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Ingrid - tu als ob - Ingrid Bergman

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Erstm<strong>als</strong> erschienen in USA durch<br />

HarperCollinsPublishers, Inc.<br />

Copyright © Donald Spoto 1997<br />

"Notorious"<br />

ISBN 0 00 638813 2<br />

2009<br />

<strong>als</strong> eBook erschienen im Eigenverlag<br />

RUEGSEGGER PUBLIKATIONEN<br />

Hans Peter Ruegsegger<br />

CH-4103 Bottmingen<br />

3


"...Ich werde aussehen, <strong>als</strong> wäre ich tot.<br />

Aber ich werde es nicht sein..."<br />

(Der kleine Prinz – Antoine de Saint Exupéry)<br />

5


8<br />

I n h a l t s v e r z e i c h n i s<br />

V o r w o r t 11<br />

1 9 1 5 – 1929 17<br />

1 9 2 9 - 1 9 3 6 45<br />

1 9 3 6 - 1 9 3 8 73<br />

1939 105<br />

1940 133<br />

1941 153<br />

1942 179<br />

1943 207<br />

1944 227<br />

1945 261<br />

1 9 4 6 - 1 9 4 7 305<br />

1948 345<br />

1949 377<br />

1950 415<br />

1 9 5 1 - 1 9 5 6 439<br />

1 9 5 7 - 1 9 6 4 475


1 9 6 5 - 1 9 7 0 517<br />

1 9 7 1 - 1 9 7 5 549<br />

1 9 7 6 - 1 9 7 9 573<br />

1 9 8 0 - 1 9 8 2 599<br />

I l l u s t r a t i o n e n 621<br />

F i l m o g r a p h i e 622<br />

9


Vorwort<br />

„Die Mutter hätte mich interessiert“ sagte ich zum<br />

Buchhändler, <strong>als</strong> ich im Sommer 2006 in einer Basler Buchhandlung<br />

das mit "Mein Vater" betitelte Buch von Isabella Rossellini<br />

sah. "Wer ist das?" war die Gegenfrage. Nein, von ihr<br />

gebe es – so der Computer - nichts mehr in deutscher Sprache,<br />

ich solle aber in der englischen Abteilung nachfragen. Dort<br />

bestellte ich dann Donald Spotos grossartige, englischsprachige<br />

Biographie "Notorious" und stiess anschliessend im Internet<br />

neben <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Filmographie und Curriculum vitae<br />

noch auf einige Bilder und Kommentare.<br />

Ein Überblick über die Angebotstische im Buchhandel<br />

zeigte massenhaft Bildbände und Biographien über buchstäblich<br />

Hinz und Kunz in Hollywoods Golden Age, nur über jene<br />

Film-Ikone, die dam<strong>als</strong> nicht nur ganz Amerika in Begeisterung<br />

und frenetische Aufregung versetzte, sondern die ganze Welt<br />

in ihren Bann zog; die zeitweise die bestbezahlte Frau in Hollywood<br />

war; zu gewissen Zeiten bis zu 25'000 Fanzuschriften<br />

pro Woche (!) erhielt; die selbst den kritischsten Pressestimmen<br />

Hymnen, ja: Gebete entlockte; mit der sich auch der<br />

U.S.-Senat auf wenig rühmliche Art beschäftigte... Über die, in<br />

die sich die Welt verliebte und die durch ihr eigenes Publikum<br />

von der Heiligen zur Hetäre degradiert wurde – über sie hat<br />

der Buchhandel nichts mehr in deutscher Sprache anzubieten<br />

(die übrigens ihre Muttersprache war). Als hätte es sie nie gegeben.<br />

*) Und Scherzfrage: Kannte <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> denn<br />

*) Der Verlag MOVIE ICONS ist in jüngerer Zeit mit einem sehr ansprechenden<br />

Bild-Taschenbuch in diese Lücke gesprungen. Einige der darin<br />

enthaltenen Bilder haben mir auch <strong>als</strong> Grundlage zur einen oder andern<br />

Illustration dieses Buches gedient, wofür ich mich beim Verlag TASCHEN<br />

GmbH., Köln, sehr bedanke.<br />

11


keinen Fotographen, der das Zeug gehabt hätte, einen berauschenden<br />

Bildband von ihr zu produzieren und damit noch ein<br />

paar hochwillkommene Dollars zu verdienen? Vielleicht gehen<br />

wir aber gerechterweise davon aus, dass sie selbst dieses Defizit<br />

zu verantworten hat, war ihr doch alles, was der Glorifizierung<br />

ihrer Äusserlichkeiten diente, zutiefst suspekt. Ihre Arbeit<br />

war es, auf deren Akzeptanz durch ihr Publikum sie Wert legte.<br />

Sie wusste, dass sie sich für alles, was ihre Zukunft betraf,<br />

einzig auf die Qualität ihrer Arbeit verlassen konnte. Was sie in<br />

ihren entscheidenden jungen Jahren allerdings noch zu wenig<br />

erkennen konnte, dürfte wohl der Umstand sein, mit welcher<br />

Geschwindigkeit der Filmstil ihrer Zeit durch völlig neue Strömungen<br />

verdrängt würde.<br />

Wie auch immer - für mich persönlich eine Erkenntnis,<br />

die nach Massnahmen rief. Dem wohlbekannten "Rentnerstress"<br />

zum Trotz sprang ich <strong>als</strong>o lustvoll in diese Bresche,<br />

vom Wunsch beseelt, meinem Mass aller weiblichen Dinge aus<br />

meiner Jugendzeit einen späten Gruss aus dem dritten Jahrtausend<br />

nachzusenden. So wandte ich mich nach Fertigstellung<br />

des DVD-Video-Albums "Erinnerungen an eine bezaubernde<br />

Frau“ (bildlich-musikalisches Kaleidoskop über drei sehr verschiedene<br />

Filme) der Übersetzung von Donald Spotos Biographie<br />

"Notorious" zu, wozu hier einige Anmerkungen vorab anzubringen<br />

sind.<br />

Dass ich den Titel "Notorious" ("Berüchtigt") nicht übernehmen<br />

mochte, möge mir Donald Spoto verzeihen. Er wählte<br />

den Titel eines Films, der für <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> besondere Bedeu<strong>tu</strong>ng<br />

hatte. Der deutschen Version dieser grossartigen Lebensgeschichte,<br />

die wir nun mit den Augen (und Sinnen) des<br />

21. Jahrhunderts lesen, möchte ich aber einen Titel geben, der<br />

hintergründig einen direkten, positiven Bezug zu <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s<br />

Persönlichkeit hat. Er soll nicht nur ein Licht auf ihre<br />

gnadenlose Hingabe an ihre Arbeit werfen, sondern auch an<br />

ihre lebenslange Freundschaft zu Alfred Hitchcock und an dessen<br />

oft so treffende wie typische Pr<strong>ob</strong>lemlösungen erinnern.<br />

12<br />

Das Bemühen um historische Realität und die menschli-


che Wärme in der Beurteilung eines wirklich aussergewöhnlichen<br />

Lebenslaufs, in der auch durchaus kritische Aspekte Platz<br />

haben, bestimmen die Ausstrahlung dieses Werks dominant.<br />

Dr. Donald Spoto, seines Zeichens Theologe, Philosoph, Historiker<br />

und weltbekannter Schriftsteller und Biograph, hat sich<br />

mit gigantischem Aufwand und wissenschaftlicher Akribie<br />

durch Abertausende von Dokumenten gekämpft, w<strong>ob</strong>ei er sich<br />

auf die Unterstützung zahlloser Interviewpartner und Informanten<br />

nebst einigen tatkräftigen Helfern rund um den Erdball<br />

abstützen konnte. Sein Dank an sie alle, <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Familie,<br />

Freunde, Bekannte und Insti<strong>tu</strong>tionen aus Wirtschaft, Kul<strong>tu</strong>r<br />

und Politik, zieht sich über acht Seiten der amerikanischen<br />

Originalfassung hin. Im Hinblick auf die zeitliche und geographische<br />

Distanz zu jenen Vorgängen sei mir aber erlaubt, in<br />

der deutschsprachigen Ausgabe auf eine Wiederholung dieser<br />

Aufzählungen zu verzichten.<br />

Spotos zügiger, lebhaft-sachlicher und dennoch farbiger<br />

Erzählstil führt uns ohne unnötige Umschweife, Mutmassungen<br />

und Spekulationen durch dieses hochinteressante Leben. Wenn<br />

an einigen Stellen sehr detaillierte Schilderungen zu gewissen<br />

Längen führen, ist dies der besonderen Bedeu<strong>tu</strong>ng zuzuschreiben,<br />

die der betreffende Vorgang oder Lebensabschnitt für<br />

<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> gehabt hat. Einzelne Abschnitte sind für filmhistorisch<br />

interessierte Leser von besonderem Interesse. Dann<br />

und wann sagen ein umgangssprachlicher oder herzhafter<br />

Slang-Ausdruck zwischen den Zeilen mehr <strong>als</strong> 100 Worte. Dieses<br />

sprachliche Ambiente habe ich versucht, in möglichst äquivalenter<br />

Form herüberzubringen. Dagegen habe ich einige Originalzitate<br />

und <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s rührendes Gedicht für Kay<br />

Brown in der Originalfassung belassen, sei es, weil sie in der<br />

Origin<strong>als</strong>prache filmhistorische Bedeu<strong>tu</strong>ng erlangt haben oder<br />

weil deren Übersetzung in jedem Fall zu einer erheblichen Verfälschung<br />

der ursprünglichen Ausdruckskraft der Texte geführt<br />

hätte. Ausserdem finden Sie die Bonmots und Zitate von Literaten<br />

und Prominenten jeder Couleur, die Donald Spoto dem<br />

Buch und jedem seiner Kapitel symbolhaft vorangestellt hat,<br />

hier ersetzt durch Zitate von <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> selbst oder durch<br />

13


Fremdzitate über sie, die in irgendeinem Zusammenhang mit<br />

ihrem weiteren Lebensverlauf im folgenden Kapitel stehen.<br />

Den Leserinnen und Lesern, die in der vorliegenden<br />

eBook-Ausgabe etwas nachschlagen oder nachlesen möchten,<br />

sei die Benutzung der Suchroutine (bei Ad<strong>ob</strong>e Acr<strong>ob</strong>at Reader:<br />

>Bearbeiten >Suchen resp. Eingabefeld in Werkzeugleiste<br />

<strong>ob</strong>en rechts) empfohlen, mittels welcher Sie durch Eingabe<br />

eines x-beliebigen Suchbegriffs in Sekundenschnelle an irgendeine<br />

Stelle dieser ungewöhnlichen Lebensgeschichte gelangen.<br />

Dieser Komfort ersetzt auch das umfassendste Stichwortverzeichnis.<br />

À propos: Mag man sich schliesslich fragen, was denn<br />

diese Lebensgeschichte so ungewöhnlich mache. Bestimmt all<br />

das, was <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> an extremen Höhen und Tiefen,<br />

Freude und Entsagung, an Glück und Elend, jugendlichem Eifer<br />

und reifer Vernunft am Ende ihres Lebens klaglos und ohne<br />

Bitterkeit <strong>als</strong> das verstanden und akzeptiert hat, was es war:<br />

ein hochinteressanter, gelegentlich auch dramatischer Lebensweg<br />

- das reiche, leidenschaftliche Leben einer bezaubernden<br />

Frau, die die Welt bewegen konnte.<br />

Weihnacht 2008 Hans Peter Ruegsegger<br />

14


Courtesy MOVIE ICONS -Verlag<br />

15


"Ich wusste nicht, wie ich weiterleben sollte;<br />

klar, ich lebte - wir alle überleben."<br />

1915 – 1929<br />

(<strong>Ingrid</strong> über ihre Lebenssi<strong>tu</strong>ation <strong>als</strong> 13-Jährige)<br />

ES WAR EIN HELLER, WOLKENLOSER SOMMERTAG in<br />

Stockholm. Die Sonne warf ihre langen, leuchtenden Abendstrahlen<br />

über Nybroviken, eine Bucht des Stockholmer Hafens,<br />

und die behäbigen 19.-Jahrhundert-Fassaden der Wohnhäuserreihen,<br />

welche die Küste säumten, strahlten im schräg einfallenden<br />

Abendlicht um die Wette. Die Turmglocke der Kirche im<br />

Quartier schlug eben viertelnachsechs Uhr abends am Sonntag,<br />

29. August 1915, <strong>als</strong> im <strong>ob</strong>ersten Stockwerk am Strandvägen<br />

3 eine Hebamme ins Wohnzimmer eilte, wo ein besorgter<br />

Mann durch die Fenster des 6. Stocks auf die ruhige Bucht<br />

starrte. Mutter und Kind seien wohlauf, sagte sie, und es gebe<br />

keinerlei Grund zu irgendwelcher Besorgnis. Eine halbe S<strong>tu</strong>nde<br />

später durfte der neugebackene Vater seine Frau und sein<br />

Töchterchen sehen. Jus<strong>tu</strong>s <strong>Bergman</strong> (44) und seine Frau Frieda<br />

Adler <strong>Bergman</strong> (30) beschlossen spontan, ihr Mädchen zu<br />

Ehren der zweijährigen schwedischen Prinzessin <strong>Ingrid</strong> zu nennen.<br />

Dem Kai entlang brachten Fähren Familien von ihrem<br />

Tagesausflug nach Stockholm zurück, denn die Schweden besuchen<br />

gerne ihre dänischen, norwegischen und finnischen<br />

Nachbarn. Der Weltkrieg, der im übrigen Europa herrschte,<br />

17


unterband derweil den üblichen Zustrom von deutschen Touristen.<br />

In den nahegelegenen Parks um die Königliche Oper und<br />

das Königliche Schauspielhaus wurden die jungen Damen von<br />

ihren Kavalieren zu einem Glas Sommerwein oder einer Tasse<br />

Schokolade ausgeführt und Nachbarn trafen sich zu einem<br />

Schwatz. Elegante Kaffeeorchester und einfache Strassenmusikanten<br />

spielten Walzer und volkstümliche Landmusik. Dem<br />

ganzen dreigeteilten Strandvägen entlang – einem Boulevard<br />

mit exquisiten Läden und stattlichen Apartmenthäusern – war<br />

formell-höfliche Unterhal<strong>tu</strong>ng, das Rauschen von Seidenr<strong>ob</strong>en<br />

und das Klacken von feinen Lederschuhen zu hören. Spaziergänger<br />

schlenderten tagsüber durch die Galerien und schicken<br />

Läden und bevölkerten abends die trendigen Tea-Rooms und<br />

Grill-Restaurants. Es war eben die Hochsommer-Ferienzeit und<br />

ganz Stockholm mit seinen 400'000 Einwohnern – in einem<br />

Land von 5,5 Mio. – schien es zu geniessen.<br />

Mit seiner festlichen Hochstimmung machte das Land<br />

diesen Sommer in Europa eine Ausnahme, denn die Schweden<br />

haben während des Kriegs zwar ihre politische, nicht aber ihre<br />

wirtschaftliche Neutralität bewahrt. Deutschland lieferte Kohle<br />

für schwedischen Stahl, Papier und Kugellager, ein Vorgang,<br />

der die Alliierten derart verärgerte, dass ihre gelegentlichen<br />

Blockaden zu Nahrungsmittel-Engpässen führten, die Schwedens<br />

Arme in Not brachten. Namentlich auch dieses Pr<strong>ob</strong>lem –<br />

unter andern – führte später zur Bildung einer sozialistischen<br />

Regierung.<br />

Ungeachtet des politischen Lärms, den gewisse den<br />

kriegführenden Ländern zugewandte Politiker vollführten, wurde<br />

der unprätentiöse, disziplinierte Alltag der Bevölkerung<br />

durch König Gustav V., den machtlosen, vom Volk aber verehrten<br />

und geliebten Monarchen und Prinzessin <strong>Ingrid</strong>s Vater bestimmt.<br />

Er und seine Familie liebten Oper und Theater, deren<br />

seit 1788 zur laufenden Praxis gehörende Vorführungen sie<br />

regelmässig besuchten. Schweden unterhielt die ehrwürdige<br />

Tradition der staatlich geförderten Kul<strong>tu</strong>r, die Wandertheater,<br />

Konzerte und Ausstellungen in Dörfern wie auch in Stockholm<br />

und Göteborg förderte. Weil die Pressefreiheit seit 1766 garan-<br />

18


tiert war, wurden die öffentliche Meinungsbildung und die<br />

künstlerische Experimentierfreude nie durch Zensur behindert.<br />

Am stärksten umstritten unter den Werken, die während<br />

des ersten Weltkriegs zur Aufführung gelangten, waren<br />

die des führenden Dramatikers des Landes, August Strindberg,<br />

der 1912 verstarb. Sein Werk verband ungeschminkte Leidensgeschichten<br />

mit der eindrücklichen Schilderung sozialer<br />

Pr<strong>ob</strong>leme. Beides: der extreme Realismus und der provokative<br />

Symbolismus seines Werks faszinierten das städtische Publikum<br />

in zunehmendem Masse. Gleichzeitig forderte die aufstrebende<br />

Lyrikerin Selma Lagerlöf (die erste Frau, die 1909 den<br />

Litera<strong>tu</strong>r-N<strong>ob</strong>elpreis gewann) mit den moralischen Dilemmen<br />

in ihren lyrischen Werken eine erweiterte Gesellschaftsordnung.<br />

Aber das populärste Unterhal<strong>tu</strong>ngsmedium lieferte die<br />

blühende schwedische Filmindustrie.<br />

Bis vor Kurzem galt Dänemark <strong>als</strong> die führende Nation<br />

in der Filmproduktion (ein noch keine zwei Jahrzehnte altes<br />

Medium!) und beim Einsatz von Musikern, welche die flackernden<br />

S<strong>tu</strong>mmfilme in improvisierten Vorführräumen begleiteten.<br />

In den Kopenhagener Laboratorien entwickelten sich die Kameratechnologien<br />

aber schnell, begünstigt durch die kühnen<br />

Visionen von Regisseuren wie Viggo Larsen und Benjamin<br />

Christensen, wie auch durch Schauspieltalente wie Asta Nielsen,<br />

die sowohl <strong>als</strong> Trendsetterin wie auch <strong>als</strong> tragische Heldin<br />

einen grossen Namen hatte. Diese Talente produzierten Serien<br />

von melodramatischen Filmen und lancierten damit in der Tat<br />

die Entstehung des europäischen Starwesens. Es war dann<br />

1912, <strong>als</strong> sich der schwedische Geschäftsmann Charles<br />

Magnusson drei Partner suchte, mit welchen er in Stockholm<br />

ein Unternehmen gründete, das eine erstaunliche Vielfalt von<br />

Kunstfilmen produzierte, die auch packende Unterhal<strong>tu</strong>ng boten.<br />

Innerhalb von vier Jahren hatte Schweden im internationalen<br />

Filmgeschäft die Führung übernommen, w<strong>ob</strong>ei die Konkurrenz<br />

der kriegführenden Nationen natürlich fehlte. Schwedi-<br />

19


sche Filme wurden zum erfolgreichen Exportgut – sehr zum<br />

Nutzen natürlich von Magnusson, dem die Ehre zukommt, diese<br />

Chancen erkannt und genutzt zu haben. Zusammen mit<br />

dem russisch-finnischen Theater-Regisseur Mauritz Stiller, dem<br />

schwedischen Schauspieler-Manager Victor Sjöström und dem<br />

Kameramann Julius Jaenzon übernahm er das an sich farblose<br />

Filmunternehmen Svenska Bio, das aber auf dem Weg war,<br />

internationale Anerkennung zu finden. Zwischen 1912 und<br />

1916 produzierte das Unternehmen eine ganze Reihe stark<br />

beachteter Filme, w<strong>ob</strong>ei Sjöström und Stiller dem schwedischen<br />

Film auch eine ganz neue Ausrich<strong>tu</strong>ng gaben.<br />

So stellten Filme 1915 im geschäftigen Stockholm wohl<br />

das populärste Unterhal<strong>tu</strong>ngsmedium dar. Da konnte es auch<br />

nicht verwundern, dass dieser Erfolg von einem wilden S<strong>tu</strong>rm<br />

sowohl auf Fotoapparate wie Filmkameras und Heimprojektoren<br />

für jedermann begleitet war. Die Leute, die es sich leisten<br />

konnten, sparten allgemein Geld für diese Anschaffungen zusammen.<br />

IN DIESER BEZIEHUNG war <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Vater ein<br />

glücklicher Mann. Er wurde im Mai 1871 in der südschwedischen<br />

Provinz Kron<strong>ob</strong>erg <strong>als</strong> Sohn von Johan Petter <strong>Bergman</strong>,<br />

einem renommierten Organisten, Lehrer und Musiker geboren,<br />

der seinen 14 Kindern eine lebenslange Leidenschaft für Musik<br />

mitgab. Das dreizehnte Kind, Jus<strong>tu</strong>s, wollte Künstler werden.<br />

Er verliess das Elternhaus mit fünfzehn Jahren, arbeitete <strong>als</strong><br />

Ladengehilfe und erh<strong>ob</strong> sich jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe,<br />

um etwas Zeit an der Staffelei verbringen zu können.<br />

Jus<strong>tu</strong>s konnte die Bekanntschaft des Malers Anders Zorn machen,<br />

der ihm kostenlosen Unterricht anbot, unter der Bedingung<br />

allerdings, dass er für seinen Unterhalt selbst aufkomme.<br />

Im Spätjahr 1889 waren Jus<strong>tu</strong>s' Mittel aber aufgebraucht,<br />

weshalb er nach Chicago emigrierte, wo die Schwester seiner<br />

Mutter mit ihren Kindern lebte und wo er auch bald eine Anstellung<br />

<strong>als</strong> Dekorateur für eine neue Hotelkette fand. Er war<br />

dam<strong>als</strong> ein grosser, hübscher, blauäugiger junger Mann mit<br />

20


angenehmer Ausstrahlung, ein zwar etwas unordentliches aber<br />

dennoch attraktives Individuum, das ein berühmter Maler oder<br />

Opernstar werden wollte und immer noch hoffte, dieses Ziel<br />

irgendwie zu erreichen.<br />

Nach zehn Jahren kehrte Jus<strong>tu</strong>s nach Stockholm zurück<br />

und eröffnete ein Geschäft <strong>als</strong> Kunsthändler. Dieses brachte<br />

aber kaum das Nötigste zum Leben ein, weshalb Jus<strong>tu</strong>s bald<br />

darüber nachsann, sich <strong>als</strong> Impresario zu betätigen. Ein guter<br />

Rat kam dann aber von Jus<strong>tu</strong>s' Cousin, dem bekannten<br />

Stimmbildner Karl Nygren. Nachdem er privaten Mal- und Gesangunterricht<br />

genossen hatte, erhielt Jus<strong>tu</strong>s von Nygren die<br />

Gelegenheit, von Okt<strong>ob</strong>er 1903 bis März 1906 <strong>als</strong> Chorleiter<br />

einen Chor auf Amerika-Tournée zu begleiten, der schwedischamerikanische<br />

Gemeinden in Minnesota, Wisconsin, Illinois und<br />

Maine besuchte. Von diesem Abenteuer kam er zwar begeistert<br />

aber praktisch mittellos zurück, sodass er gelegentlich sogar<br />

auf die Gastfreundschaft seines Bruders und seiner Schwägerin<br />

Otto und Hulda <strong>Bergman</strong> (die mit einer Anzahl Kinder in ihrer<br />

bereits überbelegten Stockholmer-Wohnung lebten) angewiesen<br />

war, oder auch auf die Hilfe seiner ledigen Schwester, der<br />

frommen und gebrechlichen Ellen <strong>Bergman</strong>, die an einem angeborenen<br />

Herzfehler litt, zurückgreifen musste.<br />

Jus<strong>tu</strong>s hätte sein Leben <strong>als</strong> kämpfender Ästhet wohl<br />

noch fortsetzen können. Gegen Ende 1906 im Alter von 35<br />

Jahren wuchs in ihm aber der Wunsch heran, ein hübsches,<br />

rundliches deutsches Mädchen namens Frieda Adler zu heiraten.<br />

Vor sechs Jahren hatte er sie kennengelernt <strong>als</strong> sie mit<br />

ihren Eltern aus Kiel die Ferien in Schweden verbrachte. Frieda<br />

war im September 1884 in Kiel geboren und kam mit 16 erstm<strong>als</strong><br />

nach Stockholm, wo sie bei einem Nachmittagsspaziergang<br />

im Park den Sketchkünstler Jus<strong>tu</strong>s <strong>Bergman</strong> sah. Dieser<br />

war ihrer sanften Art, ihren faszinierenden und verführerischen<br />

dunkeln Augen und ihrem auffällig gesunden Menschenverstand<br />

auf der Stelle verfallen. In diesem Frühjahr 1900 blühte<br />

diese Romanze mit dem Flieder. Jus<strong>tu</strong>s sprach schon deutsch<br />

und brachte Frieda nun elementare Schwedischkenntnisse bei.<br />

Aber Friedas Eltern waren hartnäckig und liessen nicht zu, dass<br />

21


ihre Tochter einen erfolg- und mittellosen Quasi-Künstler heiratete.<br />

Sie musste eine gute Partie machen, wie ihre beiden<br />

ältern Schwestern Elsa und Luna. Jus<strong>tu</strong>s gelang es dann, bei<br />

einem Apparatehersteller eine Stelle zu finden, die ihm ermöglichte,<br />

auf ein respektables Gehalt hinzuarbeiten. So beeindruckte<br />

er die Adlers durch seine Strebsamkeit in der Weise,<br />

dass sie bei seinem vierten Besuch in Kiel im Frühjahr 1907,<br />

bei dem er um Friedas Hand anhielt, ihren Widerstand aufgaben.<br />

Siebenjähriges Werben – mussten sie zugeben – war kein<br />

Zeichen für eine kurze und <strong>ob</strong>erflächliche Leidenschaft, und<br />

kam dazu, dass Jus<strong>tu</strong>s jetzt doch über respektable Rücklagen<br />

verfügte.<br />

Als <strong>Ingrid</strong> viele Jahre später die Briefe las, die ihre Eltern<br />

während dieser langen "Verl<strong>ob</strong>ungs"-Zeit ausgetauscht<br />

hatten, gewann sie den Eindruck, dass sie ein Musterbeispiel<br />

an Gegensätzen waren. Ihre Mutter, sagte sie, sei "typisch<br />

deutsch, extrem praktisch veranlagt, systematisch und ordnungsliebend<br />

gewesen. Aber ihr Vater hatte alle Züge eines<br />

Künstlers und Bohémiens. Er war es, der alle Kompromisse<br />

einging, die diese Heirat erforderte. Gegen seine Na<strong>tu</strong>r wurde<br />

er zum Geschäftsmann", und sein Entscheid, dessen war sie<br />

sich sicher, liess ihn vieles bedauern, worauf er so eben verzichten<br />

musste. Eine seiner späteren Mitarbeiterinnen nannte<br />

ihn etwas weniger prosaisch "einen Träumer".<br />

Die Neuvermählten kehrten nach Stockholm zurück, wo<br />

Jus<strong>tu</strong>s bald eine Stelle in einem Geschäft fand, das Künstler<br />

und Fotografen belieferte. Aber er gab weder seine kreativen<br />

Interessen noch seine fixe Idee, ein Künstler zu sein, auf. Nach<br />

jemandem, der ihn kannte, "war er eine stadtbekannte Figur,<br />

ein netter und fröhlicher Geselle, den man in jeder Menschenmenge<br />

sofort an seinem hohen Künstlerhut erkennen konnte.<br />

Frieda posierte mehrm<strong>als</strong> geduldig für ihn und er selbst begleitete<br />

sich regelmässig am Klavier, wenn er schwedische und<br />

deutsche Balladen schmetterte.<br />

Frieda hatte 1908 einen Abor<strong>tu</strong>s und vier Jahre später<br />

wurde ihr frühgeborenes Kind nur eine Woche alt. Aber sie war<br />

22


eine disziplinierte Seele, gewohnt, ihre Emotionen zu unterdrücken<br />

und sie schien so vernünftig-pragmatisch zu sein, wie ihr<br />

Gatte lyrisch-romantisch. Als Jus<strong>tu</strong>s wochenlang an einem<br />

Herzpr<strong>ob</strong>lem litt, gestattete sich seine Frau weder Selbstmitleid<br />

noch jedwelche sonstigen Klagen. Immer pflichtbewusst,<br />

erfüllte sie all' die Aufgaben, für die sie von ihrer Mutter erzogen<br />

wurde. Frieda führte einen makellosen Haushalt, führte die<br />

Haushaltkasse und <strong>als</strong> erstklassige Köchin, die sie war, versorgte<br />

sie Jus<strong>tu</strong>s und sich mit reichhaltiger und deftiger deutscher<br />

