
sich ein besonders schlimmer Vorfall, <strong>als</strong> ein altes Bühnensofa<br />
unter dem Druck der jahrelangen inneren Verwüs<strong>tu</strong>ng<br />
zusammenzubrechen drohte. In der Meinung, es sei termingerecht<br />
instandgesetzt worden, liess sich <strong>Ingrid</strong> bei ihrem Einsatz<br />
darauf niederfallen, was den Federn aber gar nicht passte, die<br />
sie auf den Boden zurückwarfen. Das Publikum hielt zunächst<br />
den Atem an und stimmte aber sofort in <strong>Ingrid</strong>s Gelächter ein.<br />
Danach verlief alles ruhig, doch zehn Minuten später hatte sie<br />
einen neuen Einsatz für dieselbe Handlung, w<strong>ob</strong>ei sie den Vorfall<br />
von vorhin vergass und wieder auf dem widerspenstigen<br />
Sofa landete. Wieder allgemeine Heiterkeit. "Die Leute haben<br />
sich amüsiert wie noch nie", meinte Griff James und fügte bei,<br />
er hätte wohl den Preis für eine zweite Vorstellung am Ausgang<br />
kassieren können. Man kann sich sehr leicht andere Stars des<br />
sogenannten "golden age" vorstellen – andere Berühmtheiten,<br />
die ihren Ruhm bis zum Letzten auskosten – die der Bühnen-<br />
Crew dafür die Hölle bereitet und deren Entlassung verlangt<br />
hätten.Doch es gab in Los Angeles weitere Gelegenheiten zur<br />
Improvisation, die allerdings etwas schmerzhafter verliefen.<br />
Als <strong>Ingrid</strong> zwischen der Samstags-Matinée und der Abendvorstellung<br />
mit Griff und einigen Kollegen von einem leichten Imbiss<br />
ins Theater zurückspurtete, übertrat sie ihren Fuss fürchterlich.<br />
Bis sie zu ihrer Garder<strong>ob</strong>e humpelte, war der Fuss stark<br />
angeschwollen, und der Hausarzt stellte fest, dass zwei kleine<br />
Knochen im Fuss gebrochen waren, weshalb dieser sofort eingegipst<br />
werden müsse. Der Theater-Direktor geriet in Panik,<br />
die Schauspieler waren ratlos und die Produzenten steckten die<br />
Köpfe zum Kriegsrat zusammen, weil die Vorstellung ausverkauft<br />
und nicht genügend Geld für Rückzahlungen vorhanden<br />
war. Nur <strong>Ingrid</strong> behielt die Ruhe. "Jetzt seid doch vernünftig",<br />
sagte sie. "Sagt dem Publikum einfach, was passiert ist, er-<br />
564
muntert sie, an der Bar einen Drink zu genehmigen und lasst<br />
meinen Fuss eingipsen, dann wird sich der Vorhang etwas verspätet<br />
heben."<br />
"Sie weigerte sich einfach, das Publikum zu enttäuschen",<br />
sagte Gielgud. "Sie forderte sofort einen Rolls<strong>tu</strong>hl an<br />
und arrangierte sämtliche szenischen Vorgänge neu. Und mit<br />
dieser Behinderung spielte sie tapfer während Wochen." Als die<br />
Vorstellung an jenem Abend (um halb zehn) endlich begann,<br />
gab es keinen leeren Platz mehr im Saal. Die Zuschauer hatten<br />
mit dieser verrückt improvisierten Vorstellung den Spass ihres<br />
Lebens – und niemand mehr <strong>als</strong> die ehrfurchtgebietende <strong>Ingrid</strong>.<br />
Sie wirbelte herum, nahm sich jeden einzelnen Schauspieler<br />
vor, doch diese stiessen auf der Bühne dann und wann<br />
unweigerlich zusammen, und mehr <strong>als</strong> einmal platzte <strong>Ingrid</strong> in<br />
die Szene oder verhedderte sich am Teppich. Wie sich Griff<br />
erinnerte, bekam das Publikum ein Spiel im Spiel zu sehen,<br />
und es ist durchaus möglich, dass die Tücken der Improvisation<br />
mehr Vergnügen bereiteten, <strong>als</strong> Maughams Stück selbst.<br />
Der Generaldirektor der Show kabelte ihr von London: "Die<br />
ganze Welt liegt Ihnen zu Füssen" – worauf <strong>Ingrid</strong> antwortete:<br />
"There's no business like toe business". *)<br />
NACHDEM INGRID ALS DIE NERVÖSE MISSIONARIN in<br />
"Murder on the Orient Express" für die beste Nebenrolle nominiert<br />
worden war, betrachtete man es <strong>als</strong> guten Werbeeffekt<br />
für ihre Tour, ein paar Vorstellungen von "The Constant Wife"<br />
in Boston fallenzulassen und <strong>Ingrid</strong> anstatt dessen an die Oscar-Verleihung<br />
nach Hollywood zu entsenden. Lars traf sie am<br />
Flughafen in Boston und gemeinsam reisten sie weiter nach<br />
Los Angeles, wo sie ihrem alten Freund Jean Renoir, der kränkelte<br />
und an das Haus gebunden war, einen Besuch abstattete.<br />
Als sie ihren dritten Academy Award entgegennehmen<br />
durfte, war sie erstaunt - und wie gewohnt so offen wie dank-<br />
*) Wortspiel in Anlehnung an den Musical-Titel "No Business Like Show Business".<br />
bar. Wie viele Andere dam<strong>als</strong> und später, konnte <strong>Ingrid</strong> nicht<br />
565
verstehen, warum François Truffauts Film "La nuit américaine"<br />
("Day for Night"), der im vergangenen Jahr den Oscar für den<br />
besten ausländischen Film gewonnen hatte, jetzt wieder nominiert<br />
wurde, und zwar diesmal für sein Screenplay. Ausserdem<br />
wurde <strong>Ingrid</strong>s alte Freundin Valentina Cortese (die mit ihr <strong>als</strong><br />
Co-Star in "Der Besuch der alten Dame" auftrat und die sie seit<br />
ihren ersten Tagen in Rom kannte) für die beste Nebenrolle in<br />
"Day for Night" nominiert. Als sie nun ihren Oscar in Empfang<br />
nehmen konnte, überraschte <strong>Ingrid</strong> alle:<br />
566<br />
"Ich bedanke mich recht herzlich. Es ist immer schön,<br />
einen Oscar zu erhalten, der sich in letzter Zeit allerdings<br />
<strong>als</strong> sehr vergesslich und unpünktlich erwiesen hat<br />
– weil letztes Jahr, <strong>als</strong> "Day for Night" gewann, ich es<br />
nicht fassen konnte, dass Valentina Cortese nicht nominiert<br />
war, nachdem sie eine so wunderbare Leis<strong>tu</strong>ng<br />
gezeigt hat. Und nun stehe ich, ihre Rivalin, hier und<br />
mag das überhaupt nicht. Wo bist du? (Sie suchte dann<br />
ihre Freundin im Publikum und Cortese erh<strong>ob</strong> sich und<br />
blies <strong>Ingrid</strong> einen Kuss zur Bühne) Ah, dort bist du -<br />
vergib mir, Valentina, ich wollte das nicht!"<br />
Das Publikum t<strong>ob</strong>te mit Applaus, und die Zuschauer<br />
rund um die Welt sahen, wie eine dankbare Gewinnerin ihre<br />
Auszeichnung mit der Freundin teilte, die den Award ihres Erachtens<br />
weit eher verdient hätte. "Sicher, es war sehr schön",<br />
sagte sie einen Monat nach der Verleihung, "aber ich denke,<br />
ich habe den Oscar nicht verdient. Die Leute waren so beeindruckt<br />
davon, dass ich einen so langen Monolog in einer einzigen<br />
Aufnahme bewältigte – aber das war ja nichts im Vergleich<br />
zu meinem viel anspruchsvolleren Neunminuten-Monolog unter<br />
Hitch in 'Under Capricorn'!".<br />
Lars begleitete <strong>Ingrid</strong> bei festlichen Gelegenheiten und<br />
in jeder schwierigen Si<strong>tu</strong>ation bis an's Ende ihres Lebens, und<br />
er passte seine Verpflich<strong>tu</strong>ngen unabdingbar den Erfordernissen<br />
ihres täglichen Lebens wie auch den ernsteren Bedürfnissen<br />
an. Aber ihre Ehe war vorbei, und schon bald beschlossen<br />
sie, sich gütlich zu trennen; während mehrerer Jahre erfuhr
niemand in ihrem Freundeskreis etwas davon. <strong>Ingrid</strong>s Lebenspriorität<br />
war ihre Karriere, "das kam immer zuerst", wie Lars<br />
sich ausdrückte, "und dann kamen ihre Kinder und dann ihr<br />
Ehemann." Dem hatte sie nichts entgegenzusetzen: "Mein<br />
ganzes Leben war Schauspielrei. Ich hatte meine Ehemänner<br />
und meine Familien. Ich liebe sie alle und bin mit allen im Kontakt,<br />
aber in meinem Innersten fühle ich, dass ich dem Show<br />
Business gehöre."<br />
ALS "THE CONSTANT WIFE" am 14. April in New York<br />
ankam, war <strong>Ingrid</strong> erschöpft und sie hinkte noch immer; aber<br />
sie war vom Gips befreit und dem Rolls<strong>tu</strong>hl entkommen. Wie<br />
üblich schimpften die Kritiker über ihren Auftritt in dem, was<br />
sie ein Drittklasse-Stück nannten. Aber ihr Spiel war, den<br />
Nörglern zum Trotz, ein kleines Juwel von verhaltener, reifer<br />
Komödie. Ohne Szenen zu stehlen oder zu übertreiben fand<br />
<strong>Ingrid</strong> das korrekte Timing und die richtigen Pausen, die jeden<br />
kleinen Moment ins richtige Licht seiner Bedeu<strong>tu</strong>ng rückten.<br />
Während einer Szene mit Brenda Forbes (in der Rolle von<br />
Constances Mutter) gibt es folgenden beiläufigen Wortwechsel:<br />
"Übrigens", sagt Forbes, "was ist eigentlich Treue?"<br />
<strong>Ingrid</strong> erh<strong>ob</strong> sich vom Sofa: "Mutter, darf ich das Fenster<br />
öffnen?"<br />
"Es ist offen."<br />
"In diesem Fall – darf ich es schliessen?" Sie schliesst<br />
es. "Wenn eine Frau deines Alters eine solche Frage stellt,<br />
muss ich etwas Symbolisches <strong>tu</strong>n."<br />
Diese Art Konversation wäre für ein Publikum von 1975<br />
nicht weiter erinnerungswürdig, aber <strong>Ingrid</strong>s Bühnenarbeit –<br />
stehen, springen, zögern, gestikulieren und mit beissender<br />
Ironie sprechen – generierte beim Publikum verständnisinniges<br />
Gelächter.<br />
567
UNGEACHTET DER MASSE VON INTERVIEWS, Pressekonferenzen,<br />
Parties und sonstigen Terminen während ihres<br />
fünfwöchigen New York-Aufenthalts, fand <strong>Ingrid</strong> die Zeit, auf<br />
eine Anfrage von R<strong>ob</strong>ert Anderson einzugehen. Dieser hatte<br />
sich freundschaftlich und beruflich für einen Schriftsteller engagiert,<br />
der an seinem ersten Buch arbeitete, einer langfädigen,<br />
detaillierten und kritischen Beurteilung aller Filme von<br />
Alfred Hitchcock. Auf B<strong>ob</strong>s Veranlassung (und dam<strong>als</strong> noch<br />
ohne Telefonbeantworter) hatte <strong>Ingrid</strong> verschiedentlich versucht,<br />
den Schriftsteller zu erreichen, ohne eine Antwort zu<br />
erhalten, weil er hinter andern Hitchcock-Schauspielern her<br />
war, die eben in New York zu finden waren (u.a. Hume Cronyn,<br />
Jessica Tandy und Anne Baxter). Schliesslich erreichte sie ihn<br />
bei einem weiteren Anruf in seinem Büro.<br />
"Oh gut!" rief sie, <strong>als</strong> sie ihn endlich am Draht hatte.<br />
"B<strong>ob</strong> Anderson sagt mir, Sie seien an einem Buch über Hitchcock<br />
und ich müsse unbedingt mit Ihnen reden. Möchten Sie<br />
nächsten Mittwoch zur Matinée kommen? Wir könnten vor der<br />
Abendvorstellung bei Sardi's etwas essen, ja? Bringen Sie Ihr<br />
Notizbuch oder Tonbandgerät mit, dann können wir über<br />
Hitchcock reden. Und warum kommen Sie nicht gleich in die<br />
Vorstellung und treffen mich dann backstage...?"<br />
Ihr Gespräch und Abendessen, das nicht nur von <strong>Ingrid</strong>s<br />
klaren Erinnerungen an die Arbeit mit Hitchcock gewürzt<br />
war, sondern auch mit erstaunlich offenen Berichten über ihre<br />
Arbeit mit Rossellini und andern Regisseuren, war der Anfang<br />
einer engen Bekanntschaft, die bis zur Endphase von <strong>Ingrid</strong>s<br />
Krankheit andauerte.<br />
"Ich arbeite immer noch an meinem Können und an<br />
meiner Konzentration", erklärte <strong>Ingrid</strong> über ihren Auftritt in<br />
"The Constant Wife". "Ich kann Ihnen sagen, ich war nicht perfekt<br />
an der Premiere in London. Die Kritiker jagten mich, weil<br />
ich stotterte und die Texte verwechselte." Sie beschrieb auch<br />
den Unterschied zwischen Bühnen- und Filmarbeit: sie fand die<br />
nächtlichen Wiederholungen einer Rolle schwierig und ärgerte<br />
sich gelegentlich über die tagsüber geforderte Präsenz. "Vor-<br />
568
sicht - nicht zuviel Wein zum Mittagessen", warnte sie sich<br />
selbst. Sie liebte den Kontakt zum Publikum, aber sie liebte<br />
auch die Kamera – ein Auge anstelle von Tausenden – und, ja,<br />
sie hatte wenige so gute Stücke wie die grossen Filme, z.B.<br />
"Notorious". Ohne ihre Krankheit zu erwähnen fügte sie bei,<br />
dass wenn sich der Vorhang h<strong>ob</strong>, sie die beste Medizin der<br />
Welt erhalte. Dann geschehe etwas Wundervolles, jenseits von<br />
allen Lebenspr<strong>ob</strong>lemen. "Wenn du dich nicht wohlfühlst, geht<br />
das vorbei, weil du dich auf deine Arbeit konzentrieren und an<br />
anderes denken musst, <strong>als</strong> an dich selbst. Wie glücklich ich mit<br />
diesem Leben doch bin!"<br />
IM HERBST 1975 war <strong>Ingrid</strong> in Rom, wo sie einmal<br />
mehr eine weisshaarige Alte spielte – diesmal eine senile Gräfin,<br />
einst eine hinreissende und berühmte Kurtisane, die jetzt<br />
in ihren Erinnerungen verloren ein armseliges Leben in einem<br />
zwielichtigen Hotel zu Ende brachte. "A Matter of Time" war<br />
Vincente Minellis letzter Film, in dem er seine Tochter Liza präsentierte,<br />
die aus keinem handlungsbezogenen Grund zu singen<br />
begann. <strong>Ingrid</strong>, die ihre Rolle aus reinem Interesse an diesem<br />
verrückten Charakter übernahm (und für eine Gage von $<br />
250'000), hatte ihre Zwillinge ebenfalls in diesem Film – Isabella<br />
in ihrer ersten kleinen Rolle <strong>als</strong> eine Ordensschwester<br />
(mit Absicht Pia genannt), und die junge <strong>Ingrid</strong>, die Mama bei<br />
ihrem komplizierten Makeup behilflich war. Zum dritten Mal<br />
arbeitete <strong>Ingrid</strong> mit ihrem alten Freund Charles Boyer, wenn<br />
auch nur in einer ganz kurzen Szene. Seit dem Tod seines einzigen<br />
Kindes 1965 war Boyer von Depressionen umnebelt, was<br />
nun durch die tödliche Krankheit seiner Frau noch verschlimmert<br />
wurde. (Zwei Jahre danach nahm er sich nach ihrem Hinschied<br />
das Leben).<br />
Im allgemeinen Interesse versuchte <strong>Ingrid</strong>, die Atmosphäre<br />
in dieser Produktion, die vom ersten Tag an unter einem<br />
schlechten Stern zu stehen schien, etwas zu erleichtern,<br />
doch schon kurz nach seinem Erscheinen verschwand der Film<br />
sang- und klanglos von der Bildfläche. <strong>Ingrid</strong>, die in diesem<br />
569
Streifen nicht viel anderes zu <strong>tu</strong>n hatte, <strong>als</strong> den Lauf der Zeit<br />
zu ignorieren und Liza zu ermutigen, eine Art italienische Gigi<br />
zu werden, wurde schamlos missbraucht: der Film war nicht<br />
viel anderes <strong>als</strong> Lizas Reisebericht rund um Rom und ein<br />
Schaufenster für ihre Stimme und Garder<strong>ob</strong>e.<br />
Zu dieser Zeit hatte <strong>Ingrid</strong> innerhalb von zwanzig Jahren<br />
– seit "Anastasia" - nicht eine einzige erstklassige Filmrolle<br />
bekommen. Aber, wie sie dam<strong>als</strong> feststellte, war sie alles andere<br />
<strong>als</strong> eine Art Contessa: "Sie ist das pure Gegenteil von mir,<br />
weil sie sich durch ihre Träumerei über die verlorene Jugend<br />
selbst zerstört. Ich träume nicht von meiner Vergangenheit.<br />
Ich akzeptiere mein Alter und mache das Beste daraus."<br />
ÜBER IHRE EIGENE VERGANGENHEIT mit Petter, R<strong>ob</strong>erto<br />
und Lars äusserte <strong>Ingrid</strong> nie ein böses Wort in der Öffentlichkeit<br />
– wie ein derartiger Kommentar auch im privaten Bereich<br />
von ihr unmöglich je zu hören gewesen wäre. Göran von<br />
Essen, Stephen Weiss, Pierre Barillet und eine Legion Anderer<br />
erinnerten sich, dass sie selbst im Gespräch über unangenehme<br />
Si<strong>tu</strong>ationen ihres Lebens nie einen Ehemann <strong>als</strong> Alleinschuldigen<br />
hinstellte. "Sie hatte kein Gramm bösen Willen in<br />
sich", wie Lars sagte. "Vorbei war vorbei, und dann sah sie nur<br />
noch nach vorn."<br />
<strong>Ingrid</strong> hat sich der Welt nie <strong>als</strong> etwas Anderes präsentiert,<br />
denn <strong>als</strong> eine Frau, die ihren Weg gemacht hat, manchmal<br />
schlecht beurteilt wurde und immer bereit war, die Verantwor<strong>tu</strong>ng<br />