Küche. Während Jus<strong>tu</strong>s ein seiner Einmeterneunzig-<br />

Sta<strong>tu</strong>r angemessenes Gewicht hielt, verlor sie an Gewicht. Ihre<br />

gelegentlichen Magenschmerzen schienen die logische Folge<br />

kulinarischer Zügellosigkeiten zu sein und verlangten während<br />

den folgenden Tagen ein spartanischeres Regime.<br />

Als <strong>Ingrid</strong> geboren wurde, hatte Jus<strong>tu</strong>s <strong>Bergman</strong> es bereits<br />

geschafft, am Strandvägen sein eigenes Fotogeschäft zu<br />

führen – und Kameras waren nun im filmverrückten Stockholm<br />

der Renner. Auch die etwas teureren Filmkameras, nun auch<br />

für den Amateur erschwinglich geworden, waren auf dem<br />

Markt, und Jus<strong>tu</strong>s, der ein neues Modell nach dem andern<br />

nachhause mitnahm, füllte leidenschaftlich Albums mit Fotos<br />

und Filmdosen mit endlosen Filmen von seiner Frau, seinen<br />

Brüdern und Schwestern, wie auch mit dokumentarischen Hafenmotiven.<br />

Immer professionellere Ausrüs<strong>tu</strong>ngen wurden den<br />

<strong>Bergman</strong>s zugänglich, <strong>als</strong> Papa Direktor von Konstindustri,<br />

einer Produktionsfirma für technische Ausrüs<strong>tu</strong>ngen für Kunst,<br />

Fotografen und die Filmindustrie wurde. "Wir waren nicht reich,<br />

aber wir lebten komfortabel" sagte <strong>Ingrid</strong> Jahre später, und<br />

Vater habe es sich leisten können, auch seinen H<strong>ob</strong>bies zu frönen:<br />

so belastete das Opern-Saisonabonnement für sich und<br />

seine Frau das Budget nicht mehr <strong>als</strong> die neueste Kamera.<br />

Später umgab sich <strong>Ingrid</strong> stets mit eingerahmten Fotografien<br />

von sich selbst und ihrer Familie. Nach Jahren fand sie<br />

auch jene vierzehn Minuten Heimkino, das einzige Stück, das<br />

den schnellen Zerfall überlebt hatte, dem die frühen Filmqualitäten<br />

jener Zeit ausgeliefert waren. In der ganzen Sammlung<br />

ist niemand so häufig zu sehen, wie das Kind <strong>Ingrid</strong>, das sich<br />

23


schon dam<strong>als</strong> in einer Vielzahl von Kostümen präsentierte,<br />

während Vaters Apparate klickten und surrten. Dank ihres Vaters<br />

war sie schon in ihrer Kindheit vielleicht das meistfotografierte<br />

Kind Schwedens. An ihrem ersten Geburtstag stand sie<br />

locker und lächelnd vor Papas Kamera und winkte mit den<br />

Händchen in freudiger Erregung über die ihr zuteilwerdende<br />

Aufmerksamkeit. Zu Weihnachten 1917, sie war dam<strong>als</strong> zweijährig,<br />

fotografierte Jus<strong>tu</strong>s sie und Frieda auf der Treppe zum<br />

Königlichen Theater, in nächster Nähe zu ihrem Heim.<br />

Zu Beginn des Jahres 1918 wurde die fröhliche Routine<br />

des <strong>Bergman</strong>-Haushalts jäh unterbrochen. Mit Fieber und<br />

Übelkeit musste Frieda für ein paar Tage das Bett hüten. Zunächst<br />

dachte niemand, sie leide unter mehr <strong>als</strong> einem neuen<br />

"Magensäure-Anfall", der üblichen Diagnose einer Befindlichkeit,<br />

die nachgerade chronisch wurde, speziell nach den üppigen<br />

Mahlzeiten der Ferienzeit. Aber am zwölften Januar war sie<br />

in einer ununterbrochenen Agonie, und um <strong>Ingrid</strong> diesen Anblick<br />

zu ersparen, wurde sie zu Onkel Otto und Tante Hulda<br />

mit ihren Kindern geschickt.<br />

Friedas Zustand verschlechterte sich mit jeder S<strong>tu</strong>nde,<br />

ihr Gesicht verfärbte sich gelb, sie erbrach sich heftig und litt<br />

unter starken Bauchschmerzen. Der herbeigerufene Arzt diagnostizierte<br />

eine Gallenblasenerkrankung und wies sie unverzüglich<br />

ins Spital ein. Aber noch während ihr Transfer organisiert<br />

wurde fiel sie ins Koma. Am Donnerstag, 18. Januar wurde<br />

ihr Atem sehr schwach und unregelmässig. Nach einem<br />

zermürbenden Kampf während des ganzen folgenden Tages<br />

starb Frieda <strong>Bergman</strong> am Freitag um zehn Uhr abends ohne<br />

das Bewusstsein wieder erlangt zu haben. Sie war 33 Jahre alt.<br />

"Ich kann mich an meine Mutter überhaupt nicht erinnern",<br />

sagte <strong>Ingrid</strong> oft. "Vater filmte mich auf ihrem Schoss <strong>als</strong><br />

ich jährig war, und dann wieder mit zwei Jahren – und mit drei<br />

Jahren filmte er mich, wie ich Blumen auf ihr Grab legte." Diese<br />

kurze, spezielle Friedhofszene, die auf Film überlebt hat,<br />

mag Jus<strong>tu</strong>s <strong>Bergman</strong>s Art gewesen sein, wie er sein H<strong>ob</strong>by<br />

nutzte, um mit seinem Schmerz fertig zu werden, der ihn wäh-<br />

24


end Monaten in eine schwere Depression stürzte. Aber sein<br />

Zeitvertreib hatte eine seltsame Folgeerscheinung, denn während<br />

ihrer Kindheit wurde <strong>Ingrid</strong> umgeben von Fotos ihrer Mutter,<br />

die letztlich nichts weiter <strong>als</strong> ein Schwarzweissbild war und<br />

blieb – und deren Abwesenheit dadurch erst richtig betont<br />

wurde. Als <strong>Ingrid</strong> das Schulalter erreichte, begriff sie erstm<strong>als</strong><br />

so richtig, wie sehr sie sich von andern Kindern unterschied:<br />

Da fehlte jemand, der nach den Gesetzen des Lebens hier sein<br />

müsste. Und je mehr die Familie versuchte, ihr einen Ausgleich<br />

für die fehlende Mutterliebe zu bieten, desto heftiger empfand<br />

sie den Mangel.<br />

PAPAS FILMEREI BESCHÄFTIGTE IHN während dieses<br />

ganzen Sommers von 1918. An ihrem dritten Geburtstag wurde<br />

<strong>Ingrid</strong> eine kleine Violine in die Hand gelegt. Ohne Umstände<br />

begann sie, einen Vir<strong>tu</strong>osen zu mimen, w<strong>ob</strong>ei sie allerdings<br />

nicht auf das Instrument, sondern unverwandt in die Kamera<br />

blickte. An ihrem vierten Geburtstag schnappte sich <strong>Ingrid</strong> –<br />

ein lebhaftes Kind mit honigblondem Haar und wachen blauen<br />

Augen – Grossmutter Adlers Brille und Hut und bot eine äusserst<br />

lustige Imitation einer deutschen Witwe. Während des<br />

Sommers wurde <strong>Ingrid</strong> dabei gefilmt, wie sie Brotkrumen an<br />

die Vögel verfütterte oder im nahegelegenen Berzelius-Park<br />

ihren Lutscher bearbeitete. An den wenigen hellen Winternachmittagen<br />

filmte sie Jus<strong>tu</strong>s, wie sie richtig süss in einen<br />

flauschigen Anzug verpackt unter einer hübschen Wollmütze<br />

hervorlachte. Und so wurde ein Star geboren und grossgezogen.<br />

"Mit zunehmendem Alter ermutigte er mich, mich zu<br />

verkleiden und kleine Gags zu improvisieren" erinnerte sich<br />

<strong>Ingrid</strong> an ihren Vater, der sich beim Fotografieren oft rasch<br />

neben sie stellte – eben ein Schauspieler und Regisseur! Doch<br />

die Familie befand, dass ein Kind einen Mutterersatz brauche.<br />

So traf im späten Frühjahr 1918 Jus<strong>tu</strong>s' Schwester Ellen in der<br />

Wohnung am Strandvägen ein. Eine kleine, kräftige ledige<br />

Dame von 49 Jahren, die ihr Leben mit der Pflege von kranken<br />

25


oder unpässlichen Verwandten verbrachte und sich mit wohltätiger<br />

Arbeit für die Lutherischen Gemeinden einsetzte. Doch<br />

dieses Jahr zwangen sie Herzbeschwerden, bei einigen ihrer<br />

strengeren kirchlichen Aufgaben kürzer zu treten. So widmete<br />

sie sich grosszügig und aufopfernd ihrem Bruder und ihrer<br />

Nichte mit Nähen, Kochen und Putzen.<br />

Was Wunder <strong>als</strong>o, dass <strong>Ingrid</strong> Tante Ellen bald Mama<br />

nannte, was sie an einem kirchlichen Anlass in einige Verlegenheit<br />

stürzte, weil man Fräulein <strong>Bergman</strong> dort nur <strong>als</strong> ledige<br />

Dame kannte. Das nächste Pr<strong>ob</strong>lem für Tante Ellen hatte seinen<br />

Grund in den Kapriolen, die Jus<strong>tu</strong>s und <strong>Ingrid</strong> bei ihren<br />

kleinen Pantomimen für die Kamera vollführten. Zur eigenen<br />

Freude und der jener, die zuhören wollten, erfand <strong>Ingrid</strong> während<br />

ihrer Kindheit eine Reihe lustiger Charaktere und Spielgefährten<br />

– einen Heiligen, eine Hexe, einen Hässlichen, einen<br />

Erzieher, ein Kind, einen Esel oder eine Schildkröte. Für Ellen<br />

<strong>Bergman</strong> hatten diese Kapriolen etwas mit Schauspielerei zu<br />

<strong>tu</strong>n und Schauspielerei war das Werk gottloser Seelen: ein<br />

gutes Leben war für Ellen ein seriöses Leben und nicht eines<br />

von Imitation und Angeberei.<br />

DEN SOMMER 1918 – und wenigstens einen Teil jedes<br />

Sommers während den folgenden Jahren – verbrachte <strong>Ingrid</strong><br />

bei ihren Grosseltern Adler in Deutschland. Jus<strong>tu</strong>s pflegte <strong>Ingrid</strong><br />

jeweils nach Hamburg oder Kiel zu bringen und einen Tag<br />

dort zu bleiben. Dann küsste er seine Tochter bye bye, winkte<br />

seinen "Angeheirateten" zu und verschwand in Rich<strong>tu</strong>ng Paris,<br />

London oder Kopenhagen. Ihr Vater wollte sicher nur das Beste<br />

für sein Kind, das er im Schosse einer grösseren Familie geborgen<br />

wissen wollte. Aber mit jedem weiteren Sommer fühlte<br />

sich <strong>Ingrid</strong> bei der Ankunft bei ihren Grosseltern verlassener<br />

und verlorener. Während ihr Vater ein unkomplizierter, fröhlicher<br />

Mensch war, war der Adler Haushalt ein Tempel teutonischer<br />

Ordnung und Sauberkeit. <strong>Ingrid</strong> war unglücklich mit der<br />

strikten Disziplin, den Spannungen, die ihr kindliches Verhalten<br />

auslöste und überhaupt mit der ganzen Fremdartigkeit des<br />

häuslichen Regimes im Vergleich zum Leben am Strandvägen.<br />

26


Die Begegnungen mit Mutters Schwestern Elsa und Luna<br />

waren angenehmer. Beide hatten gute Partien gemacht,<br />

aber Lunas Leben war vom Verlust ihres Ehemannes überschattet,<br />

der im Krieg gefallen war. Elsa – die von <strong>Ingrid</strong> "Tante<br />

Mutti" genannt wurde – war die Einzelgängerin im Adler-<br />

Clan. Ihr Mann war ein französischer Unternehmer, der, wenn<br />

er vom fruchtbaren Boden der Karibik und den billigen Arbeitskräften<br />

hörte, sofort Berge von Kaffee und Tonnen von Geld<br />

roch. Als <strong>Ingrid</strong> ihre Jungmädchen-Ferien in Deutschland verbrachte,<br />

war Tante Muttis Ehemann mit der Überwachung seiner<br />

Plantagen in Haiti und Jamaica und der Bewunderung der<br />

exotischen Frauen beschäftigt. Elsa ihrerseits führte in ihrem<br />

ummauerten Anwesen ausserhalb Hamburgs ein Leben in extremem<br />

Luxus, und ihren kleinen Stab von Bediensteten führte<br />

sie wie ein Drill-Sergeant. Dass diese Ehe definitiv in Brüche<br />

ging, <strong>als</strong> der ältere von Elsas beiden Söhnen auf Haiti an einem<br />

tropischen Fieber starb, wunderte niemanden in der Familie.<br />

So wurde Mutti Adler während fast zwanzig Jahren ihres<br />

Lebens zu <strong>Ingrid</strong>s Teilzeit-Ersatzmutter neben Tante Ellen. Sie<br />

brachte <strong>Ingrid</strong> gutes Deutsch bei, sie ermunterte sie, kurze<br />

deutsche Lyrik zu lesen, auswendig zu lernen und zu rezitieren<br />

und deutsche Lieder zu singen, alles sicher auch zur Freude<br />

ihres Vaters, wenn er sie am Ende des Sommers wieder nachhause<br />

zurückholte. Die Rückkehr bedeutete natürlich auch die<br />

Rückkehr zum ruhigeren, farbloseren Tagesverlauf mit Tante<br />

Ellen, umsomehr <strong>als</strong> sich Jus<strong>tu</strong>s in zunehmendem Masse in die<br />

Arbeit und das gesellschaftliche Leben stürzte. So lebte <strong>Ingrid</strong><br />

<strong>Bergman</strong> in ihren jungen Jahren schon unter sehr widersprüchlichen<br />

Einflüssen: Während eines Teils des Jahres genoss sie<br />

eindeutige Privilegien und das Spiel mit der Schauspielerei bei<br />

ihrer deutschen Tante – was aber nach ihrer Rückkehr an den<br />

Strandvägen von ihrer schwedischen Tante verschmäht wurde.<br />

Im Zentrum der ganzen Entwicklung stand ihr Vater,<br />

dessen Leben sich dramatisch veränderte <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> siebenjährig<br />

war. Um Ellen etwas von ihren Pflichten zu entlasten engagierte<br />

Jus<strong>tu</strong>s ein lebensfreudiges Mädchen namens Greta Danielsson,<br />

das an einigen Tagen pro Woche im Haushalt mitar-<br />

27


eitete. Innerhalb eines Monats war sie täglich da und wenig<br />

später blieb sie auch über Nacht und teilte Jus<strong>tu</strong>s' Bett und<br />

Tisch. Diesen Sommer 1922 war er einundfünfzig und sie achtzehn.<br />

<strong>Ingrid</strong>, die es nun mit einer dritten, viel jüngeren Mutterfigur<br />

zu <strong>tu</strong>n bekam, hatte ein komfortables Heim, hübsche<br />

Kleider und was sie wollte zu essen. Aber ausser ihrem Vater<br />

hatte sie nur ein Gewirr von sehr unterschiedlichen, disharmonischen<br />

Beziehungen. Ellen war aufmerksam, fürsorglich, humorlos<br />

und streng wie eine Klosterfrau, Mutti hatte Mühe mit<br />

dem Versmass, kämpfte um eine weitere Tasse Schokolade<br />

und noch ein Stück Kuchen; Greta hielt bei Tisch Jus<strong>tu</strong>s' Hand<br />

und kicherte aus keinem ersichtlichen Anlass.<br />

Tante Ellen, die sich für ihren Bruder und seine Konkubine<br />

entsetzlich schämte, zog bald zurück in ihre kleine Wohnung<br />

drei Blöcke nebenan. Sie erschien aber jeden Sonntag<br />

Morgen, um <strong>Ingrid</strong> aus ihrem gemütlichen Bett oder Nichts<strong>tu</strong>n<br />

herauszureissen, und blies ihr den Marsch in Rich<strong>tu</strong>ng Gottesdienst<br />

in der Gemeindekirche (die übrigens nach Hedwig Eleonora,<br />

der Gattin König Karl X. Gustav benannt war). Dort<br />

prangte über dem Altar ein dunkles, bedrückendes Bild von<br />

Jesus am Kreuz und ein anderes, wie er von Pila<strong>tu</strong>s zum Tod<br />

verurteilt wird, hing unter der Orgelgalerie.<br />

In der Kanzel stand jeden Sonntag Pfarrer Erik <strong>Bergman</strong>,<br />

der mit <strong>Ingrid</strong>s Familie aber nicht verwandt war. Im Juli<br />

1918 gebar Pfarrer <strong>Bergman</strong>s Frau Karin einen Jungen, den sie<br />

Karl Ingmar nannten und der ebenfalls in früher Kindheit mit<br />

den Wundern des Films bekanntgemacht wurde und mit dramatischen<br />

Eindrücken des Gemeindelebens aufwuchs. Pastor<br />

<strong>Bergman</strong>s Predigten betonten – sehr zu Ellens Genug<strong>tu</strong>ung –<br />

"spezifische Fragen der Beziehung zwischen Kind und Eltern<br />

und Gott", womit Ehre, Anstand, Gehorsam und ein strenger<br />

Moral-Kodex, der Sünde und Schuld, Reue und Sühne betraf,<br />

gemeint waren (was Ingmar bestätigte).<br />

Während einer kurzen Zeit in ihrer Jugend, speziell<br />

nachdem sie von Pastor <strong>Bergman</strong> konfirmiert war und sich<br />

28


praktisch ausschliesslich in Tante Ellens Gesellschaft bewegte,<br />

zeigte dieser <strong>ob</strong>skure Einfluss auch die vorhersehbare Wirkung<br />

in einer Art frömmelnder Religiosität <strong>Ingrid</strong>s. Aber da ihr Vater<br />

diesen Dingen völlig gleichgültig gegenüberstand, wurde dieser<br />

Einfluss zuhause nicht unterstützt. Im Gegenteil, mit Papa und<br />

Greta schien alles aufs Angenehmste zu laufen, Freizeitaktivitäten<br />

wurden nach Lust und Laune geplant, nichts war zementiert<br />

– und nichts erinnerte an die strengen lutherischen Wertvorstellungen.<br />

Zu Tante Ellens Entsetzen ging Greta sogar so<br />

weit, <strong>Ingrid</strong> ins Kino mitzunehmen, was für eine Frau wie Ellen<br />

<strong>Bergman</strong> soviel bedeutete, wie das Kind in die Gosse zu führen.<br />

Zum Beispiel 1922 sassen die beiden zweimal durch<br />

Victor Sjöströms neuen Film "Love's Crucible" (Schmelztiegel<br />

der Liebe), ein S<strong>tu</strong>mmfilm über ein mittelalterliches Thema, in<br />

dem eine Frau des Mordes an ihrem Mann angeklagt war. Sie<br />

stirbt auf dem Scheiterhaufen, hört himmlische Stimmen und<br />

erkennt ekstatisch ihren toten Mann, der sie ins Paradies führt.<br />

Das Orchester im Theater sandte Wellen rhapsodischer<br />

Musik über Greta und <strong>Ingrid</strong>, deren weit aufgerissene Augen<br />

an den zauberhaften Effekten der getönten Bilder hingen, in<br />

welchen durch Doppelbelich<strong>tu</strong>ng die verzehrenden Flammen<br />

mit dem ekstatischen Blick der Sterbenden verschmolzen. Story<br />

und Script des Films entstanden eindeutig in Anlehnung an<br />

eines der diesjährigen Hauptfilmthemen: Die Verurteilung und<br />

der Tod von Jeanne d'Arc, die unlängst heiliggesprochen wurde<br />

und deren neuer Sta<strong>tu</strong>s <strong>als</strong> Heilige auch zum Symbol nationaler<br />

Frömmigkeit nach Kriegsende wurde. Bilder der heiligen<br />

Jeanne, Theaterstücke, Filme, Gebete, Bücher und Pamphlete<br />

über sie überschwemmten Europa in den Zwanzigerjahren.<br />

Diese Verehrung erreichte ihren Höhepunkt 1929 mit Carl<br />

Dreyer's packendem Meisterwerk "Das Martyrium der Jeanne<br />

d'Arc". Das neunzehnjährige Bauernmädchen, das 1431 starb,<br />

wurde den christlichen Mädchen <strong>als</strong> leuchtendes Beispiel für<br />

Glaube, Mut und Treue vorgegeben.<br />

29


"Seit ich ein kleines Mädchen war, war sie meine grösste<br />

Heldin", sagte <strong>Ingrid</strong> viel später, die dam<strong>als</strong> Jeanne d'Arc<br />

sofort ihren geliebten Theaterfiguren zugesellte. "Sie hatte in<br />

meinem Herzen einen ganz speziellen Platz, und anstatt<br />

Schmetterlinge oder Briefmarken zu sammeln, begann ich<br />

mich nach Dingen um Jeanne d'Arc umzusehen und Bücher,<br />

Medaillen und Sta<strong>tu</strong>etten von ihr zu sammeln." Es fällt in der<br />

Tat nicht schwer, diese Beziehung zu verstehen. Jeannes frühe<br />

Lebensumstände betonten ihre Einsamkeit, die überzeugte<br />

Wahrnehmung einer inneren Stimme und dann die Sicherheit<br />

im Auftreten gegenüber andern, der eigenen Schüchternheit<br />

zum Trotz. "Sie wurde zur Gestalt, die ich am liebsten spielte.<br />

Auch sie war ein schüchternes Kind, aber auch voll Würde und<br />

Mut." Der Anfang dieser lebenslangen Verehrung fiel zeitlich<br />

zusammen mit <strong>Ingrid</strong>s vorübergehender Gewohnheit, mit Tante<br />

Ellen zur Kirche zu gehen. Während ihre Verehrung für<br />

Jeanne von Dauer war, traf dies für den Kirchgang nicht zu.<br />

UND SO ERGAB ES SICH, dass <strong>Ingrid</strong>s Liebe zur Heiligen<br />

vom ersten Schultag an wuchs. Am 1. September 1922 –<br />

drei Tage nach ihrem siebenten Geburtstag – trat sie in die<br />

erste Klasse des Mädchen-Lyzeums an der Kommendörsgatan<br />

13 ein, das sie in angenehmen 15 Gehminuten erreichte. An<br />

diesem Tag traf <strong>Ingrid</strong> Ebba Högberg, ihre Klassenlehrerin, die<br />

sie und ihre 19 Kameradinnen mit den Traditionen der Schule<br />

und dem S<strong>tu</strong>ndenplan für jeden Tag vertraut machte. Das Lyzeum,<br />

das Mädchen von der ersten Klasse bis zur S<strong>tu</strong>dienvorberei<strong>tu</strong>ng<br />

führte, betreute im laufenden Schuljahr 385 Schülerinnen,<br />

von welchen 238 die Primars<strong>tu</strong>fe besuchten.<br />

Die Hauptaufgabe der Schule – ihrem neuesten Prospekt<br />

zufolge – bestehe nicht nur in der Vermittlung theoretischen<br />

Wissens an die S<strong>tu</strong>denten, sondern auch in der Charakterschulung.<br />