für jeden Schaden, den sie Andern durch ihre<br />
Selbstsucht zugefügt hat, zu übernehmen, diese allgegenwärtige<br />
Gefahr, vor der kein menschliches Leben sicher ist. "Ich<br />
liebe alle meine Männer" war die stereotype Aussage, die im<br />
letzten Jahrzehnt ihres Lebens immer wieder zu hören war.<br />
"Alle meine Ehen waren gut, und was der Liebe folgt – oder<br />
folgen sollte, ist echte Freundschaft. Wenn du aus guten Gründen<br />
heiratest, für Vertrauen, Verständnis und Liebe, kannst du<br />
deine Männer nicht hassen oder <strong>als</strong> Idioten bezeichnen, wenn<br />
die Ehe vorbei ist." Wie Lars sagte, war sie nie nachtragend,<br />
570
grübelte nie in alten Wunden, war schnell im Vergessen unglücklicher<br />
Episoden und war der festen Überzeugung, dass es<br />
nichts Unangenehmes gebe, das nicht mit gutem Willen zu<br />
meistern wäre.<br />
MIT ROBERTO UND LARS hatte sich <strong>Ingrid</strong> tatsächlich<br />
freundschaftlich arrangiert auf der Basis jenes Respekts, der<br />
einst zu ehelicher Liebe geführt hatte. Einzig mit Petter war es<br />
schwieriger. Sicher, er griff sie nie öffentlich an, und während<br />
ihrer Krankheit bot er ihr wenigstens zweimal brieflich seine<br />
Unterstützung bei der Vermittlung von ihm bekannten Spezialisten<br />
an. Aber nachdem <strong>Ingrid</strong> 1980 ihre Memoiren (Mein Leben)<br />
veröffentlicht hatte, verlor er jedes Mass. Von da an betrachtete<br />
er <strong>Ingrid</strong> zunehmend <strong>als</strong> unter jeder Kritik; das geht<br />
aus seinen Briefen an Schriftsteller, Journalisten und Freunde<br />
klar hervor. Ja, seine Meinung von ihr war derart unerbittlich<br />
negativ, dass Senator Johnsons Attacken im Vergleich dazu<br />
wie eine Heiligsprechung wirkten.<br />
<strong>Ingrid</strong>s Buch behandelte ihre Geschichte sehr sanft, gerecht<br />
und – nach Meinung buchstäblich aller, die die Beiden<br />
kannten – wahrheitsgetreu. Aber <strong>Ingrid</strong> beschäftigte Petter<br />
zeitlebens so sehr, dass sie in seinen älteren Jahren zu seiner<br />
eigentlichen Besessenheit wurde und er eine hochempfindliche<br />
Wunde offenhielt – seine <strong>als</strong> Bitterkeit maskierte, bejammerte<br />
und verlorene Liebe. Selbst Pia, die Unschuldigste aller Betroffenen,<br />
hatte Mutters freundschaftliche Hand nach all den bittern<br />
frühen Jahren angenommen; ihr Vater war leider unversöhnlich.<br />
Kein Pr<strong>ob</strong>lem dieser Art belastete <strong>Ingrid</strong>s Begegnung<br />
mit R<strong>ob</strong>erto während der Produktion von "A Matter of Time".<br />
Während der vergangenen Jahre hatten <strong>Ingrid</strong> und er einen<br />
Waffenstillstand etabliert, der nun in Freundschaft ausmündete.<br />
Er hatte in den letzten Jahren wenige berufliche Erfolge zu<br />
verzeichnen, <strong>ob</strong>schon seine TV-Dokumentarfilme gel<strong>ob</strong>t wurden.<br />
S<strong>tu</strong>denten in amerikanischen Universitäten standen<br />
571
Schlange, um den Meister des Neorealismus <strong>als</strong> Gastreferenten<br />
zu hören, und die Zeit liess ihn zur grauen Eminenz werden.<br />
In mancherlei Beziehung wurde R<strong>ob</strong>erto <strong>als</strong> einst bedeutender,<br />
heute aber irrelevanter Regisseur betrachtet, was<br />
er <strong>als</strong> weltweiten Verrat am gesunden Menschenverstand betrachtete.<br />
<strong>Ingrid</strong> war gerade die richtige Gesellschaft für einen<br />
sich unverstanden fühlenden Mann. Bei einem gemeinsamen<br />
Nachtessen gaben sie sich vergnügt, sprachen über ihre Kinder<br />
und amüsierten sich über die Exzesse in ihrem früheren gemeinsamen<br />
Leben. Für einmal hatten Roms Paparazzi das<br />
Nachsehen bei dem prominenten, einst so kontroversen Paar,<br />
das nun in einer ruhigen Ecke eines Familienrestaurants<br />
einträchtiglich wie alte Freunde seinen Wein schlürfte.<br />
572<br />
1974 -in "Mord im Orient-Express"
"Weißt du, ich lebe auf Pump."<br />
1976 - 1979<br />
(<strong>Ingrid</strong> zu Ingmar <strong>Bergman</strong> während einer Drehpause)<br />
Nach "A Matter of Time" machte sich <strong>Ingrid</strong> an die Arbeit<br />
für eine Aufgabe, die in der vergangenen Saison ausgehandelt<br />
wurde. Seit Jahren ermunterte Kay Brown – unter Andern<br />
– <strong>Ingrid</strong> zur Niederschrift ihrer Memoiren oder Aut<strong>ob</strong>iographie,<br />
was sie immer resolut zurückwies. Aber unter der Bedingung,<br />
dass sie die vollständige Kontrolle über ein Buch haben<br />
konnte, das jemand anderer über sie geschrieben hat, zog<br />
sie das Ganze in Wiedererwägung. So kam es, dass sich Alan<br />
Burgess <strong>als</strong> Kandidat für diesen J<strong>ob</strong> anbot und auch akzeptiert<br />
wurde. Er war der Autor von "The Small Woman", auf dessen<br />
Basis "Die Herberge zur sechsten Glückseligkeit" entstand. Im<br />
Handumdrehen war die Idee des Buches weltweit verkauft,<br />
und <strong>Ingrid</strong> arbeitete während fast des ganzen Jahres 1976<br />
daran.<br />
Aber was <strong>als</strong> geradlinige, authorisierte und laufend abgestützte<br />
Biographie begann, wurde sehr schnell zu etwas<br />
ganz Anderem. <strong>Ingrid</strong> fand einige alte Dokumente und Tagebücher<br />
aus den vergangenen Jahren; eifrig helfende Freunde<br />
sandten Kopien von Briefen, die sie von ihr erhalten hatten,<br />
und ein Team von Helfern durchforstete in New York Zei<strong>tu</strong>ngsarchive<br />
und Bibliotheken. Das Wichtigste in diesem ganzen<br />
573
Prozess aber war: <strong>Ingrid</strong> arbeitete mit Paavo, einer unschätzbar<br />
wertvollen Hilfe bei der Sich<strong>tu</strong>ng, Sortierung und Verarbei<strong>tu</strong>ng<br />
der Berge von Zei<strong>tu</strong>ngsausschnitten und Sammelalben.<br />
Als Burgess dieses ganze Material in die Finger bekam, beschloss<br />
er, <strong>Ingrid</strong>s Stimme anzunehmen – der ursprünglich in<br />
der dritten Person vorgesehene Erzählstil wurde in die erste<br />
Person verlegt, und das Buch wurde zur Aut<strong>ob</strong>iographie "wie<br />
von Burgess aufgezeichnet".<br />
Aber <strong>als</strong> sie die ersten Musterkapitel durchlas, war <strong>Ingrid</strong><br />
entsetzt. Burgess, der weder Biograph noch Memoirenautor<br />
war, geriet offenbar in Panik; jedenfalls entpuppte sich das<br />
Manuskript <strong>als</strong> Durcheinander, unordentlich und unbestimmt<br />
hinsichtlich der Daten und gespickt mit verdrehten Tatsachen.<br />
Als Krone des Dramas erwies sich Burgess oft unter dem Einfluss<br />
von Alkohol <strong>als</strong> arbeitsunfähig. So geriet <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s<br />
Buch – gleichviel, <strong>ob</strong> <strong>als</strong> Biographie oder Aut<strong>ob</strong>iographie –<br />
hoffnunglos auf die lange Bank. Als nun <strong>Ingrid</strong>s amerikanischer<br />
Verleger, Delacorte Press, (drei Jahre nach dem vereinbarten<br />
Termin) etwas für ihre Druckmaschinen verlangte, brachte das<br />
<strong>Ingrid</strong> zur Verzweiflung: "Es macht mich krank", sagte sie zu<br />
einem Freund, "es ist zu lang, es ist weder mein noch sein<br />
Buch, es ist unmöglich zu lesen und ich fürchte, es werde zu<br />
einem gewaltigen Flop". Als es schliesslich 1980 zur Veröffentlichung<br />
kam, war es zwar kein Reinfall (es trug immerhin ihren<br />
Namen), aber mit ihrer kritischen Einschätzung behielt sie<br />
Recht: in der Ich-Form geschriebene Passagen wechseln mit<br />
im Erzählstil über sie geschriebenen Passagen – optisch durch<br />
unterschiedliche Schrifttypen gekennzeichnet, Material wurde<br />
konfus umgeschichtet, die Ausdrucksweise liess es an Klarheit<br />
fehlen und gewisse Fakten waren schlicht f<strong>als</strong>ch.<br />
Zu allem Überfluss brachte das Buch Petter in Rage, der<br />
(unberechtigterweise) glaubte, es behandle ihn <strong>als</strong> Schurken –<br />
<strong>ob</strong>schon ihm <strong>Ingrid</strong> die kritischen Passagen des Manuskripts<br />
zur Genehmigung vorgelegt und jeden von ihm beanstandeten<br />
Text entfernt hatte.<br />
574
Am 1. Mai 1976 unterbrach <strong>Ingrid</strong> ihre Arbeit am Buch<br />
um sich nach Rom zu begeben: eine Woche später feierte R<strong>ob</strong>erto<br />
seinen 70. Geburtstag: Am Fünften dinierten sie zusammen<br />
mit den Zwillingen und dann, am Siebenten besuchte ihn<br />
<strong>Ingrid</strong> zuhause um sich zu verabschieden, was ihn sehr enttäuschte.<br />
Wusste sie nicht, dass er tags darauf, am 8. Mai seinen<br />
70. Geburtstag hatte? Doch, sagte sie, aber ihre Pflichten<br />
verlangten anderswo nach ihr, und weg war sie. In Tat und<br />
Wahrheit hatte sie mit ihrem Sohn und den Töchtern insgeheim<br />
alles vorbereitet, und am nächsten Tag, <strong>als</strong> die Kinder<br />
R<strong>ob</strong>erto in sein Lieblingsrestaurant führten, traf er dort <strong>Ingrid</strong>,<br />
die viele Freunde und seine ganze Familie zu einer Galafeier<br />
zusammengetrommelt hatte. Sogar seine erste und dritte Frau<br />
waren anwesend, neben Cousins, Nichten und Enkeln. "Ach –<br />
du warst das!", sagte R<strong>ob</strong>erto mit einem breiten Grinsen und<br />
Tränen in den Augen, <strong>als</strong> er <strong>Ingrid</strong> umarmte.<br />
Anfangs 1977 brauchte <strong>Ingrid</strong> eine Ruhepause von ihrer<br />
zermürbenden und zunehmend unbefriedigenden Arbeit mit<br />
Burgess. Sie besuchte Freunde und ihre Töchter in New York,<br />
um anschliessend nach Choisel zurückzukehren. Zu dieser Zeit<br />
war Kristina mit Lars' Kind schwanger, und so wich <strong>Ingrid</strong> ohne<br />
melodramatische Szene oder Wutausbruch ins Raphael Hotel in<br />
Paris aus, wo sich rein zufällig auch R<strong>ob</strong>erto aufhielt. Er bemerkte<br />
ihre unglückliche Verfassung und lud sie zum Abendessen<br />
ein. "<strong>Ingrid</strong>, meine Liebe", sagte er, "du bist ein nervöses<br />
Wrack, das versucht, mit seiner Vergangenheit klarzukommen.<br />
Zum Teufel mit der Vergangenheit! Sieh nach vorn – wie du es<br />
immer getan hast!"<br />
Als sie genau das zu <strong>tu</strong>n versuchte, geschah es zum<br />
richtigen Zeitpunkt. Sie nahm eine Einladung des Chichester<br />
Theatre Festival in England an, wo John Clements die Regie<br />
einer Neuinszenierung von N.C. Hunters Stück "Waters of the<br />
Moon" von 1951 übernahm, das 835 Vorstellungen erlebt hatte<br />
mit drei grossen Damen der englischen Theaterbühne – Edith<br />
Evans, Sybil Thorndike und, <strong>als</strong> die Naive, Wendy Hiller (die<br />
jetzt die Thorndike-Rolle übernahm). Das Stück war harmlos,<br />
hatte aber eine gewisse wehmütige Zartheit; ausserdem ver-<br />
575
langten die Rollen bestandene Schauspieler, und Wendy Hiller,<br />
die mit ihr in "Murder on the Orient-Express" aufgetreten war<br />
und sich in was immer sie tat <strong>als</strong> hervorragende Schauspielerin<br />
erwies, war für <strong>Ingrid</strong> ein Hauptargument beim Entscheid zugunsten<br />
dieses Stücks.<br />
Angesiedelt in einem kleinen englischen Land-Hotel, beschreibt<br />
"Waters of the Moon" das Leben einer Gruppe von<br />
gelangweilten Senioren, deren Routine schlagartig durcheinandergerät,<br />
<strong>als</strong> während eines Schnees<strong>tu</strong>rms die reiche Helen<br />
Lancaster (<strong>Ingrid</strong>), ihr Ehemann und deren junge Tochter bei<br />
ihnen stranden. Das Stück setzt den eintönigen Alltag älterer<br />
Menschen in Kontrast zur frivolen und unkonventionellen Helen,<br />
die flirtet, alles hintereinanderbringt und dann verschwindet.<br />
"Das ist nichts Gutes", sagt ein junges Mädchen im<br />
Stück, "uns von den Wassern des Mondes und andern Glückseligkeiten<br />
träumen zu lassen, die für uns unerreichbar sind."<br />
Aber eben, "wichtig ist, die Hoffnung nie aufzugeben...Die einzige<br />
Sünde im Leben ist, unglücklich zu sein." Es ist genau<br />
diese Hoffnung und dieser Lebenswille, die sich in <strong>Ingrid</strong>s Charakter<br />
wiederspiegeln. Das Thema ist weder originell noch<br />
überwältigend, aber die Rolle der fünfundvierzigjährigen Helen<br />
Lancaster bot <strong>Ingrid</strong> eine hervorragende Gelegenheit, Humor<br />
mit der nervösen Angst vor der Vergänglichkeit in Relation zu<br />
setzen. Das Stück begann am 10. Mai und erfreute das Publikum<br />
während des ganzen Sommer-Festiv<strong>als</strong>.<br />
Vieles in ihrer Rolle war <strong>Ingrid</strong> bekannt und sie kostete<br />
sie aus. "Ich bin rastlos", gibt Helen zu, "immer auf der Lauer<br />
nach neuen Erfahrungen, neuen Vergnügungen. Ich bin unfähig,<br />
Ruhe und Beschaulichkeit und all das zu geniessen. Wenn<br />
ich nicht durch den Tag donnern kann, wie ein Zug durch den<br />
Tunnel, fühle ich mich deprimiert, gelangweilt." Das sei <strong>Ingrid</strong><br />
persönlich, meinten ihre Töchter lachend, <strong>als</strong> sie zur Premiere<br />
kamen. Aber <strong>Ingrid</strong> sah im Text auch die geistige Erstarrung<br />
der Frau, nicht nur ihre nervigen Ängste. Wie schon so oft in<br />
ihren besten Filmen, schien sie die Worte zu denken, ihnen<br />
576
sogar zu erlauben, auf ihren Lippen zu spielen, bevor sie sie<br />
aussprach.<br />
Sie beherrschte die Bühne, zum Beispiel wenn sie über<br />
das Publikum blickte – die Regieanweisung, vor- und zurück zu<br />
schreiten, missachtend – und mit Missbehagen sagte: "Das<br />
Leben muss ein endloses Abenteuer sein, sonst ist es nichts<br />
wert. Man muss seinen Horizont laufend erweitern mit neuen<br />
Erfahrungen, neuen Umgebungen, neuen Freunden. Das Einzige,<br />
was mich im Leben entsetzt, ist drohende Stagnation, Langeweile,<br />
Untätigkeit. Das nie, nie!" Und zur Verteidigung der<br />
unerwiderten Liebe, die besser sei, <strong>als</strong> gar keine Liebe, meinte<br />
sie sehr wehmütig: "Ich habe aus Liebe Dutzende Male geweint.<br />
Wir alle haben das. So ist das Leben." Ihr Tonfall war<br />
weder belehrend noch vage. Die gelassene Aufrichtigkeit ihrer<br />
Aussage betonte diese gefühlvoll – wie dies durch einen Anflug<br />
von Hoffnung und Reue auch im Falle ihres Sylvester-Toasts im<br />
zweiten Akt geschah:<br />
"Mitternacht! Sei gegrüsst und lebe wohl! Die Welt<br />
dreht sich, und unter dem Horizont, in der Dunkelheit,<br />
kommt der erste Tag des neuen Jahrs herauf, herauf<br />
ins Licht. Lasst mir meine Sentimentalität und Albernheit<br />
– ich kann nicht anders in der Sylvesternacht. Umsomehr<br />
<strong>als</strong> ich das Gefühl habe, unter guten Freunden<br />
zu sein. Möge das neue Jahr euch alle euern Herzenswünschen<br />
näherbringen. Mögen die, welche grosse Erwar<strong>tu</strong>ngen<br />
haben dürfen, nicht enttäuscht werden und<br />
mögen jene, die wenig haben, Zufriedenheit und Heiterkeit<br />
finden."<br />
Hatte das Publikum in dieser Saison leichte Komödie<br />
erwartet, war es vielleicht überrascht, in diesem nahezu vergessenen<br />
Stück einer sanften, ernsten Philosophie der Duldsamkeit<br />
zu begegnen, deren Kern in einer von Wendy Hillers<br />
grossen Szenen so bewegend zur Darstellung kam. Als Antwort<br />
auf die Klage, wonach das Leben unfair sei, erwidert sie mit<br />
unsentimentalem Mitgefühl: "Das Leben ist weder fair noch<br />
unfair, noch tragisch oder komisch oder was immer. Das Leben<br />
577
ist das Leben – das ist alles. Man muss es akzeptieren."<br />
Wie sich Dame Wendy später erinnerte, hatte <strong>Ingrid</strong> in<br />
den ersten paar Vorstellungen nicht nur die üblichen Pr<strong>ob</strong>leme<br />
mit den Zeilen: "Wir mussten ihr auch zu verstehen geben,<br />
dass sie nicht herumfuchteln konnte, während sich jemand<br />
durch eine lange Rede arbeitete. Sie konnte doch nicht den Hut<br />
abnehmen, ihr Haar herumschwingen und die Aufmerksamkeit<br />
des Publikums ablenken – sie sollte sich diskret bewegen, aber<br />
nicht stören, und ich denke, es bedeutete für sie eine harte<br />
und spezielle Disziplin, in ihrer Rolle nicht ständig in Bewegung<br />
zu sein. Als sie das einmal geschafft hatte, war sie perfekt.<br />
Und natürlich schätzten wir uns glücklich, mit ihr zu arbeiten,<br />
denn sie war lernbegierig."<br />
ENDE MAI ERHIELT INGRID einen Telefonanruf von R<strong>ob</strong>erto,<br />
der eingeladen war, das Präsidium der Festival-Jury von<br />
Cannes zu übernehmen. "Kannst du dir vorstellen", fragte er,<br />
"ich muss mir all diese Filme ansehen?" Nun, meinte sie – wer<br />
könnte das denn besser <strong>als</strong> er? Aber sie hatte den Eindruck, er<br />
wirke müde und sehne sich danach, nach Rom zurückzukehren.<br />
Sie hatten diesen Herbst ein Treffen in Rom mit den Kindern<br />
eingeplant. Dann, nach etwas mehr <strong>als</strong> einer Woche, am<br />
4. Juni, erhielt <strong>Ingrid</strong> einen weiteren Anruf – diesmal von R<strong>ob</strong>ertos<br />
Nichte, Fiorella Mariani. Wieder zuhause in Rom sei er<br />
einer schweren Herzattacke erlegen; er war einundsiebzig.<br />
<strong>Ingrid</strong> hatte an diesem Abend aufzutreten, aber danach, zuhause<br />
in ihrem in Chichester gemieteten Cottage, war sie die<br />
ganze Nacht hindurch mit R<strong>ob</strong>ertino, Isabella und <strong>Ingrid</strong> am<br />
Telefon und weinte mit ihnen. "Er war ein grosser Filmemacher",<br />
sagte sie der Presse. "Er war auch ein wundervoller Vater<br />
und mein lieber Freund."<br />
Wie Wendy Hiller im Theater sagte: das Leben ist das<br />
Leben, und sie musste es annehmen – was sie innerhalb einiger<br />
Tage nach R<strong>ob</strong>ertos Tod auch tat, <strong>als</strong> sie einen neuen, ablenkenden<br />
Anruf erhielt, diesmal von Lars. Kristina hatte ihren<br />
Sohn geboren, den sie Kristian nannten. Nach Lars war <strong>Ingrid</strong><br />
578
echt erfreut über die Botschaft, <strong>als</strong> wäre sie eine Tante oder<br />
Grossmutter, die freudig auf die Ankunft eines neuen Mitglieds<br />
der eigenen Familie gewartet hatte. Wie er sich aber wohl vorstellen<br />
konnte, hatte sie bei Erhalt der Nachricht eine grossartige<br />
Schau abgezogen – wie auf der Bühne. "Waters of the<br />
Moon" war so erfolgreich, dass es im folgenden Januar noch<br />
für zwei Wochen nach Brighton und danach ans Haymarket<br />
Theatre London verlegt wurde.<br />
ENDLICH, IM SOMMER 1977, hatte Ingmar <strong>Bergman</strong> eine<br />
Geschichte und ein Screenplay für sie. Würde es <strong>Ingrid</strong> etwas<br />
ausmachen, fragte er sie in einem langen Telefongespräch,<br />
die Mutter von Liv Ullman zu spielen, die siebenunddreissig<br />
war? Überhaupt nicht, antwortete sie: sogar Pia war<br />
älter. (Darin lag etwas Ironie, denn Liv Ullman und Ingmar<br />
<strong>Bergman</strong>, die nie verheiratet waren, hatten während der fünf<br />
Jahre ihres gemeinsamen Lebens eine Tochter.) Was denn die<br />
Geschichte des Films sei, wollte sie wissen. Es sei die Geschichte<br />
des Wiedersehens zwischen <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> Konzertpianistin,<br />
die während Jahren die Welt bereiste, und Liv, ihrer Tochter,<br />
die sich stets von ihr vernachlässigt fühlte. Ingmar, der<br />
wusste, was er bewirkte, meinte: schliesslich sei seine zweite<br />
Frau Konzertpianistin gewesen. Aber natürlich klang das alles<br />
eher nach <strong>Ingrid</strong>s Leben <strong>als</strong> nach seinem.<br />
Als sie diesen Sommer ihre Töchter in New York besuchte,<br />
spürte <strong>Ingrid</strong> unter ihrem rechten Arm einen Knoten.<br />
Das sei kein dringendes Pr<strong>ob</strong>lem, meinte der Arzt, es handle<br />
sich wohl eher im eine geschwollene Drüse. Trotzdem, da sie<br />
bald nach Europa zurückzukehren gedenke, sei es doch ratsam,<br />
weitere Tests vorzunehmen. Das tat sie auch sofort in<br />
London (der Test ergab nichts Bösartiges) und dann begab sie<br />
sich zu Ingmar auf seine Insel, um das Script zu besprechen.<br />
Etwas machte ihr ganz besonders Spass: die Gelegenheit zu<br />
haben, einen Film in schwedischer Sprache zu machen. Bis<br />
1977 hatte sie Bühnenstücke und Filmscripts in nicht weniger<br />
<strong>als</strong> fünf Sprachen auswendig gelernt – eine Leis<strong>tu</strong>ng, wohlge-<br />
579
merkt, die in der Geschichte der Schauspielerei sehr selten,<br />
wenn nicht einmalig ist.<br />
"Herbstsonate", wie <strong>Bergman</strong> den Film bereits betitelt<br />
hatte, wurde im September und Okt<strong>ob</strong>er in Norwegen gedreht,<br />
denn Ingmars Pr<strong>ob</strong>leme mit den Steuerbehörden hatten ihm<br />
seine schwedische Geschäftsbasis vermiest. Aber die grosse<br />
Zusammenarbeit, die sich Regisseur und Star schon so lange<br />
gewünscht hatten, konnte deren Erwar<strong>tu</strong>ngen zunächst nicht<br />
erfüllen. <strong>Ingrid</strong> las das Script und war ehrlich entsetzt: die Rolle<br />
der Charlotte sei ein Monster, erklärte sie dem Regisseur.<br />
Die Figur rede zuviel, erscheine lieblos, ihre Motivationen seien<br />
nebulös; und die Tochter, Eva – nun, die sei nur eine Meckerin,<br />
so unreif. Nein, das Script sei ganz unmöglich, lieber Ingmar,<br />
und so werden wir an dieser Szene arbeiten müssen und an<br />
jener und...<br />
Wie sich Lars erinnerte, war der Film so gut wie erledigt.<br />
"Von Anfang an gab es Schwierigkeiten. <strong>Ingrid</strong>s natürliche<br />
Offenheit passte nicht zu Ingmars autoritären Arbeitsgewohnheiten.<br />
Und dann hatte <strong>Ingrid</strong> andere Ansichten vom Leben.<br />
Sie respektierte Ingmar enorm, aber er schätzte ihre kreative<br />
Schauspielerei nicht, wie auch die Tatsache, dass sie es wagte,<br />
im und ausserhalb des Sets sie selbst zu sein. Er sei nicht an<br />
Einwände gewöhnt, sagte er – und so, um es kurz zu sagen,<br />
mochte er sie nicht."<br />
Liv Ullman brach während der ersten Lesung in Tränen<br />
aus, Ingmar war weiss vor Zorn, und <strong>Ingrid</strong> schien hartnäckig<br />
zu sein. Sie konnte keine Frau spielen, die sie nicht verstehen<br />
konnte, das war alles. Die lange Nacht der Konfrontationen<br />
zwischen Charlotte und Eva – die Szene, die den emotionalen<br />
Höhepunkt von "Herbstsonate" bildete – war so bitter, eine<br />
derartige Tirade von Kummer und Ressentiments, dass <strong>Ingrid</strong><br />
das alles <strong>als</strong> völlig irreal vorkam. Sie hatte sich mit ihren eigenen<br />
Kindern gestritten, sicher, sagte sie – "manche Nacht der<br />
Wahrheit zwischen Mutter und Tochter, aber keine so beladen<br />
mit Hass wie in diesem Script! Ich hatte Glück mit meinen Kindern.<br />
Sie waren sehr verständnisvoll, wirklich." Und das waren<br />
580
sie auch. „Aber <strong>Ingrid</strong>“, entgegnete ihr Regisseur ungerührt,<br />
„diese Frau hat Charakterseiten, die – nun ja, die du selbst<br />
verstehen müsstest.“ Sie bat darum, sich ein Wochenende zurückziehen<br />
zu können, um ihre Mitwirkung zu überdenken.<br />
UND DANN PASSIERTE ETWAS GANZ AUSSERORDENT-<br />
LICHES.<br />
Als sie das Script und Ingmars Notizen dazu las, realisierte<br />
sie schockiert, dass diese Frau tatsächlich sie selbst war.<br />
"Vieles von mir steckt in 'Herbstsonate'", sagte sie später, "und<br />
ich war schrecklich nervös, <strong>als</strong> meine Tochter Pia sagte, sie<br />
wolle sich den Film ansehen." Da war eine Konzertpianistin –<br />
wie <strong>Ingrid</strong> in "Intermezzo" – die ihr Talent auch um den Preis,<br />
dass sie ihr Privatleben opfern musste, nicht unter Kontrolle<br />
halten konnte; dieser Film zeigte <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Verhältnis<br />
zu Pia Lindström, wie Pia selbst sofort erkannte, <strong>als</strong> sie den<br />
fertigen Film zu sehen bekam.<br />
An diesem Spätsommer-Wochenende wurde <strong>Ingrid</strong> bewusst,<br />
dass sie den vielleicht schwierigsten Entscheid ihrer<br />
Karriere treffen musste. Charlotte war so genau <strong>Ingrid</strong>: war die<br />
Schauspielerin bereit, die Rolle noch stärker zu profilieren –<br />
das nackte Eingestädnis der Schuld, die sie nun seit 28 Jahren<br />
mit sich herumtrug, für alle Welt sichtbar auf Film zu bannen?<br />
Und war sie bereit, Ingmars Geschichte zur Erfolgsstory zu<br />
machen, ihr genau den persönlichen Anstrich zu geben, der die<br />
Charaktere glaubhaft macht? Mag Ingmar die Geschichte vor<br />
Augen gehabt haben, gab es da – wie üblich, in seinen Filmen<br />
- auch noch generelle Einflüsse: theologische Aspekte, soziale<br />
Fragen, geistige Überlegungen. Ihr schien, das alles schwäche<br />
das Script. Das zentrale Thema des Dramas musste sich auf<br />
die Mutter-Tochter-Geschichte konzentrieren – und diese Geschichte<br />
kannte sie nur allzugut.<br />
Entschuldigungen, Bemühungen, gemeinsame Ferien,<br />
Versuche zur Versöhnung mit Pia – ja, all das führte zu einer<br />
Art Waffenstillstand. Aber <strong>Ingrid</strong> und Pia waren zu klug und<br />
581
sensibel um zu glauben, 1977 sei nun alles in Ordnung, man<br />
könne die Vergangenheit vergessen. Tiefe Verstimmungen sind<br />
geblieben. Über die Jahre hatte <strong>Ingrid</strong> versucht, ihre Seele zu<br />
erleichtern, die Vergangenheit neu zu ordnen – aber der<br />
Schmerz blieb, nagend und quälend für beide.<br />
Hier nun kam die Gelegenheit, auf die <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong><br />
gewartet hatte. In ihrer Kunst, mit dem stärksten Mittel, das<br />
ihr zur Verfügung stand, wollte sie konfrontieren, gestehen,<br />
Vergebung suchen. So würde die tiefste Wunde ihrer Seele der<br />
Welt für immer offenbart. Sie würde zu guter Letzt – nach 43<br />
Filmjahren – nicht nur eine Rolle spielen, sondern diese Rolle<br />
sein. Wie sie schon oft gesagt hatte, war die Welt voll von ungesühnter<br />
Schuld: konnte sie nicht ihre eigene Schuld mindern,<br />
die sie durch den Schmerz auf sich geladen hatte, den<br />
sie andern – nicht aus Bosheit, sondern aus Egoismus – zugefügt<br />
hatte?<br />
Sie konnte nichts anderes <strong>tu</strong>n. Weltweit riefen die Menschen<br />
nach der Befreiung der Frau – aber war am Ende nicht<br />
die einzig wesentliche Befreiung die, welche von innen kam?<br />
Letztlich war es durch ihre Kunst, dass sie hinter die Wahrheit<br />
kam. "Ich fühlte mich immer schuldig – mein ganzes Leben<br />
lang schuldig für meine Abwesenheiten während meine Tochter<br />
aufwuchs. Das Wichtigste für mich war die Arbeit. Das ist vielleicht<br />
egoistisch. Meine Kinder und ich, wir verstehen uns nun,<br />
da sie erwachsen sind, aber ich weiss, dass sie mich während<br />
Jahren zuhause vermisst haben." Sie mag die Wirkung ihrer<br />
Abwesenheiten auf ihre Kinder überschätzt haben. Aber es war<br />
ihr Gefühl von Reue, das letztlich so tief ging. Mit dieser Last<br />
wollte sie nicht sterben.<br />
SO GESCHAH ES, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> in der folgenden Woche zur<br />
Arbeit zurückkehrte, dass sie einige Vorschläge zu machen<br />
hatte. Ingmar atmete tief durch und setzte sich, in Erwar<strong>tu</strong>ng<br />
einer unmöglichen Diskussion, die das ganze Projekt womöglich<br />
zu Fall brachte. <strong>Ingrid</strong> habe einige ihrer Dialoge verschärft,<br />
sagte sie; sie habe einen tiefen Blick in ihre Seele geworfen,<br />
582
um den Sinn der dunkeln Nacht im Script besser zu veranschaulichen.<br />
Sie fragte sanft aber bestimmt, <strong>ob</strong> Ingmar bereit<br />
wäre, ihre Vorschläge in Erwägung zu ziehen?<br />
Das war er – und er war erstaunt.<br />
Charlotte war jetzt mehr Charlotte, weil sie mehr <strong>Ingrid</strong><br />
war. Die Zeit der Trennung von Mutter und Tochter müsse 7<br />
Jahre betragen, sagte <strong>Ingrid</strong> (sie war von Pia von 1949 bis<br />
1951 getrennt, und dann wieder von 1951 bis 1957). Und zu<br />
Charlottes Karriere: die müsse 45 Jahre dauern, ja (<strong>Ingrid</strong> sah<br />
den Beginn ihrer eigenen 1933 und "Herbstsonate" sollte 1978<br />
herauskommen). Und anstelle von wiederholten, langen,<br />
manchmal ziellosen Dialogen müssten ätzende, schreckliche<br />
Eingeständnisse von Charlotte treten: "Ein schuldiges Gewissen<br />
– immer ein schuldiges Gewissen?" sinniert sie, und später<br />
(zu Eva), "Ich hatte immer ein schlechtes Gewissen weil ich<br />
dich und Papa alleingelassen habe." An dieser Stelle des<br />
Scripts, schlug <strong>Ingrid</strong> vor, müsse ein Konzert in Los Angeles<br />
erwähnt werden; und an jener Stelle, warum könne Eva nicht<br />
Journalistin sein (wie Pia)? Und Charlotte müsse nervös quasseln<br />
– über ihre Kleider, ihr Haar, ihre Konzerttermine – und<br />
das Zentrum eines Wirbelwinds sein. "Würde sie mehr schlafen",<br />
sagt Eva, "würde sie alle durch die Mühle drehen –<br />
Schlaflosigkeit ist das Mittel der Na<strong>tu</strong>r, mit ihrer überschüssigen<br />
Energie fertig zu werden!" Das war <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> persönlich.<br />
Auf <strong>Ingrid</strong>s Antrag gab Ingmar Liv eine schrecklich<br />
schmerzliche Aussage zu machen, die direkt von den Lippen<br />
von <strong>Ingrid</strong>s eigener Tochter hätte kommen können: "Ich weiss<br />
nicht, was ich mehr hasste – wenn du zuhause oder wenn du<br />
auf Tour warst. Ich realisiere heute, dass du Papas und mein<br />
Leben zur Hölle gemacht hast. Du hast ihn betrogen. Ich war<br />
deine Puppe, mit der du spieltest, wenn du die Zeit dazu hattest.<br />
Ja, du warst immer nett, aber im Geist warst du anderwo."<br />
Aber den grössten Beitrag zum Film lieferte nicht ein<br />
spezieller Text oder eine umgestaltete Szene. Es war <strong>Ingrid</strong><br />
583
<strong>Bergman</strong>s vollkommene Hingabe an diese Rolle, an ihr Selbstportrait.<br />
Und das kommt im vollendeten Film am deutlichsten<br />
in der Sequenz zum Ausdruck, wo Eva Chopins a-moll-Prélude<br />
spielt. Während <strong>Ingrid</strong> zuhört, blendet die Kamera unaufhörlich<br />
Nahaufnahmen ein, die uns die Geschichte einer belasteten<br />
Beziehung schildern. <strong>Ingrid</strong>s Augen, Lippen, die Neigung ihres<br />
Kopfs bewegen und ändern sich nahezu unmerklich; hier werden<br />
Erinnerungen gewaschen – die süssen Rückblicke auf ihr<br />
Baby, die Schuld der scheinbaren Gleichgültigkeit einer Mutter,<br />
die Reue über die nachfolgenden Abwesenheiten, die Rechtfertigungen,<br />
das Unverständnis ihrer selbst, das Staunen, das nur<br />
durch Selbsterkenntnis möglich wird, der Versuch, Schmerz zu<br />
verheimlichen. Diese Szene allein wog ein Dutzend von <strong>Ingrid</strong>s<br />
früheren Filmen auf. Endlich war die Lücke zwischen persönlicher<br />
Vergangenheit und deren dramatischem Inhalt geschlossen:<br />
war Gefühl schon immer die Voraussetzung für eine gute<br />
Leis<strong>tu</strong>ng, führte das hier vorhandene Gefühl zu einem grossartigen<br />
Ergebnis.<br />
"Ich fühle mich so ausgebrannt", sagte Charlotte/<strong>Ingrid</strong><br />
zu ihrem Agenten Paul (der im ganzen Film kein Wort sprach).<br />
"Ich habe immer Heimweh. Aber wenn ich nachhause komme,<br />
spüre ich, dass ich mich nach etwas Anderem sehnte." Diese<br />
nackte Feststellung war ihre ultimative Selbstoffenbarung.<br />