Vielleicht ist es das, was ihr Gründer, Dr. Gustaf<br />

Sjöberg vor Augen hatte, <strong>als</strong> er der Schule den Namen einer<br />

griechischen Erziehungs-Insti<strong>tu</strong>tion gab, die den gesunden<br />

Geist im gesunden Körper anstrebte und den jungen Menschen<br />

30


die Lehre der grossen Philosophen mit ihren gesunden Lebensansichten<br />

nahebringen wollte. In diesem Sinne hatten die<br />

Schüler der ersten Klasse schon ein intensives Spektrum an<br />

Fächern zu bewältigen. Täglich wurde biblische Geschichte,<br />

Schwedische Sprache, Deutsch (worin <strong>Ingrid</strong> brillierte),<br />

Schwedische Geschichte bis 1389 und skandinavische Geografie<br />

(wo sie nicht brillierte), Arithmetik, Handschrift, Zeichnen,<br />

Singen, Nähen und Gymnastik unterrichtet.<br />

Das Lyzeum, ein klassizistischer, fünfstöckiger Baukörper<br />

mit vielen kleinen Winkeln für Klassenzimmer, vermittelte<br />

deutlich den Anspruch seiner Gründer und Verwalter auf Disziplin<br />

und Ordnung. Die Mädchen sassen auf harten, unbequemen<br />

Stühlen und ihre Arbeit wurde von spärlich-geizigem<br />

Licht aus einigen kränklich-gelben Glaskegeln beleuchtet. In<br />

dieser Atmosphäre – so verschieden von Tante Muttis prachtvollem<br />

Anwesen in Deutschland und der gemütlichen Geborgenheit<br />

in ihres Vaters Wohnung – drückte <strong>Ingrid</strong> vom Herbst<br />

1922 bis Frühjahr 1933 die Schulbank. Danach wurde ihr Lehrplan<br />

nach und nach erweitert um Biologie, Chemie, Französisch<br />

und Kochen; das lausigste Resultat von all diesen Fächern erzielte<br />

sie im letzten. Mit der Stricknadel erreichte sie Expertenniveau,<br />

aber wie leicht die Aufgabe auch gestellt sein mochte,<br />

die Kochkunst lag völlig jenseits ihrer Fähigkeiten. Französisch<br />

und Deutsch bestand sie gut, aber die Wissenschaften langweilten<br />

sie und so versagte sie auch darin dann und wann. Im<br />

übrigen zeigen <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Rapporte, dass sie ihre Primarschulzeit<br />

gut bestanden hat. Um kontraproduktive Konkurrenz<br />

zu vermeiden, wurden Lyzeumsschüler weder benotet<br />

noch erhielten sie irgendwelche Anerkennungen oder Preise.<br />

Aber während dieser ganzen Primarschulzeit war sie<br />

kein glückliches Kind. "Ich erinnere mich so gut daran, wie ich<br />

nach Schulschluss draussen zusah, wie die Mütter ihre Kinder<br />

abholten. Die Mütter waren für mich sehr hübsch, alle parfümiert<br />

und gut angezogen mit ihren aparten Hüten. Ich stand<br />

einfach dort und sah zu, wie sie zusammen weggingen. Erst<br />

dann begab ich mich selbst nachhause."<br />

31


1924, kurz vor <strong>Ingrid</strong>s neuntem Geburtstag, gab Jus<strong>tu</strong>s<br />

<strong>Bergman</strong> seine Wohnung am Strandvägen auf um ein grösseres<br />

Heim an der Ulrikagatan, einer angenehmen Wohnstrasse<br />

in Parknähe, zu ziehen. <strong>Ingrid</strong> benutzte nun die Strassenbahn<br />

zum Lyzeum, und <strong>als</strong> sie eines Tages von der Schule kam, hatte<br />

ihr Vater eine – wie er meinte – hervorragende Nachricht für<br />

sie. Er hatte den Auftrag erhalten, einen gemischten Chor von<br />

Amateursängern – "Die Schweden", wie sie sich gemeinhin<br />

nannten - <strong>als</strong> Leiter auf eine Amerika-Tournée zu begleiten, die<br />

sie durch drei amerikanische Städte führen sollte.<br />

Für seine Tochter war das die Katastrophe schlechthin:<br />

sie hatte Angst, ihr Vater würde nicht zurückkehren, er würde<br />

auf der Seereise umkommen – kurz: sie würde ihren Vater<br />

verlieren. Was Greta betraf, konnte sie Jus<strong>tu</strong>s nicht begleiten,<br />

denn verwitwete Herren mit jungen Mätressen konnten<br />

Schweden im Ausland nicht gut vertreten. Als sich Jus<strong>tu</strong>s zu<br />

Beginn des Jahres 1925 verabschiedete, war <strong>Ingrid</strong> einsamer<br />

denn je in ihrem ganzen Leben. Zwei Wochen später trat Greta<br />

einen J<strong>ob</strong> am andern Ende der Stadt an und meinte bei ihrem<br />

Abschied, sie werde wohl Filmschauspielerin. <strong>Ingrid</strong> verbrachte<br />

die Zeit von Papas Abwesenheit bei Onkel Otto und Tante Hulda<br />

und deren fünf Kindern Bill, Bengt, Bo, Britt und Margit;<br />

diese Cousins waren im Alter zwischen acht und einundzwanzig<br />

Jahren.<br />

Im Kampf gegen dieses Quintett um die elterliche Zuwendung<br />

erweiterte <strong>Ingrid</strong> die Gruppe ihrer Spielgestalten und<br />

dramatisierte einige schwedische Gedichte, die sie in der Schule<br />

gelernt hatte. Einmal, zum Beispiel, kleidete sie sich in eine<br />

Stola und eine beschmutzte Schürze und betrat mit Wischer<br />

und Eimer in der Hand den Raum, wo sich die Familie aufhielt.<br />

Sie rezitierte ein Gedicht von Fröding, und zum Erstaunen ihrer<br />

Familie hatte sie sich in eine rätselhafte Dienerin verwandelt,<br />

verloren in einer Träumerei über einen hübschen Soldaten, den<br />

es in ihrer Vergangenheit gegeben haben mag oder nicht.<br />

Die Buben hänselten <strong>Ingrid</strong> gnadenlos: "Wie willst du<br />

eine Schauspielerin sein, so plump und unbeholfen!", und be-<br />

32


tonten, dass <strong>Ingrid</strong> – <strong>ob</strong>wohl erst neunjährig – zu lang sei und<br />

zu einer gewissen Tölpelhaftigkeit neige. "Als Schauspielerin<br />

bin ich nicht ich selbst!" entgegnete sie dieser Kritik mit einer<br />

etwas unlogischen Logik. Als sie nach Jahren auf diesen Wortwechsel<br />

zu sprechen kam, sinnierte sie nur: "Ich habe nicht<br />

das Schauspiel gewählt. Das Schauspiel hat mich gewählt."<br />

Als <strong>Ingrid</strong> Ihre kleinen Vorstellungen während der Abwesenheit<br />

ihres Vaters fortsetzte, wandelte sich Onkel Ottos<br />

Verblüffung darüber in offene Ablehnung. "Anstatt über mich<br />

zu lachen, pflegte mein Onkel wütend zu werden, weil er fanatisch<br />

religiös war und glaubte, das Theater sei des Teufels<br />

Werk." Aber Otto betrachtete fast alle Arbeit <strong>als</strong> Teufelswerk.<br />

"Er hatte nie eine feste, einträgliche Stelle" erinnerte sich <strong>Ingrid</strong>s<br />

erster Ehemann Jahre später, "und er schien weitgehend<br />

vom Ertrag von Jus<strong>tu</strong>s' Fotogeschäft gelebt zu haben".<br />

Zur Verwunderung der ganzen Familie setzte sich Tante<br />

Ellen wenigstens zweimal für ihre Nichte ein. Sie protestierte,<br />

das Mädchen sei nicht schlecht, sondern es habe ganz einfach<br />

die Gabe für unschuldige Vorträge. Vielleicht, meinte Ellen,<br />

werde <strong>Ingrid</strong>s Talent eines Tages doch religiösen Zwecken dienen.<br />

Warum könnte sie nicht zur Missionarin werden? Besonders<br />

jetzt im Jazz-Zeitalter, wo Europa mit wilder amerikanischer<br />

Musik und schockierenden amerikanischen Filmen überflutet<br />

wurde, brauchte die Welt Missionare. <strong>Ingrid</strong> hörte zu,<br />

hatte aber früh gelernt, bei derartigen Exkursen von Tante<br />

Ellen zu schweigen.<br />

Die Reaktionen in der Schule waren weniger fromm und<br />

viel weniger von Zensur bestimmt. In der fünften Klasse beeindruckte<br />

<strong>Ingrid</strong> ihre Kameradinnen mit der dramatischen<br />

Lesung eines Ausschnitts von "Sveaborg", Teil von Johan Ludvig<br />

Runebergs "The Stories of Fänrik Stål". Dieses Gedicht habe<br />

sie mit einem derartigen Pathos vorgetragen, berichtete<br />

eine Kollegin, dass die ganze Klasse benommen und mit Tränen<br />

in den Augen dagesessen sei. Auch andere Gedichte boten<br />

ihr Gelegenheit zu dramatischen Interpretationen, wie z.B. ihr<br />

Vortrag vom "Song of the Winds" aus Strindbergs "Dream<br />

33


Play": "Winde blasen und pfeifen, woe, woe, woe...". Die Mädchen<br />

konnten das Aufheulen des Winterwinds im Raum förmlich<br />

spüren, und niemand wunderte sich darüber, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> im<br />

Frühjahr 1925 mit ihren Vorträgen einen öffentlichen Wettbewerb<br />

gewann. Sten Selander, einer der Juroren, übergab ihr<br />

das Preiszertifikat mit den Worten: "Fräulein <strong>Bergman</strong> wird es<br />

ganz bestimmt noch weit bringen."<br />

Spät im August 1925, gerade <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> von Tante Mutti<br />

aus Hamburg zurückgekehrt war, kam Jus<strong>tu</strong>s in Stockholm an.<br />

Unter den Geschenken für seine Tochter faszinierte sie eine<br />

getrocknete kalifornische Orange am meisten, die sie während<br />

Jahren hütete. "Es war mein erster Kontakt mit Amerika, und<br />

ich fand es wundervoll." Kurz danach zogen sie in eine Dachwohnung<br />

an der Birger Jarlsgatan 34, einem sehr eleganten<br />

Gebäude im Geschäftsviertel.<br />

Papas Reise hatte ihn in seiner Musikleidenschaft bestärkt.<br />

Diesen Herbst setzte er seine Klavierübungen und seine<br />

Dirigiers<strong>tu</strong>nden fort, und er nahm <strong>Ingrid</strong> gleich mit in seine<br />

privaten Stimmbildungslektionen. Sie sei jetzt zehnjährig, sagte<br />

er, und ihre Zukunft sei klar: Sie werde eine grosse Operndiva.<br />

"Er nahm mich oft in die Oper mit, was mich langweilte",<br />

errinnerte sie sich später. Einige von Papas Heimfilmen zeigen<br />

<strong>Ingrid</strong> ab Noten singend, während Papa sie am Piano begleitet.<br />

Sie lächelt zwar in die Kamera, aber da ist nicht viel Begeisterung<br />

zu spüren; ihr Blick scheint ums Aufhören zu bitten. Aber<br />

um ihren Vater nicht zu enttäuschen, hielt sie dam<strong>als</strong> eben<br />

still.<br />

Aber sie konnte ihr Entzücken nicht unterdrücken, <strong>als</strong> er<br />

sie zwei Monate nach ihrem Geburtstag im Herbst 1926 erstm<strong>als</strong><br />

ins Königliche Dramatische Theater mitnahm. Sie borgte<br />

bei einer Kusine ein Kleid – kirschenrot, Papas Lieblingsfarbe –<br />

und bat Tante Ellen an jenem Nachmittag dreimal, es zu glätten.<br />

<strong>Ingrid</strong>s früheste Erinnerungen an die Umgebung am<br />

Strandvägen waren bestimmt vom Bild des Theaters, das <strong>als</strong><br />

Neubau 1908 fertiggestellt war und <strong>als</strong> eines der elegantesten<br />

34


Bauwerke galt, in welchen das Drama gefeiert wurde. Papa<br />

und Greta machten sie auf den grossen äusseren Marmortreppenaufgang<br />

aufmerksam, auf die allegorischen Figuren der<br />

Kunst, auf die Dionysos-Friese und die Commedia dell’arte, die<br />

Sta<strong>tu</strong>en der Tragödie und der Komödie. Von ihrem Fenster aus<br />

konnte <strong>Ingrid</strong> Saison um Saison zusehen, wie festlich gekleidete<br />

Damen und Herren zu den Premieren eintrafen. Jetzt betrat<br />

sie selbst erstm<strong>als</strong> das Gebäude, Blick nach <strong>ob</strong>en zu Carl Larssons<br />

Deckengemälde "Die Geburt des Dramas", einem Jugendstil-Meisterwerk,<br />

auf dem ein von einem dünnen Schleier bedecktes<br />

Mädchen von einer männlichen Figur mit dem Lorbeerkranz<br />

gekrönt wird – klar der kritische Geist, der in seiner andern<br />

Hand die gegenteilige Belohnung, das mörderische<br />

Schwert trägt.<br />

Dieser Herbstabend war bestimmend für <strong>Ingrid</strong>s weiteres<br />

Leben. Das Stück hiess "Der Pöbel" von Hjalmar <strong>Bergman</strong><br />

(der weder mit ihrer noch mit Pastor <strong>Bergman</strong>s Familie verwandt<br />

ist), einem zeitgenössischen Romanschriftsteller und<br />

Bühnenautor, bestens bekannt für die Darstellung der bittersten<br />

Abgründe des menschlichen Daseins, worum es auch in<br />

diesem Stück ging. Die Geschichte, die von einer notleidenden<br />

Familie handelte, die auf die Hilfe eines reichen jüdischen Verwandten<br />

angewiesen war, wurde <strong>als</strong> Komödie betitelt, aber die<br />

Handlung um Korruption und Heuchelei bot wenig Anlass zum<br />

Lachen. Aber was immer der Inhalt (oder der trendige antisemitische<br />

Unterton), die elfjährige <strong>Ingrid</strong> hatte das Theater entdeckt.<br />

"Ich traute meinen Augen nicht. Erwachsene Leute taten<br />

auf dieser Bühne genau das, was ich zuhause zu<br />

meinem eigenen Vergnügen tat. Und die wurden dafür<br />

bezahlt! Die lebten sogar davon! Ich konnte einfach<br />

nicht verstehen, wie diese Schauspieler dasselbe machten<br />

wie ich, eine Fantasiewelt erfinden, <strong>tu</strong>n <strong>als</strong> <strong>ob</strong> und<br />

das Arbeit nennen! Bei der ersten Gelegenheit drehte<br />

ich mich zu meinem Vater und sagte ihm in meiner Aufregung,<br />

was vermutlich das ganze Theater mithörte:<br />

"Papa, Papa, DAS ist es, was ich <strong>tu</strong>n werde!"<br />

35


Von da an hatten <strong>Ingrid</strong>s improvisierte Darbie<strong>tu</strong>ngen<br />

zuhause eine neue Dimension bekommen. Jus<strong>tu</strong>s nahm sie von<br />

einem Stück zum andern mit, immer in der Hoffnung, sie werde<br />

auf diese Weise das Theater doch vergessen und sich<br />

ernsthaft der Musik zuwenden. Zusammen sahen sie verschiedene<br />

Stücke mit dem grossen Gösta Ekman, und einmal mehr<br />

beeindruckte <strong>Ingrid</strong> ihre Lehrer und Klassenkameradinnen mit<br />

ihrem Gedächtnis. Nachdem sie das Stück "Der grüne Aufzug"<br />

gesehen hatte, konnte sie Teile des Schlusstexts des Hauptdarstellers,<br />

eines betrunkenen Jungen namens Billy, der über<br />

seine - was denn sonst? - verlorene Liebe klagt, fast wörtlich<br />

wiedergeben: "Tessi, Tessi, meine kleine Morgen-Märchen-<br />

Königin...etc.". Zweifellos war die Wiedergabe besser <strong>als</strong> der<br />

Text.<br />

1927 sahen sich die Mädchen im Lyzeum routinemässig<br />

nach <strong>Ingrid</strong> um, wann immer sie ohne Aufsicht waren. Bei einer<br />

solchen Gelegenheit begann sie einen Text aus "Der Pöbel"<br />

zu rezitieren, <strong>als</strong> die Lehrerin, Ester Sund, eintrat und die ganze<br />

Klasse für den Rest des Tages entliess. Da folgte die ganze<br />

Gesellschaft <strong>Ingrid</strong> zum Humlegården, wo sie die Szene (den<br />

Tod eines kranken alten Mannes) zu Ende spielte. Passanten<br />

waren verunsichert beim Anblick der zwei Dutzend zwölfjährigen<br />

Mädchen, die sich in Tränen um eine Klassenkameradin<br />

herum drückten, die auf einer Parkbank den Tod spielte. Ihr<br />

erfolgreicher Realismus erfreute und belustigte sie; Schauspiel<br />

war eben reines Vergnügen.<br />

Sie liebte es auch, ihre Lehrer und Vorgesetzten zu<br />

überraschen. Dem Vortrag eines tragischen Gedichts konnten<br />

ein paar Tage später Szenen einer Posse folgen; einmal setzte<br />

sie den Tod von Jeanne d'Arc in Szene und tags darauf improvisierte<br />

sie eine beschwipste Dame die ihren Hausschlüssel<br />

nicht finden konnte. "Ich erinnere mich, dass <strong>Ingrid</strong> einen ausgeprägten<br />

Sinn für Humor hatte", sagte ihre Klassenkameradin<br />

Elisabeth Daevel, "sie war eine der Lustigsten der ganzen<br />

Schule. Wie die meisten von uns war sie nicht besonders fleissig,<br />

aber wir schafften es alle in die nächste S<strong>tu</strong>fe."<br />

36


Im selben Jahr lasen die Mädchen in der Schule das<br />

Märchen von Tristan und Isolde. "Es hatte eine starke Wirkung<br />

auf meine romantischen Jungmädchen-Träumereien", sagte<br />

<strong>Ingrid</strong> später. "Irdische Liebe war ein wichtiges Thema für ein<br />

unattraktives Mädchen wie mich." Sie war natürlich alles andere<br />

<strong>als</strong> das – sie war einfach viel grösser <strong>als</strong> die andern, und<br />

das ist eine schlimme Erfahrung für jeden ihres Alters. 1928 an<br />

ihrem dreizehnten Geburtstag hatte sie ihre volle Körpergrösse<br />

von 1 m 78 cm erreicht. Als die andern Mädchen erstm<strong>als</strong> mit<br />

Schuhen mit hohen Absätzen ausstaffiert wurden, fühlte sie<br />

sich weiterhin an die flachen Absätze gebunden.<br />

"Ich hasste die Schule, weil ich grösser war <strong>als</strong> andere<br />

Leute und unbeholfen und scheu", erinnerte sie sich, "ich war<br />

nicht s<strong>tu</strong>mm, aber ich sprach nur wenn ich musste. Wenn ich<br />

die Antwort auf eine Frage hatte, nur hätte aufstehen müssen<br />

und sie geben, errötete ich schon. Die Schule war die Hölle für<br />

mich. Und ich war allein."<br />

Zu den Gedichten und dramatischen Vorträgen: "Ich<br />

spielte alle die Rollen allein. Ich wollte nicht mit andern spielen<br />

und fragte mich ständig: Was kann ich allein machen? So las<br />

ich lustige und traurige Gedichte und dramatisierte sie." Das<br />

Leben mancher Schauspieler weist identische Züge auf: Die im<br />

wesentlichen isolierte Persönlichkeit, die auf der Bühne oder<br />

vor der Kamera aufblüht, was auf ein unsicheres Ego hinweist.<br />

Für einige bedeutet das Rollenspiel – eine andere Identität annehmen<br />

– die Möglichkeit, sonst unerreichbare (Er-)Lebensbereiche<br />

zu ergründen. Für <strong>Ingrid</strong> waren berufliche Erfahrungen<br />

dieser Art während ihres ganzen Lebens sehr wichtig, was nur<br />

logisch erscheint, weil sich ein Talent ihres Kalibers ständig<br />

weiter vervollkommnet. Und wenn der Applaus einmal spärlich<br />

floss und die Kritik mit dem gezogenen Schwert, anstatt mit<br />

dem strahlenden Lorbeerkranz daherkam, dann wechselte sie<br />

einfach zu einer andern Rolle. Ein einziges Mal in ihrem Leben<br />

reagierte <strong>Ingrid</strong> spontan auf eine negative Kritik, und zu ihrem<br />

endlosen Verdruss geschah dies Jahre später in Stockholm.<br />

37


AN WEIHNACHT 1928 ging Jus<strong>tu</strong>s mit <strong>Ingrid</strong> zum<br />

Abendessen zu Bern's Salonger, einer ehrwürdigen Insti<strong>tu</strong>tion<br />

der Stadt. Bern's war ein 1863 eröffnetes Gourmet-Restaurant<br />

mit Orchester im traditionellen "Pinguin-Look", kleineren Räumen<br />

für private Anlässe und dem berühmten roten Zimmer mit<br />

seinen überdimensionierten Sesseln und polierten Tischen, der<br />

niedrigen gotischen Decke und den Buntglasfenstern. Es war<br />

der Raum, in dem die Künstler und Intellek<strong>tu</strong>ellen der 1880er-<br />

und 1890er-Jahre verkehrten. Hier diskutierten sie über Politik<br />

und Kunst, hier schlürften sie ihren Kaffee, tranken Wein und<br />

Bier, rauchten, stritten und kritzelten Noten aufs Papier. Die<br />

Atmosphäre inspirierte einen der regelmässigen Besucher, August<br />

Strindberg, eine bissige Satire zu schreiben, die nach diesem<br />

Raum betitelt wurde. <strong>Ingrid</strong> und ihr Vater tranken hier ein<br />

Glas Champagner und sie las die in Holz geschnitzten philosophischen<br />

Grundsätze: "Du kannst nie genug Gutes <strong>tu</strong>n... Dein<br />

grösster Sieg ist der Sieg über dich selbst... Ehre ist der<br />

schönste Baum im Wald." Sie begaben sich dann hinunter in<br />

den Speisesaal zum Abendessen, wo sie ein Festtagsmenü mit<br />

gebratenem Elch bestellten.<br />

Ein paar Tage danach, <strong>als</strong> mit dem Neujahr 1929 eine<br />

bittere Kälte hereinbrach, musste Jus<strong>tu</strong>s mit einem undefinierbaren<br />

Leiden das Bett hüten. Eine Woche verging, ohne dass<br />

eine Besserung eingetreten wäre. Bleich und schwitzend konsultierte<br />

er schliesslich einen Arzt, der eine Reihe von Tests<br />

anordnete. Bis die Resultate vorlagen, konnte der unglückliche<br />

Patient noch kaum mehr einen Bissen bei sich behalten; er<br />

verlor auch schnell an Gewicht. Seine Schwester Ellen, selbst<br />

an Influenza erkrankt, konnte nicht helfen, sodass <strong>Ingrid</strong> Greta<br />

Danielsson auftrieb, die nun vom andern Ende der Stadt her zu<br />

Hilfe kam. Nach ein paar Tagen, während welchen jeder geflissentlich<br />

vermied, über die Diagnose zu sprechen, setzte sich<br />

Jus<strong>tu</strong>s mit seiner Ex-Mätresse und seiner Tochter zusammen.<br />

Er hatte Magenkrebs und die Aussichten waren schlecht. Greta<br />

brach in Tränen aus und <strong>Ingrid</strong> frass ihren Kummer in sich hinein.<br />

38


"Ich will nicht, dass <strong>Ingrid</strong> ihren Vater sterben sieht,"<br />

sagte Jus<strong>tu</strong>s zu seinem Freund Gunnar Spångberg, einem Floristen<br />

im Quartier, "und der Herr weiss, wie lange das dauern<br />

wird." Damit traf er Vorberei<strong>tu</strong>ngen für eine Reise mit Greta zu<br />

einem Spezialisten nach München. "Vielleicht kann er mich<br />

heilen. Wenn nicht, komme ich in einer Kiste nachhause."<br />

Nichts davon geschah. Zum verständlichen Ärger der<br />

ganzen Familie blieb Jus<strong>tu</strong>s der undisziplinierbare Bohémien<br />

bis ans Ende. Er verbrachte den Frühling 1929 mit Greta in<br />

einer ruhigen Vorstadt von München. Sie pflegte ihn mit Kräutertee<br />

und dünnen Suppen, und wenn seine Kraft es erlaubte<br />

stellte er die Staffelei in den kleinen Garten und malte wilde<br />

Blumen. "Dann kam er nachhause," erinnerte sich <strong>Ingrid</strong>, "so<br />

dünn, schrecklich!" Das war der einzige Sommer, den sie nicht<br />

bei Mutti verbrachte, die inzwischen ihren Mädchennamen wieder<br />

angenommen und sich einen hübschen und erfolgreichen<br />

deutschen Stofffabrikanten <strong>als</strong> Liebhaber zugelegt hatte.<br />

Diesmal kam Mutti von Deutschland her und befremdete den<br />

<strong>Bergman</strong>-Clan einmal mehr mit der Weigerung, in den allgemeinen<br />

Chorus einzustimmen, Greta müsse das Haus verlassen.<br />

"Sie hat das Recht, hier zu sein, <strong>als</strong>o akzeptiert das bitte,"<br />

sagte sie zu Otto und Ellen. Was anderes sollten sie <strong>tu</strong>n? Frau<br />

Adler war nicht der Typ, dem man widerspricht.<br />

Juni und Juli waren ungewöhnlich warm, und wie die<br />

Tage länger wurden, wurde Jus<strong>tu</strong>s <strong>Bergman</strong>s Leiden zur unausgesetzten,<br />

entsetzlichen Pein. Er erfreute sich bester Gesundheit<br />

bis zum vergangenen Winter, <strong>als</strong> durch seine plötzliche<br />

Krankheit sein lebensbedrohender Zustand erkannt wurde.<br />

Jetzt war er so schwach, dass er nur noch wispern und sich pro<br />

Tag mit einigen Wassertropfen am Leben halten konnte. Greta<br />

versah ihn mit kühlen Kompressen. Gegen den Willen ihres<br />

Vaters schlief <strong>Ingrid</strong> tagsüber ein paar S<strong>tu</strong>nden, um die Nacht<br />

an seinem Bett zu verbringen. Sie hielt seine Hand und – in<br />

ihrer bisher wohl besten Rolle – summte sie seine liebsten<br />

Volkslieder und wiederholte endlos und geduldig, was sie<br />

selbst <strong>als</strong> tragische Illusion erkannte: wenn er nur durch diesen<br />

entsetzlich langen Sommer käme, wenn er doch nur etwas<br />

39


Suppe zu sich nehmen könnte, wenn sie doch nur einen besseren<br />

Arzt finden könnten, wenn nur...<br />

Gegen Mitternacht am 28. Juli wurde sein Atem<br />

schwach, und vier S<strong>tu</strong>nden später, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> und Greta bei<br />

ihm am Bett sassen, drehte er noch kurz den Kopf und sandte<br />

beiden einen liebevollen Blick. Um 3.55 Uhr am Morgen des<br />

29. Juli 1929 war Jus<strong>tu</strong>s Samuel <strong>Bergman</strong>, 55, tot. <strong>Ingrid</strong> wird<br />

in genau einem Monat vierzehnjährig.<br />

Tags darauf erschien in den Zei<strong>tu</strong>ngen eine Notiz, die<br />

Otto und Ellen über der Unterschrift von <strong>Ingrid</strong> verfasst hatten.<br />