"EINE MUTTER UND EINE TOCHTER – welch schreckliche<br />
Kombination von Gefühlen, Konfusion und Zerstörung",<br />
sagt Liv Ullman gegen Ende des Films – ein Ende das kein Abschluss<br />
ist, das aber in Evas Brief an Charlotte nach deren Abreise<br />
ein klares Zeichen setzt, nämlich dass Erinnerungen tatsächlich<br />
verheilen können, dass es für dieses unglückliche Paar<br />
doch eine Zukunft geben kann.<br />
Das Ende von "Herbstsonate" mit einem für Ingmar<br />
<strong>Bergman</strong>s Filme so atypischen Hoffnungsschimmer, wurde auf<br />
<strong>Ingrid</strong>s Betreiben so gestaltet. "Er wollte den Film ursprünglich<br />
so beenden, dass die Mutter völlig hoffnungslos das Haus der<br />
Tochter verlässt", sagte <strong>Ingrid</strong>. "Aber ich bat ihn, den beiden<br />
584
etwas Hoffnung zu lassen. So fügten wir den Brief ein, den Liv<br />
schreibt. Er tat es für mich."<br />
"Liebe Mama", schreibt die Tochter ihrer Mutter nachdem<br />
Charlotte sich so tief erniedrigt und um Vergebung gebettelt<br />
hatte, "trotz allem fühle ich eine Art Erbarmen. Ich will<br />
dich nie wieder aus meinem Leben verbannen. Ich werde darum<br />
kämpfen. Ich werde nicht aufgeben, auch wenn es zu spät<br />
wäre. Ich denke nicht, dass es zu spät ist." Der Film endet mit<br />
einer sehr langen Nahaufnahme von <strong>Ingrid</strong>, die geradewegs ins<br />
Publikum schaut, ihr Blick voll unverhohlenem Schmerz, ihre<br />
Augen "auf der Suche nach Erbarmen".<br />
Mit dem Geständnis begann der Regenerationsprozess<br />
in der Künstlerin, und danach konnte das Publikum eine der<br />
ganz grossen Leis<strong>tu</strong>ngen sehen, die je auf Celluloid gebannt<br />
wurden. Dies sei ihr letzter Film gewesen, sagte <strong>Ingrid</strong> dam<strong>als</strong>;<br />
sie war überzeugt, keine ebenbürtige Rolle mehr zu finden.<br />
Das war auch der erste Hinweis für das Publikum auf ihre<br />
Krankheit, von der zwar gerüchtweise die Rede war, die aber<br />
nie bestätigt wurde.<br />
WAS WUNDER ALSO, dass sie während der Aufnahmen<br />
zu "Herbstsonate" erheblichen Belas<strong>tu</strong>ngen und Sorgen ausgesetzt<br />
war; aber dafür gab es einen noch ernsthafteren Grund,<br />
<strong>als</strong> die Anforderungen an die Rolle. Während der ersten Drehwoche<br />
begab sie sich für zwei Tage nach London, wo ihr dortiger<br />
Arzt, Dr. Edward McLellan, feststellte, dass der Knoten unter<br />
ihrem Arm sich nun <strong>als</strong> Metastase erwies, wo man doch<br />
geglaubt hatte, ihre Krebserkrankung 1974 besiegt zu haben.<br />
"Sie beabsichtigte, den Film fertig zu spielen", erinnerte<br />
sich Ingmar, "fragte dann aber tatsächlich, <strong>ob</strong> wir die Szenen<br />
mit ihren Auftritten nicht um ein paar Tage komprimieren<br />
könnten – und falls das nicht möglich sei, würde sie natürlich<br />
während der vereinbarten Zeit zur Verfügung stehen. Sie arbeitete<br />
weiter, <strong>als</strong> wäre nichts geschehen. Zunächst begegnete<br />
sie ihrer Krankheit mit Sorge und Ungeduld, aber dann war ihr<br />
585
starker Körper gebrochen, ihre Seele ausgebrannt. Trotz allem<br />
benahm sie sich im S<strong>tu</strong>dio ausserordentlich diszipliniert."<br />
Dann, eines späteren Nachmittags, während <strong>Ingrid</strong> und<br />
Ingmar eine Änderung der Beleuch<strong>tu</strong>ng einer Szene abwarteten,<br />
bemerkte er, wie ihre Hand wiederholt über ihr Gesicht<br />
strich und sie tief einatmete. Ganz kurz huschte ihr fröhliches<br />
Lächeln über ihr Gesicht bevor sie gelassen sagte: "Weißt du -<br />
ich lebe auf Pump." Wie sie ihre eigenen Worte erfasste, erstarb<br />
ihr Lächeln und – für einen ganz kurzen Moment - trat<br />
ein Schatten von Panik in ihre klaren, grau-blauen Augen.<br />
Dann war alles zur Aufnahme bereit, womit sie an die Arbeit<br />
humpelte. "Ihr Benehmen war ausserordentlich professionell",<br />
schloss Ingmar, "denn selbst geschwächt, wie sie offensichtlich<br />
war, war <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> eine bemerkenswerte Person –<br />
grosszügig, grossartig und hochtalentiert."<br />
Liv Ullman war von <strong>Ingrid</strong>s Mut ebenfalls tief berührt.<br />
"Das Sichtbare an ihr war ihre Grösse <strong>als</strong> Schauspielerin, mit<br />
der sie andern skandinavischen Schauspielerinnen - wie mir-<br />
die Tür öffnete, aber das ist nichts gemessen an ihrer wahren<br />
Schönheit. Diese kam <strong>als</strong> eine Person, deren Mut angesichts<br />
dieses schrecklichen Krebses und ihrer Ehrlichkeit und Direktheit<br />
bei der Arbeit für uns alle möglich ist. Das Schönste an<br />
allem: sie sagte mir nie, was ich zu <strong>tu</strong>n hatte. Sie inspirierte<br />
durch ihr Vorbild." "Herbstsonate" brachte <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> ihre<br />
siebente Oscar-Nomination <strong>als</strong> beste Schauspielerin ein.<br />
SOFORT NACH FERTIGSTELLUNG des Films kehrte <strong>Ingrid</strong><br />
nach London zurück, wo ihr Mary Evans behilflich war, eine<br />
komfortable Wohnung in einem Terrassenhaus an Nr. 9 Cheyne<br />
Gardens, Chelsea, zu finden, ein paar Schritte von einem<br />
kleinen Park entfernt und nahe an der Themse. Das Quartier<br />
ähnelte demjenigen in Stockholm, dem Strandvägen entlang:<br />
war das Wetter gut, konnte <strong>Ingrid</strong> dem Ufer entlang spazieren,<br />
sich auf eine Bank setzen und den Schiffsverkehr be<strong>ob</strong>achten,<br />
im Script zu "Waters of the Moon" sich ihre Zeilen für den bevorstehenden<br />
Neubeginn einprägen und die Ruhe geniessen.<br />
586
<strong>Ingrid</strong>s Wohnung erstreckte sich über zwei Etagen – eine Küche,<br />
ein Speise- und ein Wohnzimmer im ersten und zwei<br />
Schlafzimmer, zwei Bäder und eine Terrasse im zweiten Stock.<br />
Sie möblierte das Ganze in Erdfarben, Écru und sanften Brauntönen,<br />
und für ihr Schlafzimmer wählte sie eine Tapete mit<br />
einem Muster von verschlungenen Grünpflanzen und Blätterwerk<br />
– "eine Wald-Szenerie", wie sie es nannte. "Wenn es soweit<br />
ist, werde ich hier zwischen den Blättern sitzen, wenn<br />
mich meine Freunde besuchen kommen."<br />
Vor allem war da die Frage ihrer Gesundheit. Das Geschwür<br />
unter ihrem rechten Arm, eine bösartige Veränderung<br />
eines Lymphknotens, wurde entfernt wonach sich <strong>Ingrid</strong> neuerdings<br />
einer ermüdenden Strahlentherapie unterziehen musste.<br />
Jeden Morgen um neun Uhr kam Griff James sie in Cheyne<br />
Gardens abholen, fuhr sie zum Spital und sah ihr zu, wie sie<br />
alleine einen langen Gang entlang in Rich<strong>tu</strong>ng 'Nuklearmedizin'<br />
ging. Eineinhalb S<strong>tu</strong>nden später stand sie zu den Pr<strong>ob</strong>en auf<br />
der Bühne. Niemand im Cast hatte die leiseste Ahnung von der<br />
Schwere ihrer Krankheit, <strong>ob</strong>schon allen aufgefallen war, dass<br />
<strong>Ingrid</strong> Mitte Nachmittag ungewöhnlich erschöpft war, sie sich<br />
manchmal etwas niedersetzen musste und einen abwesenden<br />
Eindruck machte. "Sie war diese Saison sehr, sehr zu bewundern",<br />
sagte Wendy Hiller, die von <strong>Ingrid</strong> bald ins Vertrauen<br />
gezogen wurde. "Als sie es mir sagte, tat sie es ohne den leisesten<br />
Anflug von Wehleidigkeit."<br />
Nach zwei Wochen in Brighton, hatte "Waters of the<br />
Moon" am 26. Januar 1978 am Haymarket Premiere. "<strong>Ingrid</strong><br />
<strong>Bergman</strong> ist das Herz des Stücks und macht es zu ihrem eigenen",<br />
so etwa lautete der Tenor der Presse. "Ihr sprudelndes<br />
Spiel, ihr inkonsequentes Geplapper, ihre Ungeduld mit dem<br />
Pessimismus, ihr Vertrauen in die Tugenden des Wohlstands<br />
machen sie unwiderstehlich." Ein anderer bemerkte, sie "sei<br />
sicherer und strahle leuchtender <strong>als</strong> je zuvor". Noch immer<br />
hatte die Presse ihr Gesundheitspr<strong>ob</strong>lem nicht erkannt und so<br />
blieb es während den 180 Vorstellungen, die das Stück hier<br />
erlebte.<br />
587
Im Juni erfuhr <strong>Ingrid</strong>, dass sich in der rechten Brust Metastasen<br />
gebildet hatten. Sie stimmte einem chirurgischen Eingriff<br />
nach der letzten Vorstellung im Juli zu, <strong>ob</strong>wohl die Strahlentherapie<br />
sie zunehmend schwächte und krank machte. Ihr<br />
Gesicht war von den Cortisonspritzen oft aufgedunsen, ihr Knie<br />
schwoll an und musste entwässert werden, wenn sie damit<br />
gegen einen Tisch gestossen war; sie litt an ominösen Rücken-<br />
und Schulterschmerzen; und manchmal bewegte sie sich so<br />
langsam, <strong>als</strong> würde sie jeder Schritt schmerzen. "Weiterzumachen<br />
bedeutete für sie eine zunehmende Qual", erinnerte sich<br />
Wendy Hiller, "doch sie machte weiter." Tatsächlich verpasste<br />
<strong>Ingrid</strong> in sechs Monaten gerade zwei Vorstellungen. "Sie<br />
kämpfte weiter, um niemanden von uns zu belasten, trotzdem<br />
sie durch die wahre Hölle ging."<br />
Patrick Garland, der Produzent der Aufführungen von<br />
"Waters" in Brighton und London erinnerte sich, dass ihm ein<br />
amerikanischer Produzent nach einer Aufführung im Haymarket<br />
sagte, wie sehr sie den speziellen Lichteffekt auf <strong>Ingrid</strong> –<br />
speziell den Scheinwerfer, der ihr auf der Bühne konstant gefolgt<br />
sei und wie ein kleiner Heiligenschein gewirkt habe – bewundert<br />
hätten. Garland sah sie verständnislos an und sagte:<br />
"Es gibt keinen Pin-Spot auf <strong>Ingrid</strong> – überhaupt keinen speziellen<br />
Lichteffekt auf sie!" Aber sie hätten das deutlich gesehen,<br />
behaupteten der Produzent und seine Frau. Nein, entgegnete<br />
Garland mit einem Lächeln: was sie "gesehen" hätten, sei eine<br />
unsichtbare Qualität – eine Frau "mit einer Art magischem<br />
Licht, das stark genug ist, zwei sehr erfahrene Theaterleute an<br />
einen künstlichen Lichteffekt glauben zu lassen".<br />
Auch ihren Humor verlor <strong>Ingrid</strong> nicht. Einmal, <strong>als</strong> sie die<br />
Sylvesteransprache hielt, kam sie langsam die Bühne herunter,<br />
hatte einen kurzen Schwindelanfall und landete auf den Knien<br />
von Co-Star Paul Hardwick, w<strong>ob</strong>ei der Inhalt seines Champagnerglases<br />
(Requisit) über seine Hose verspritzte. <strong>Ingrid</strong> kicherte<br />
und improvisierte: "Näher herbei, meine Liebe – aber nicht<br />
so nahe!" Das Publikum glaubte an einen prächtigen burlesken<br />
Regieeinfall. Hinter der Bühne staunten alle, denn da hatte sie<br />
im Handumdrehen ihren eigenen Patzer in einen Moment ver-<br />
588
wandelt, der dem Stück diente.<br />
NACH DER LETZTEN VORSTELLUNG am 1. Juli im Haymarket<br />
erwartete <strong>Ingrid</strong> einen Leihwagen für die Heimfahrt.<br />
Weil sich dessen Ankunft verzögerte, kehrte sie ins Theater<br />
zurück. Er müsse nicht warten, sagte sie zu Griff, der sie zu<br />
den Cheyne Gardens begleiten wollte. Sie machte es sich eben<br />
im Saal gemütlich und verfolgte den Betrieb auf der Bühne.<br />
Allein sah sie zu, wie die letzte Szenerie abgebaut, die letzten<br />
Requisiten und Möbelstücke weggeräumt wurden. Sie konnte<br />
nicht gehen, weil sie wusste, dass wann immer sie wieder ein<br />
Theater betreten würde, es nur <strong>als</strong> Zuschauerin sein konnte.<br />
Dann verlöschten die Lichter im Saal langsam, und Griff fuhr<br />
sie nachhause.<br />
Im Juli trat <strong>Ingrid</strong> (unter dem Namen Mrs. Schmidt) ins<br />
Spital ein, wo ihr Dr. William Slack die rechte Brust amputierte.<br />
Am Vierundzwanzigsten rief <strong>Ingrid</strong> Margaret Johnstone an,<br />
eine Pflegerin und Masseuse, die ihr regelmässig mit Massagen<br />
und Entspannungsübungen zur Seite stand. "Nun, es ist erledigt",<br />
sagte <strong>Ingrid</strong> aufgeräumt, "wann kommst du zu mir?"<br />
Margaret und Griff kamen, und noch immer war die Sache<br />
nicht in die Öffentlichkeit gedrungen. Aber dann, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong><br />
gezwungen war, die Amerikatournée mit "Waters of the Moon"<br />
abzusagen, musste die Presse informiert werden – allerdings<br />
nur in dem Sinne, dass wegen eines Krankheitsfalls "business<br />
as usual" nicht möglich sei. Weil es unvorstellbar war, dass<br />
<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> auf eine Tournée verzichtete und weil sie auch<br />
plötzlich begann, über ihre dreiundsechzig Jahre hinauszusehen,<br />
verbreitete sich die Neuigkeit bald, sodass sie die Schwere<br />
ihrer Krankheit nicht mehr verheimlichen konnte – was sie<br />
auch gar nicht mehr beabsichtigte. "Natürlich will ich nicht<br />
sterben", sagte sie tonlos, "aber ich habe auch keine Angst<br />
davor." Und nichts in ihrem Verhalten zu Freunden und Öffentlichkeit<br />
hätte etwas anderes erkennen lassen.<br />
Im Okt<strong>ob</strong>er fühlte sie sich stark genug, um nach New<br />
York zu reisen, ihre Kinder zu besuchen und die englische Ver-<br />
589
sion von "Herbstsonate" zu synchronisieren. Sie nahm lebhaften<br />
Anteil am Leben ihrer Kinder und Enkel und sprühte vor<br />
Fragen und guten Ratschlägen. Pia, die nun zwei Kinder hatte,<br />
war Fernsehjournalistin in New York und arbeitete <strong>als</strong> Kritikerin.<br />
R<strong>ob</strong>erto (der bis in die späten Vierziger Junggeselle blieb)<br />
arbeitete in Monte Carlo im Liegenschaftenhandel; Isabella,<br />
Model und Schauspielerin, hatte nach mehreren Ehen drei Kinder,<br />
und Isotta <strong>Ingrid</strong>, Wissenschaftlerin und Lehrerin, zweimal<br />
verheiratet, hatte zwei Kinder.<br />
"Herbstsonate" kam gegen Jahresende in die Kinos, und<br />
<strong>Ingrid</strong> erhielt die sensationellsten Kritiken ihrer Karriere; diesmal<br />
gab es keine Diskussionen und kein Gemecker über den<br />
Stoff. Die Kritiker durchwühlten ihre Vokabularien nach jenen<br />
Superlativen, die normalerweise für N<strong>ob</strong>elpreis-Anwärter eingesetzt<br />
werden. <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> wurde in die Sphären der<br />
feinsten Schauspielerinnen der Geschichte erh<strong>ob</strong>en, sie habe<br />
nie eine auch nur entfernt vergleichbare Leis<strong>tu</strong>ng gezeigt; ihr<br />
Spiel sei von "perfekter Eloquenz" gewesen. Im übrigen war es<br />
schwierig, unter den Kinogängern jemanden zu finden, der<br />
nich berührt gewesen wäre.<br />
INGRID VERBRACHTE EINE GERUHSAME WEIHNACHT in<br />
New York, und anfangs 1979 kehrte sie nach London zurück,<br />
um sich zu erholen und ihre Strahlentherapie fortzusetzen.<br />
Noch nie zuvor, berichtete sie Lars, habe sie sich konstant so<br />
erschöpft gefühlt.<br />
Aber das hinderte sie nicht daran, die Einladung anzunehmen,<br />
am 7. März in Beverly Hills am "American Film Insti<strong>tu</strong>te's<br />
Lifetime Achievement Award to Alfred Hitchcock" das<br />
Amt der Zeremonienmeisterin zu übernehmen. Fünfzehnhundert<br />
Personen nahmen am Bankett teil und sahen sich die<br />
Filmausschnitte an, die zu Ehren des Regisseurs vorgeführt<br />
wurden, dessen Arthritis ihm nun sogar einzelne Schritte zur<br />
Qual machte. In einem wundervollen königsblauen Chiffonkleid,<br />
das die Folgen ihrer Operationen überspielte, entfaltete<br />
<strong>Ingrid</strong> zu Ehren des Anlasses ihren ganzen überragenden<br />
590
Charme.<br />
Aber am Ende des Abends – anstatt sich bei den Gästen<br />
zu bedanken und Hitch ein letztes Mal für seine Verdienste zu<br />
würdigen und die Feier so zu beschliessen, wie es im Script<br />
vorgesehen war – hatte <strong>Ingrid</strong> noch eine Ueberraschung in der<br />
Hinterhand, die niemand unter den Anwesenden je vergessen<br />
konnte, eine Geste, die der Bedeu<strong>tu</strong>ng eines bestimmten, mit<br />
sentimentalen Vorstellungen verbundenen Objekts die Krone<br />
aufsetzte.<br />
"Nun habe ich noch eine Kleinigkeit, die ich vor dem<br />
Ende unseres Abends vorbringen möchte. Hitch, erinnerst du<br />
dich an jene Szene in "Notorious", für die du eine Art Lift gebaut<br />
hast, einen Kran für dich und den Kameramann, von dem<br />
aus ihr die ganze weite Party gefilmt habt, von wo aus ihr<br />
langsam zu meiner Hand – in Nahaufnahme - heruntergezoomt<br />
habt, in der sich der Schlüssel zum Weinkeller befand? Nun,<br />
weißt du was? Cary hat diesen Schlüssel gestohlen! Ja, und hat<br />
ihn während etwa zehn Jahren behalten – und dann, eines Tages<br />
hat er ihn mir in die Hand gedrückt mit den Worten: 'Den<br />
habe ich nun lange genug besessen – er gehört jetzt dir und<br />
soll dir Glück bringen.' Ich habe ihn nun während zwanzig Jahren<br />
behalten, lieber Hitch, und jetzt – hier in meiner Hand –<br />
habe ich eben diesen Schlüssel. Er hat mir viel Glück gebracht<br />
und auch einige gute Filme, und jetzt gebe ich ihn an dich weiter,<br />
in der Hoffnung, er werde dir einige sehr gute Türen öffnen.<br />
Gott behüte dich, Hitch – ich bin mit dem Schlüssel gleich<br />
bei dir."<br />
<strong>Ingrid</strong> nahm ihren Weg durch die Menge in Rich<strong>tu</strong>ng Ehrentisch,<br />
wo Hitch und zu seiner Linken Cary Grant sassen, der<br />
vor Staunen und Freude strahlte. Mit enormer Anstrengung<br />
erh<strong>ob</strong> sich Hitch von seinem Sitz und wandte sich <strong>Ingrid</strong> zu,<br />
die ihm den Schlüssel überreichte. Alfred Hitchcock, ein Mann,<br />
der nie und nimmer bereit war, sich eine Gefühlsregung anmerken<br />
zu lassen, legte nun seine Arme um <strong>Ingrid</strong>s H<strong>als</strong>, zog<br />
sie dicht heran und küsste sie auf beide Wangen. "Hitch<br />
kämpfte sich so galant hoch zu mir", sagte sie später an jenem<br />
591
Abend, "und ich kämpfte gegen die Tränen, doch es nützte mir<br />
nichts – und ihm auch nicht."<br />
Während der Saal von Applaus dröhnte, hielten sie sich<br />
in den Armen, die beiden alten, kranken Freunde, die so geschickt<br />
eine so schwierige und verzwickte Liebe gemeistert<br />
hatten, die sie in eine vertrauliche Verehrung umgewandelt<br />
hatten, und die sich gegenseitig und der Welt (speziell mit<br />
"Notorious") so viel gegeben hatten, was gut, tiefgründig und<br />
ehrlich war. <strong>Ingrid</strong> nahm Hitchs Gesicht in beide Hände und<br />
blickte ihm liebevoll in die Augen, bevor sie Cary heranzog und<br />
für diesen ausserordentlichen Moment in ihre Umarmung einschloss.<br />
Noch selten hat das Fernsehen eine Szene von derart<br />
emotionaler Wirkung eingefangen, die ungekünstelt aus den<br />
tiefsten privaten Gefühlen von Prominenten entstand.<br />
IM NOVEMBER KEHRTE INGRID für eine Ehrung nach<br />
Los Angeles zurück, wo an einer Variety Club Gala Geld für ein<br />
Kinderspital gesammelt wurde. Die Feier fand auf Bühne 9 des<br />
Warner Bros.-S<strong>tu</strong>dios in Burbank statt – <strong>als</strong>o genau an jener<br />
Stelle, wo vor 37 Jahren die Innenaufnahmen zu "Casablanca"<br />
gedreht wurden. Strahlend, in einem schlichten weissen Kleid,<br />
erschien <strong>Ingrid</strong> zwar fröhlich, doch war sie von der Krankheit<br />
viel stärker gezeichnet, <strong>als</strong> noch im vergangenen März. Während<br />
zweier S<strong>tu</strong>nden nahm sie die Bel<strong>ob</strong>igungen durch Kollegen<br />
(Paul Henreid, Joseph Cotten, Cary Grant, Helen Hayes,<br />
Goldie Hawn) entgegen, ja selbst von solchen, die sie kaum<br />
kannten (u.a. James Stewart, Peter Falk und Jack Albertson).<br />
Aber wie bei der Hitchcock-Feier hatte <strong>Ingrid</strong> eine Überraschung<br />
vorbereitet. Mit ihrer Familie hatte sie alle die kleinen<br />
S<strong>tu</strong>mmfilmsequenzen zusammengeflickt, die ihr Vater in ihrer<br />
Kindheit von ihr aufgenommen hatte. Mit starker, stolzer<br />
Stimme begleitete sie den kleinen Film mit einem berührenden<br />
Kommentar.<br />
Der Abend war wichtig, weil er – ganz ähnlich wie<br />
"Herbstsonate" – einen Überblick über ihr Leben vermittelte,<br />
592
den sie mit ihrem Publikum teilen wollte. "Wenn mein Vater<br />
etwas Neues entdeckte – im Filmbereich – war er so begeistert,<br />
dass er an meinen Geburtstagen und bei andern speziellen<br />
Gelegenheiten eine Kamera mietete, die er dann von Hand<br />
kurbelte", begann sie ihren Kommentar, <strong>als</strong> die Bilder über die<br />
Leinwand zu flackern begannen.<br />
Das bin ich auf der Schoss meiner Mutter, hinter mir<br />
mein Grossvater und meine Grossmutter. Das war mein<br />
erster Leinwandauftritt, 1916, <strong>als</strong> ich einjährig war. Und<br />
hier bin ich zweijährig, mit meiner Mutter, die mich in<br />
meinem kleinen Wägelchen herumstiess – das war meine<br />
erste Requisite. Und hier ist meine Mutter, und wie<br />
mich das freut, sie hier sich bewegen und lachen zu sehen.<br />
Ich wusste nicht, was ich in diesen Szenen <strong>tu</strong>n<br />
sollte, ich erhielt ja kaum Anweisungen, und da bin ich,<br />
dreijährig, wie ich zum Grab meiner Mutter komme. Ich<br />
lege Blumen auf das Grab. Ihr werdet verstehen, dass<br />
ich so glücklich bin über diese frühen Aufnahmen, wo<br />
ich sie sehen kann, wie sie sich bewegt, lacht, mich<br />
hochhebt – wie schön das war.<br />
Wie Ihr seht, hatte ich wenigstens gelernt, dem Publikum<br />
zuzuwinken – und hier sind meine Cousins und<br />
Tanten und Onkel von Deutschland. Mein Vater dachte,<br />
ich müsse eine Gouvernante haben, und das ist sie, eifrig<br />
dem Publikum zuwinkend, wie ich auch.<br />
Mein Vater liebte die Oper, wir sehen ihn hier am Piano,<br />
wie er mir eine Unterrichtss<strong>tu</strong>nde gibt. Er spielte nicht<br />
Klavier, aber da dies ja ein S<strong>tu</strong>mmfilm ist, spielt das<br />
keine Rolle. Und wie ihr wisst, wurde aus dieser Opernkarrierre<br />
nichts, die er für mich wünschte.<br />
Hier nun bin ich zwölfjährig, im Garten, inzwischen hat<br />
sich mein Vater in meine Gouvernante verliebt, so filmte<br />
er eben sie! Ich nehme es ihm nicht übel – ihr seht<br />
ja, wie hübsch sie ist!<br />
Dieser letzte kurze Streifen zeigt mich, wie ich von ei-<br />
593
594<br />
nem kleinen Boot komme, das mich von meinen Sommerferien<br />
in Deutschland nach Stockholm zurückbrachte.<br />
Und zehn Jahre später entstieg ich einem wesentlich<br />
grösseren Schiff im New Yorker Hafen. So bin ich nun<br />
eben hier!<br />
NATÜRLICH IST INGRID aus ihren Beziehungen zu ihren<br />
Kollegen nicht der Schatten eines Zerwürfnisses oder einer<br />
Reue geblieben. Aber nach "Herbstsonate" versuchte sie verzweifelt,<br />
die letzte alter Bitterkeit aus ihrem Leben zu tilgen.<br />
Vor einiger Zeit hatte sie Petter ein Foto von Pia gesandt, mit<br />
der Bemerkung: "Es freut mich so, dass sie den Anhänger<br />
trägt, den du mir zu ihrer Geburt gegeben hast." Nachdem<br />
sich ihre Krankheit in diesem Herbst verschlimmert hatte,<br />
sehnte sich <strong>Ingrid</strong> nach einer Versöhnung mit Petter und nach<br />
einem herzlichen Kontakt mit seiner zweiten Frau, und darauf<br />
arbeitete sie hin trotz ihrer laufenden medizinischen Behandlung<br />
und der Arbeit an den Korrek<strong>tu</strong>rfahnen ihrer Memoiren.<br />
Krank und erschöpft besuchte sie an Thanksgiving Petter und<br />
Agnes in deren Heim in der Nähe von San Diego.<br />
"Was 1979 meine Reaktion auf sie gewesen sei?"<br />
schrieb er später.<br />
"Ich hatte sicher keinerlei emotionale Gefühle mehr für<br />
sie, ausser dem Bedauern, das ich für jedermann habe,<br />
der ein so schweres Krebspr<strong>ob</strong>lem mit sich herumträgt.<br />
Nun, meine persönliche Reaktion auf sie liesse sich wohl<br />
am ehesten mit dem schwedischen Sprichwort umschreiben,<br />
das ich <strong>als</strong> Kind gelernt habe: "Je besser<br />
man die Menschen kennt, desto lieber sind einem die<br />
Hunde."<br />
Sie ihrerseits benahm sich eher gefühlsbetont, doch<br />
wieviel dabei echt und wieviel gespielt war, bleibt ungewiss.<br />
Ich fragte mich, was sie von diesem Treffen erwartete,<br />
das sie so dringend verlangte. Vielleicht wollte<br />
sie sehen, wie es mir ging, aber meine Reaktion war
neutral und unverbindlich."<br />
Was Agnes betrifft, befand sie sich in einer unangenehmen<br />
Lage, die sie mit vollendeter, höflicher Würde meisterte,<br />
wie sie auch immer eine warme und freundliche Beziehung<br />
zu allen Kindern <strong>Ingrid</strong>s unterhielt.<br />
Von diesem unbefriedigenden Besuch bei Petter begab<br />
sich <strong>Ingrid</strong> nach Los Angeles zu einem Besuch bei Hitchcock,<br />
der im August seinen achtzigsten Geburtstag gefeiert hatte –<br />
zwei Wochen vor <strong>Ingrid</strong>s Vierundsechzigstem – und mit dessen<br />
Gesundheit es schnell bergab ging. "Er nahm meine beiden<br />
Hände und Tränen liefen ihm über die Wangen, <strong>als</strong> er sagte:<br />
'<strong>Ingrid</strong>, ich werde sterben.' Und ich sagte: 'Natürlich wirst du<br />
einmal sterben, Hitch – wir alle sterben einmal!' Und dann erzählte<br />
ich ihm, dass auch ich kürzlich sehr krank war und an's<br />
Sterben dachte. Er war so süss, er wollte, dass ich nicht leiden<br />
müsste. So sassen wir einen Moment lang einfach beieinander<br />
und irgendwie schien ihn die Logik – dass wir beide das Unausweichliche<br />
vor uns hatten – etwas zu beruhigen."<br />
Als sie für Weihnacht 1979 nach London zurückkam,<br />
wurde sie in Heathrow von Lars empfangen, der sie nach<br />
Cheyne Gardens begleitete, wo er alles für ein Weihnachtstreffen<br />
mit ihren Kindern vorbereitet hatte.<br />
"Die Zeit wird knapp, nicht wahr?" sagte sie zu ihrer<br />
Freundin Ann Todd, <strong>als</strong> sie am Sylvesterabend Champagner<br />
tranken. "Aber weißt du, liebe Ann, dass jeder Tag, den ich<br />
dem Krebs abringe und überlebe, für mich ein Sieg bedeutet?"<br />
595
1978 - mit Ingmar in einer Drehpause von "Herbstsonate"<br />
596<br />
1978 - in "Herbstsonate" mit Liv Ullman
1982 - eine Frau namens Golda<br />
597
598
"Die Arbeit ist wundervoll, wenn man krank ist. Sie gibt einem<br />
Kraft."<br />
1980 - 1982<br />
(<strong>Ingrid</strong> während "A Woman Called Golda" zu einem<br />
Journalisten)<br />
"SELBSTMITLEID WAR KEIN CHARAKTERZUG meiner<br />
Mutter", sagte Pia. "Anstatt sich selbst zu bedauern, sagte sie<br />
nur: 'Weitermachen – nur weitermachen.' Und das tat sie<br />
auch."<br />
Die ersten Monate von 1980 verliefen ruhig im dunkeln<br />
Londoner Winter, wo Lars oft zu Besuch kam, <strong>Ingrid</strong> zu ihren<br />
Ärzten begleitete, sich um die alltäglichen Notwendigkeiten<br />
kümmerte und sie zum Nachtessen ausführte. Larry Adler, der<br />
dannzumal bereits seit nahezu dreissig Jahren in England lebte,<br />
leistete ihnen dabei mehrfach Gesellschaft. "Ich mochte<br />
Lars enorm", sagte Adler. "Er war der richtige Mann für <strong>Ingrid</strong>,<br />
weil er selbst erfolgreich war. Er musste sich nicht behaupten<br />
und konnte auf <strong>Ingrid</strong>s Arbeit stolz sein, anstatt dar<strong>ob</strong> eifersüchtig<br />
zu sein. So, wie ich es sehen konnte, war er ein generöser,<br />
offener Gentleman, auf den sie sich sehr verlassen<br />
konnte."<br />
Im März erhielt <strong>Ingrid</strong> die Einladung, mit einem Stück<br />
ihrer Wahl an's Königlich Dramatische Theater in Stockholm<br />
zurückzukehren, aber ihr Arzt, Edward MacLellan, verbot ihr<br />
die Zusage, weil ihre Gesundheit einfach zu zerbrechlich war.<br />
Gleichzeitig war <strong>Ingrid</strong> in zunehmendem Masse auf Margaret<br />
Johnstone angewiesen, die nicht nur ihre private Pflegerin,<br />
sondern auch ihre Küchenchefin und ergebene Gesellschafterin<br />
599
wurde. Zu jener Zeit erhielt <strong>Ingrid</strong>, wie sie einigen Freunden<br />
sagte, praktisch täglich Todesanzeigen von alten Freunden und<br />
früheren Kollegen – unter welchen, in den vergangenen fünfzehn<br />
Jahren, Edwin Adolphson, David Selznick, Spencer Tracy,<br />
George Sanders, Charles Boyer, Bing Crosby und Gustav Molander.<br />
Dann, am 29. April, kam die Anzeige von Alfred Hitchcocks<br />
Tod. Er war achtzig und lebte seit Jahren mit angeschlagener<br />
Gesundheit. "Jetzt ist der liebe Hitch auch gegangen",<br />
sagte <strong>Ingrid</strong> einem neuen Freund tags darauf. "Aber er war so<br />
unglücklich und krank, <strong>als</strong> ich ihn vergangenen November<br />
letztm<strong>als</strong> sah – ich denke, auf eine Art war es auch eine Erlösung<br />
für ihn. Sein Leiden war wirklich schrecklich mitanzusehen."<br />
Hitchcocks Tod brachte <strong>Ingrid</strong> in ein kurioses Dilemma.<br />
Sie befand sich dam<strong>als</strong> in New York, wo sie ihren Memoiren mit<br />
den Herausgebern den letzten Schliff verpasste. Einige Telefonanrufe<br />
erreichten sie in Irene Selznicks Apartment im Pierre<br />
Hotel: Ob sie zu Hitchcocks Beerdigung in Beverly Hills kommen<br />
werde? Damit hatte <strong>Ingrid</strong> drei Pr<strong>ob</strong>leme: erstens stand<br />
sie unter enormem Druck von Seiten ihres Verlegers, ihre Memoiren<br />
druckreif zu machen; zweitens stand sie unter einer<br />
experimentellen medizinischen Behandlung, die Schwindelanfälle<br />
und Übelkeit verursachen konnte; drittens wusste sie sehr<br />
genau, dass ihre Anwesenheit an der Beerdigung diese zu einem<br />
Presse-Zirkus machen würde.<br />
"Ich weiss nicht, was ich <strong>tu</strong>n soll", sagte sie am 30. April.<br />
"Wenn ich gehe, werden sie vor der Kirche auf mir herumhacken<br />
mit allen unmöglichen Fragen über unsere Filme, und<br />
wie ich mich fühle, nachdem Hitch nun tot ist, und es sei das<br />
Ende einer Aera und all der Mist. Damit wäre die ganze Würde<br />
der Beisetzung zerstört. Und gehe ich nicht, werden sie denken,<br />
ich hätte mich mit Hitch überworfen oder ähnlich! Wirklich,<br />
ich bin in einer schrecklichen Zwickmühle." R<strong>ob</strong>ert Anderson<br />
riet ihr, nicht zu fahren und sich über das Gerede keinerlei<br />
Gedanken zu machen, und ein anderer Freund meinte: sie sol-<br />
600
le <strong>tu</strong>n, was zu ihrem eigenen Besten sei – das sei, was auch<br />
Hitch gewollt hätte, und das tat sie auch. Nur: auch ohne ihre<br />
Anwesenheit glich die Gegend um Good Shepard Church in<br />
Beverly Hills einer wilden Massenszene aus einem seiner Filme;<br />
<strong>Ingrid</strong> wäre entsetzt gewesen, hätte sie teilgenommen.<br />
Zu Ehren ihrer Freundschaft mit Hitch wählte sie am 15.<br />
Okt<strong>ob</strong>er, <strong>als</strong> sie im Museum of Modern Art geehrt wurde, "Notorious"<br />
zur Vorführung. R<strong>ob</strong>ert Anderson war mit dem Autor<br />
des Hitchcock-Buchs anwesend, dem er <strong>Ingrid</strong> 1975 vorgestellt<br />
hatte, und nun plauderten sie zusammen vor und nach der<br />
Filmvorführung. "Er hält sich noch ganz gut, nicht wahr?" sagte<br />
sie mit Bezug auf den Film, um dann beizufügen: "Vielleicht<br />
halte ich mich auch noch ganz gut!"<br />
DIE FERTIGSTELLUNG DER MEMOIREN war eine<br />
schrecklich erschöpfende Aufgabe, schrieb sie Joe Steele –<br />
speziell weil sie darauf bestand, jede Änderung zu überwachen<br />
und jedes Wort der schwedischen Übersetzung zu genehmigen.<br />