"Ruhig und friedlich hat uns gestern mein lieber Vater verlassen.<br />

Um ihn trauern seine Tochter, Verwandten, Freunde und<br />

ehemaligen Mitarbeiter. Beerdigung auf dem Nordfriedhof,<br />

Samstag, 3. August um 16 Uhr."<br />

Während Monaten lebte <strong>Ingrid</strong> so in sich zurückgezogen,<br />

dass man begann, um ihre Gesundheit zu fürchten. Da<br />

gab es keine improvisierten Vorstellungen mehr für die Familie,<br />

keine Vorträge oder sonstige Unterhal<strong>tu</strong>ng, und sie ging auch<br />

jedem Gespräch aus dem Weg. Greta, die bis zum Ende des<br />

Schulsemesters bei ihr blieb, konnte das arme Mädchen für gar<br />

nichts interessieren, weder einen Film noch – selbst im Herbst<br />

– ein Theaterstück. <strong>Ingrid</strong> versuchte zu malen, doch wenn ihr<br />

Pinsel die Leinwand berührte, wurde sie zu traurig, zu müde<br />

um sich zu konzentrieren, zu denken, sich zu erinnern, sodass<br />

ihr Vaters Pinsel aus den Fingern fiel. "Ich wusste nicht, wie ich<br />

weiterleben sollte," sagte sie zu diesem Jahr. "Klar, ich lebte -<br />

wir alle überleben." Aber während ihres ganzen Lebens gab es<br />

Momente, in welchen diese Erinnerung einen Schatten der<br />

Trauer über <strong>Ingrid</strong> verbreitete. "Als ich ein Kind war," berichtete<br />

ihre älteste Tochter Pia später, "sah ich Mama oft über den<br />

Verlust von Vater und Mutter trauern."<br />

Jus<strong>tu</strong>s hinterliess ein Vermögen von nahezu einer halben<br />

Million schwedischen Kronen ($ 100'000 gem. Wechselkurs<br />

von 1997). Ein Viertel davon, in Form von Aktien der Gesellschaft,<br />

deren Managing Director er war, wurde treuhänderisch<br />

40


für <strong>Ingrid</strong> angelegt, und kleine Beträge wurden an Verwandte<br />

und Freunde verteilt.<br />

Mitte September wurde Papas Wohnung aufgegeben<br />

und <strong>Ingrid</strong> in Tante Ellens düstere Zweitstock-Wohnung an der<br />

Nybergsgatan 6 gezügelt. Der Ort lag in der Nähe und war <strong>Ingrid</strong><br />

vertraut. So war <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> mit vierzehn eine Vollwaise,<br />

die tragischerweise nicht mehr fähig war, sich auf die Dauerhaftigkeit<br />

menschlicher Zuneigung und Zuwendung zu verlassen.<br />

1925 – im Mädchen-Lyzeum<br />

41


42<br />

Ca. 1921 - mit Papa und ihrem "besten Freund"


<strong>Ingrid</strong> vierzehnjährig und Vollwaise<br />

43


44<br />

1936 - Portrait


"... Was würden nur Mama und Papa dazu sagen, wenn sie<br />

mich hier in meiner Einsamkeit sehen könnten. Ich möchte<br />

mich in jemandes Arme kuscheln, der mich beschützt, tröstet<br />

und lieb hat."<br />

1929 - 1936<br />

(<strong>Ingrid</strong> 19-jährig, vor ihrer ersten Premiere)<br />

WÄHREND DES SCHULJAHRS 1929-1930 hatte <strong>Ingrid</strong><br />

wenig Freiraum zum Trauern, nachdem nun Physik, Chemie,<br />

Mathematik und – am schlimmsten von allem – Kochen den<br />

S<strong>tu</strong>ndenplan bereicherten. Ganz im Gegenteil, ihre Lehrer waren<br />

Experten in strenger schwedischer Buchhal<strong>tu</strong>ng – wie Tante<br />

Ellen, die (allerdings ohne sichtbaren Erfolg) versuchte, ihrer<br />

Nichte den Segen der religiösen Praxis klarzumachen. Aber<br />

dann geschah es, dass Ellen <strong>Bergman</strong> anfangs 1930 nicht<br />

mehr zur Kirche gehen konnte; sie war nun chronisch kurzatmig<br />

und das Treppensteigen wurde für sie zur zermürbenden<br />

Qual. Wollte sie ihre Herzrhythmusstörungen nicht verschlimmern,<br />

sagte ihr Arzt, müsse sie das Treppensteigen auf ein<br />

mögliches Mindestmass reduzieren.<br />

Aber das Pr<strong>ob</strong>lem der Frau lag tiefer. Eines Nachmittags<br />

im Frühjahr fühlte sie sich zum Umfallen schwindlig, <strong>als</strong> sie<br />

sich nach der Bibellektüre vom S<strong>tu</strong>hl erheben wollte. <strong>Ingrid</strong>,<br />

eben vom Lyzeum heimgekehrt, verabreichte ihr eine starke<br />

Tasse Tee. Dann kam nach Ostern 1930 die Krise. Eines Morgens<br />

um drei Uhr schrie Ellen nach Atem ringend nach <strong>Ingrid</strong>.<br />

"Ich fühle mich so krank", sagte sie mit aschfahlem Gesicht,<br />

ihre Brust umklammernd. "Bitte ruf' Onkel Otto." So telefonier-<br />

45


te <strong>Ingrid</strong> Otto, der mit seiner Familie ganz in der Nähe wohnte<br />

und sagte, sie seien unterwegs.<br />

"Lies mir aus der Bibel vor," japste Ellen, "lies die Bibel!"<br />

<strong>Ingrid</strong> fand einen Psalm während sich ihrer Tante Zustand<br />

verschlimmerte. "Ich sterbe," wimmerte sie, "oh warum kommen<br />

sie nicht, warum kommen sie nicht?" Dann rief sie plötzlich:<br />

"Schlüssel – Schlüssel!" <strong>Ingrid</strong> begriff sofort, was sie damit<br />

meinte. Ellen pflegte Besuchern jeweils die Schlüssel aufs<br />

Trottoir hinunterzuwerfen, um ihnen den Zugang durch den<br />

geschlossenen Haupteingang zu ermöglichen und den Weg<br />

abzukürzen. <strong>Ingrid</strong> war dies im Moment entfallen.<br />

<strong>Ingrid</strong> kehrte sofort zu Tante Ellens Zimmer zurück und<br />

nahm sie in die Arme. Einen Moment später packte sie <strong>Ingrid</strong>s<br />

Arm mit einem schmerzerfüllten Blick. Sie tat noch einen tiefen<br />

Atemzug, ihr Kopf fiel auf <strong>Ingrid</strong>s Brust und sie war tot.<br />

Noch nicht fünfzehnjährig hatte <strong>Ingrid</strong> eine ganze Serie<br />

von Familiendramen erlebt, die sie in einen Nebel von Konfusion<br />

und Schmerz stürzten. Ihre Verwandten erinnerten sich,<br />

dass sie während Monaten wie abwesend war, ihr Blick leer,<br />

die Stimme ausdruckslos und trocken. Sie schaffte es, durch<br />

s<strong>tu</strong>mpfe Erledigung der Aufgaben durch die letzten Schulwochen<br />

zu kommen und durch den Versuch, sich wieder an einem<br />

andern Ort neu einzurichten: in Otto und Huldas Zweitstock-<br />

Wohnung an der Artillerigatan 43, unweit vom Strandvägen<br />

entfernt. Kein Wunder, dass sie eine Zeit lang "distanziert, ja<br />

sogar kalt und misstrauisch gegenüber jedermann" wurde, wie<br />

sie später sagte, zurückgezogen und verängstigt, dass wem<br />

immer sie sich zuneigen könnte, ihr wieder brutal entrissen<br />

würde.<br />

In Onkel Ottos Wohnung musste <strong>Ingrid</strong> ihr Schlafzimmer<br />

mit niemandem teilen, wie ihre Cousins das <strong>tu</strong>n mussten.<br />

Der Anwalt ihres Vaters sorgte durch effiziente Verwal<strong>tu</strong>ng<br />

sowohl des Erbes <strong>als</strong> auch des Ertrags des Fotogeschäfts am<br />

Strandvägen, das weitergeführt wurde, dafür, dass die <strong>Bergman</strong>s<br />

für <strong>Ingrid</strong>s Aufnahme und Pflege grosszügig entschädigt<br />

wurden. Sie hatte einen eigenen, sonnigen Raum zur Verfü-<br />

46


gung, gross genug auch für das Klavier der Eltern und Papas<br />

Pult und Bilder. Tante Hulda, eine dunkeläugige Frau, die um<br />

zehn Jahre älter <strong>als</strong> ihre 40 aussah, besorgte nun einen Haushalt<br />

für acht Personen und überwachte auch das Fotogeschäft.<br />

Otto werkelte an seinen Erfindungen, überzeugt, dass er eines<br />

Tages ein Patent für ein geniales Gerät haben würde und sie<br />

dann alle in eine Villa auf dem Lande ziehen würden.<br />

Im Herbst 1931 war <strong>Ingrid</strong> sechzehn und am Lyzeum<br />

bekannt dafür, dass sie ein anderer Mensch wurde, wenn sie<br />

Gedichte vortrug oder Dramen inszenierte. Zu dieser Zeit hatte<br />

sie bereits ein festes Ziel vor Augen: ihr Leben "bedingungslos<br />

dem Theater zu widmen... die neue Sarah Bernhardt zu<br />

sein...ich träumte sogar davon, eines Tages in einem Stück mit<br />

Gösta Ekman zu spielen." Fortan war ihre Klasse am Lyzeum<br />

nur noch ein Hort von Langeweile: "Ich dachte nur an meine<br />

Arbeit, meine Ambitionen für das Schauspiel, ich wollte reisen<br />

und Neues erleben."<br />

"Ich glaube, das Theater war eine Art Versteck für<br />

mich. Einsame Menschen in schwierigen Lebensumständen<br />

lieben das Theater, weil man sich dort hinter<br />

Masken verschanzen kann. Das hilft gegen alles, was<br />

einen ängstigt. Was man auf der Bühne spricht, hat<br />

man nicht selbst geschrieben und was man zu sein<br />

vorgibt, ist man nicht. Es ist eine Flucht."<br />

Sie unternahm den ersten kleinen Schritt in Rich<strong>tu</strong>ng<br />

der Verwirklichung ihres Traums im Januar 1932, eine Woche<br />

nach einem Weihnachtstreffen mit Greta Danielsson, die Gewicht<br />

verloren, ihr Haar blond gefärbt hatte, in der Stimm- und<br />

Schauspielschulung war und gelegentlich eine Statistenrolle in<br />

einem Film erhielt. So geschah es, dass Greta <strong>Ingrid</strong> an einem<br />

bitterkalten Wintertag ins S<strong>tu</strong>dio der Svenska Filmindustri mitnahm,<br />

wo sie sofort in einer Massenszene des Films "Landskamp"<br />

eingesetzt wurden, dessen Titel sich auf einen internationalen<br />

Sportwettkampf bezieht. Die Mädchen waren natürlich<br />

nicht registriert (und im Film selbst nicht sichtbar, <strong>als</strong> er im<br />

März jenes Jahres in die Kinos kam), was für <strong>Ingrid</strong> aber kei-<br />

47


nerlei Enttäuschung bedeutete. Ihr gefiel – richtigerweise -<br />

dass sie damit einmal einen Anfang gemacht hatte, und sie<br />

war freudig überrascht, "ganze zehn Kronen für einen der vergnüglichsten<br />

Tage meines Lebens erhalten zu haben".<br />

Diese Erfahrung war für <strong>Ingrid</strong> so aufregend, dass sie<br />

fortan das Ende ihrer Schulzeit kaum mehr erwarten konnte.<br />

Sie wollte nun endlich ernsthaft Theater spielen, weshalb sie<br />

sich bald nach den Ausbildungsmöglichkeiten an der Königlichen<br />

Schauspielschule erkundigte, die für ihr anforderungsreiches<br />

Unterrichtsprogramm jährlich ein paar Kandidaten aus<br />

Dutzenden von geprüften Bewerbern auswählte. Die Aufnahme<br />

bedeutete nicht gleich Karriere, aber der Zugang zur "Dramaten"<br />

(wie Schule und Theater dam<strong>als</strong> im Volksmund genannt<br />

wurden) garantierte eine erstklassige Ausbildung an einer der<br />

renommiertesten Schauspielschulen Europas. Unter anderen<br />

bekannten Grössen war der berühmte Bühnen- und Filmschauspieler<br />

Lars Hanson ein Ehemaliger der Schule; er ging nach<br />

Hollywood und spielte mit Lilian Gish. Eine Hilfscoiffeuse namens<br />

Greta Gustafsson hatte auch an der Dramaten s<strong>tu</strong>diert;<br />

sie nahm den Namen Greta Garbo an, bevor auch sie nach<br />

Hollywood emigrierte. Signe Hasso, die in Schweden und Hollywood<br />

eine grosse Bühnen- und Filmkarriere machte, war eine<br />

Zeitgenossin von <strong>Ingrid</strong>. Viveca Lindfors kam einige Jahre später;<br />

auch sie erlebte ihren grössten Ruhm in Amerika. Auch<br />

Mai Zetterling, Max von Sydow und Bibi Andersson waren unter<br />

den Ehemaligen der späteren Jahre.<br />

1787 hat König Gustav III. bestimmt, dass junge Künstler<br />

am Königlichen Theater in Tanz, Gesang und Rezitation<br />

ausgebildet werden. Von da an führten aktive Sänger und<br />

Schauspieler Klassen für S<strong>tu</strong>denten, die auch Gelegenheit erhielten,<br />

in Massenszenen <strong>als</strong> Statisten und gelegentlich sogar<br />

mit kurzen Sprechrollen aufzutreten. Als die Schule 1908 ein<br />

Dutzend Räume im neuerstellten Königlichen Theater belegen<br />

konnte, enthielt der Lehrplan Diktion, Setgestal<strong>tu</strong>ng, Benehmen,<br />

Tanz und Fechten – sowie auch Französisch, Deutsch und<br />

Litera<strong>tu</strong>r- und Theatergeschichte.<br />

48


Weil diese Kurse auf das "Show Business" ausgerichtet<br />

waren und ihre Klassenkameraden Kollegen waren, gewann<br />

<strong>Ingrid</strong> eine völlig neue Einstellung zur Aussicht auf neue harte<br />

Anforderungen an ihre Lernbereitschaft. Eine Woche nachdem<br />

sie ihr Frühjahrssemester am Lyzeum abgeschlossen hatte, am<br />

2. Juni 1933, wählte sie die drei Fächer aus, in welchen sie an<br />

der Dramaten geprüft werden wollte. Im Abschlusszeugnis des<br />

Lyzeums, das kürzlich von seiner notenfreien Praxis für Abgänger<br />

auf Sekundarschulniveau abgegangen war, war vermerkt,<br />

dass <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> "A" für Betragen, Fleiss, Aufmerksamkeit<br />

und Organisation erhielt; "A-" für Religion, Schwedisch und<br />

Litera<strong>tu</strong>r; "B+" für Deutsch, Geschichte, Kunstgeschichte und<br />

Geographie; und "B" für Mathematik, Physik, Chemie, Hauswirtschaft,<br />

Gesundheit, Nähen, Zeichnen, Singen und Gymnastik.<br />

Dann begann sie sich zuhause auf die Dramaten vorzubereiten.<br />

Onkel Otto, der von ihren Plänen nichts hielt, meinte,<br />

sie sollte besser gleich einen alternativen Bildungsweg aufnehmen.<br />

Sie sei zu gross und plump wie eine Gans, sagte er<br />

und fügte gleich bei, dass ein Mädchen seine Tugend am Theater<br />

nicht bewahren könne. Aber ein Gutteil seines Haushaltseinkommens<br />

stammte von <strong>Ingrid</strong>s Treuhandfonds, sodass<br />

er ihr diesen Versuch wohl oder übel gestatten musste. <strong>Ingrid</strong><br />

wählte einen Text aus Rostands "L'aiglon", einen aus Strindbergs<br />

"Dream Play" und eine Szene mit einem Bauernmädchen,<br />

die sie aus einer ungarischen Komödie zusammenstellte.<br />

Mit 48 Mitbewerbern trat sie diesen August vor die Juroren<br />

des Königlichen Dramatischen Theaters, und sieben Glückliche<br />

wurden für die in einem Monat beginnenden Kurse ausgewählt.<br />

Als sie an der Reihe war, trat <strong>Ingrid</strong> auf die Bühne<br />

und begann ihren Rostand-Auszug. Sie kam aber nicht weit<br />

damit, <strong>als</strong> einer der Experten sie von der Bühne winkte; sie<br />

hatten genug gehört. Das war der schlimmste Moment ihres<br />

Lebens, sagte sie später, denn sie verbrachte den Rest des<br />

Tages ziellos dem Hafen entlang wandernd und getraute sich<br />

mit diesem Bericht nicht nachhause zurückzukehren. Als sie es<br />

dann doch tat, hatte einer ihrer Cousins eine Telefonmeldung<br />

49


für sie: sie hatte die Prüfung bestanden und sollte sich am<br />

nächsten Tag zur 2. Prüfung einfinden; die Experten hatten sie<br />

unterbrochen, weil sie sofort von <strong>Ingrid</strong>s Talent und Potential<br />

überzeugt waren.<br />

So wurde der schlimmste Tag ihres bisherigen Lebens<br />

zum glücklichsten. Ihr zweimonatiges S<strong>tu</strong>dium begann sich in<br />

den folgenden Tagen bezahlt zu machen, denn nach ihrem<br />

Strindberg-Vortrag und der anschliessenden, extrem kontrastierenden<br />

und urkomischen Interpretation eines Bauernmädchens,<br />

das über Bäche springend seinem fliehenden Liebhaber<br />

nachsetzt, erhielt sie einen Platz im September-Semester. "Da<br />

sie in ihrer äusseren Erscheinung so sehr an ein Landmädchen<br />

erinnert" sagte einer ihrer Lehrer, "ist sie auch sehr natürlich<br />

und benötigt weder im Gesicht noch im Geist jedwelches Makeup."<br />

Eine schreckliche, weltweite Wirtschafts-Depression<br />

hielt die Welt im Herbst 1933 in Atem, aber für Schweden war<br />

das Schlimmste bereits vorbei, da seine Exporte von Eisen,<br />

Nähmaschinen, medizinischen und Dental-Instrumenten, Öfen,<br />

Dynamit und Papier hohe Preise erzielten. Ausserdem erreichte<br />

der Tourismus in diesem Jahr Rekordwerte. Durch die starke<br />

Verbrei<strong>tu</strong>ng des Telefons und des Autom<strong>ob</strong>ils, wie auch den<br />

rapiden Ausbau des nationalen Strassennetzes wuchsen Dörfer<br />

und Städte zusammen, und die wachsende Macht der Sozialdemokratie<br />

führte zu einer Reihe von sozialen Entwicklungen in<br />

Medizin, Schulwesen, Altersfürsorge und anderen Bereichen,<br />

von welchen jeder schwedische Bürger, <strong>ob</strong> jung oder alt, profitierte.<br />

(Präsident Roosevelts Wiederaufbau-Strategie war stark<br />

auf diese schwedischen Massnahmen ausgerichtet, die von<br />

amerikanischen Fachleuten in Schweden sehr genau s<strong>tu</strong>diert<br />

wurden.)<br />

Ausserdem hatte in Stockholm ein neuer Geist von Freiheit<br />

und Experimentierfreude Kunst, Handel und Industrie erfasst,<br />

und die Menschen empfanden das tägliche Leben <strong>als</strong><br />

spannende Herausforderung. "Die Strassen waren einfach voll<br />

von gutgekleideten Leuten," erinnerte sich der Künstler Diet-<br />

50


ich, dessen Karriere dam<strong>als</strong> in Stockholm ihren Anfang nahm.<br />

"Die Läden platzten aus den Nähten und das Theater florierte.<br />

Es gab dam<strong>als</strong> einen ganz speziellen Trend – das war die ungarische<br />

Csardas mit Zigeunerviolinen, und wo immer man<br />

sich gerade hinwandte, gab es ein Restaurant, das Goulasch<br />

anbot." Die Arbeitsmarktlage in Budapest war wesentlich<br />

schlechter <strong>als</strong> die in Schweden, was viele Arbeitnehmer nach<br />

Skandinavien trieb, und so wurden osteuropäische Musik, Tänze<br />

und Gerichte die Renner der Saison. Auch <strong>Ingrid</strong> erinnerte<br />

sich an die plötzliche Schwemme von ungarischen Cafés und<br />

Tschechischen Modeläden. Deren exotischer Reiz sprach vor<br />

allem die jungen Leute an, die eine buntere, kosmopolitischere<br />

Lebensart suchten, <strong>als</strong> was die gute, stabile schwedische Einfachheit<br />

zu bieten hatte.<br />

Aber <strong>Ingrid</strong> und ihre Kameradinnen hatten wenig Zeit,<br />

sich um trendige Kaffeehäuser und Bistros zu kümmern. Die<br />

Klassen an der Dramaten arbeiteten an sechs Tagen pro Woche,<br />

und nach einer einstündigen Pause am Abend standen die<br />

S<strong>tu</strong>denten auf dem <strong>ob</strong>eren Balkon, um die Abendvorstellungen<br />

zu verfolgen. Während der Saison 1933-1934 genossen sie ein<br />

reiches internationales Programm. Den S<strong>tu</strong>denten war es aber<br />

untersagt, den Pr<strong>ob</strong>en beizuwohnen, weshalb die Zugänge zum<br />

Auditorium stets verschlossen waren. Wie <strong>Ingrid</strong> Jahre später<br />

sagte, konnte eine Haarnadel dieses Pr<strong>ob</strong>lem aber lösen. Die<br />

Sonntage waren dann reserviert für die Lektüre der Anweisungen,<br />

Gedächtnistraining und Szenens<strong>tu</strong>dium zuhause. Für ihre<br />

privaten S<strong>tu</strong>dien bevorzugte <strong>Ingrid</strong> die Sitzbänke dem Strandvägen<br />

entlang, oder dann die ruhigeren Bänke im Djurgården,<br />

einem Park mitten in der Stadt.<br />

Das Arbeitspensum war sehr intensiv. Da war die Theatergeschichte<br />

mit dem ernsten Professor Stig Torsslow, der<br />

sich an <strong>Ingrid</strong>s Entschlossenheit und methodische Energie erinnerte;<br />

Fechtlehrer war der kurze, agile R<strong>ob</strong>ert Påhlman;<br />

Stimme und Diktion erteilte die stattlich-elegante Karin Alexandersson,<br />

die für Strindberg gespielt hatte, und Szenens<strong>tu</strong>dium<br />

schliesslich erteilte die grosse Hilda Borgstöm, der Star<br />

von "Ingeborg Holm". Später am Tag eilten die S<strong>tu</strong>denten zu<br />

51


einem kahlen Umkleideraum für den Bewegungsunterricht mit<br />

dem graziösen Tänzer Valbörg Franchi, dann zur Körperkul<strong>tu</strong>r<br />

(wie sitzen, stehen, betreten und verlassen eines Raums) und<br />

den rhythmischen Tanzübungen mit der eleganten Ruth Kylberg<br />

und der strengen Jeanna Falk; und vielleicht am denkwürdigsten<br />

von allen: der Unterricht im dramatischen Ausdruck<br />

mit der grossartigen Anna Pettersson-Norrie.<br />

Die aristokratische dreiundsiebzigjährige Madame Pettersson-Norrie<br />

mit ihrem Zwicker, platinweissen Haar und vollen<br />

Busen war eine für Karika<strong>tu</strong>ren prädestinierte Figur. Aber<br />

niemand hätte es gewagt, sich über sie lustig zu machen.<br />

Ernst, wie ein Richter und mitleidlos wie der Henker konnte sie<br />

sein und übertriebene Hal<strong>tu</strong>ngen ihrer S<strong>tu</strong>denten manchmal<br />

warmherzig, manchmal eisig abstrafen. Sie tat das im kuriosen<br />

Glauben, dies sei der beste Weg zur Überwindung der Schüchternheit.<br />

Übertreibungen könnten später immer korrigiert werden,<br />

aber für den Moment galt: "Junger Mann, lassen Sie mich<br />

Ihre Hand in der Luft sehen!" oder "Warum werfen Sie Ihre<br />

Arme nicht weit offen auf diese Linie, meine Liebe?" Mit all'<br />

ihren Eigenheiten war Anna Pettersson-Norrie für <strong>Ingrid</strong> eine<br />

wertvolle Lehrerin – nicht so sehr für die grossen Gesten, <strong>als</strong><br />

vielmehr weil sie ihr Aufmerksamkeit beibrachte, wie man einem<br />

Mitspieler zuhört, wie man sich innerhalb der Szene benimmt,<br />

nicht einfach durch unbedachtes und unmotiviertes<br />

Handeln versucht, das Publikum zu zerstreuen oder – Horror! –<br />

eine Szene zu stehlen.<br />

Nach drei Monaten Dramaten hatte <strong>Ingrid</strong> die Bewunderung<br />

ihrer Mitschüler wie ihrer Lehrer gewonnen, und offenbar<br />

waren ihr Selbstvertrauen und Talent in der ganzen Schule<br />

bekannt. "Sie hatte ein grosses natürliches Talent, alle ihre<br />

Lehrer bewunderten das," sagte Rudolf Wendbladh, der spätere<br />

künstlerische Direktor der Schule, und fügte gleich bei, sie<br />

sei "ein pummeliges und impulsives Mädchen gewesen, das<br />

sehr genau wusste, was es wollte."<br />

Ihre Selbstsicherheit auf der Bühne und in der Klasse<br />

(aber nicht im Privatleben) wurde auch vom Schauspieler Gun-<br />

52


nar Björnstrand, ihrem ehemaligen Klassenkollegen von 1933,<br />

vermerkt. "Vielleicht war sie innerlich gar nicht so, aber sie<br />

machte nach aussen hin den Eindruck von völliger Stabilität.<br />

Sie verströmte immer den Eindruck von phänomenaler Gesundheit,<br />

Stärke und Vitalität. Sie hatte einen eisernen Willen<br />

und ein unglaubliches Gedächtnis. Ihre Texte lernte sie im<br />

Schlaf." Ein anderer Klassenkollege, Frank Sundstrom, erinnerte<br />

sich, dass sie sehr dezidierte Meinungen über ihre Arbeit<br />

hatte, zu einer Zeit, da Frauen noch keine Ideen zu haben hatten.<br />

Nach einer dritten Kollegin, <strong>Ingrid</strong> Luterkort, "war <strong>Ingrid</strong><br />

eine Schönheit – und sie wusste es auch".<br />

Das grosse Talent wurde auch vom Regisseur Alf Sjöberg<br />

erkannt, der sich in jenem Herbst 1933 zum absolut ungewöhnlichen<br />

Schritt entschloss, <strong>Ingrid</strong> (<strong>als</strong> junge Dramaten-<br />