Ihr Leben sei lang und reich gewesen, fügte sie bei, weshalb<br />
die Bereinigung des letzten Entwurfs so ein Riesenj<strong>ob</strong> gewesen<br />
sei. Dasselbe waren später im Jahr auch die mühsamen Promotion-Aufgaben<br />
für das Buch, <strong>als</strong> sie ihre Energieen zusammenraffen<br />
musste um die Presse zu bedienen, im Fernsehen<br />
aufzutreten und in England, Amerika, Schweden, Frankreich<br />
und Italien Bücher zu signieren.<br />
Ja, sagte sie, wenn sie danach gefragt wurde, sie habe<br />
Krebsoperationen hinter sich, aber nein, sie sei nicht am Sterben<br />
und sie hoffe sogar, noch einige Zeit so weitermachen zu<br />
können. "Ich muss ein bisschen Fatalistin sein, weil ich die<br />
Dinge akzeptiere, kann ich nichts dagegen unternehmen. Das<br />
Einzige, was ich <strong>tu</strong>n kann, ist, zu versuchen, fröhlich zu sein,<br />
mich nicht selbst zu bedauern und nicht darüber zu reden!"<br />
"Vielleicht", meinte sie noch, "habe ein Produzent mitgehört<br />
und brauche eine alte Hexe" – eine Rolle, für die wohl niemand<br />
an sie gedacht hätte. "Sie wollte ihre Arbeit machen", wie Gö-<br />
601
an von Essen (nebst vielen anderen) sagte, "ihre Gesundheit<br />
war zweitrangig".<br />
Und es geschah, dass wirklich ein amerikanischer Produzent<br />
mitgehört hatte. Gene Corman hatte vier Filme in Israel<br />
gedreht und hatte seit einiger Zeit vor, einen Film über Golda<br />
Meïr zu machen, die mit acht Jahren aus Russland nach Israel<br />
emigriert war. Nach einer Tätigkeit <strong>als</strong> Lehrerin liess sie sich<br />
1921 in Palästina nieder, wo sie <strong>als</strong> Arbeits- und Aussenministerin<br />
diente und schliesslich 1969 den Posten der Ministerpräsidentin<br />
erhielt. Sie wurde für die mangelhafte Vorberei<strong>tu</strong>ng<br />
des Palästina-Kriegs von 1973 kritisiert und resignierte 1974.<br />
Als eine starke (manchmal auch h<strong>als</strong>starrige) Frau, die ihr<br />
ganzes Leben Israel gewidmet hatte, gab sie ihrer Karriere<br />
stets den Vorrang vor Ehemann und Familie; 1978 starb sie<br />
achtzigjährig an Krebs. "Pessimismus", sagte sie einmal, "ist<br />
ein Luxus, den sich kein Jude leisten kann." Dieses Bekenntnis<br />
dokumentiert wohl am besten ihren komplexen aber unzweideutig<br />
starken Glauben an sich selbst und an ihre Mission für<br />
Israel.<br />
Corman war mit Paramount Pic<strong>tu</strong>res im Geschäft und<br />
konnte die S<strong>tu</strong>dios dafür gewinnen, ein vierstündiges TV-<br />
Drama über Golda zu unterstützen – sofern er eine geeignete<br />
Schauspielerin für diese Rolle finden könne. Von Anfang an<br />
hatte er dafür nur <strong>Ingrid</strong> im Auge, weshalb er sich mit Laurence<br />
Evans in Verbindung setzte, der ihm aber sagte, dass <strong>Ingrid</strong><br />
wegen ihrer Krankheit für diese Produktion nicht versicherbar<br />
sei (was ein enormes finanzielles Risiko bedeutet hätte). Aber<br />
Corman und Paramount waren willens, die Verantwor<strong>tu</strong>ng zu<br />
übernehmen, und so rief Evans <strong>Ingrid</strong> an. Ihre erste Reaktion<br />
war ein herzlicher Lacher: sie war eine grosse Schwedin und<br />
Golda war eine kleine Jüdin. Weder sah sie Golda ähnlich noch<br />
hatte sie eine ähnliche Stimme, sagte sie, und bestimmt<br />
verstand sie nichts von der Politik in Goldas Leben. Die Antwort<br />
war 'nein' – was Evans richtigerweise <strong>als</strong> 'vielleicht' interpretierte.<br />
602
Dann, nachdem <strong>Ingrid</strong> ihre Memoiren-Tournée abgeschlossen<br />
hatte, verschwand sie leise zu einem kurzen Ferienaufenthalt<br />
mit ihrer Cousine Britt Engström (einer von Onkel<br />
Ottos Töchtern) in Israel – "Ich wollte den Spuren Jesu folgen",<br />
sagte <strong>Ingrid</strong>. Sie liebe das Land, sagte sie Evans bei ihrer<br />
Rückkehr anfangs 1981, aber einmal mehr bat sie ihn, das von<br />
Paramount wiederholte Angebot zurückzuweisen, und wieder<br />
hatte er den Eindruck, die Tür sei nicht endgültig zu. Aber <strong>als</strong><br />
Freund nahm er auf ihre prekäre Gesundheit Rücksicht, weshalb<br />
er sie nicht zu überreden versuchte.<br />
Zufälligerweise traf Gene Corman, der in Israel vor Beginn<br />
mit "A Woman Called Golda" ein anderes Projekt fertigstellte,<br />
im King David Hotel in Jerusalem auf <strong>Ingrid</strong>. Es gab<br />
ein herzliches Wiedersehen, aber <strong>Ingrid</strong> blieb dabei, sie sei<br />
physisch nicht der richtige Typ – worauf Corman sanft erwiderte:<br />
"<strong>Ingrid</strong>, wir suchen Goldas Stil – was sie der Welt gab. Das<br />
ist wie bei dir. Niemand gleicht <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> körperlich." Er<br />
werde ihr ein paar Bücher schicken, sagte er, und er hoffte, sie<br />
bald wiederzusehen.<br />
NACH IHRER RÜCKKEHR NACH LONDON sagte <strong>Ingrid</strong><br />
zu, Alan Gibson, den 42-jährigen kanadischen Regisseur, der<br />
für das Projekt bestimmt war, zu treffen. Zu seiner freudigen<br />
Überraschung erfuhr er, dass sie Aufzeichnungen von Golda<br />
Meïrs Stimme angehört hatte, um ihren Tonfall anzupassen,<br />
den schwedischen Akzent zu eliminieren, Goldas Ausdrucksweise<br />
so genau wie möglich zu übernehmen. Wie Gibson hier<br />
feststellte, war das einzige Pr<strong>ob</strong>lem, das <strong>Ingrid</strong> noch Sorge<br />
bereitete - ihr Grössenunterschied im Vergleich zu Meïrs Sta<strong>tu</strong>r<br />
– bereits gelöst. "Oh, sie war eine so grosse Person", hatten<br />
mehrere Leute in Israel gesagt. Gewöhnliche Leute betrachteten<br />
Meïr <strong>als</strong> grossartig, weshalb sie ihnen auch <strong>als</strong> grosse (lange)<br />
Frau erschien. Plötzlich gewannen Gibson wie Corman <strong>Ingrid</strong>s<br />
Vertrauen.<br />
Dann begann sie von ihrer zunehmenden Affinität für<br />
Golda zu reden: sie beide kämpften gegen den Krebs (Golda<br />
603
kämpfte während Jahren gegen bösartigen Lymphdrüsenkrebs,<br />
bevor sie ihm erlag) und beide – in <strong>Ingrid</strong>s Worten: "liebten<br />
wir unsere Kinder, von welchen wir aber periodisch getrennt<br />
wurden, weil wir nicht bereit waren, die Kinder über unseren<br />
Beruf zu stellen. Das trug uns ein enormes Schuldgefühl ein ...<br />
ich verstehe Goldas Schuldgefühl, weil sie Mann und Kinder<br />
verlassen hatte, sehr wohl. Mit dieser Schuld habe ich mein<br />
ganzes Leben verbracht". Beide Frauen waren von ihrer Berufung<br />
besessen und konnten in der traditionellen Hausfrauen-<br />
und Mutter-Rolle keine Befriedigung finden. Beide haben ihr<br />
Geburtsland verlassen, sind von da nach dort gezogen und<br />
arbeiteten in den unterschiedlichsten Sprachen.<br />
Aber da war noch ein wesentlich wichtigerer Grund, warum<br />
<strong>Ingrid</strong> die Rolle übernehmen wollte. "Ich war 1938 in<br />
Deutschland sehr dickköpfig", sagte <strong>Ingrid</strong> während der Produktion<br />
von "Golda". "Ich muss ehrlich sagen, dass ich dam<strong>als</strong><br />
keinen Grund sah, gegen Hitler zu sein." Nachdem sie sich nun<br />
aber während so langer Zeit so schuldig gefühlt habe, wolle sie<br />
sich jetzt für Israel und das jüdische Volk einsetzen und Golda<br />
portraitieren – so haben das Verheilen der Wunden der Erinnerung<br />
und die Notwendigkeit zur Wiedergutmachung während<br />
der ganzen Vorberei<strong>tu</strong>ngszeit für diese herausfordernde und<br />
schwierige Rolle ihren Geist beflügelt.<br />
Schliesslich, im Frühjahr 1981, rief <strong>Ingrid</strong> Corman und<br />
Gibson an und bat um einen Termin für Testaufnahmen. Wenn<br />
sie sich in dieser Rolle sehen könne, sagte sie, dann wolle sie<br />
sie spielen. Vier Jahre waren vergangen seit sie letztm<strong>als</strong> vor<br />
der Kamera stand, und ihr Aussehen hatte sich in dieser Zeit<br />
damatisch verändert. Als sie zum Test ankam, war sie – wie<br />
Corman sich erinnerte – "sehr, sehr nervös – tatsächlich zitterte<br />
sie – und sie gestand es mir." Er versuchte, sie zu beruhigen:<br />
"<strong>Ingrid</strong>, hier gibt es viel Aufregung, grosse Spannung und<br />
viel Energie. Die ganze Mannschaft ist deinetwegen aufgeregt.<br />
Die Vorstellung, dass <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> um einen Screen Test<br />
gebeten hat, ist ausserordentlich. Sie alle lieben dich, sie wollen<br />
dich hier sehen."<br />
604
Und dann, während er sprach, ging ihr Blick an ihm<br />
vorbei über die Schulter. Er drehte sich um und sah die Kamera<br />
auf einem Schlitten heranrollen, und <strong>Ingrid</strong> lächelte: "Gene,<br />
ich sehe hier einen alten Freund". Sie erh<strong>ob</strong> sich, ging auf die<br />
Kamera zu und war für den Test bereit. Drei kurze Szenen<br />
wurden perfekt aufgenommen, und <strong>als</strong> sie tags darauf mit<br />
Corman und Gibson die Resultate ansah, sagte sie, falls man<br />
sie noch wolle, würde sie die Rolle spielen. Der Vertrag wurde<br />
unterzeichnet und am 4. September reisten <strong>Ingrid</strong> und Margaret<br />
von London nach Tel Aviv und Jerusalem ab, zur Produktion<br />
von "A Woman Called Golda". "Die Arbeit ist wundervoll, wenn<br />
man krank ist", sagte <strong>Ingrid</strong> zu einem Journalisten, "sie gibt<br />
einem Kraft". Und irgendwie fand sie die Kraft, dem Publikum<br />
eine letzte grosse Überraschung zu bereiten. Ihr Äusseres und<br />
ihre Stimme waren so weit entfernt von <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>, dass<br />
sie gewünscht hätte, das Erstaunen der Zuschauer mitzubekommen;<br />
es erinnere sie an "A Womans Face", sagte sie zu<br />
einigen Freunden, und den Anblick einer schrecklichen Entstellung,<br />
die das Publikum stärker schockierte, <strong>als</strong> vor vierzig Jahren.<br />
WÄHREND DER NEUNWÖCHIGEN PRODUKTION in diesem<br />
Herbst (in und um Jerusalem, Tel Aviv, Jaffa, Lydda, Natanja<br />
und Jericho) machte <strong>Ingrid</strong>s Krankheit rasende Fortschritte;<br />
der Krebs breitete sich in ihren ganzen Körper aus,<br />
sie verlor schnell Gewicht und Kraft, und ihr rechter Arm war<br />
grotesk geschwollen. Dieser unglückliche Zustand war auf die<br />
Entfernung von Lymphknoten bei ihrer Brustoperation zurückzuführen<br />
(wie auch zusätzlich auf die Auswirkungen ihrer Bestrahlungen),<br />
was zur Ansammlung von Flüssigkeit in ihrem<br />
Arm führte. "Mein Schosshündchen" nannte sie ihren geschwollenen<br />
Arm, ihr Hündchen, das sie nicht loswerden konnte<br />
und überall hin mitnehmen musste. Zwei Zeilen an einen<br />
Freund zu schreiben, war für sie eine Aufgabe, die eine Viertels<strong>tu</strong>nde<br />
in Anspruch nahm, aber sie behielt den Kontakt zu ihren<br />
neuen und alten Freunden. <strong>Ingrid</strong> lebte nun buchstäblich<br />
mit ununterbrochenen Schmerzen.<br />
605
Wie sich alle erinnern konnten, erwartete <strong>Ingrid</strong> keinerlei<br />
Spezialbehandlung durch ihren Regisseur oder die Crew,<br />
und sie arbeitete jeden Tag, an dem sie benötigt wurde, beginnend<br />
pünktlich um 6 Uhr früh für zwei S<strong>tu</strong>nden Makeup, um<br />
danach zwölf- bis fünfzehnstündige Sitzungen durchzustehen<br />
und bis spät in die Nacht mit Margaret dafür zu sorgen, dass<br />
sie keine Zeile ihres Dialogs vergessen würde, dass ihre Stimme<br />
Goldas Timbre behalten würde und dass sie alles gelesen<br />
hatte, was es zur Sache zu lesen gab. Während der Dreharbeiten<br />
konsultierte sie Dutzende von prominenten Israelis, einschliesslich<br />
den ehemaligen Aussenminister Abba Eban und<br />
den amerikanischen Botschafter Simcha Dinitz. Sie sah sich<br />
Dokumentarfilme über Golda und die israelische Geschichte an,<br />
und sie verbrachte verschiedene Nachmittage mit Goldas Vertrauter<br />
und Sekretärin, Lou Kaddar.<br />
Wie sich die Kosmetikerin Wally Schneiderhan erinnerte,<br />
wurde <strong>Ingrid</strong> unverzüglich zu Golda, wie sie die gepolsterten<br />
Kleider, die dicken Strümpfe, die ihre dünnen Beine cachieren<br />
sollten, die unattraktiven Perücken angezogen hatte und<br />
die schwere Kosmetik aufgetragen war. Sie spielte Golda im<br />
Alter von fünfundfünfzig bis neunundsiebzig Jahren (w<strong>ob</strong>ei die<br />
Szenen wie üblich ausserhalb der chronologischen Ordnung<br />
gedreht wurden), und die Garder<strong>ob</strong>e war unangenehm und<br />
unkomfortabel. Sehr oft herrschte extrem heisses Wetter, sodass<br />
<strong>Ingrid</strong> viele Aussenaufnahmen bei Tagestempera<strong>tu</strong>ren<br />
von über 38 Grad Celsius zu bestehen hatte. Niemand konnte<br />
sich an eine Bitte um eine Pause oder einen Abbruch der Aufnahmen<br />
erinnern, doch einmal fiel sie in eine Ohnmacht. "Wir<br />
machen hier eine Gratwanderung", sagte der Arzt, der sie betreute<br />
und verblüfft zusah, wie sie sich eine halbe S<strong>tu</strong>nde später<br />
wieder an die Arbeit machte. "Aber ich fürchte, <strong>Ingrid</strong><br />
könnte jeden Moment abstürzen."<br />
Doch sie tat es nicht. Ihr aufmerksamer Freund Lars<br />
besuchte sie oft, erledigte die üblichen täglichen Notwendigkeiten<br />
und finanziellen Angelegenheiten und erleichterte ihr alles<br />
allein durch die Tatsache seiner Anwesenheit. Da ihr Arm geschwollen<br />
blieb, wurde es nötig, spezielle Kleidungsstücke für<br />
606
sie zu entwerfen, doch verschiedene Szenen, in welchen sie<br />
z.B. eine Unterschrift leisten oder einen Teekrug reinigen<br />
musste, erforderten Nahaufnahmen von ihren Händen. Als<br />
Gibson, Corman und der Filmer Adam Greenberg ihr besorgt<br />
anboten, für Nahaufnahmen ihrer Hände pr<strong>ob</strong>lemlos ein Double<br />
einzusetzen, sagte sie nein, sie wolle das Pr<strong>ob</strong>lem anderweitig<br />
lösen.<br />
Jeweils abends vor den Aufnahmen für eine solche Szene<br />
nahm sie einen Infusionsständer zu Hilfe, an welchem ihr<br />
betroffener Arm während der ganzen Nacht hoch gehängt wurde,<br />
sodass das Wasser aus dem Arm zurückfliessen konnte. Mit<br />
dem vorübergehend abgeschwollenen Arm eilte sie am Morgen<br />
früh ins S<strong>tu</strong>dio. "Seht her!", rief sie dem Produzenten und Regisseur<br />
aufgeregt und mit einem triumphierenden Lächeln zu,<br />
"machen wir die Szene doch schnell!" Das geschah auch, und<br />
sie hatte ihre helle Freude daran – aber weil das Pr<strong>ob</strong>lem sich<br />
schnell wieder einstellte, hatte sie noch einige weitere Nächte<br />
mit hochgehängtem Arm vor sich.<br />
Ihre Leis<strong>tu</strong>ng war ein kleines Wunder, denn <strong>Ingrid</strong> verlor<br />
sich mit unglaublicher Intensität in ihrer Rolle. Ihre Golda<br />
war eine Kombination aus Charme und gespielter Tapferkeit,<br />
aus Würde und Unsicherheit. Wie die Premierministerin<br />
schmauchte sie ihren Weg kettenrauchend durch Israels Küchen<br />
und Hinterzimmer, und die Räder in ihrem Kopf drehten<br />
unaufhörlich. Ihre Stimme, wie ein Zuschauer es sagte, habe<br />
wie "in Autorität gebetteter Kies" geklungen. Drei Wochen<br />
nach ihrem Tod erhielt <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> von der Academy of<br />
Television Arts and Sciences den Emmy <strong>als</strong> beste Hauptdarstellerin<br />
in einer limitierten Serie oder einem Sonderprogramm.<br />
"A Woman Called Golda" wurde auch <strong>als</strong> die beste<br />
dramatische Sondersendung der Saison erwähnt.<br />
Ein Tag während der Produktion h<strong>ob</strong> sich aus allen andern<br />
heraus – das Shooting der Szene, in welcher Golda von<br />
ihrem Arzt erfährt, dass sie an einer bösartigen Krankheit leidet.<br />