S<strong>tu</strong>dentin) in Sigfrid Siwertz's Stück "Ett Brott" (Ein Verbrechen)<br />

aufzunehmen, das er eben am Theater vorbereitete und<br />

in dem Edvin Adolphson, einer der gefeiertsten schwedischen<br />

Schauspieler, die Hauptrolle spielte. Nach geheiligter Tradition<br />

durften nur die besten S<strong>tu</strong>denten im letzten Semester für<br />

Sprechrollen am Theater beigezogen werden. So bewirkte Sjöbergs<br />

Wahl der Erstjahres-S<strong>tu</strong>dentin <strong>Ingrid</strong> erheblichen Widerstand<br />

und persönliche Anfeindung gegen sie – bis hin zum Eklat,<br />

wo ein S<strong>tu</strong>dent, der sie auf der Strasse antraf, ihr ein Buch<br />

auf den Kopf schlug. Sjöberg musste nachgeben und <strong>Ingrid</strong><br />

musste sich während den Pr<strong>ob</strong>en dieses Winters noch aus dem<br />

Stück zurückziehen.<br />

Der Vorfall hätte eine andere achtzehnjährige S<strong>tu</strong>dentin<br />

deprimieren können – bis hin zum Verlassen der Schule. Aber<br />

<strong>Ingrid</strong> war zu entschlossen, im Interesse des Erfolgs durchzuhalten<br />

– und war damit gut beraten. Im folgenden April gelang<br />

es Sjöberg dann doch, etwas für <strong>Ingrid</strong>s Karriere zu <strong>tu</strong>n. Diesmal<br />

brachte er sie zusammen mit ein paar andern Erstklasse-<br />

Mädchen in einer Massenszene von Sheridans klassischer Komödie<br />

"Die Rivalen" unter, die er zwischen Mitte Mai und Anfang<br />

Juni 1934 mit 19 Vorstellungen im Programm hatte. Die<br />

Hauptrolle (Kapitän Absolut) wurde wiederum von Edvin<br />

Adolphson gespielt; zu ihrem Missvergnügen war <strong>Ingrid</strong> nur<br />

53


s<strong>tu</strong>mme Statistin. "Sie war sehr unglücklich darüber," erinnerte<br />

sich <strong>Ingrid</strong> Luterkort, "vielleicht weil ihr Bühnendébut nicht<br />

besser verlief <strong>als</strong> ihr Filmdébut in "Landskamp", wo sie ebenfalls<br />

eine unsichtbare Statistin war.<br />

Während Jahren stand Alf Sjöberg im Verdacht, <strong>Ingrid</strong>s<br />

erste Liebe gewesen zu sein – vermutlich weil er sie so verbissen<br />

in der Schule zu fördern versuchte. Aber wie <strong>Ingrid</strong> später<br />

ihrem ersten und dritten Mann gestand, fiel diese Rolle Edvin<br />

Adolphson zu, einem betörend hübschen Mann, der – wenn die<br />

Rolle es erforderte – einen unwiderstehlichen Sex-Appeal verströmen<br />

konnte. Mit seiner starken Persönlichkeit, dunklem<br />

Haar und dunkeln Augen, seinem bestimmenden Auftreten,<br />

konnte er Männer einschüchtern und Frauen zur kopflosen Unterwürfigkeit<br />

bringen.<br />

Adolphson war 41, verheiratet und Vater. Dessen ungeachtet<br />

war er dieses Frühjahr 1934 bezaubert von diesem ausgelassenen,<br />

ausdrucksvollen achtzehnjährigen Na<strong>tu</strong>rkind, das<br />

ihm schon bei den ersten Pr<strong>ob</strong>en zu "Ett Brott" aufgefallen<br />

war. <strong>Ingrid</strong> fand sein Auftreten glänzend, seine Autorität unwiderstehlich<br />

und sein Interesse an ihr schmeichelhaft. Nach einer<br />

Pr<strong>ob</strong>e zu "Die Rivalen" an einem regnerischen Nachmittag<br />

lud Adolphson <strong>Ingrid</strong> und eine andere junge Kollegin zu einem<br />

Kaffee ein. Am darauffolgenden Sonntag traf er <strong>Ingrid</strong> allein zu<br />

einem Spaziergang durch die engen Strassen der Altstadt, der<br />

sie zufälligerweise zum Schlafzimmer eines Freundes führte,<br />

der angenehmerweise während des Wochenendes auswärts<br />

weilte.<br />

Achtzehn, leidenschaftlich und verspielt, wie sie war,<br />

vermied sie es doch, in die Falle zu treten, die für jene weit<br />

offen stand, die mit dieser Si<strong>tu</strong>ation unrealistische, romantische<br />

Erwar<strong>tu</strong>ngen verknüpft hätten. Vor allem nahm sie die<br />

Tatsache sehr ernst, dass Edvin verheiratet und ein gefeierter<br />

Star war, der zwar eine willige Jungschauspielerin zu schätzen<br />

wusste, nicht aber die öffentliche Schmach. Mit andern Worten:<br />

sie wusste, dass das für sie beide eine vorübergehende<br />

Sache war, und sie erwartete von dieser Beziehung wenig<br />

54


mehr, <strong>als</strong> sie zu bieten vermochte: eine zärtliche Einführung in<br />

die sexuelle Intimität und den Vorteil des Kontakts mit einem<br />

hervorragenden und erfahrenen Schauspieler, der sowohl die<br />

Litera<strong>tu</strong>r wie die Bühnenpraxis kannte und willens war, zu fördern<br />

wie zu liebkosen. So heimlich, wie die Romanze gelebt<br />

sein musste, gibt es keinen Hinweis darauf, dass sie für die<br />

beiden schliesslich etwas anderes war, <strong>als</strong> eine schöne Erinnerung.<br />

Und wie das in <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Leben immer war – eine<br />

Liebesaffäre wurde danach zu einer sympathiebasierten<br />

Freundschaft.<br />

Die gelegentlichen Treffen mit <strong>Ingrid</strong> während dieses<br />

Frühjahrs und Sommers hätten das Jahr hindurch durchaus<br />

unpr<strong>ob</strong>lematisch weitergehen können, wäre da nicht ein Rivale<br />

aufgetaucht, der solche Konkurrenz nicht einfach hingenommen<br />

hätte. <strong>Ingrid</strong>s Kusine Margit (eine Tochter von Onkel Otto<br />

und Tante Hulda) war die begeisterte Patientin eines jungen<br />

Zahnarztes namens Lindström. Eines Sonntagabends im November<br />

1933, kurz nachdem ihre Familie die neue Wohnung<br />

an der Skeppargatan 37, zehn Gehminuten von der Dramaten<br />

entfernt, bezogen hatte, lud sie ihn zum Abendessen ein. "Ich<br />

betrachtete ihn dam<strong>als</strong> einfach <strong>als</strong> alten Mann," erklärte <strong>Ingrid</strong><br />

Jahre später. "Aber ich war noch immer etwas linkisch und in<br />

Gesellschaft unbeholfen...da fühlte ich mich sehr geschmeichelt,<br />

dass ihn meine Gesellschaft nicht langweilte. Er hatte ein<br />

Auto und lebte in einer hübschen Wohnung. All' das machte<br />

mir grossen Eindruck." Lindström, dam<strong>als</strong> mit seinen sechsundzwanzig<br />

Jahren um acht Jahre älter <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong>, war 1 m<br />

85 cm gross, blauäugig und blond. Edvin Adolphsons Ebenbild<br />

punkto seiner äusseren Erscheinung, seines Charmes und<br />

Selbstbewusstseins, hatte er ebenfalls einen soliden professionellen<br />

Hintergrund zu bieten.<br />

Petter Aron Lindström wurde am 1. März 1907 in Stöde,<br />

einem Dorf im rauhen Nordosten Schwedens, <strong>als</strong> Sohn von<br />

Alfred Lindström, dem Garten- und Landschafts-Architekten<br />

der Grafschaft und seiner kultivierten Frau, Brita Lisa Söderberg,<br />

geboren. Seinen zweiten Vornamen trug er zu Ehren eines<br />

verehrten Onkels, weshalb er von Kindsbeinen an Aron<br />

55


gerufen wurde, oder eben der schwedischen Tradition zufolge<br />

Petter Aron. Mit zwanzig schaffte er an der Universität Heidelberg<br />

seinen Abschluss in Zahnheilkunde; vier Jahre später erhielt<br />

er von der Universität Leipzig einen Lehrauftrag in der<br />

Dentalmedizinischen Forschung. Somit verfügte Petter dieses<br />

Frühjahr 1934 über eine Professur und eine eigene Zahnarzt-<br />

Praxis; nebenher setzte er zügig sein Medizins<strong>tu</strong>dium fort. Als<br />

begnadeter und erfolgreicher Arzt pflegte er auch diverse kul<strong>tu</strong>relle<br />

und sportliche Interessen. Ein Könner auf der Skipiste<br />

und im Boxring, war er auch ein starker Wanderer, ein glänzender<br />

Schwimmer und ein unermüdliches Wunderkind auf<br />

dem Tanzboden. Nur für Theater und Film schien er nichts übrig<br />

zu haben. (Lindström liess in Amerika den ö-Umlaut in seinem<br />

Namen übrigens fallen und signierte stets mit Lindstrom.<br />

Wir berücksichtigen diesen Punkt hier aber nicht weiter.)<br />

Zu Beginn des neuen Jahres wurde Petter eingeladen,<br />

sich Margit und ihrem Freund <strong>als</strong> Begleiter für <strong>Ingrid</strong> zu einem<br />

Ball im Grand Hotel anzuschliessen. "Ich bewundere Ihr schönes<br />

Haar," sagte er ihr an jenem Abend. "Und die schöne<br />

Stimme, die Sie haben." Mit derartigen Komplimenten kam er<br />

gut voran. Ironischerweise war es vermutlich ihrem durch Edvin<br />

Adolphson gestärkten Selbstvertrauen zuzuschreiben, dass<br />

<strong>Ingrid</strong> dieses Frühjahr mit dieser trockenen Umwerbung durch<br />

den sehr korrekten jungen Zahnarzt zurechtkam.<br />

Otto und Hulda <strong>Bergman</strong> wussten nichts von <strong>Ingrid</strong>s<br />

Romanze mit Adolphson. Umsomehr unterstützten sie die<br />

wachsende Freundschaft zwischen ihrer Nichte und dem netten<br />

jungen Zahnarzt. Er hatte einen geachteten und einträglichen<br />

Beruf, er war eine Seele von Charme, machte sich endlos nützlich,<br />

wo er konnte, und bald begann <strong>Ingrid</strong>, seine Auffassungen<br />

zu vertreten und sich zunehmend auf seinen Rat und sein Urteil<br />

– u.a. beispielsweise in Fragen der Gesundheit und Diät -<br />

zu verlassen. Während ihre Beziehung zu Edvin höchst unsicher<br />

war und im Verstohlenen blühen musste, brachte Petter<br />

Stabilität, und man konnte sich in aller Offenheit treffen. Darüber<br />

hinaus rief noch Vieles in ihr nach väterlicher Fürsorglichkeit<br />

und Führung (worin allerdings auch eine von Edvins Stär-<br />

56


ken zu erkennen war), Qualitäten <strong>als</strong>o, die auch Petter durchaus<br />

zu bieten hatte. "Für eine Waise wie <strong>Ingrid</strong>," sagte ihr<br />

Zeitgenosse, Bertil Lagerström, "muss Lindström echte Sicherheit<br />

bedeutet haben" – speziell, könnte man beifügen, mit der<br />

Überzeugungskraft und Unbeugsamkeit, die er verströmte.<br />

Petter war nicht der einzige redegewandte und überzeugende<br />

Dozent der Geschichte, der seine Talente ausserhalb des Hörsa<strong>als</strong><br />

einsetzte, wo er manchmal (nach Auffassung einer seiner<br />

Zuhörerinnen, Alice Logardt-Timander) von den S<strong>tu</strong>denten<br />

sehr gefürchtet wurde. Er hatte es eben so an sich, überall zu<br />

dominieren.<br />

"Es war nicht Liebe auf den ersten Blick," sagte <strong>Ingrid</strong><br />

später vom Anfang dieser Beziehung, "aber es entstand etwas<br />

daraus, was für uns beide sehr wichtig wurde und ohne das wir<br />

nicht mehr leben wollten." Vielleicht dachte sie an Edvin, <strong>als</strong><br />

sie hinzufügte, "Und trotzdem ich die jungen Männer am Theater<br />

mochte, fühlte ich, dass ich mich auf seinen gesunden<br />

Menschenverstand besser verlassen konnte." Im Frühsommer<br />

1934 sahen sie sich sehr oft. Sie dinierten und tanzten an den<br />

Samstag Abenden und am Sonntag streiften sie dem Hafen<br />

entlang und durch die ruhigen Gefilde des Djurgårdens, das<br />

ehemalige Jagdrevier der königlichen Familie, wo später N<strong>ob</strong>el-<br />

Residenzen, ein Vergnügungspark wie das Kopenhagener Tivoli<br />

erstellt wurden, wo historische Exponate, detailgetreu wiederhergestellte<br />

Bauten den ursprünglichen schwedischen Lebensstil<br />

erahnen liessen und auch Reitwege angelegt waren. Zum<br />

Sonntags-Lunch oder Nachmittagstee begaben sie sich zum<br />

Hasselbacken, einem eleganten Ort, wo sich die fröhliche jugendliche<br />

Kundschaft und ein Tanzorchester am Abend Stelldichein<br />

gaben, und abwechslungsweise wanderten sie mit einem<br />

Picnic-Lunch in der Tasche durch die Wälder, Petter mit<br />

seinem mit Ziegelsteinen gefüllten Rucksack, von dem er sagte,<br />

dass er beim Wandern seine Muskeln stärke. Edvin traf sie<br />

nun vielleicht noch einmal in zwei Wochen.<br />

"Vor dir konnte ich mit niemandem über mich reden,"<br />

sagte <strong>Ingrid</strong> zu Petter, der sich Jahre später erinnerte: "Ich<br />

hörte ihr zu. Ich erfuhr, dass sie eine sehr schwere Jugend<br />

57


hinter sich hatte und dass sie zuhause niemanden hatte, dem<br />

sie sich anvertrauen konnte. Sie tat mir leid, ich wollte ihr helfen<br />

– und natürlich mochte ich sie."<br />

Aber im Moment wusste er nichts von ihren fortgesetzten<br />

Rendezvous mit Adolphson, w<strong>ob</strong>ei seine Hingabe an die<br />

Erfordernisse seiner Karriere den S<strong>tu</strong>rm der Leidenschaft ohnehin<br />

dämpften. "Lindström brauchte sehr lange um sich bewusst<br />

zu werden, dass er mich liebte," schrieb <strong>Ingrid</strong> später in<br />

ihren Memoiren. "Ich denke, sich in eine Schauspielerin zu verlieben,<br />

passte überhaupt nicht zu seinen Lebensvorstellungen<br />

... er verliebte sich praktisch ohne es wirklich wahrzunehmen."<br />

Während den Sommerferien 1934 verzichtete <strong>Ingrid</strong><br />

darauf, ihre Schauspielschul-Kollegen auf eine Russlandreise<br />

zu begleiten. Edvin Adolphson, der inzwischen von seinem attraktiven<br />

Rivalen wusste, legte einen andern Gang ein, um das<br />

komfortable Verhältnis mit <strong>Ingrid</strong> über die Runden zu retten.<br />

Und seine für die eifrige junge Schauspielerin unwiderstehliche<br />

Strategie war einfach. Mit der Regie in einer Filmkomödie beauftragt,<br />

die diesen Sommer produziert werden sollte, setzte<br />

er <strong>Ingrid</strong> in die einzige junge weibliche Rolle ein, deren Attraktivität<br />

durch die Arbeit mit dem Autor Gösta Stevens noch aufgewertet<br />

wurde. Schliesslich machte er sich das Vergnügen,<br />

die männliche Hauptrolle <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong>s romantischer Liebhaber<br />

selbst zu übernehmen.<br />

Es handelte sich um den Film "Munkbrogreven" (Der<br />

Mönchsbrücken-Graf), der in einem pittoresken Teil der Stockholmer<br />

Altstadt spielt. Er basierte entfernt auf einem Stück von<br />

Siegfried und Arthur Fischer, das sich bei der komischen Erfindungsgabe<br />

des französischen Filmregisseurs René Clair einige<br />

Anleihen holte. Am 12. Juli begann <strong>Ingrid</strong> die Arbeit am Film,<br />

wofür sie eine Gage von etwas mehr <strong>als</strong> $ 150.- erhielt. Sie<br />

wurde an zwölf Tagen benötigt, war aber während sechs Wochen<br />

täglich bei den Dreharbeiten – nicht nur, um Edvin<br />

Adolphson zu sehen, sondern weil sie vom Director of photography,<br />

Åke Dahlquist, möglichst alles lernen wollte, was mit<br />

Filmaufnahmetechnik, Objektiven, Linsen, Belich<strong>tu</strong>ng, Tricks<br />

58


und so weiter zu <strong>tu</strong>n hatte. Als ihres Vaters Tochter hatte sie<br />

jederzeit eine kleine Box-Kamera zur Hand, mit der sie Familienanlässe<br />

dokumentierte. Jetzt wollte sie jede Art von Aufnahme<br />

verfolgen und die Welt des Films bei der Arbeit mit ihren<br />

neuen Kollegen förmlich in sich aufsaugen.<br />

ALS EINE GEWINNENDE KOMÖDIE der schlechten Manieren<br />

gab "Munkbrogreven" <strong>Ingrid</strong> massenhaft Gelegenheiten,<br />

die Figur der Elsa ausgiebig zu gestalten; das lebenslustige<br />

Zimmermädchen arbeitete im Billighotel ihrer schlampigen alten<br />

Tante, das stark von gutmütigen Schmugglern frequentiert<br />

wurde, welchen oft die Polizei auf den Fersen war. Der mysteriöse<br />

Fremde namens Åke (Adolphson), der nun im Hotel auftaucht,<br />

macht den Anschein, ein Gauner-Ass zu sein, ein Ganove<br />

der schlimmsten Sorte, der dem Ruf der etablierten<br />

Schmugglergesellschaft aufs Übelste schadet. Am Schluss wird<br />

er aber <strong>als</strong> recherchierender Journalist enttarnt, der gesuchte<br />

Übeltäter wird gefasst und Åke besiegelt seine Romanze mit<br />

Elsa durch die Heirat.<br />

<strong>Ingrid</strong> schaffte hier ein beeindruckendes Début und Edvin<br />

freute sich darüber mächtig für sie beide. Die Begegnung<br />

mit dem charismatischen, hübschen Fremden löste in ihr Ängste,<br />

Neugier und erotische Faszination aus. Da gab es aber kein<br />

Zeichen von Überreaktion, von übertriebener Mimik und auch<br />

keine gestohlene Szene, im Gegenteil – speziell, wenn sie sich<br />

am Piano selbst begleitete und das kecke Lied "Golden Chains<br />

Are Love's Bands" sang, lieferte <strong>Ingrid</strong> das bestechend natürliche<br />

Portrait eines verknallten Mädchens, das an seinem Freund<br />

nur das Beste sehen wollte. Adolphson und Alquist fotografierten<br />

sie aufs sorgfältigste, um die Kontraste zwischen ihrer hellen<br />

Haut und dem lichtbraunen Haar gegen Adolphsons verführerisch<br />

dunkle und anziehende Persönlichkeit optimal herauszuholen.<br />

<strong>Ingrid</strong>s natürliche Fröhlichkeit verströmte einen ungekünstelten<br />

Charme, und sie bestätigte sich während des ganzen<br />

Films <strong>als</strong> absolut fähiges und zuverlässiges Ensemble-<br />

Mitglied unter erfahrenen, älteren Mitspielern.<br />

59


Viel später verbreiteten einige Kritiker negative Berichte<br />

über <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Leis<strong>tu</strong>ngen in den schwedischen Filmen<br />

der 1930er-Jahre, womit sie die Bedeu<strong>tu</strong>ng ihrer Arbeit in Europa<br />

vor ihrem Weggang nach Amerika untergruben. Aber mit<br />

"Munkbrogreven" erlebten Publikum und Presse den Auftritt<br />

einer neuen, verführerischen Schauspielerin. Bei der Premiere<br />

des Films 1935 fassten zwei Kritiker die öffentlichen Reaktionen<br />

auf den Film zusammen. "<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> zeigt in ihrem<br />

Filmdébut grosses Talent und viel Selbstvertrauen," schrieb der<br />

eine, und der andere pries sie <strong>als</strong> "eine erfrischende und unkomplizierte<br />

junge Dame, insgesamt ein echter Gewinn für den<br />

Film." Vom Anfang ihrer Karriere an bestach sie das Publikum<br />

mit ihrer unaffektierten Lebendigkeit und ihren schwungvollen,<br />

klaren Wechseln der Emotionen. Es schien immer, <strong>als</strong> würde<br />

ein inneres Leben die äussere Handlung ihrer Charaktere<br />

bestimmen; und dennoch gab es da auch gewisse Zögerlichkeiten<br />

in der Darstellung ihrer Emotionen. Kurz, sie machte<br />

den Eindruck einer natürlichen Person und nicht den einer Darstellerin<br />

von eins<strong>tu</strong>dierten Gefühlen.<br />

Dann traf sie eine kühne Entscheidung. Am 20. August,<br />

gerade bevor die S<strong>tu</strong>denten für das neue Semester den einzelnen<br />

Klassen zugeteilt wurden, erschien <strong>Ingrid</strong> im Büro des<br />

neuen Theater-Direktors, Olof Molander, um ihm mitzuteilen,<br />

dass sie die Schule verlasse. Sie habe eben die Arbeit an einem<br />

Film fertiggestellt, einen zweiten begonnen und den Vertrag<br />

für einen dritten in der Tasche, dessen Regisseur übrigens<br />

niemand anderer war <strong>als</strong> Olof Molanders Bruder, der berühmte<br />

und erfolgreiche Gustav Molander. "Das brauchte schon ein<br />

gutes Stück Selbstüberwindung und Mumm," sagte Lindström<br />

Jahre später. "Olof Molander würde wütend und sagte ihr, sie<br />

ruiniere damit ihre vielversprechende Karriere. Aber sie blieb<br />

dabei." Rudolph Wendbladh, der spätere Superintendant der<br />

Schule, unterstützte 1934 die kurzsichtige Optik von <strong>Ingrid</strong>s<br />

Lehrern: "Welch' ein Jammer! Welch' grosse Schauspielerin<br />

hätte aus ihr werden können!" Er kam nie auf diese Diagnose<br />

zurück.<br />

60


In Windeseile zurück im S<strong>tu</strong>dio der Svenska Filmindustri,<br />

war <strong>Ingrid</strong> glücklich, im Melodrama "Bränningar" (15<br />

Jahre später in Amerika unter dem Titel "The Surf" lanciert)<br />

eine völlig andere Rolle übernehmen zu können, <strong>als</strong> die der<br />

mädchenhaften, liebeskranken Elsa war. Als Karin spielte sie<br />

die Tochter eines armen Fischers, die von einem lüsternen Pastor<br />

geschwängert und dann sitzen gelassen wird, indem er die<br />

Stadt verlässt. Buchstäblich vom Blitz getroffen, kehrt er nach<br />

seiner Rekonvaleszenz wieder in die Stadt zurück und ist vom<br />

Lebensmut des Mädchens und seiner Hingabe <strong>als</strong> Mutter zutiefst<br />

gerührt. Trotz seiner Äch<strong>tu</strong>ng bekennt er sich öffentlich<br />

zu seiner Schuld, verlässt den Kirchendienst und beginnt mit<br />

Karin und dem Kind ein neues Leben auf einer Farm<br />

Zum ersten Mal musste <strong>Ingrid</strong> die Mühen von Aussenaufnahmen<br />

durchstehen, von welchen sie aber wieder viel<br />

Neues über das Filmhandwerk lernte. Auf der kleinen Insel<br />

Prästgrund vor der schwedischen Nordküste roch es durchdringend<br />

nach verwesendem Fisch, was sie aber verkraften konnte.<br />

In ihr Tagebuch schrieb sie: "Als Primadonna war ich zwei<br />

S<strong>tu</strong>nden auf See.<br />

Denn zum allerersten Mal baten mich die Leute um ein<br />

Autogramm. Die Mannschaft verehrte mich und vor<br />

lauter Komplimenten musste ich mich wirklich bemühen,<br />

meinen Kopf auf den Schultern zu behalten. Ich<br />

hoffe nur, ich sei in allen Szenen wirklich gut gewesen.<br />

Bei den Pr<strong>ob</strong>en denke ich war alles gut, aber dann bei<br />

den Aufnahmen ist das nicht ganz dasselbe. Was mich<br />

glücklich machte, war, dass Sten Lindgren, der meinen<br />

Liebhaber-Kirchenmann spielt, fürchtet, dass unsere<br />

Liebesszenen so leidenschaftlich seien, dass sie womöglich<br />

in der Zensur hängen bleiben könnten."<br />

Diese Pr<strong>ob</strong>lembilder wurden nicht geschnitten, aber leider<br />

auch das etwas feucht-muffige Szenario nicht. Nicht zum<br />

letzten Mal veredelte <strong>Ingrid</strong> durch ihr Spiel an sich unbedeutendes<br />

Material (geschrieben vom Regisseur Ivar Johansson)<br />

und liess eine eher fade, einsilbige Figur ohne einen Hauch von<br />

61


62<br />

1934 - in „Bränningar“


schmalziger Sentimentalität glaubhaft und sympathisch werden.<br />

"Sie ist einmalig!" applaudierte eine massgebende Kritik,<br />

<strong>als</strong> der Film gerade nur einen Monat nach dem "Munkbrogreven"<br />

in die Kinos kam. "Ihr Spiel ist sehr ausgewogen und<br />

zärtlich, sie ist graziös und natürlich."<br />

Zurück in den Stockholmer S<strong>tu</strong>dios war die Rede schon<br />

von der genialen und unbefangenen Neunzehnjährigen, die<br />

ihre Texte im Handumdrehen in<strong>tu</strong>s hatte, nie über Wiederholungen<br />

oder mühsame Aussenaufnahmen klagte und überhaupt<br />

alles interessant fand. "Weil ich immer Lindström hinter<br />

mir fühlte," sagte sie, "packte ich alles voller Zuversicht an.<br />

Auch wenn ich ihn einige Zeit nicht sehen konnte, wusste ich,<br />

er war da, mir zu helfen und beizustehen." Sogar Otto und<br />

Hulda waren nun doch sehr beeindruckt vom Erfolg ihrer Nichte.<br />

Bevor sie im November 1934 zu ihrem nächsten Film<br />

eilte, verbesserte die Filmgesellschaft <strong>Ingrid</strong>s Vertrag um jährlich<br />

zusätzliche $ 500 und die Aussicht auf weitere jährliche<br />

Erhöhungen um jeweils 20 %. Das war nichts im Vergleich zu<br />

den Gagen, die erfahrene Berufsschauspieler wie Edvin<br />

Adolphson oder Karin Swanström erhielten, aber <strong>Ingrid</strong> war –<br />

schon dam<strong>als</strong> wie immer danach – mehr an ihrer guten Arbeit<br />

und ihrer beruflichen Entwicklung interessiert, <strong>als</strong> an hohen<br />

Gagen. Wie ihr öfters gesagt wurde, würden Schauspieler mit<br />

Bühnenarbeit selten reich; bei ihren Verhandlungen spielte das<br />

Geld auch nie eine grosse Rolle. Solange sie ihren vernünftigen<br />

Lebensstil gesichert sah (was durch ihren familiären Hintergrund<br />

ohnehin der Fall war) und sie immer neue Rollen spielen<br />

konnte (wofür ihre Arbeitgeber eifrig sorgten), überliess sie die<br />

finanziellen Belange ihres Lebens dem Schicksal. Ihre Philosophie<br />

war einfach: solange sie gute Arbeit leistete, würde sie<br />

gut bezahlt. Sie suchte Anerkennung, nicht Reichtümer. Popularität<br />

betrachtete sie <strong>als</strong> Zeichen der öffentlichen Zustimmung,<br />

und darauf war sie begierig.<br />

Das Jahr endete mit ihrer Beteiligung an einem Film von<br />

Hjalmar <strong>Bergman</strong>s Geschichte von einer exzentrischen Familie,<br />

63


"Swedenhielms", mit Regisseur Gustav Molander. Während der<br />

Wirtschaftsdepression wurden weltweit Komödien über reiche<br />

Familien produziert, die in Not geraten und dann mit ihrem<br />

kärglichen Leben ganz flott und fröhlich zurechtkommen; dann<br />

gab es auch die unglaublichsten Geschichten über glückliche<br />

Arme, die sich neben den sorgenvollen Reichen fröhlich durchs<br />

Leben mauserten. Die Swedenhielms haben aber ein anderes<br />

Pr<strong>ob</strong>lem: Papa, ein Wissenschafter, giert nach dem N<strong>ob</strong>elpreis,<br />

während seine drei Kinder nur den Jahren nach erwachsen sind<br />

und ausschliesslich die Annehmlichkeiten dieses Standes geniessen<br />

möchten. Kapriziös, rechthaberisch und bequem, lernen<br />

sie schliesslich die Bedeu<strong>tu</strong>ng eines ehrenhaften Lebensstils<br />

von ihrer Haushälterin (einer von Karin Swanström gespielten,<br />

rührenden und humorvollen Persönlichkeit) kennen.<br />

Gleichzeitig sieht Papa seinen Herzenswunsch erfüllt, nachdem<br />

er die schmerzliche Erfahrung machen musste, dass er die Ehre<br />

seiner Familie übergangen hatte. Alle – einschliesslich Astrid<br />

(<strong>Ingrid</strong>), ein reiches Mädchen, das den abgebrannten, faulen<br />

Sohn eines Wissenschafters unterstützen will – erkennt darin<br />

die Bedeu<strong>tu</strong>ng echter Verantwor<strong>tu</strong>ng und wird damit um Erfahrungen<br />

reicher.<br />

<strong>Ingrid</strong>s Rolle war sicher nebensächlich, was sie aber<br />

glücklich machte, war der Umstand, dass sie ihren Mädchentraum<br />

verwirklichen konnte, nämlich "in einem Film mit Gösta<br />

Ekman aufzutreten", den sie auf der Bühne wie auf der Leinwand<br />

so sehr bewunderte. "Als wäre er mein Vater," bemerkte<br />

sie nachdenklich, "inspirierte er mich auf eine ganz mystische<br />

Art. Ich verehre ihn mehr denn je." Er selbst bewunderte an<br />

ihr ihre Professionalität und versprach, sie hätten nicht zum<br />

letzten Mal zusammengearbeitet. "Du bist wirklich sehr talentiert,"<br />

sagte er, "du hilfst mir in meiner Rolle, weil sich jedes<br />

meiner Worte in deinem Gesicht und Ausdruck widerspiegelt.<br />

Das erlebt man heute sehr selten." Die Kritiker berichteten,<br />

dass <strong>Ingrid</strong>s Szenen mit Co-Star Håkan Westergren die Hitze<br />

eines liebeskranken Mädchens mit der Angst einer Frau verbanden,<br />

sie könne ihren Mann verlieren.<br />

64


"Ich fand die Arbeit mit Gustav Molander wundervoll,"<br />

bescheinigte <strong>Ingrid</strong> später dem Regisseur, der<br />

"mir beibrachte, wie herunterzuspielen und jederzeit<br />

aufrichtig und natürlich zu agieren." Sein Rat: "Keine<br />

Experimente, nicht niedlich sein wollen. Sei immer du<br />

selbst und lerne deine Zeilen gut." Im Set gab er mir<br />

ein starkes Gefühl von Sicherheit. Er rannte nicht<br />

ständig weg ans Telefon oder kümmerte sich um hundert<br />

andere Dinge, wie ich das bei anderen Regisseuren<br />

erlebt habe. Er konzentrierte sich stets auf die<br />

Szene, auf dich."<br />

Aber dankbar und kooperativ, wie sie war, blieb <strong>Ingrid</strong><br />

oft an Details hängen. Nach vielen Wiederholungen einer Szene<br />

in Swedenhielms (bedingt durch Kamerapr<strong>ob</strong>leme), hatte<br />

sie es endlich geschafft und Molander sagte, sie könne gehen.<br />

Aber dann rief der Kameramann: "<strong>Ingrid</strong>, geh' nicht weg, wir<br />

ändern die Beleuch<strong>tu</strong>ng für die nächste Szene – bleib' wo du<br />

stehst." "Es ist heiss hier,"antwortete sie, "und ich brauche<br />

eine Pause."<br />

INGRID BEGANN DAS JAHR 1935 mit Hoffnung und in<br />

Sorge. Sie freute sich auf ihre erste Premiere – "Munkbrogreven"<br />

am 21. Januar im Scandia Theater – und fürchtete sich<br />

zugleich davor.<br />

"Ich fühle mich sicher und unsicher zugleich," vertraute<br />

sie ihrem Tagebuch an, "Ich bin verunsichert durch<br />

die ganze Publizität, die da betrieben wurde, und hoffe<br />

nur, den Erwar<strong>tu</strong>ngen des Publikums auch gerecht zu<br />

werden. Was würden nur Mama und Papa dazu sagen,<br />

wenn sie mich hier in meiner Einsamkeit sehen könnten.<br />

Ich möchte mich in jemandes Arme kuscheln, der<br />

mich beschützt, tröstet und lieb hat."<br />

Diesen Komfort bot ihr Lindström, der diesen Winter eine<br />

Woche Urlaub nahm und mit <strong>Ingrid</strong> zum Skifahren nach Norwegen<br />

fuhr. Eine Arbeitspause war dam<strong>als</strong> wie später äusserst<br />

65


selten für ihn: auf seine Karriere fokussiert, betrachtete er das<br />

Privatleben nur <strong>als</strong> einen Teil des Lebens – und eben nicht <strong>als</strong><br />

den wichtigsten. Er wollte sein Talent vollumfänglich der Wissenschaft<br />

und seinen Patienten widmen – daher auch sein Bemühen<br />

um die Armen und für seinen Ruf <strong>als</strong> Arzt. Von<br />

Lindström wie von ihren Lehrern und Regisseuren wurde <strong>Ingrid</strong><br />

das Primat der Arbeit auf Lebenszeit eingepaukt. Das Schauspiel<br />

war für sie eine Berufung, wie die Medizin für ihn: nicht<br />

einfach ein J<strong>ob</strong>, beides gipfelte in einer hochstehenden, wertvollen<br />

Kunst und bedeutete nicht einfach die Strasse zu Reich<strong>tu</strong>m<br />

und Ruhm.<br />

"Sie ist nicht sonderlich intelligent, aber sie ist speziell,"<br />

behauptete Lindström von <strong>Ingrid</strong> und meinte damit vielleicht<br />

nur ihre Schulbildung und ihre geringe Lebenserfahrung; vielleicht<br />

hatte er auch ihr mädchenhaftes Wesen und die Unbeschwertheit,<br />

mit der sie lachte oder ihre Meinung zum Besten<br />

gab, im Auge. Aber er lag mit seiner Behaup<strong>tu</strong>ng daneben,<br />

denn <strong>Ingrid</strong> hatte eine schnelle Auffassungsgabe, das ausgesprochene<br />

Talent, Fremdsprachen schnell zu erlernen und die<br />

Fähigkeit, komplizierte Texte im Handumdrehen im Kopf zu<br />

haben. Noch in diesem Jahr erschien in einem Zei<strong>tu</strong>ngsartikel<br />

die unterkühlte Mitteilung, wonach Lindströms Elternhaus in<br />

Stöde nun für die Waise <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> zum zweiten Heim geworden<br />

sei.<br />

Je näher sich die beiden nun kamen, desto mehr wurde<br />

Lindström zum Beschützer, Bewacher und Berater seiner willigen<br />

Freundin. Mittlerweile pflegte er, nach dem Bericht eines<br />

befreundeten Journalisten, "<strong>Ingrid</strong> regelmässig seine guten<br />

Ratschläge zu erteilen, und keine einzige Filmszene mit ihr habe<br />

das Labor ohne die Zustimmung des kunstbesessenen Zahnarztes<br />

verlassen." Natürlich wird hier übertrieben, denn keiner der<br />

beiden hatte den geringsten Einfluss auf den endgültigen<br />

Schnitt ihrer Filme. Sie stand unter Vertrag, und diese Entscheidungen<br />

wurden höherenorts getroffen, w<strong>ob</strong>ei die Meinung<br />

eines Beaus noch schneller vom Tisch gewesen wäre, <strong>als</strong> die<br />

eines Ehemanns. Dennoch, Lindströms lebenslanges Dementi,<br />

66


dass er Einfluss auf ihre Karriere-Entscheidungen genommen<br />

habe, wird durch die Tatsachen widerlegt.<br />

Natürlich rief sie seine Gefühle wach und er ging auch<br />

willig darauf ein. Ausserdem verfügte Lindström über einen<br />

hellwachen Geschäftssinn, w<strong>ob</strong>ei <strong>Ingrid</strong> ihre eigene Schwäche<br />

auf diesem Gebiet nur allzugut kannte. Seine späteren Beteuerungen<br />

hinsichtlich seiner Zurückhal<strong>tu</strong>ng und Nichteinmischung<br />

in Ihr Berufsleben, sowohl in Schweden wie auch später in<br />

Amerika, betrafen nicht sein Interesse an ihrer Karriere. "Von<br />

allem Anfang an," stellte <strong>Ingrid</strong>s ehemalige Freundin, die Kolumnistin<br />

Marianne Höök, fest, "war <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> starke Frau auf<br />

der Suche nach einem noch stärkeren Mann." Petter Aron<br />

Lindström war das.<br />

Ihr persönliches Glück wurde 1935 durch gute Arbeit<br />

vervollkommnet. Nach der Arbeit mit ihrem Idol Gösta Ekman<br />

begann ihr rasanter Aufstieg durch Filme mit Lars Hanson, Victor<br />

Sjöström und wiederum mit Edvin Adolphson und Karin<br />

Swanström. Zum ersten, Gustaf Edgrens "Valborgsmässoafton"<br />

(Walpurgisnacht), trug sie eine Kraft und Überzeugung bei, die<br />

allein verhinderte, dass die Sekretärin-<strong>als</strong>-treue-Geliebte-Rolle<br />

zum Cliché verkam. Der Film, eine deftige Geschichte für die<br />

damalige Zeit, wurde in Amerika nicht freigegeben, bevor die<br />

Zensur 1941 die nötigen Schnitte vorgenommen hatte: Eine<br />

Frau (Karin Carlsson), die der Abtreibung einer Schwangerschaft<br />

den Vorzug vor dem Verlust der jugendlichen Figur gibt.<br />

Die Entrüs<strong>tu</strong>ng darüber treibt ihren Ehemann in die Arme seiner<br />

von ihm ohnehin schon verehrten Sekretärin Lena (<strong>Ingrid</strong>), der<br />

Tochter eines so mächtigen wie sittenstrengen Zei<strong>tu</strong>ngsverlegers<br />

(Sjöström). In Szenen von Liebe und Auseinandersetzung,<br />

zeigte <strong>Ingrid</strong> – nun auf dem Höhepunkt ihrer jugendlichen<br />

Schönheit und hinreissend fotografiert von Martin Bodin – wie<br />

gut sie von Molander die Kunst des Herunterspielens und des<br />

Spiels mit transparenter Aufrichtigkeit gelernt hatte.<br />

Inzwischen hatte <strong>Ingrid</strong> auch mehr Selbstvertrauen gewonnen.<br />

Eines Tages traf sie Karin Swanström, die im Set nicht<br />

gerade benötigt wurde und ihrer Doppelrolle <strong>als</strong> S<strong>tu</strong>dio-Casting-<br />

67


Agentin nachging, auf dem Weg zur Arbeit. "Was für einen<br />

schrecklichen Hut haben Sie an, Miss <strong>Bergman</strong>," sagte<br />

Swanström durch ihre Lorgnette starrend, "der ist doch nicht<br />

etwa für die Szene, oder?"<br />

<strong>Ingrid</strong> erwiderte, dass er das allerdings sei: "Sie sind die<br />

einzige, die ihn nicht mag!"<br />

"Nicht nur das," sagte Swanström, "Hier treffe ich die<br />

Entscheidungen. Wir werden einen anderen Hut nehmen!"<br />

"Und ich bin diejenige, die die Szene spielt, was mir das<br />

Recht gibt, meine Meinung dazu zu haben."<br />

Dem Augenzeugen zufolge fiel Swanström die Lorgnette<br />

aus der Hand, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> ihren Kopf h<strong>ob</strong> und ihres Wegs ging.<br />

Auch in schwierigeren Si<strong>tu</strong>ationen hielt sie stand. Ein<br />

sehr einflussreicher S<strong>tu</strong>dio-Kadermann beschloss, etwas ganz<br />

Persönliches zu unternehmen und teilte <strong>Ingrid</strong> mit, dass sie für<br />

eine Pressekonferenz in Göteborg gebraucht werde, um "Walpurgisnacht"<br />

zu propagieren. Eben im Begriff, zu Bett zu gehen,<br />

hörte sie es an ihre Schlafwagenabteiltür klopfen. Sie öffnete<br />

und fand ihren S<strong>tu</strong>diomann in langer Unterwäsche mit einer<br />

Flasche Champagner im Arm vor der Tür, der sich lächelnd vernehmen<br />

liess: "Ich dachte, wir sollten uns doch das 'Du'<br />

(deutsch ausgesprochen. D.Ueb.) anbieten", womit er auf die<br />

vertraulich-familiäre Anrede abzielte, die im beruflichen Umgang<br />

dam<strong>als</strong> nicht üblich war. "Nothing doing", entgegnete <strong>Ingrid</strong><br />

auf Englisch mit einem klugen Wortspiel und drückte die Tür<br />

vor seiner Nase ins Schloss.<br />

Ihr nächster Film, "På Solsidan" (Auf der Sonnenseite)<br />

war eine etwas seichte Romanze, aber mit den Co-Stars Hanson<br />

und Adolphson schloss <strong>Ingrid</strong> ein extrem attraktives Dreieck.<br />

In- und ausserhalb des Sets war <strong>Ingrid</strong> zu Adolphson so herzlich<br />

wie zu allen andern in der Produktion, aber <strong>ob</strong>schon sie ihn<br />

weiterhin sowohl <strong>als</strong> Verbündeten, wie auch <strong>als</strong> Freund betrachtete,<br />

war sie nun fest an Lindström gebunden und nahm keine<br />

weiteren Einladungen mehr von Edvin an. Über seine Reaktion<br />

auf das Ende der Romanze ist nichts bekannt, ausser dass es<br />

68


ihm auch weiterhin nie an der Wertschätzung und Gesellschaft<br />

anderer dankbarer Frauen fehlte.<br />

Mit diesem Film machten <strong>Ingrid</strong>s Stern und Aktien bei<br />

den schwedischen Kritikern einen weiteren deutlichen Sprung<br />

nach <strong>ob</strong>en: "<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> ist blendend schön und spielt mit<br />

starker Inspiration", schrieb ein verliebter Journalist <strong>als</strong> der<br />

Film – ihr fünfter innerhalb Jahresfrist – im Februar 1936 in die<br />

Kinos kam. "<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> ist <strong>als</strong> Schauspielerin und Frau<br />

reifer geworden, und man kann nicht anders, <strong>als</strong> vor ihrer<br />

Schönheit und ihrem Talent kapi<strong>tu</strong>lieren", fügte ein anderer bei.<br />

Als der Film im Sommer 1936 nach New York kam, wurde <strong>Ingrid</strong><br />

erstm<strong>als</strong> in der amerikanischen Presse erwähnt, und zwar<br />

ebenfalls positiv <strong>als</strong> absolut Hollywood-taugliche Schauspielerin<br />

(Variety). Der New York Times-Kritiker, der den Film langweilig<br />

fand, pries dennoch ihren natürlichen Charme, der alles zum<br />

Guten wende...Miss <strong>Bergman</strong> dominiert das Feld."<br />

Dieses Jahr gab es in Amerika keinen neuen Greta Garbo-Film,<br />

und Marlene Dietrichs Karriere hatte in der Folge einer<br />

engen Verbindung mit dem Regisseur Josef von Sternberg einen<br />

spürbaren Dämpfer erhalten. So standen die Menschenschlangen<br />

nun vor den Kassen des Cinéma de Paris, um die<br />

neue schwedische Schönheit zu sehen, "deren Stern so rasend<br />

schnell das skandinavische Filmfirmament er<strong>ob</strong>ert hat" – wie<br />

der New York Times-Artikel schloss.<br />

INZWISCHEN, ANFANGS 1936, verband <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong><br />

und Dr. Lindström eine zweijährige inoffizielle Beziehung, die<br />

durch Petters Initiative besiegelt wurde, <strong>als</strong> Onkel Otto am 12.<br />

März verstarb. "Ich erinnere mich gut, wie aufmerksam Petter<br />

dam<strong>als</strong> zu mir war," sagte <strong>Ingrid</strong> später,<br />

"Seine Liebenswürdigkeit und Anteilnahme berührten<br />

mich tief. Bald entdeckte ich, dass solches bei ihm<br />

nicht ungewöhnlich war. Er war sehr grosszügig und<br />

stets hilfsbereit. Alt und Jung suchte bei ihm Rat<br />

oder kam einfach, um sich an seiner Schulter auszu-<br />

69


70<br />

heulen. Alle betonten, wie glücklich sie für mich waren,<br />

dass ich einen derart netten Mann gefunden habe.<br />

Und das war auch ich."<br />

Nun war es an der Zeit, dass <strong>Ingrid</strong> Petter Tante Mutti<br />

vorstellte, weshalb sie mit der Fähre Kurs nach Deutschland<br />

nahmen. Frau Adler war sehr beeindruckt von Dr. Lindströms<br />

Persönlichkeit, seiner Art und seinem Verhalten, seinem<br />

Charme und seinem exzellenten Deutsch, und sie sah diese<br />

Verbindung zwischen ihrer Nichte – der Kindna<strong>tu</strong>r, wie sie<br />

<strong>Ingrid</strong> nannte - und dem ausgleichenden Wesen des jungen<br />

Akademikers sehr gerne.<br />

Aber vom ersten Moment bei ihrer Ankunft an, war<br />

Petter alarmiert. Frau Adler sei, wie er sagte, "zum leidenschaftlichen<br />

Nazi mutiert, und ihr Freund produzierte nun SS-<br />

Uniformen. In Muttis Heim waren der Nazigruss und die 'Heil<br />

Hitler'-Rufe nicht nur an der Tagesordnung, sondern auch<br />

sehr wichtig gewesen. Und <strong>Ingrid</strong>, um die Kirche im Dorf zu<br />

behalten und Ärger zu vermeiden, gewöhnte sich an den<br />

Gruss mit dem ausgestreckten Arm." Im Moment ging<br />

Lindström nicht weiter darauf ein, aber er selbst verweigerte<br />

sich diesem politischen Enthusiasmus. Seine Beklemmung<br />

steigerte sich noch, <strong>als</strong> ihm Frau Adler riet, seinen zweiten<br />

Vornamen fallenzulassen: "In unserer Familie können wir<br />

niemanden mit dem jüdischen Namen Aron haben." Eine echt<br />

kühne Forderung von jemandem, der einen so offenkundig<br />

jüdischen Namen wie 'Adler' trägt; vielleicht auch war ihre<br />

Ergebenheit dem Reich gegenüber dem Einfluss ihres Liebhabers<br />

zuzuschreiben.<br />

Aber da war mehr. An der Dinner-Party jenes Abends<br />

erklärte Muttis Liebhaber, dass Herr Goebbels, Reichs-<br />

Propagandaminister und damit Machthaber über die deutsche<br />

Filmindustrie, der sein Hauptquartier in den UFA-S<strong>tu</strong>dios in<br />

Berlin bezogen hatte, ein Bewunderer von <strong>Ingrid</strong> sei; <strong>als</strong> der<br />

Tochter einer deutschen Mutter könnte er ihr eine grosse Zukunft<br />

<strong>als</strong> deutscher Filmstar prognostizieren. Es klangen die


Champagnergläser, Glückwünsche folgten – und dann knallte<br />

Muttis Liebster mit den Absätzen zum Hitlergruss.<br />

1934 - „Munkbrogreven“<br />

71


1936 - <strong>Ingrid</strong> im Einflussbereich von Adolphson und Lindström<br />

72


"Mein Liebster, mein Schatz, mein Ein und Alles auf dieser<br />

Welt, wie ich dich lieb habe! Ich könnte platzen... ... Komm<br />

und bleib´ bei mir. Ich liebe dich in alle Ewigkeit - für immer<br />

deine <strong>Ingrid</strong>"<br />

1936 - 1938<br />

(<strong>Ingrid</strong> vor ihrer Hochzeit an Petter Lindström)<br />

"INGRID WAR GANZ SICHER KEIN NAZI“, sagte Petter<br />

Lindström, "sie war einfach an der Politik nicht interessiert und<br />

wusste wenig vom Charakter des Nation<strong>als</strong>ozialismus. Aber sie<br />

verbrachte viel Zeit mit ihrer Tante, die ein fanatischer Nazi<br />

war."<br />

Auch in Schweden habe sie keinerlei Interesse an solchen<br />

Diskussionen gezeigt, wie von S<strong>tu</strong>dienkollegen aus der<br />

Dramaten-Zeit bestätigt wurde. "Wir alle waren dam<strong>als</strong> politisch<br />

uninteressiert," sagte Schauspielerin Lilli (Mrs. Gunnar)<br />

Björnstrand. Und nach Irma Christenson: "Zu keiner Zeit hörte<br />

ich <strong>Ingrid</strong> irgendeine positive Äusserung über den Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />

oder Hitler machen. Aber keiner von uns diskutierte<br />

dam<strong>als</strong> über Politik. Wir waren Künstler und fühlten uns von<br />

der Politik nicht betroffen."<br />

Um Mutti Adler keine Unannehmlichkeiten zu verursachen<br />

und um auch ihrer Karriere in Deutschland nicht zu schaden,<br />

übernahm <strong>Ingrid</strong> den Hitlergruss in Tante Muttis Heim,<br />

wenn das von ihr erwartet wurde. Der tiefere Sinn dieser Gesten<br />

und deren mögliche Interpretation scheinen ihr dam<strong>als</strong><br />

nicht bewusst geworden zu sein. Ganz auf ihre Karriere kon-<br />

73


zentriert, konnten sie politische Auseinandersetzungen und<br />

Diskussionen über Politiker - seien diese nun Schweden, Deutsche,<br />

Amerikaner oder was immer - nur langweilen. Stolz auf<br />

die deutschen Wurzeln ihrer Mutter und voller Dankbarkeit an<br />

ihre Tante, war <strong>Ingrid</strong> glücklich, in Deutschland <strong>als</strong> gute Deutsche<br />

zu gelten, wie sie in Schweden eine gute Schwedin war.<br />

"Ihre ganze Umgebung praktizierte den Hitlergruss im persönlichen<br />

Kontakt – ja sogar am Telefon," erinnerte sich Lindström<br />

später. "Sie dachte sich einfach nichts weiter dabei." Doch später<br />

machte ihr Petter ihr Pro forma-Naziverhalten zum Vorwurf,<br />

was sie in einen erheblichen Konflikt trieb – den Druck, gleichzeitig<br />

den Erwar<strong>tu</strong>ngen ihrer Familie und jenen Lindströms gerecht<br />

zu werden, wo sie sich doch ausschliesslich um ihre Karriere<br />

kümmern wollte. Hier wurde tatsächlich die Saat einer<br />

Schuld gesät, die dereinst auf sie zurückfallen würde, denn zu<br />

dieser Zeit weigerte sie sich standhaft, die grauenvolle Bedrohung<br />

der ganzen Welt zur Kenntnis zu nehmen, die von Tag zu<br />

Tag klarer erkennbar wurde.<br />

Petter und <strong>Ingrid</strong> kehrten nach Stockholm zurück, und<br />

am 28. März begann sie ihre Arbeit an jenem Film, der ihr Leben<br />

von Grund auf verändern sollte. Regisseur Gustaf Molander<br />

und sein Autor-Partner Gösta Stevens hatten ein Original-<br />

Film-Skript namens "Intermezzo" vorbereitet, und <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong>s<br />

ersten Mann hatten sie wiederum Gösta Ekman verpflichtet,<br />

der entzückt war, einmal mehr mit <strong>Ingrid</strong> zusammenarbeiten<br />

zu können.<br />

DIE GESCHICHTE WAR EINFACH, und Molander wusste,<br />

dass das Publikum es unwiderstehlich finden würde. Mit einem<br />

seit über sechzig Jahren populären Musikstück, das auch eine<br />

Romanze für Violine enthält, beschreibt "Intermezzo" die Geschichte<br />

von Holger Brandt (Ekman), einem Konzertviolinisten,<br />

der die meiste Zeit seines Lebens auf Konzert-Tournée verbringt<br />

und für Frau und Kind eigentlich ein Fremder ist. Gerade<br />

rechtzeitig zurückgekehrt zum Geburtstag seiner Tochter, trifft<br />

er deren junge und talentierte Klavierlehrerin, Anita Hoffmann<br />

74


(<strong>Ingrid</strong>). Eines Abends kurz danach begibt es sich, dass sich<br />

die beiden im selben Konzert begegnen, nach dessen Ende er<br />

sie zu einem Champagner-Diner einlädt. Was wir heute <strong>als</strong><br />

"midlife crisis" bezeichnen würden, hat wohl bewirkt, dass Holger,<br />

um gut 20 Jahre älter <strong>als</strong> Anita, sich auf der Stelle in die<br />

junge Frau verknallt. Er setzt nun offen auf Verführung: nach<br />

dem Essen schlendern sie dem Hafen entlang, be<strong>ob</strong>achten die<br />