<strong>Ingrid</strong> hatte Ende August eben ihren 66. Geburtstag gefeiert,<br />
und der Regisseur und seine Crew waren verständlicher-<br />
607
weise in Sorge um diese Szene, die so sehr das wirkliche Leben<br />
der Hauptdarstellerin widerspiegelte. Sie las den Dialog<br />
und legte die Szene buchstabengenau in einem Zug hin: "Nun,<br />
ich bin sechsundsechzig. Wie lange eigentlich werde ich noch<br />
zu leben haben? Die Frage ist – diese paar Jahre – werden die<br />
noch gut sein?...Wie werde ich geistig dran sein? Ich will keine<br />
Minute länger leben, <strong>als</strong> so lange mein Geist noch klar<br />
ist....Und falls irgendetwas darüber irgendwem berichtet wird,<br />
entscheide ich wem und wann. Bis dann ist es ein striktes Geheimnis..."<br />
Als die Szene fertig war, verlangte <strong>Ingrid</strong> nach einer Cigarette<br />
und einem Glas Wasser, dann ging sie weg, um sich<br />
etwas hinzulegen. An diesem Morgen flossen bei der Crew einige<br />
Tränen.<br />
WIEDERHOLT IN DIESER SAISON begegnete <strong>Ingrid</strong><br />
Boulevardgeschichten über ihren bevorstehenden eigenen Tod.<br />
'<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> steht mit einem Fuss im Grab', lautete eine<br />
typische Schlagzeile. "Es stimmt, dass ich mit einem Fuss im<br />
Grab stand", entgegenete sie mit intaktem Humor, "aber die<br />
Erde war zu feucht und kalt für mich und da ich an Rheumatismus<br />
leide, stieg ich wieder raus und kam nach Israel, wo es<br />
warm und trocken ist, um weiter zu arbeiten." Als ihr eine alte<br />
Bekannte, die Journalistin Orianna Fallaci einen Besuch abstattete<br />
und ihre Erschütterung nicht verbergen konnte, sagte <strong>Ingrid</strong><br />
ruhig: "Nun, meine Liebe, es war ein sehr schönes Leben,<br />
ein sehr interessantes und glückliches dazu. Wir alle müssen<br />
sterben, aber in gewissem Sinne habe ich nicht das Gefühl alt<br />
zu werden, weil ich keine Abs<strong>tu</strong>mpfung kenne und die Bitterkeit<br />
ignoriere."<br />
Am Vorabend des letzten Drehtags – in einem Londoner<br />
S<strong>tu</strong>dio im November – gab <strong>Ingrid</strong> für Schauspieler und Crew<br />
eine Dinner-Party. Nach dem Essen liess sie ihr Glas erklingen<br />
und erh<strong>ob</strong> sich unter grossen Schmerzen zu einer Dankesrede.<br />
Ihr Produzent, Regisseur, Kameramann, Makeup-Direktor,<br />
Garder<strong>ob</strong>e-Designer und Coiffeur wandten sich ihr zu, <strong>als</strong> sie<br />
608
jedem Einzelnen ein Lächeln und eine persönliche Dankesadresse<br />
schickte. Wie sie sich alle erinnerten, fand sie für jeden<br />
die richtigen Worte. So war es auch mit Gene Cormans Sohn,<br />
dam<strong>als</strong> ein Jus-S<strong>tu</strong>dent, der <strong>Ingrid</strong> eine Notiz zukommen liess,<br />
wonach er während Jahren monumental in sie verknallt gewesen<br />
sei. <strong>Ingrid</strong> sandte ihm eine unterzeichnete Foto aus "Casablanca",<br />
wie von ihm gewünscht: "Danke für die monumentale<br />
Verknalltheit", schrieb sie mit ihrer hinfälligen Hand, "Here's<br />
looking at you, kid!" Und am Schluss überreichte sie Margaret<br />
Johnstone einen kleinen silbernen Bulldog mit der Notiz: "In<br />
grosser Liebe, meinem lieben Wachhund und Beschützer."<br />
Bei den letzten Aufnahmen am folgenden Tag schien alles<br />
schief zu gehen. Es gab Pr<strong>ob</strong>leme mit der Kamera, einem<br />
wichtigen Licht, mit einem Teil des Sets und einem fehlenden<br />
Requisit. "Da haben wir's, die Kamera will mir auch nicht adieu<br />
sagen", meinte <strong>Ingrid</strong> mit einem Lächeln, <strong>als</strong> sie sich den<br />
Schweiss aus den Augenbrauen wischte und sich niedersetzte,<br />
um eine Welle von durch die Medikamente verursachtem<br />
Brechreiz niederzukämpfen. Nach einer kurzen Pause wurde<br />
die letzte Szene ihrer Karriere beendet. "Es war eine wundervolle<br />
Erfahrung", sagte sie der Crew, "sowohl <strong>als</strong> Schauspielerin<br />
wie auch <strong>als</strong> Mensch, der sich nun schneller aus dem Leben<br />
zurückzieht, <strong>als</strong> ich erwartet hätte." An diesem Abend war Gene<br />
Corman Gastgeber eines Abschiedsessens für Cast und<br />
Crew. Als sie von Tisch zu Tisch ging, um sich bei allen zu bedanken<br />
und dann mit Margaret still wegging, war <strong>Ingrid</strong> die<br />
Einzige, die nicht weinte.<br />
DIESEM SCHMERZ GAB SIE SICH später an diesem<br />
Abend in ihrer Einsamkeit hin, wie sie einem Freund anvertraute.<br />
"Ich kam zurück in diese ruhige, leere Wohnung und realisierte<br />
plötzlich, dass dies nun meine Wirklichkeit war, dass es<br />
nun so ist – und ich fühlte mich ausgetrocknet und sehr traurig.<br />
Das Ende des Films empfand ich wie einen Tod in der Familie."<br />
Sie ging hinüber zum Fenster und sah, wie die Herbstnebel<br />
vom Fluss heraufkamen und die stille Strasse zudeckten,<br />
609
dann begann sie zu weinen – zuerst nur ein paar leise Tränen,<br />
doch dann konnte sie nicht mehr aufhören. War es nicht komisch,<br />
dachte sie: wieviele Filme hatte sie gemacht – warum<br />
hatte sie sich nicht an das Ende gewöhnt? Da gab es so viel<br />
Leben und Vitalität während der Produktion – "und da war ich<br />
nun und weinte mein Herz aus. All diese wunderbaren Leute,<br />
die mir so nahe standen, die ich wohl nie mehr sehen werde.<br />
Und wer weiss, vielleicht war das auch das letzte Mal, dass ich<br />
vor meinem lieben alten Freund, der Kamera, stand."<br />
"GOOD BYE", SAGTE INGRID den Reportern an einer<br />
Pressekonferenz für "Golda" kurz vor Weihnacht. "Ich gehe<br />
nun und werde weder zum Film noch zum Theater zurückkehren.<br />
Ich habe die Schauspielerei abgeschlossen. Ich werde nun<br />
in der Welt herumreisen und mit meinen Grosskindern spielen."<br />
Und genau das tat sie in der letzten Woche von 1981, die<br />
sie mit Lars und ihrer Familie in Choisel verbrachte.<br />
Aber <strong>Ingrid</strong> wurde täglich schwächer, wie es schien –<br />
und für die einfachsten Dinge brauchte sie Hilfe. Bevor sie im<br />
Januar nach London zurückkehrte, sprach Lars mit Margaret<br />
Johnstone, die sofort einwilligte, sich im zweiten Schlafzimmer<br />
in Cheyne Gardens <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong>s Pflegerin, Köchin und Vollzeit-<br />
Gesellschafterin einzurichten. Aber wie krank sie auch sein<br />
mochte, war <strong>Ingrid</strong> – wie Margaret feststellen musste - nicht<br />
die Patientin, die zuhause sass und ihre Wände anstarrte,<br />
wenn sie es auf irgendeine Art schaffte, das Haus zu verlassen.<br />
Gelegentlich lud sie ein oder zwei Freunde zum Nachtessen<br />
ein, ein- bis zweimal die Woche sah sie sich einen Film oder<br />
ein Bühnenstück an oder sie spazierte im kleinen Park dem<br />
Fluss entlang.<br />
Im Sinne eines letzten verzweifelten Versuchs, das Böse,<br />
das ihren Körper zerfrass, zu zerstören, unterzog sich <strong>Ingrid</strong><br />
einem harten Chemotherapie-Programm. Zwischen Februar<br />
und Mai 1982 verbrachte sie monatlich eine Woche im St.<br />
Thomas Hospital, am Südufer der Themse. Das Resultat der<br />
Behandlung war nicht nur nutzlos, die Nebenwirkungen waren<br />
610
grauenhaft. Während zweier Tage nach jeder Behandlung erbrach<br />
sie fürchterlich und während drei weiteren Tagen konnte<br />
sie die Spitalkost nicht anrühren. Margaret anerbot sich, ihr<br />
hausgemachte Suppen und püriertes Essen, das sie gerne<br />
mochte und das gut verdaulich war, zuzubereiten, aber <strong>Ingrid</strong><br />
lehnte ab: "Sie sind hier alle so lieb zu mir, ich möchte sie<br />
nicht beleidigen mit dem Essen."<br />
Ihr rechter Arm war inzwischen völlig unbrauchbar geworden,<br />
weshalb sie sich zwang, ihren linken einzusetzen, um<br />
Dankesbriefe an besorgte Freunde zu schreiben. Wenn man<br />
sich so zerstört fühle, sei es nicht leicht, den Humor zu behalten,<br />
schrieb sie Griff – und dennoch behielt sie ihn. Als sie von<br />
ihrem Zimmer über die Themse zu den Houses of Parliament<br />
hinübersah, lachte sie und meinte: "Nun, nachdem ich Golda<br />
Meïr gespielt habe, kann ich von hier aus für meine nächste<br />
Rolle Mrs. Thatcher s<strong>tu</strong>dieren."<br />
Wieder zuhause, bat sie Griff und Margaret, Theaterplätze<br />
zu buchen und einer von beiden oder Ann Todd begleitete<br />
sie. "Sie überlebte weit länger, <strong>als</strong> ihre Ärzte oder irgendjemand<br />
von uns erwartet hätten", sagte Ann später, "aber wirklich,<br />
ihr Leben war zerstört. Ein einziges Mal war von ihr etwas<br />
zu hören, was im Entferntesten nach einer Klage tönte. Als ich<br />
eines Tages an ihrem Bett sass und strickte, während sie in<br />
einem Album blätterte, bemerkte ich plötzlich, dass sie meine<br />
Hände ansah, und erinnerte mich natürlich, dass das Stricken<br />
eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen war – ihr ganzes Leben<br />
lang; sie strickte immer für sich und ihre Lieben. Ganz ruhig<br />
sagte sie dann: 'Weißt du, Ann, manchmal denke ich, es wäre<br />
besser zu gehen <strong>als</strong> so weiterzukämpfen. Ich bin jetzt wirklich<br />
zu nichts mehr gut. Ich überziehe meine Zeit.'"<br />
Aber ihr eiserner Wille verliess sie nicht. Als sie und Ann<br />
eines Abends Ende April im Theater ankamen, stiessen sie im<br />
Foyer auf einen Harst von Fotographen und Reportern. <strong>Ingrid</strong>,<br />
die in der Tat sehr zerbrechlich und ausgezehrt aussah, war<br />
wütend und verlangte den Direktor: "Wer hat der Presse gesagt,<br />
dass ich komme?" fragte sie. Der arme Mann war zu-<br />
611
nächst sprachlos und sagte dann mitleidvoll: "Niemand, Miss<br />
<strong>Bergman</strong>, die Leute warten auf die Ankunft von Prinzessin<br />
Margaret." Damit produzierte <strong>Ingrid</strong> einen Lachanfall und noch<br />
während des ganzen Stücks hatten die beiden Frauen gelegentlich<br />
etwas zu flüstern und wiederkehrendes Gekicher zu<br />
unterdrücken.<br />
Mit ihrer Familie diskutierte sie nicht über das, was sie<br />
nun <strong>als</strong> ihr mehr oder weniger unmittelbar bevorstehendes<br />
Schicksal erkannte. Aber Freunden wie Ann, Margaret und Griff<br />
gegenüber war sie offener. Ohne jeden Grimm oder jede Melodramatik<br />
sprach sie vom "grossen Theater im Himmel", und<br />
<strong>ob</strong>schon sie irgendwelche fixen Ideen über die Na<strong>tu</strong>r eines Lebens<br />
danach ablehnte, sagte sie wiederholt, sie sei "neugierig<br />
darauf, das herauszufinden". Auch an ihre Eltern dachte sie<br />
oft: Isabella fand die kleinen eingerahmten Bildchen von Jus<strong>tu</strong>s<br />
und Frieda auf <strong>Ingrid</strong>s Nachttisch und stellte fest, "dass sie<br />
Spuren der Lippen meiner Mutter trugen – es sah aus, <strong>als</strong> hätte<br />
sie sie geküsst."<br />
Auch Stephen Weiss besuchte sie im Mai, w<strong>ob</strong>ei sie offen<br />
über die schlechte Prognose ihres Arztes sprach. Sie regelte<br />
einige wichtige finanzielle Angelegenheiten bezüglich ihres<br />
Testaments, das grosszügige Zuwendungen an ihre Cousine<br />
Britt und deren Tochter Agneta vorsah, an Griff und Magaret,<br />
an ihr Patenkind Kate Barrett, an R<strong>ob</strong>ertos Nichte, Fiorella Mariani,<br />
die immer so loyal und hilfsbereit war; und an ihre alte<br />
Dienstmagd in Rom. Ihr Hauptvermögen (das auf knapp 4 Mio.<br />
$ veranschlagt wurde) wurde zu gleichen Teilen auf ihre vier<br />
Kinder verteilt.<br />
IM APRIL WURDE "A WOMAN CALLED GOLDA" im amerikanischen<br />
Fernsehen gesendet, und – hätte es anders sein<br />
können? – die Kritiken überboten sich gegenseitig. "Eine wirklich<br />
bemerkenswerte Leis<strong>tu</strong>ng", schrieb ein älterer Kritiker für<br />
die New York Times. "Miss <strong>Bergman</strong> gestaltet eine Frau von<br />
kompromissloser Strenge mit der Fähigkeit, unvermittelt ergreifende<br />
Wärme zu verbreiten. Eine vorzügliche Schauspiele-<br />
612
in hat eine blendende Gelegenheit ergriffen und voll ausgeschöpft."<br />
Ein anderer schrieb: "Für <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> mit ihren<br />
vielen dramatischen Juwelen in ihrer goldenen Krone ist dies<br />
der Schlussstein" – nachdem die Presse zu diesem Zeitpunkt<br />
wusste, dass es tatsächlich keine Fortsetzung geben würde.<br />
Doch in einem gewissen Sinne gab es noch eine – eine<br />
Anwandlung von Freude, die jedermann in Erstaunen versetzte.<br />
<strong>Ingrid</strong> war nicht davon abzubringen, am 18. Juni in New<br />
York den dreissigsten Geburtstag ihrer Zwillingstöchter zu feiern,<br />
weshalb sie sich mit Margaret dorthin begab. Aber ihren<br />
heroischen Bemühungen und ihrem fröhlichen Gehabe zum<br />
Trotz erkannten ihre Töchter in ihren Augen (wie Isabella sagte)<br />
"starke Schmerzen und grossen Kummer". "Trotzdem",<br />
fügte Pia bei, "ist sie glücklich gewesen, dabei zu sein. Sie<br />
lachte und scherzte. Irgendwie schaffte sie es, ihre grosse Tragödie<br />
in einen Akt von vorbildhaftem Mut umzuwandeln. Sie ist<br />
eine tapfere und n<strong>ob</strong>le Frau mit einem gorssen Herzen – und<br />
das ist letztlich die liebenswerteste von allen ihren Qualitäten."<br />
<strong>Ingrid</strong> traf alte Freunde – Kay Brown und R<strong>ob</strong>ert Anderson,<br />
unter andern – und am Tag nach der Geburtstagsfeier<br />
trafen sie und B<strong>ob</strong> sich zum Lunch im Oakroom im Plaza, direkt<br />
gegenüber dem Wyndham Hotel, wo sie und Magaret<br />
Zimmer hatten. <strong>Ingrid</strong> war schwach und schwitzte, (klar, dass<br />
die Lunchvereinbarung für sie eine Anstrengung bedeutete),<br />
aber sie sagte, sie müsse schlicht den Termin bei Berndorf's –<br />
ein paar Schritte entfernt - einhalten, um ihr Haar in Ordnung<br />
bringen zu lassen. B<strong>ob</strong> begleitete sie zu ihrem Coiffeur-Salon.<br />
"Ich habe einen Termin um drei Uhr", sagte <strong>Ingrid</strong> am<br />
Empfang.<br />
Aber ihre Erscheinung war so verändert, dass die Empfangsdame,<br />
die <strong>Ingrid</strong> bei früheren Gelegenheiten wiederholt<br />
gesehen hatte, sie nicht erkannte und nach ihrem<br />
Namen fragte.<br />
"<strong>Bergman</strong>", sagte <strong>Ingrid</strong> verständnisvoll.<br />
"Und wie ist Ihr Vorname, bitte?"<br />
613
AM 3. JULI KEHRTEN INGRID und Margaret nach London<br />
zurück. Joss Ackland, ihr Co-Star in "Captain Brassbounds<br />
Conversion" brachte ihr einige Bücher und Tonbänder – darunter<br />
ein Exemplar von Antoine de Saint Exupérys Novelle Der<br />
kleine Prinz, eine klassische Fabel zum L<strong>ob</strong> der Grenzenlosigkeit<br />
des Geistes und der Dauerhaftigkeit der Freundschaft.<br />
London erlebte einen schönen Sommer, und <strong>Ingrid</strong> liebte<br />
es, möglichst viel Zeit an den langen Tagen im Freien zu<br />
verbringen, aber ihre Kraft verliess sie nun schnell. Sie sass<br />
ruhig in ihrem Wohnzimmer, bis ihr Zustand sie ins Bett<br />
zwang, und dann bat sie Margaret oder Griff, ihr Alben und<br />
Erinnerungsbücher zu bringen, die sie so sorgfältig über die<br />
Jahrzehnte gehütet hatte. Sie sah darin die faszinierende<br />
Chronik ihres Lebens, das in der Tat – wie sie so oft sagte –<br />
ein wundervolles Leben war, ein Leben voll von Erfolgen und<br />
so vielen interessanten Menschen und Erfahrungen – von welchen<br />
keine einzige wirklich aus ihrem Leben gelöscht wurde.<br />
Ihr Exemplar des Romans Of Lena Geyer, das nach wie vor in<br />
ihrer kleinen Bibliothek mit den Lieblingsbüchern stand, erwies<br />