Eisschollen, die losbrechen und ins Meer abdriften. Für diese<br />

Szene schrieben Molander und Stevens ganz im Geiste der<br />

deutschen Romantik. Die Bilder und Dialoge versinnbildlichen<br />

das Dahinschmelzen von Bedrängnis, Entsagung und dem bevorstehenden<br />

Einbruch des Frühjahrs.<br />

HOLGER (Ekman):<br />

ANITA (<strong>Bergman</strong>):<br />

Die Eisschollen sind auf dem Weg zum Meer –<br />

eine wundervolle Reise!<br />

Aber die Tiefe des Meeres ist dunkel und kalt.<br />

HOLGER: Es ist die Gefahr, welche die Reise so anziehend<br />

macht.<br />

ANITA: Es wird geschmolzen sein, lange bevor es das<br />

offene Meer erreicht.<br />

HOLGER: Genau, das ist ja das Schöne. Einfach so mit<br />

dem Strom daherdriften – vom Frühlingss<strong>tu</strong>rm<br />

davongetragen. Mit dem Meer eins werden! Mit<br />

dem Leben selbst verschmelzen – das Leben<br />

im S<strong>tu</strong>rm nehmen!<br />

ANITA: Das Leben im S<strong>tu</strong>rm nehmen!<br />

HOLGER: Hast du Angst vor dem Leben?<br />

ANITA: Nein, heute Nacht könnte ich – alles <strong>tu</strong>n.<br />

Nun, "alles" geschah nicht in dieser Nacht, aber bald<br />

genug sind Holger und Anita ein Liebespaar, und sie entschliesst<br />

sich, ihre Karriere aufzugeben, um <strong>als</strong> seine Klavierbegleiterin<br />

mit ihm um die Welt zu reisen. Als Holgers Frau die<br />

75


Scheidung verlangt, erfährt Anita, dass sie einen Wettbewerb<br />

gewonnen hat, der ihrer eigenen Karriere starken Auftrieb gibt.<br />

Es entgeht ihr auch nicht, dass Holger seine Frau und Kinder<br />

schrecklich vermisst. "Er glaubt mich noch immer zu lieben,"<br />

sagt Anita zu Holgers Manager, "und vielleicht <strong>tu</strong>t er es ja auch<br />

auf seine Art. Aber das ist lediglich ein Intermezzo in seinem<br />

Leben."<br />

Nur wenige Schauspielerinnen konnten das Dickicht der<br />

blumigen Dialoge des Films souverän meistern oder die romantischen<br />

Clichés, welchen Anita unterworfen war, glaubhaft machen.<br />

Aber <strong>Ingrid</strong>s natürliches Rollenspiel erzeugte den Eindruck,<br />

diese Frau sei von Minute zu Minute entweder ekstatisch<br />

verliebt oder in Angst, verlassen zu werden.<br />

Gefangen zwischen ihrem Liebeshunger und ihrer Entscheidung,<br />

von ihrem Liebhaber loszulassen, fasst <strong>Ingrid</strong> diese<br />

Persönlichkeit in einem Bild zusammen. Sie umarmt Holger<br />

zum Abschied und blickt über seine Schulter zu seinem Manager,<br />

der ihr – Zustimmung signalisierend – zunickt, <strong>als</strong> wollte<br />

er sagen: "Gut so, du bist auf dem richtigen Weg." Aber ihr<br />

trauriger, wissender Gesichtsausdruck sagt etwas anderes:<br />

"Das Intermezzo ist vorbei." <strong>Ingrid</strong>s sensibles Spiel in Anitas<br />

Rolle gab dem Film eine subtile emotionale Struk<strong>tu</strong>r. Im ersten<br />

Drittel des Films scheint sich Anita in Holger <strong>als</strong> den verehrten<br />

Lehrer und Vater einer jungen Tochter zu verlieben (den Vater,<br />

vielleicht, den Anita selbst vermisst). Dann wechseln ihre Gefühle<br />

vom Lehrer-Vater zum Musiker-Vater und schliesslich zur<br />

Vaterfigur <strong>als</strong> Liebhaber.<br />

Nach Gustav Molander bewegte sie sich immer mit Grazie<br />

und Selbstkontrolle in wundervoller Harmonie.<br />

76<br />

"Die Art und Weise, wie sie sprach und ihre strahlende<br />

Schönheit erschlugen mich, <strong>als</strong> ich sie zum ersten Mal<br />

sah. Sie liebte Komplimente, die sie fast etwas verlegen<br />

entgegennahm, die aber an den drei Eckpfeilern<br />

ihrer Arbeit: Wahrheit, Natürlichkeit und Fantasie, nie<br />

etwas änderten. Ich schuf "Intermezzo" für sie, war<br />

aber für den Erfolg des Films nicht verantwortlich. Ing-


id selbst sorgte durch ihre darstellerische Kraft für<br />

den Erfolg. Es ist tatsächlich so: niemand entdeckte<br />

sie, niemand lancierte sie. Sie entdeckte sich selbst."<br />

Die Umstände, unter welchen der Film entstand, waren<br />

für alle bis zur Erschöpfung mühsam. Weil auch Ekman jede<br />

Nacht im Theater auftauchte, wurden tagsüber die "Intermezzo"-Szenen<br />

gepr<strong>ob</strong>t und dann von Mitternacht bis Morgengrauen<br />

gefilmt. "Eines Morgens um fünf Uhr war ich wirklich<br />

fertig," erinnerte sich Molander, "aber da war <strong>Ingrid</strong>, die gierig<br />

darauf wartete, die Szene zu schiessen, in der sie eben<br />

gebraucht wurde. Ich erklärte ihr ein Pr<strong>ob</strong>lem, das ich an dieser<br />

Stelle mit dem Script hatte, sie dachte kurz nach und<br />

spielte die Szene dann so, dass alle Pr<strong>ob</strong>leme gelöst waren.<br />

Sie hatte eine In<strong>tu</strong>ition und Fantasie, die nie versagte."<br />

Während all' den Jahren war ihre Leis<strong>tu</strong>ng nie weniger<br />

<strong>als</strong> unwiderstehlich, und doch sind Jahrzehnte später an ihr<br />

wieder bemerkenswerte Zeichen von Selbs<strong>tu</strong>nsicherheit zu<br />

erkennen; und darin liegt der Schlüssel zur lebenslangen Gestal<strong>tu</strong>ng<br />

neuer Charaktere. Letztlich schien <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong><br />

keine bestimmte Technik zu benutzen, die sie intellek<strong>tu</strong>ell<br />

oder kritisch analysierbar gemacht hätte. Sie beteiligte sich<br />

auch nie an gelehrten oder hochtrabenden Konversationen<br />

über die Psychologie des Schauspiels.<br />

Ganz im Gegenteil, <strong>Ingrid</strong> packte ihre Rollen unkompliziert<br />

und unaffektiert an, dann zog sie sich in Ruhe zurück,<br />

überdachte und lernte ihre Texte – und wenn sie zurückkam<br />

hatte sie das Ganze in den Grundzügen im Griff. Sicher profitierte<br />

sie von der Erfahrung aufmerksamer Regisseure und<br />

vom Umfeld von guten Schauspielern. Aber vom Anfang jedes<br />

Projekts an hatte sie eine klare Vorstellung von den Frauenfiguren,<br />

die sie zum Leben erwecken sollte. Die Grösse ihrer<br />

Leis<strong>tu</strong>ngen war nie das Resultat einer akademischen Analyse<br />

oder psychologischen Untersuchung, sondern allein auf ihre<br />

seltene Gabe eines realitätsbetonten und doch fantasievollen<br />

Bewusstseins zurückzuführen.<br />

77


IN "INTERMEZZO" ÜBERTRUG INGRID die Belas<strong>tu</strong>ngen,<br />

die sich aus den ständigen Konflikten zwischen den Anforderungen<br />

von Karriere und zwischenmenschlichen Beziehungen<br />

ergaben - und die sie selbst ihr ganzes Leben lang<br />

verfolgten, auf Anita. Ihr eigenes Portrait – wozu Anita im<br />

Grunde genommen wurde – gedieh so wundervoll haargenau,<br />

weil es (wenn auch unbewusst) aus ihrer eigenen Lebenserfahrung<br />

heraus entstand. <strong>Ingrid</strong>s bedingungslose Hinwendung<br />

zum Beruf, die sie schon mit 20 Jahren kannte, basierte nicht<br />

nur auf ihrem Vertrauen in ihre Begabung, sondern auch auf<br />

ihrer Überzeugung, dass menschliche Beziehungen (Mama,<br />

Papa, Tante und Onkel) zeitlich begrenzt sind. Wirklich verlassen<br />

konnte sich <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong>o ausschliesslich auf die Einkünfte,<br />

die tragenden Kräfte aus ihrer beruflichen Kapazität. "Ich<br />

möchte mich in Jemandes Arme kuscheln, der mich beschützt,<br />

tröstet und lieb hat", schrieb sie in ihr Tagebuch. Der sicherste<br />

Anker in ihrem Leben war aber ihre künstlerische Kraft.<br />

<strong>Ingrid</strong> war eine Realistin, keine Träumerin.<br />

Dem unmöglichen moralischen Idealismus im Ausklang<br />

von "Intermezzo" – Holger in den Armen einer verzeihenden<br />

Frau – wurde in der vorangehenden Szene durch die letzte<br />

Nahaufnahme, die <strong>Ingrid</strong>s Gesicht durch das Fenster des davonrollenden<br />

Zugs zeigt, auf nette Art die Schärfe genommen.<br />

Aber sie wendet dieses Cliché auch zu ihrem Vorteil. Ihr Blick<br />

ist in die Unendlichkeit gerichtet, nicht sinnbildlich im Sinne<br />

von n<strong>ob</strong>ler Entsagung oder Selbstmitleid. Ganz im Gegenteil,<br />

sie liefert hier die einzig mögliche Stimmung emotionalen,<br />

erwachsenen Realitätsbewusstseins: das Bild einer Frau, deren<br />

Integrität und Zukunft in der bedingungslosen Akzeptanz<br />

ihres eigenen Ichs liegt. Ihre gedämpften, überzeugenden<br />

Emotionen wirkten sehr ergreifend auf das Publikum und einmal<br />

mehr war auch die Kritik der Meinung, dass die junge<br />

Schauspielerin auf gutem Wege sei. "<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> fügt<br />

ihren bisherigen Siegen einen weiteren bei," hiess es in etwa.<br />

Als die Produktion von "Intermezzo" am 19. Juni zu<br />

Ende ging, schickte ihr Gustav Molander einen Blumenstrauss<br />

mit der Notiz: "Du gibst meinem Film Erhabenheit, Reinheit<br />

78


und Schönheit." Gösta Ekman betreffend, schrieb <strong>Ingrid</strong> in ihr<br />

Tagebuch: "Ich weiss, er ist verheiratet und zwanzig Jahre<br />

älter <strong>als</strong> ich (tatsächlich 25 Jahre). Ich weiss, er hat einen<br />

Sohn genau in meinem Alter, ebenfalls im August geboren.<br />

Einmal dachte ich, wenn ich nur seinen Sohn heiraten könnte,<br />

das wäre der Himmel." Obschon sie (wie bei Edvin Adolphson)<br />

offensichtlich einen weiteren Vater-Freund gefunden hatte,<br />

den sie liebte und dem sie vertraute – und der ihre Gefühle<br />

auch erwiderte – scheint es, dass diese Beziehung platonisch<br />

blieb. Dieses Frühjahr war Ekman oft krank und müde, und<br />

"Intermezzo" war denn auch sein letzter Film. Er starb im Januar<br />

1938 gleich nach seinem siebenundvierzigsten Geburtstag.<br />

UNMITTELBAR NACH "INTERMEZZO" reisten <strong>Ingrid</strong> und<br />

Petter wieder zu Frau Adler nach Deutschland, um ihr ihre<br />

Verl<strong>ob</strong>ung bekanntzugeben. Am 7. Juli nahm <strong>Ingrid</strong> in jener<br />

Kirche, in der ihre Eltern getraut wurden, von Petter einen<br />

Ring entgegen. Während Petter danach nach Stockholm und<br />

zu seinen S<strong>tu</strong>dien zurückkehrte, verlängerte <strong>Ingrid</strong> ihren Aufenthalt<br />

bei Tante Mutti noch um volle drei Monate - das Jahr<br />

1936 neigte sich bereits seinem Ende zu.<br />

Während dieser Zeit vervollkommnete <strong>Ingrid</strong> ihre<br />

Deutschkenntnisse, wie sie Petter voll Begeisterung schrieb.<br />

Daneben widmete sie auch einige Zeit Kursen für fortgeschrittenes<br />

Englisch. Eine Schauspielerin, argumentierte sie, könne<br />

nie über zu viele Sprachkenntnisse verfügen. Petter forderte<br />

sie in seiner Antwort auf, nicht "allzu deutsch" zu werden und<br />

daran zu denken, dass sie in erster Linie eine gute Schwedin<br />

bleiben müsse. "Unsinn!" sagte Mutti, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> ihr den Brief<br />

vorlas. Frieda Adler <strong>Bergman</strong> war Deutsche und so sei auch<br />

<strong>Ingrid</strong> so deutsch wie schwedisch. <strong>Ingrid</strong> selbst sah sich vor<br />

allem <strong>als</strong> Schauspielerin und wünschte all diese Politik und<br />

internationalen Beziehungen zum Teufel.<br />

In jener Herbstsaison spielte Zarah Leander so etwas<br />

wie eine Vorbildrolle für <strong>Ingrid</strong>, jene schwedische Schauspiele-<br />

79


in, die nach Deutschland kam, um Marlene Dietrich (die 1930<br />

nach Hollywood emigriert war) und Greta Garbo zu ersetzen,<br />

die sich standhaft weigerte, in Deutschland zu arbeiten. Leander,<br />

die einer der grossen Stars des Dritten Reichs wurde,<br />

hatte die wehmütige Melancholie und das "exotisch"skandinavische<br />

Gepräge der Garbo, den von Dietrich verströmten<br />

Sexappeal und die erotische Direktheit (und die Figur)<br />

von Mae West. Sie spielte Sängerinnen, Hofdamen, treue<br />

Gattinnen und verlassene Mätressen, sie wurde mit einer<br />

grossen Werbekampagne und zahlreichen Pressekonferenzen<br />

eingeführt. Das S<strong>tu</strong>dio ging sogar auf ihre Forderung nach<br />

Script-Genehmigung ein, wie auch auf ihre Forderung auf<br />

Auszahlung von 53 % ihrer Gagen in schwedischen Kronen<br />

auf ihr Bankkonto in Stockholm - zwei Konzessionen, die keinem<br />

andern schwedischen oder sonstwie ausländischen<br />

Schauspieler je gewährt wurden.<br />

MITTE AUGUST KEHRTE INGRID nach Stockholm zurück,<br />

und am 15. Januar 1937 war sie auch wieder am Theater;<br />

im Komeditheatern trat sie in der schwedischen Produktion<br />

eines französischen Stücks Namens "L’heure H" von Pierre<br />

Chaine auf. "Timman H", wie es genannt wurde, war eine<br />

eher schlaffe Satire auf kommunistische Revolutionäre, die<br />

einen Anschlag auf eine Fabrik planten. <strong>Ingrid</strong>, in einer kleinen<br />

Rolle, "war eine Augenweide", wie einer der Kritiker<br />

schrieb, "und sie lasse in Zukunft noch grosse dramatische<br />

Leis<strong>tu</strong>ngen erwarten". Das Stück erlebte 128 Aufführungen.<br />

Anfang Mai nahm sie ihre Filmarbeit wieder auf, <strong>als</strong><br />

Gustaf Molander (der inzwischen zu ihrem Mentor wurde wie<br />

D.W. Griffith für Lilian Gish, Mauritz Stiller für Greta Garbo<br />

und Josef von Sternberg für Marlene Dietrich) ihr die Hauptrolle<br />

einer lebhaften Schauspielerin namens Julia in "Dollar"<br />

gab, einer Komödie über schlechte Ehesitten, in der drei Paare<br />

in einer Riesenblödelei schamlos um die Wette flirten. Vielleicht<br />

inspiriert von der Energie und den sexuellen Einfällen<br />

von Ernst Lubitsch, Claire Booth Luce oder gar Noel Coward<br />

80


ist "Dollar" wenigstens eine Parodie über Leute, deren Gesellschaft<br />

man gerne meidet. Spinnerkomödien waren nie die<br />

Stärke des schwedischen Films, und so bleibt "Dollar" letztlich<br />

gerade noch mit <strong>Ingrid</strong>s herausragendem und praktischem<br />

Sinn für Humor, ihren umwerfenden Gesten und Blicken erwähnenswert,<br />

mit welchen sie Regie, Kollegen und den ganzen<br />

Set täglich überraschte und erheiterte.<br />

Set und Publikum überraschte sie auch, <strong>als</strong> sie im Anschluss<br />

an eine komische Szene die genau richtige Kunstpause<br />

einlegte, bevor sie feststellte, wie sehr sie sich nach ihrem<br />

geschäftsgierigen Ehemann sehnte. "Manchmal fühle ich mich<br />

so mies, dass ich sogar um kleine Lügen bettle." Noch bewegender<br />

ist der melancholische Ton ihrer Bemerkung zu einer<br />

Freundin, <strong>als</strong> Julia von sich selbst sagt:<br />

"Du denkst, es gehe dir gut, du seiest verliebt und<br />

werdest geliebt. Wie die Kerzen an einer Party. Du<br />

starrst blind in die Flammen und vergisst, wie bald sie<br />

verlöschen werden. Illusion um Illusion verlöscht - bis<br />

die Illusion selbst und der Tod übrigbleiben."<br />

Der definitive Schnitt des Films brachte es so eindeutig<br />

an den Tag, wer der alles überragende Star war, dass Gustaf<br />

Molander sie im Vorspann an <strong>ob</strong>erste Stelle setzte, sogar vor<br />

Edvin Adolphson: "Mit ihrem überragenden Sinn für Humor<br />

und ihrer leuchtenden Erscheinung," schrieb einer der Kritiker,<br />

"hat <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> alle andern in den Schatten gestellt".<br />

MIT DEM ANDERE-IN-DEN-SCHATTEN-STELLEN fuhr<br />

sie fünf Tage nach Vollendung von "Dollar" gleich fort. Die<br />

Titelseiten der schwedischen Medien füllte nur eine einzige<br />

Nachricht, nämlich dass Schwedens berühmtester und beliebtester<br />

Filmstar einen renommierten Zahnarzt und Mediziner<br />

heiratete. In der Hoffnung auf eine von einem Medienzirkus<br />

verschonte, ungestörte Feier wählten sie die entlegene Gemeindekirche<br />

von Stöde und luden nur Verwandte und die<br />

81


engsten Freunde ein. Ein blauäugiger Lokalmatador schaffte<br />

es dann trotzdem, die Presse zu verständigen, womit ein Heer<br />

von Kameraleuten und Fotographen das Paar beim Verlassen<br />

der Kirche erwartete, womit nun Bilder und Berichte in Windeseile<br />

um die Welt gingen. Es ist nicht übertrieben zu sagen,<br />

dass die Berichte über die <strong>Bergman</strong>-Lindström-Heirat <strong>als</strong> gesellschaftliches<br />

Ereignis nur geringfügig weniger Beach<strong>tu</strong>ng in<br />

ganz Europa fanden, <strong>als</strong> jene über die im Juni erfolgte Heirat<br />

seiner ehemaligen Majestät, jetzt Königlichen Hoheit, des<br />

Herzogs von Windsor mit der geschiedenen Amerikanerin<br />

Wallis Warfield Simpson.<br />

"Mein Liebster," schrieb <strong>Ingrid</strong> Petter kurz vor der<br />

Hochzeit, "mein Schatz, mein Ein und Alles auf dieser Welt,<br />

wie ich dich lieb habe! Ich könnte platzen...Anlässlich unserer<br />

ersten kirchlichen Eheverkündigung schreibe ich dir diese Zeilen<br />

im Bett. Ich bin dein in jeder Beziehung. Ich sehne mich<br />

nach dir und bin nur glücklich, wenn du bei mir bist. Komm´<br />

und bleib´ bei mir. Ich liebe dich in alle Ewigkeit für immer<br />

deine <strong>Ingrid</strong>"<br />

Sie war kaum eine leidenschaftslose Braut, wie gewisse<br />

Leute später behaupteten, noch war er, wie ihr Verhalten<br />

verrät, ein enttäuschender Kumpan.<br />

Andererseits kann von <strong>Ingrid</strong> auch nicht behauptet<br />

werden, dass sie in einem romantischen Rausch lebte.<br />

82<br />

"Vor meiner Heirat beschäftigten mich viele Fragen.<br />

Meine Arbeit bedeutete mir alles. Ich liebte sie sehr<br />

und fragte mich, welche Art Ehe sie mir wohl ermöglichte.<br />

Da gab es keine einfache Antwort, aber eines<br />

wusste ich - ich wollte Petter nicht verlieren."<br />

MIT 30 WAR LINDSTRÖM SICHER IN DER LAGE, sich<br />

mit dem Mädchen, um das er während vier Jahren geworben<br />

hatte, endlich niederzulassen. Sie waren beide äusserst attraktive<br />

Menschen und beide liebten es, das Leben zu geniessen,<br />

wenn sie einmal von ihrem strengen beruflichen Zeitplan


loskommen konnten: beide liebten das ausgiebige Tanzen in<br />

Nachtclubs, Skiferien zu verbringen, an Parties und Spielen<br />

mit gleichgesinnten Kollegen und Bekannten teilzunehmen.<br />

Das waren keine sehr häufigen Vergnügungen, aber sie packten<br />

jede sich dazu bietende Gelegenheit und genossen privat<br />

gegenseitig ihren sprühenden Geist und ihre schier unerschöpfliche<br />

Energie.<br />

Petter war grundsätzlich ein ernster Charakter und ertrug<br />

Dummköpfe nicht gerade gut. Und das ganze gesellschaftliche<br />

Leben der Theaterwelt empfand er eben <strong>als</strong> Schwachsinn.<br />

"Mein Vater," erklärte Pia Lindström später, "repräsentierte<br />

Stabilität und Wissen, er war intelligent und tüchtig." Mit andern<br />

Worten: für ihn zählte nur das akademische Leben.<br />

Hatte nun Petter vor dem Hochzeitstag womöglich Vorbehalte<br />

dieser Art gegenüber <strong>Ingrid</strong>? Es scheint fast so. Im<br />

Juni noch fragte er eine Freundin, <strong>ob</strong> er es wohl wagen könnte,<br />

eine hübsche Schauspielerin zu heiraten, <strong>ob</strong> allzu verschiedene<br />

Charaktere und Interessen nicht zu einer Mésalliance mit verheerenden<br />

Folgen führen könnten. Nachdem diese Freundin<br />

<strong>Ingrid</strong> kennengelernt hatte, beruhigte sie Petter: "Mit solch<br />

einer Frau kannst du es sicher wagen."<br />

Das tat er denn auch, <strong>ob</strong>schon er sich der Risiken bewusst<br />

war, die mit einem Schauspielerleben, Unsicherheiten<br />

und einem komplexen Ego verbunden waren. "Als mein Mann<br />

mich heiratete," sagte <strong>Ingrid</strong>, "wusste er, dass er es mit einer<br />

egoistischen Schauspielerin zu <strong>tu</strong>n hatte." Ihre Hinwendung<br />

zum Beruf bildete so etwas wie eine eifersüchtige dritte Kraft<br />

in dieser Ehe - was natürlich ebensogut für Petter und seinen<br />

Beruf gilt. Beide fürchteten, ihre beiderseitigen beruflichen<br />

Verpflich<strong>tu</strong>ngen könnten das menschliche Klima ihrer Ehe in<br />

Gefahr bringen.<br />

Was die etwas persönlicheren emotionalen Belange anbetraf,<br />

war (die lebenslustige, spontane, weniger förmliche und<br />

um acht Jahre jüngere) <strong>Ingrid</strong> freimütig: "Nun ja, vielleicht<br />