sich einmal mehr <strong>als</strong> Spiegel ihres Lebens: "Sie ging durch so<br />
viele verschiedene Phasen ihres Lebens und wurde in Wirklichkeit<br />
zum Teil einer jeden; und wenn die nächste kam, dachtest<br />
du, sie habe alle vorangehenden vergessen; und nach kurzer<br />
Zeit stellst du fest, wie f<strong>als</strong>ch deine Annahme war."<br />
<strong>Ingrid</strong> schien von Dankbarkeit beseelt und gelegentlich<br />
leuchteten sogar Blitze ihres unverbrüchlichen Humors auf,<br />
wenn sie gewisse Bilder sah oder bestimmte Artikel und Kritiken<br />
las.<br />
Da war es <strong>als</strong>o, das kleine scheue blonde Mädchen in<br />
Wintermantel und Mütze, das geradewegs in Vaters Kameralinse<br />
blickte. Und dort die Bilder von <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> pfirsichwangige<br />
Elsa in einem gestreiften Kleid in "Munksbrogreven"; <strong>als</strong> wehmütige<br />
Anita in beiden Versionen von "Intermezzo" und <strong>als</strong> die<br />
böse, entstellte Anna in "A Womans Face", die am Ende die<br />
Bedeu<strong>tu</strong>ng von Mitgefühl und Liebe kennenlernt.<br />
614<br />
Sie schweifte durch ihre Lieblingsrollen. Da war sie <strong>als</strong>
Ivy in "Dr. Jekyll and Mr. Hyde", frech am Anfang, dann aschgrau<br />
vor Qual, und natürlich war da auch die klassische Rolle<br />
der Ilsa in "Casablanca" – die sie laut auflachen liess, denn sie<br />
konnte den Riesenrummel um diesen Film nie verstehen, auch<br />
nicht wegen ihres vor Liebe leuchtenden Gesichts, <strong>als</strong> sie von<br />
Bogart – aus edlem Motiv - weggeschickt wird. "Here's looking<br />
at you, kid" sagte <strong>Ingrid</strong> laut, während sie die Seite umblätterte.<br />
Und da war sie <strong>als</strong> Maria in "Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt" –<br />
und wie wundervoll Gary Cooper aussah, seine feinen Züge für<br />
immer von Paramounts Kameras eingefangen. Und dort ein<br />
Bild mit dem galanten Charles Boyer, ihrem Co-Star in drei<br />
Filmen. "Gaslight" war sicher der beste von allen, und ihr Oscar<br />
dafür stand mit denjenigen für "Anastasia" und "Murder on<br />
the Orient Express" auf dem Bücherregal nebenan.<br />
Auf manchen Seiten der Alben war die Filmgeschichte<br />
der amerikanischen Kriegszeit so präsent wie ihre eigene. Sie<br />
musste zugeben, dass sie Schwester Benedict glaubhaft gestaltet<br />
hatte, und <strong>ob</strong>schon sie Bing Crosby nie wirklich gekannt<br />
hatte, mochte sie diesen Film für die emotionale Ehrlichkeit,<br />
die durch die "Glocken von St. Marien" klang.<br />
Da waren auch Familienbilder – ihre verehrten Eltern,<br />
die strenge aber liebenswürdige Tante Ellen, der schrullige Onkel<br />
Otto und die vielbeschäftigte Tante Mutti. Sie hatte alle ihre<br />
Lieblingsbilder von Petter Lindström – stets asketisch attraktiv<br />
und helläugig – aufbewahrt, und natürlich waren da reihenweise<br />
Fotos von Pia von ihrer Kindheit an bis zur Gegenwart. Pia,<br />
die zu einer klugen und gefühlvollen Frau herangereift war, auf<br />
die ihre Mutter sehr stolz war, hatte in den späteren Jahren<br />
erkannt, dass die Versöhnung <strong>Ingrid</strong>s grosses Ziel war. So wie<br />
Pia Akzeptanz und Vergebung gelernt hatte, musste ihre Mutter<br />
lernen, diese Vergebung anzunehmen. Die Versöhnung war<br />
eine Lebensaufgabe.<br />
Dann gab es natürlich viele Bilder von <strong>Ingrid</strong> mit ihrem<br />
Freund Alfred Hitchcock. "Spellbound" hatte viel Spass gemacht,<br />
und "Under Capricorn" empfand sie jetzt eher <strong>als</strong> amü-<br />
615
sant, denn <strong>als</strong> lästig – aber "Notorious" mit so vielen biographischen<br />
Parallelen zu ihrem eigenen Lebenslauf, blieb ihr<br />
Lieblingsfilm. Wenn sie stolz von ihren persönlichen Leis<strong>tu</strong>ngen<br />
sprach, kam ihre Darstellung der liebeskranken Alicia Hubermann<br />
unweigerlich zur Sprache.<br />
Und noch andere lächelten aus den Albumseiten: die<br />
Gesichter von Edvin Adolphson, Victor Fleming, Larry Adler,<br />
B<strong>ob</strong> Capa, R<strong>ob</strong>ert Anderson. Die Liebe änderte sich in ihrem<br />
Wesen, aber sie starb nicht. <strong>Ingrid</strong> blieb ihnen allen verbunden.<br />
Dann fanden sich unzählige Bilder von <strong>Ingrid</strong> in der Rolle<br />
ihrer geliebten Jeanne d'Arc! Nie vergass sie die letzten Zeilen<br />
aus Maxwell Andersons Stück, die ebensogut sie selbst<br />
betreffen konnten: "Niemand kann sie für einen fremden<br />
Zweck missbrauchen, ihre eigene Auffassung wird sich immer<br />
durchsetzen". Und dann Jeannes letzte Worte: "Das Sterben<br />
kann nicht lange dauern. Es wird etwas schmerzen, aber dann<br />
vorbei sein. Nein, der Schmerz wird nicht klein sein, aber er<br />
wird ein Ende haben. Und wenn ich es noch einmal zu entscheiden<br />
hätte, ich würde es wieder <strong>tu</strong>n. Ich würde meinem<br />
Glauben treu bleiben, selbst bis ins Feuer." Ausser einer kleinen<br />
Bibliothek von Büchern über Jeanne war da noch ein<br />
Kleinod, das sie über all die Jahre gehütet hatte und das sie<br />
noch immer bei sich hatte: ein kleines Säckchen mit französischer<br />
Erde von Orléans.<br />
<strong>Ingrid</strong>s Lieblingsbilder von R<strong>ob</strong>erto Rossellini glänzten<br />
auf manchen Seiten, Bilder auf welchen er seine Nase an ihrer<br />
Wange reibt während die drei Kinder um sie herumtollen; Fotos<br />
von ihm, wie er ihr auf den rauhen Felsen von Stromboli<br />
Anweisungen gibt; und auch alles über das Leben ihrer Kinder<br />
war hier zu sehen. Diese Ehe und die Zusammenarbeit mit<br />
R<strong>ob</strong>erto war eine weitere grosse Herausforderung in ihrem<br />
Leben, aber sie bedauerte keinen Tag davon. Und dann fand<br />
sich da auch eine ergiebige Sammlung von Bildern von ihr mit<br />
Lars Schmidt – in Choisel, auf Dannholmen, an Premieren. Die<br />
Kamera war tatsächlich ihr bester Freund: sie betete <strong>Ingrid</strong><br />
616
nicht nur an, sie hinterliess ihr auch Erinnerungen an alle ihre<br />
Lieben und die Zeit ihrer Karriere, die ihr so viel bedeutete.<br />
Ja, es war ein gutes Leben: in sieben Ländern und in<br />
fünf Sprachen erschien <strong>Ingrid</strong> in sechsundvierzig Filmen, in elf<br />
Bühnenstücken und in fünf Fernsehprogrammen; sie hatte alle<br />
Auszeichnungen gewonnen, die ihr Beruf zu bieten hatte. Vom<br />
goldenen Mädchen auf den Stockholmer Bühnen und Leinwänden<br />
bis hin zur kranken und verrunzelten Golda Meïr – wie<br />
könnte irgendjemand je <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s grossartige Ausstrahlung<br />
und Kunst erklären?<br />
LARS KAM DIESEN SOMMER OFT ZU BESUCH, und am<br />
10. August bestand <strong>Ingrid</strong> darauf, dass er sie nach Stockholm<br />
und nach Dannholmen begleite. In ihrer Heimatstadt nahm sie<br />
Lars' Arm und spazierte langsam am Königlichen Dramatischen<br />
Theater vorbei, wo sie vor fünfzig Jahren so aufregende Tage<br />
erlebt hatte. Sie setzte sich auf dieselben Bänke dem Strandvägen<br />
entlang und im Djurgården, wo sie <strong>als</strong> S<strong>tu</strong>dentin ihre<br />
Texte auswendig zu lernen pflegte, sie warf zum Andenken an<br />
ihre Eltern Blumen ins Wasser und be<strong>ob</strong>achtete die Fähren in<br />
der Bucht.<br />
Bei Ankunft auf Dannholmen musste <strong>Ingrid</strong> vom Landesteg<br />
bis ins Haus getragen werden und während Tagen hatte<br />
sie nicht mehr die Kraft, das Bett zu verlassen. "Aber ihre Liebe<br />
zur Insel war so gross", erinnerte sich Lars, "dass sie ihre<br />
Schwäche schliesslich überwand." Eines Morgens bat sie ihn,<br />
sie zur Haustür zu führen, damit sie die frische Seeluft einatmen<br />
und die Sonnenwärme spüren konnte. Tags darauf schaffte<br />
sie einige Schritte im Freien und am folgenden Nachmittag<br />
noch einige dazu. Während zweier Wochen zwang sie sich,<br />
täglich etwas weiter zu gehen – weiter und weiter um die kleine<br />
Insel bis zum flachen Felsblock, bei dem sie allein mit ihren<br />
Scripts und Büchern so manche S<strong>tu</strong>nde verbracht hatte. Dort<br />
blickte sie ruhig über das Meer und bat Lars, hier ihre Asche<br />
ins Wasser zu streuen; das Versprechen, das er ihr gab, hat er<br />
gewissenhaft erfüllt. Sie reichten sich die Hände und spazier-<br />
617
ten dann langsam zum Haus zurück.<br />
<strong>Ingrid</strong> und Lars kamen am 27. August nach London zurück,<br />
w<strong>ob</strong>ei sie von ihrer Cousine Britt begleitet wurden. An<br />
diesem Abend hatte <strong>Ingrid</strong> ein Telefongespräch mit Ann Todd:<br />
"Oh, ich bin so müde", sagte sie zu Ann. "Ich möchte schlafen."<br />
Aber sie konnte nicht. Am Samstag setzte eine wahre<br />
Agonie ein, und Dr. MacLellan verabreichte ihr reichlich<br />
Schmerzmittel. "Zu dieser Zeit", sagte Lars, "hatte sie das Gefühl,<br />
das Leben zu überziehen. Sie wollte sterben." Aber noch<br />
immer blieb <strong>Ingrid</strong> ruhig, zuversichtlich und wach. Karten und<br />
Blumen kamen an, denn am Sonntag hatte sie Geburtstag.<br />
Lars hatte ihre Lieblingsblumen gebracht, Johannis- und Brombeeren<br />
aus ihrem Garten in Choisel und Champagner war<br />
kühlgestellt.<br />
Nach einer ruhelosen Samstagnacht erh<strong>ob</strong> sich <strong>Ingrid</strong><br />
am Sonntag Morgen früh - genau 67 Jahre nach ihrer Geburt,<br />
sogar auf den Wochentag genau – und wollte sich anziehen<br />
und etwas Farbe auftragen. "Also – was sagt ihr?" sagte sie<br />
aufgeräumt, mit dünner, schwacher Stimme aber mit leuchtenden<br />
Augen und einem Lächeln, das ihr Gesicht überstrahlte.<br />
"Ich habe noch ein Jahr geschafft!" Lars, Britt, Griff und Margaret<br />
verbrachten den Nachmittag bei ihr, plaudernd oder lesend,<br />
w<strong>ob</strong>ei sie hin und wieder einnickte. Mitte des Nachmittags<br />
erholte sie sich. Alle Kinder riefen an, und sie sprach kurz<br />
mit jedem von ihnen.<br />
UM SECHS UHR ABENDS AN IHREM GEBURTSTAG, am<br />
29. August 1982, verlangte sie, dass der Champagner serviert<br />
werde und alle tranken einen Toast auf sie. Der Moment glich<br />
sehr jenem, den <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> Ivy gespielt hatte, die tapfer dem<br />
tödlichen Mr. Hyde gegenüberstand: "Gut, ich nehme einen<br />
Schluck Champagner – natürlich kann ich nicht zu lange bleiben."<br />
Um acht Uhr war sie erschöpft und wollte zu Bett gehen.<br />
618
Neben ihrem Bett lag Der kleine Prinz, aufgeschlagen<br />
auf einer Seite, die sie nahe am Ende, wo er stirbt, markiert<br />
hatte: "Ich kann diesen Körper nicht mitnehmen, er ist zu<br />
schwer...aber er wird sein wie eine alte, verlassene Muschel.<br />
Alte Muscheln sind nichts Trauriges ...Ich werde aussehen, <strong>als</strong><br />
wäre ich tot, aber ich werde es nicht sein..."<br />
<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> wurde geboren, <strong>als</strong> die Spätsommersonne<br />
Stockholm überstrahlte und über die Bucht gleisste – <strong>als</strong><br />
jedermann für einen Moment vergessen konnte, wie sehr doch<br />
die Dunkelheit im Winter nicht enden will. So war es nun auch<br />
in London, <strong>als</strong> die Themse das Sonnenlicht herüber reflektierte,<br />
das die Baumspitzen in Cheyne Gardens umspielte. Ein milder<br />
Luftzug kam vom Fluss herauf, der die Vorhänge leicht blähte<br />
und die frischen Blumen in ihrem Zimmer umstrich. Ihre Lippen<br />
bewegten sich lautlos, gefolgt von einem langen, leisen<br />
Seufzer. Es war ein ruhiger, strahlender Abend, und dann<br />
leuchteten die Sterne die kurze, wolkenlose Nacht hindurch.<br />
619
620
Quellennachweis<br />
Illustrationen<br />
Zur Illustration des vorliegenden Buches habe ich auf<br />
vorhandenes Material zurückgegriffen, und zwar sowohl für die<br />
Reproduktion authentischer Bilder, wie auch zur Verarbei<strong>tu</strong>ng<br />
in meinen verschiedenen Grafiken. Sie sind z.T. der Originalausgabe<br />
von "NOTORIOUS", Verlag HARPER COLLINS PUBLI-<br />
SHERS, und z.T. dem Band "BERGMAN" von MOVIE ICONS<br />
(TASCHEN GMBH., Köln) entnommen und stammen ursprünglich<br />
- soweit bekannt - aus folgenden Quellen, bei welchen allen<br />
ich mich für die freundliche Überlassung der Bilder sehr<br />
bedanke:<br />
Academy of Motion Pic<strong>tu</strong>re Arts and Sciences<br />
Collection of Guy Green<br />
Collection of R<strong>ob</strong>ert Anderson<br />
Culver Pic<strong>tu</strong>res<br />
IMS Bildbyrå<br />
Kip Rano/Sipa/IMS Bildbyrå<br />
Movie Star News<br />
Museum of Modern Art/Film Still Archive<br />
National Film Archive<br />
National Film Archive/Stills Library<br />
Ruth Orkin (R<strong>ob</strong>ert Capa 1951)<br />
Swedish Film Insti<strong>tu</strong>te<br />
Warner Bros.<br />
621
Filmographie<br />
Jahr Titel Rolle<br />
1932 "Landskamp" Girl waiting in line<br />
1935 "Bränningar" Karin Ingman<br />
1935 "Munkbrogreven" Elsa Edlund<br />
1935 "Swedenhielms" Astrid<br />
1935 "Valborgsmassoafton" Lena Bergstrog<br />
1936 "Intermezzo" (Sweden) Anita Hoffman<br />
1936 "På Solsidan" Eva Bergh<br />
1938 "Dollar" Julia Balzar<br />
1938 "En Kvinnas Ansikte"<br />
[A Woman's Face]<br />
622<br />
Anna Holm<br />
1938 "Die Vier Gesellen" Marianne<br />
1939 "Intermezzo" (USA) Anita Hoffman<br />
1939 Enda Natt Eva<br />
1940 "Juninatten"<br />
[June Night]<br />
Kerstin Nordback<br />
1941 "Adam Had Four Sons" Emilie Gallatin<br />
1941 "Dr. Jekyll and Mr. Hyde" Ivy Peterson<br />
1941 "Rage in Heaven" Stella Bergen<br />
1942 "Casablanca" Ilsa Lund Laszlo<br />
1943 "For Whom the Bell Tolls" Maria<br />
1944 "Gaslight" Paula Alquist<br />
1945 "The Bells of St. Mary's" Sister Benedict<br />
1945 "Saratoga Trunk" Clio Dulaine<br />
1945 "Spellbound" Dr. Constance Peterson<br />
1946 "Notorious" Alicia Huberman
1948 "Joan of Arc" Jeanne d'Arc<br />
1948 "Arch of Triumph" Joan Madou<br />
1949 "Stromboli" Karin<br />
1949 "Under Capricorn" Henrietta Flusky<br />
1952 "Europa '51"<br />
[The Greatest Love]<br />
1953 "Siamo Donne"<br />
[Of Life and Love; Questa e la Vita;<br />
We, the Women]<br />
1953 "Viaggio in Italia"<br />
[Journey to Italy; Strangers; Voyage to<br />
Italy]<br />
1954 "Giovanna d'Arco al Rogo"<br />
[Joan at the Stake; Joan of Arc at the<br />
Stake]<br />
1955 "La Paura"<br />
[Angst; Fear]<br />
Irene Girard<br />
Katherine Joyce<br />
Jeanne d'Arc<br />
Irene Wagner<br />
1956 "Anastasia" Anastasia<br />
1956 "Elena et les Hommes"<br />
[Paris Does Strange Things]<br />
Elena Sokorowska<br />
1958 "Indiscreet" Anna Kalman<br />
1958 "The Inn of the Sixth Happiness" Gladys Aylward<br />
1959 "The Turn of the Screw "(TV) Governess<br />
1961 "Goodbye Again"<br />
[Aimez-vous Brahms?]<br />
1961 "Twenty-four Hours in a Woman's Life"<br />
(TV)<br />
Paula Tessier<br />
1963 "Hedda Gabler" (TV) Hedda Gabler<br />
1964 "The Visit" Karla Zachanassian<br />
1965 "The Yellow Rolls-Royce" Gerda Millet<br />
1967 "Fugitive in Vienna"<br />
1967 "The Human Voice" (TV)<br />
1967 "Stimulantia" Mathilde Hart-<br />
man<br />
623
1969 "Cac<strong>tu</strong>s Flower" Stephanie Dickinson<br />
1970 "Walk in the Spring Rain" Libby Meredith<br />
1973 "From the Mixed-Up Files of<br />
Mrs. Basil E. Frankweiler"<br />
[The Hideaways]<br />
624<br />
Mrs. Frankweiler<br />
1974 "Murder on the Orient Express" Greta Ohlsson<br />
1976 "A Matter of Time" Gräfin Sanziani<br />
1978 "Höstsonaten"<br />
[Au<strong>tu</strong>mn Sonata]<br />
Charlotte<br />
1982 "A Woman Called Golda" (TV) Golda Meïr
625