übernahm er die Stelle meines Vaters," sinnierte sie Jahre später,<br />

83


84<br />

"und ich glaube, ich war auch auf der Suche nach einem<br />

zweiten Vater. Petter trainierte und organisierte mich...<br />

wie ich immer von Männern bestimmt wurde, zuerst<br />

von meinem Vater, dann von Onkel Otto und dann von<br />

meinen Regisseuren. Und dann von Petter, der mich unter<br />

einem sehr strengen Regime hielt. Anstatt mich<br />

selbständiger zu machen, mich selbst handeln zu lassen,<br />

entzog er mir jede Gelegenheit dazu durch seine<br />

dauernde Hilfsbereitschaft, indem er alles für mich tat<br />

und alle Entscheidungen für mich traf. Ich muss allerdings<br />

zugeben: ich war daran mitschuldig, denn anfänglich<br />

fragte ich ihn ständig um Rat und Hilfe, ich verliess<br />

mich völlig auf ihn."<br />

In dieser Hinsicht war die Lindström-Ehe alles andere<br />

<strong>als</strong> ungewöhnlich.<br />

Zu Beginn entwickelten sich die Dinge ganz ordentlich.<br />

Nach einer Autoreise nach Norwegen und England bezogen die<br />

Neuvermählten Petters Stockholmer-Wohnung in jenem Quartier,<br />

das <strong>Ingrid</strong> seit frühester Jugend kannte. Die Wohnung an<br />

der Grev Magnigata 14 war ein elegantes Penthouse mit einer<br />

grossen Terrasse nach Westen - sicher das hübscheste Heim<br />

seit Vaters Wohnung am Strandvägen. Hier empfingen die<br />

Lindströms Bekannte aus der Welt des Films, des Theaters, der<br />

Medizin und der Medien. Die Journalistin Barbro Alving (vulgo<br />

"Bang") war zusammen mit dem Karika<strong>tu</strong>risten Einar Nerman<br />

und einigen Kollegen von Petter oft zu Gast. Bei solchen Gelegenheiten<br />

holten sie jeweils einen Koch ins Haus, denn während<br />

<strong>Ingrid</strong> einen sauberen und geordneten Haushalt führte<br />

und nichts gegen das Fegen und Scheuern hatte, war sie in der<br />

Küche nach wie vor hilflos und weigerte sich standhaft, auch<br />

das Geringste zu lernen, was mit einem Kochherd, Kühlschrank<br />

oder Backofen zu <strong>tu</strong>n hatte. Das Abendessen vorzubereiten<br />

bedeutete bei ihr, sich für's Restaurant umzuziehen.<br />

AM 2. OKTOBER BEGANN INGRID IHREN ACHTEN FILM<br />

und den fünften unter Gustaf Molanders Regie: "En enda natt"


(Nur eine Nacht), von dem <strong>Ingrid</strong> nach der Script-Lektüre<br />

dachte, er sei Schund. Aber um Molander gefällig zu sein und<br />

die Rolle besser zu spielen, <strong>als</strong> sie angelegt war - bewerkstelligte<br />

sie einen Kompromiss. Der auffällig produktive Gösta Stevens<br />

hatte eben das Konzept zu einem neuen Stück fertiggestellt,<br />

das auf einer französischen Novelle beruhte, die von<br />

einer hübschen Frau erzählt, deren Gesicht und Charakter<br />

durch ein Feuer grauenhaft entstellt und verändert werden. So<br />

willigte <strong>Ingrid</strong> ein, "En enda natt" zu spielen, unter der Bedingung<br />

allerdings, dass Molander die S<strong>tu</strong>dio-Direktion dazu bewegen<br />

könne, ihr auch die Hauptrolle in "A Woman’s Face" zu<br />

geben. Der Handel kam zustande und Molander stellte fest, er<br />

werde <strong>Ingrid</strong> im Vorspann beider Filme an erster Stelle erscheinen<br />

lassen.<br />

"En enda natt" war wirklich ein sonderbarer Film, der<br />

die Erwar<strong>tu</strong>ngen des Publikums zu enttäuschen drohte. Als Eva<br />

Beckman, eine Doktorandin der Philosophie, begnadete Pianistin,<br />

Sportlerin und Mündel eines begüterten Aristokraten wurde<br />

<strong>Ingrid</strong> so verschwenderisch ausstaffiert und so strahlend fotographiert,<br />

wie noch in keiner Rolle je zuvor. Ihr männlicher<br />

Gegenpart war niemand anderer <strong>als</strong> Edvin Adolphson in der<br />

Rolle eines Zirkus-Marktschreiers, der sich <strong>als</strong> der uneheliche<br />

Sohn des Aristokraten entpuppt. Nachdem er darauf vorbereitet<br />

wurde, sein rechtmässiges Erbe anzutreten, stellt er fest,<br />

dass seine leidenschaftliche Na<strong>tu</strong>r bei der kühlen (vielleicht<br />

sogar frigiden) Eva nicht ankommt. Sozial im Abseits und in<br />

der Liebe verschmäht, kehrt er zu seinem früheren Leben (und<br />

seiner früheren Freundin) zurück. <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> Eva bleibt allein<br />

mit ihrem Piano und ihren philosophischen Büchern - Anita<br />

Hoffman lässt grüssen.<br />

Wenn nun Molander und das Produktions-Team genau<br />

wussten, wie sie das Publikum mit hinreissenden Einstellungen<br />

auf ein attraktives Paar beeindrucken wollten, so hatte der<br />

Autor Gösta Stevens ganz anderes im Sinn: <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> eine<br />

Frau zu zeigen, welche die Liebe derart idealisiert, dass sie sich<br />

vom Gedanken an die sexuelle Realität abgestossen fühlt. Der<br />

Verlauf einer brandheissen Liebesszene zum Beispiel wird ab-<br />

85


upt unterbrochen, <strong>als</strong> Waldemars unablässige Küsse Eva in<br />

einen Weinkrampf und sinnlose Schuldgefühle stürzen. Selbst<br />

Jahrzehnte später kann nicht mit Sicherheit gesagt werden,<br />

wie diese Charaktere überhaupt zu verstehen sind: ist "En enda<br />

natt" ein Plädoyer für die voreheliche Keuschheit (mit einem<br />

Seitenblick auf "Walpurgisnacht") oder für die Psychoanalyse<br />

(mit einem Seitenblick auf die latente Lesbenkul<strong>tu</strong>r oder<br />

die Pathologie der frigiden Frau) ? Müssen wir Eva Beckman <strong>als</strong><br />

die heroische Wächterin über ihr Schicksal (ihre Tugend und<br />

Klasse) sehen? Oder trifft sie die Kritik, weil sie nicht Lady<br />

Chatterley ist? So oder so, <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> war zu hübsch, zu<br />

gut für den Sinn dieses Films - wo immer der auch zu finden<br />

war.<br />

STEVENS UND MOLANDER KÄMPFTEN um eine Geschichte,<br />

die einen Gegensatz zu den amerikanischen Spinnerkommödien<br />

der 30er-Jahre mit ihren seichten Happy-Ends bildete<br />

(z.B. "It Happened One Night" oder "My Man Godfrey",<br />

die davon ausgingen, dass mit einer Liebesgeschichte alles<br />

bestens wäre und dass unterschiedliche soziale und kul<strong>tu</strong>relle<br />

Hintergründe durch echte Liebe schnell bedeu<strong>tu</strong>ngslos würden.<br />

Aber die These von Molander und Stevens funktionierte einfach<br />

nicht. Umsomehr funktionierte <strong>Ingrid</strong>, jedenfalls ermöglichte<br />

sie es dem Zuschauer irgendwie, an ihre konfuse Persönlichkeit<br />

zu glauben. Und die Wahl von Edvin Adolphson war grossartig,<br />

denn er war nach wie vor eine bestrickend gut aussehende<br />

Erscheinung, <strong>ob</strong> in der Arbeitskluft eines Zirkusschreiers oder<br />

im "Pinguin-Dress" mit weisser Fliege fürs Gala-Diner bei der<br />

Aristokratie. Er und <strong>Ingrid</strong> waren privat nicht mehr verbunden,<br />

beide genossen diese Zusammenarbeit aber sehr und besiegelten<br />

dabei eine lebenslange Freundschaft. In Anbetracht ihres<br />

Humors und beidseitigen guten Willens ist es nur verständlich,<br />

wenn ihr Dialog und die unterbrochene Liebesszene sie mehr<br />

belustigt <strong>als</strong> professionell beschäftigt hat.<br />

Die Produktion war am 20. Dezember beendet, und <strong>Ingrid</strong><br />

hatte einen freien Monat bis zum Beginn der Aufnahmen<br />

86


zu "A Womans Face". Zwei Tage vor Weihnacht machte ihr<br />

Petter die betrübliche Mitteilung, dass seine Verpflich<strong>tu</strong>ngen an<br />

der Klinik ihre geplanten Skiferien in Norwegen zunichte machten.<br />

Neben seiner Praxis versah er jetzt noch die Stelle eines<br />

stellvertretenden Professors für Zahnheilkunde am Karolinska<br />

Insti<strong>tu</strong>t. Ihre Enttäuschung, wie gross sie immer gewesen sein<br />

mag, wurde aber schnell gemildert durch den luxuriösen Pelzmantel,<br />

den ihr Petter mit dem Versprechen auf einen längeren<br />

Ferienaufenthalt im kommenden Jahr schenkte.<br />

Aber noch willkommener waren ihr die beruflichen Neuigkeiten.<br />

In einer Abstimmung wählten die schwedischen Filmfreunde<br />

<strong>Ingrid</strong> vor Greta Garbo zum beliebtesten Filmstar des<br />

Jahres 1937 (15.208 Stimmen für <strong>Ingrid</strong>, 10.949 für Garbo,<br />

deren Aktien seit ihrem Wegzug nach Hollywood allerdings<br />

kontinuierlich fielen). Ausserdem hatte "Intermezzo" an Weihnacht<br />

in New York Premiere, wo <strong>als</strong> Folge von <strong>Ingrid</strong>s Popularität<br />

während der Festtage zusätzliche Vorstellungen eingeplant<br />

werden mussten. "Die Aufrichtigkeit in der Darstellung speziell<br />

der charmanten jungen <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>," schrieb ein Kritiker<br />

der New York Times, "bestätigt die guten Noten, die sie zuhause<br />

und im Ausland erhielt." Die einstimmige Meinung der amerikanischen<br />

Kritiker brachte "Variety" mit der Proklamation auf<br />

den Punkt: "Eine talentierte, hübsche Schauspielerin, deren<br />

Stern nach Hollywood weist." Und so war es denn auch - nur<br />

dass die Reise durch einen Umweg über Deutschland verzögert<br />

wurde.<br />

Schon andere Künstler wurden durch die weitreichenden<br />

und technisch überragenden Produktionsmöglichkeiten der<br />

Universal Film Aktiengesellschaft (UFA, mit den S<strong>tu</strong>dios in<br />

Neubabelsberg ausserhalb Berlins) angezogen, wo zwischen<br />

1917 und 1933 einige der grossen internationalen Film-Meisterwerke<br />

produziert wurden. Unter den früher dort tätigen<br />

Regisseuren waren Ernst Lubitsch, Fritz Lang, Alfred Hitchcock,<br />

Erich Pommer, R<strong>ob</strong>ert Wiener, Josef von Sternberg, F.W. Murnau<br />

und G.W. Pabst. Zarah Leander war 1937 die führende<br />

Darstellerin der S<strong>tu</strong>dios.<br />

87


Das Dritte Reich hatte alles verändert. Juden durften<br />

keine beschäftigt werden, weshalb viele talentierte Autoren,<br />

Regisseure, Schauspieler und Grafiker plötzlich fehlten. Im Juli<br />

1933 wurde ein Dekret erlassen, wonach im deutschen Film<br />

nur deutsche Staatsbürger oder wer deutsche Vefahren nachweisen<br />

konnte, beschäftigt werden durften. Aber schon bald<br />

musste Goebbels das Gesetz in dem Sinne entschärfen, dass<br />

Nicht-Arier dann beschäftigt werden konnten, wenn das im<br />

politischen oder wirtschaftlichen Interesse der S<strong>tu</strong>dios lag. Das<br />

war der Beginn einer ganzen Reihe von Konzessionen, die sogar<br />

der Reichs-Propagandaminister der Filmindustrie gewähren<br />

musste. Mochten die Juden auch für rechtlos erklärt worden<br />

sein, so war doch die Eigengesetzlichkeit eines ganzen Industriezweigs<br />

nicht einfach zu steuern. Bei der UFA wurde das Nazi-Regime<br />

offen kritisiert und die der Produktion auferlegte<br />

Zensur wurde ständig bekämpft. Auch das Knallen der Absätze<br />

und "Heil-Hitler" galten bei der UFA <strong>als</strong> vulgär und wurden geflissentlich<br />

ignoriert. Diese Abkehr von der sonst gängigen Praxis<br />

musste toleriert werden, weil Goebbels & Co. im deutschen<br />

Film viele fähige Leute brauchten.<br />

Ueberdies versuchte sich des Führers Reich der Dienste<br />

einer ganzen Reihe international angesehener Schauspieler zu<br />

versichern - daher auch die äusserst positiven Reaktionen, <strong>als</strong><br />

Tante Mutti und ihr Liebster einem Freund bei der UFA von<br />

ihrer geliebten <strong>Ingrid</strong> (<strong>als</strong> schwedischer Star bekannt) erzählten<br />

und gleich eine private Vorführung eines ihrer schwedischen<br />

Filme in den S<strong>tu</strong>dios arrangierten. "Die Idee, sie unter<br />

Vertrag zu nehmen, entstand, <strong>als</strong> Goebbels und seine Getreuen<br />

ihren ersten Film sahen," berichtete ein schwedischer<br />

Kommentator am 30. November 1937. Noch selten hätten sie<br />

eine derart spontane Schauspielerin gesehen. Ihr Spiel sei so<br />

gut, wie ihre charmante Erscheinung, sagten sie.<br />

<strong>Ingrid</strong>s Arbeit in Schweden wurde jährlich durch einen<br />

einfachen brieflichen Vertrag mit der Svenka Filmindustri geregelt,<br />

doch Petter erkannte, dass die Verhandlungen für einen<br />

deutschen Film sehr sorgfältig geführt werden mussten. So zog<br />

er nach Neujahr 1938 einen alten Freund, den Künstleragenten<br />

88


Helmer Enwall, bei, der ihn bei der Detailformulierung beriet,<br />

und bald unterzeichnete <strong>Ingrid</strong> den Vertrag für zwei Filme, die<br />

noch dieses Frühjahr in Berlin <strong>als</strong> erstes produziert werden<br />

sollten. "Mit diesem Vertrag beginnt <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> eine neue<br />

Aera ihrer künstlerischen Karriere" kündigte UFA in ihrem internationalen<br />

Pressebulletin an.<br />

UND WIE ES IM LEBEN SO GEHEN KANN: die Grundzüge<br />

ihrer Karriere und die Rich<strong>tu</strong>ng, die ihr ferneres Leben<br />

nehmen sollte, wurden durch Entwicklungen verändert, die<br />

tausende Kilometer entfernt und ohne ihr Wissen vor sich gingen.<br />

Wie viele andere Hollywood-Produzenten unterhielt auch<br />

David O. Selznick in New York eine Agen<strong>tu</strong>r. Dort hatten zwei<br />

tüchtige Frauen namens Katherine Brown und ihre Assistentin,<br />

Elsa Neuberger, die Aufgabe, Stücke zu scouten, literarische<br />

Verwendungsrechte sicherzustellen, ausländische Filme anzusehen<br />

und Selznick zuhanden seiner Namensliste neue Talente<br />

vorzuschlagen.<br />

Eines Tages im Januar erzählte ein junger schwedischer<br />

Liftmonteur Elsa, dass seine Eltern soeben "Intermezzo" gesehen<br />

hätten. "Ich weiss, dass Sie ständig nach neuen Filmen<br />

und Schauspielern Ausschau halten," sagte ihr der junge<br />

Mann, "meine Eltern sind schlicht hingerissen von diesem Film<br />

und einem jungen Mädchen darin. Vielleicht sollten Sie ihn<br />

einmal ansehen."<br />

Der Rest ist - wie man so sagt - Geschichte. Elsa sah<br />

"Intermezzo" im Cinema de Paris in Manhattan, lieferte einen<br />

begeisterten Bericht an Kay Brown, die sich den Streifen auch<br />

ansah und davon ähnlich beeindruckt war. Kay kabelte unverzüglich<br />

ihren Vorschlag an Selznick, sich die Rechte an "Intermezzo"<br />

für ein amerikanisches Remake (evtl. ebenfalls mit<br />

<strong>Bergman</strong>) zu sichern; zur Untermauerung des Vorschlags<br />

sandte sie ihm Zei<strong>tu</strong>ngsberichte, Fotos und (nach harten Verhandlungen<br />

mit der New Yorker Agen<strong>tu</strong>r der Svenska Filmindustri)<br />

eine Kopie des Films nach. Aber Selznick stand unter<br />

extremem Arbeitsdruck mit den Vorberei<strong>tu</strong>ngen zu einer Film-<br />

89


version von "Vom Winde verweht", weshalb er die Bearbei<strong>tu</strong>ng<br />

des "Intermezzo"-Projekts an ein kleines Team von erfahrenen<br />

Mitarbeitern delegierte. "Eine Gruppe von uns sah den Film",<br />

meinte Produktions-Manager Raymond Klune.<br />

90<br />

"Wir wussten nicht so recht, was wir sahen, aber wir<br />

waren fasziniert davon, trotzdem alles - mit englischen<br />

Untertiteln - schwedisch gesprochen war. Es war so etwas<br />

wie eine Art romantische Seifenoper, aber wir waren<br />

alle beeindruckt von <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>, und wir sagten<br />

ihm, sie sei so sensationell, er müsse die mit allen<br />

Mitteln hierher holen."<br />

Selznick seinerseits verstand den Auftrag an sein Team<br />

in dem Sinne, sie sollten den Film auf seine Eignung für ein<br />

amerikanisches Remake prüfen und nicht nach einem neuen<br />

Star suchen. "Ja klar", sagte Klune, "aber produziere das Remake<br />

mit ihr." Selznick sah sich darauf den halben Film selbst<br />

an, fand ihn gut und erkannte, dass er - wie schon so oft mit<br />

ausländischen Filmen und Schauspielern - die Rechte an Film<br />

und Darstellern wohl für relativ wenig Geld bekommen könnte.<br />

Aber "Vom Winde verweht" und die Pläne für die ebenso populäre<br />

Novelle "Rebecca" beschäftigten Selznick buchstäblich<br />

rund um die Uhr (eine Folge sowohl seiner hyperaktiven Persönlichkeit,<br />

wie auch seiner Gewohnheit, das Amphetamin<br />

´Benzedrine`einzunehmen), weshalb die Pläne für ein amerikanisches<br />

"Intermezzo" während den ersten Monaten von<br />

1938 an eine tiefere Stelle in Selznicks Agenda rutschten. Kay<br />

Brown liess aber nicht nach, ihrem Boss ständig mit höflichen<br />

Hinweisen auf Miss <strong>Bergman</strong> in den Ohren zu liegen, die bereits<br />

Angebote aus London und von andern Hollywood-Produzenten<br />

erhielt.<br />

Miss <strong>Bergman</strong>s Leben war diese Saison ausgebucht, und<br />

sie selbst freute sich speziell auf ihre Arbeit bei der UFA. Vor<br />

ihrer Abreise nach Berlin dieses Frühjahr 1938 schuf sie aber<br />

eines ihrer intensivsten und komplexesten Filmportraits, das<br />

der Anna Helm in "A Woman´s Face" , mit Beginn der Aufnahmen<br />

am 18. Januar. Dann erkannte <strong>Ingrid</strong> während der Pro-


duktion, dass sie schwanger war. Sie und Petter feierten das<br />

Ereignis mit einem Champagner-Diner und Tanz im Café Royal<br />

des Grand Hotels.<br />

Anna <strong>als</strong> ein Charakter, der für jede noch so gewitzte<br />

Schauspielerin eine echte Herausforderung darstellte, hätte<br />

<strong>Ingrid</strong> leicht dazu verleiten können, sie fälschlich <strong>als</strong> romantisches<br />

Cliché darzustellen; sie aber schuf durch Kon<strong>tu</strong>ren und<br />

Schattierungen aus einem wechselweise grotesken und unglaubhaften<br />

Charakter eine menschlich erfassbare, glaubwürdige<br />

Persönlichkeit - und entkräftete damit auch den letzten<br />

Zweifel an ihrer herausragenden Kapazität <strong>als</strong> Schauspielerin.<br />

In ihrer Kindheit wird Annas Gesicht in einem schrecklichen<br />

Feuer, in dem ihre alkoholkranken Eltern umkommen, völlig<br />

zerstört. Anna hat den unsteten Charakter ihrer Familie geerbt;<br />

<strong>als</strong> das Zentrum eines Rings von Gaunern ist sie eine<br />

Frau ohne Gewissen oder Wärme. Als aber ein Schönheitschirurg,<br />

der Ehemann eines ihrer prospektiven Erpressungsopfer,<br />

ihre Schönheit wiederherstellt, setzt bei ihr auch eine gewisse<br />

geistige Veränderung ein. Wie sie dann bei der Ret<strong>tu</strong>ng eines<br />

Kindes, dessen Gouvernante sie geworden ist, ihr Leben riskiert,<br />

erlöst sie sich auch selbst.<br />

Petter kam seiner Frau beim Makeup zu Hilfe. "Er machte<br />

etwas ganz brilliantes", stellte sie Jahre danach fest und<br />

erklärte im Detail, wie er eine Art Spange anfertigte, "die in<br />

meine Mundhöhle passte und meine Wange nach aussen<br />

drückte, dann klebten wir auf der andern Seite das Augenlid<br />

nach unten - mit Makeup wäre das ja nicht zu machen gewesen<br />

- und, oh, wie grauenhaft ich dann aussah!"<br />

Die Handlung von "A Womans Face" war - wie so oft in<br />

der Zusammenarbeit zwischen Molander und Stevens - unnötig<br />

kompliziert und belastet von Wiederholungen und abgeschwächten<br />

Episoden. Aber der Endeffekt ist sowohl packend<br />

in der Darstellung, <strong>als</strong> auch pointiert in der Enfal<strong>tu</strong>ng der<br />

längst begrabenen Sehnsucht nach Liebe in der Seele einer<br />

verbitterten Frau. Es ist im Filmgeschäft eine wohlbekannte<br />

Tatsache, dass ein Film in der Regel nicht nach dem Hand-<br />

91


lungsverlauf fotographiert wird, denn Produzent und Regisseur<br />

müssen auf Gegebenheiten wie den Zeitplan der Schauspieler<br />

eingehen und auch Sequenzen mit einem bestimmten Set oder<br />

an einem bestimmten Aussenaufnahmeort in einer Zeiteinheit<br />

schiessen können, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, wo im<br />

Szenario die einzelnen Szenen liegen. Ausserdem spielen die<br />

Unvorhersehbarkeit der Wetterverhältnisse und die Erfordernisse<br />

des bewilligten Budgets eine wichtige Rolle. Diese Forderung,<br />

Filme ausserhalb des Handlungsverlaufs zu produzieren,<br />

stellt für die Darsteller eine ausserordentliche Herausforderung<br />

dar - die Schaffung einer glaubhaften Persönlichkeit in kleinen,<br />

unzusammenhängenden Sequenzen; die tägliche Arbeit wird<br />

so z.B. oft zu einer unablässigen Folge von abrupten und verwirrenden<br />

Wechseln des benötigten emotionalen Klimas. Der<br />

erste Drehtag kann eine Fin<strong>als</strong>zene enthalten, der zweite eine<br />

der ganz frühen Szenen und so weiter. Mehr <strong>als</strong> ein Schauspieler<br />

ist in diesen felsigen Untiefen schon schwer ausgerutscht.<br />

Solchen Zwängen verdanken wir manchmal künstlerische<br />

Tugenden, und das Publikum, das von einer Figur oder<br />

gar einem ganzen Film nicht zu überzeugen ist, kann den<br />

Grund dafür in diesen Anforderungen finden, oder gar in gelegentlich<br />

damit zusammenhängenden Fehleinschätzungen oder<br />

Fehlleis<strong>tu</strong>ngen der Schauspieler. Die Kontinuität mag durch gut<br />

aufeinander abgestimmte Sequenzen stimmen; die emotionale<br />

Übereinstimmung ist aber wieder etwas ganz anderes.<br />

In dieser Hinsicht machte <strong>Ingrid</strong> in ihrer Karriere sehr<br />

wenig f<strong>als</strong>ch. Ihr subtiler Aufbau der Persönlichkeit der Anna<br />

Holm war ein erstklassiges Beispiel für ein Talent, das einen<br />

Charakter Moment für Moment erfassen konnte und deshalb<br />

die verschiedenen Befindlichkeiten im Leben einer Frau <strong>als</strong><br />

voneinander unabhängige mentale Si<strong>tu</strong>ationen - <strong>als</strong> Microkosmen<br />

- einer komplexen Identität wiedergeben konnte. Als der<br />

geschundene Krüppel, eine Frau, die die Welt hasst, schien sie<br />

ihre Texte auszuspeien, rachebegierig gegen jede Frau, allein<br />

wegen ihrer Unversehrtheit: "Hat sie nicht alles, was eine Frau<br />

will? Wird sie nicht geliebt, verehrt, bewundert? Ist sie nicht<br />

schön? Also gut - gehört sie nicht bestraft dafür?" Später wird<br />

92


dieses Motiv neu aufgenommen: "Sie verabscheut einen Knaben<br />

(und denkt sogar kurz daran, ihm etwas anzu<strong>tu</strong>n) einfach<br />

weil: "Du hast alles. Du bist verwöhnt! Du bekommst alles,<br />

was du willst!" Aber das tränennasse Gesicht dieses Kindes,<br />

das eine Mutter so dringend nötig hätte, wie Anna (seine neue<br />

Gouvernante), bewirkt den ersten Riss im harten Herzen dieser<br />

Frau, deren Gesicht wiederhergestellt wurde und deren Seele<br />

nun ebenfalls heilen kann.<br />

<strong>Ingrid</strong> milderte das gr<strong>ob</strong>e, männliche Wesen der kriminellen<br />

Anna sukzessive in der Weise, dass diese innere Wandlung<br />

in der Wiederherstellung ihres Gesichts eine plausible Erklärung<br />

findet. So wurde "A Woman s Face" durch ihr fachliches<br />

Können, ihre perfekte Mimik und ihre subtilen Reaktionen<br />

zu einem Kleinod, zu einem Drama in der Tradition von Arthur<br />

Wing Pineros gespenstischem englischem Stück "The Enchanted<br />

Cottage". Der Haupteffekt dieser Werke liegt nicht in der<br />

Kunst der ästhetischen Metamorphose , sondern in der geistigen<br />

Wandlung eines Menschen. *)<br />

INGRIDS SCHWANGERSCHAFT erforderte die Vorverlegung<br />

des Drehbeginns für ihren nachfolgenden deutschen Film,<br />

der ursprünglich gegen Ende Mai vorgesehen war. Sofort nach<br />

Beendigung von "A Woman s Face" am 29. März begab sie<br />

sich zu den UFA-S<strong>tu</strong>dios nach Berlin, wo sie in einem gemieteten,<br />

komfortablen Vorstadthaus zusammen mit den drei deut-<br />

*) Wie üblich bemühte sich Joan Crawford zwei Jahre später intensiv,<br />

Anna Holm in einem glänzenden amerikanischen Remake von "A Woman's<br />

Face" zu neuem Leben zu erwecken. Leider schienen aber sie<br />

und Regisseur George Cukor das schwedische Original missgedeutet zu<br />

haben. Im Gegensatz dazu behielt der 1945 hergestellte amerikanische<br />

Film "The Enchanted Cottage" (mit Dotothy McGuire und R<strong>ob</strong>ert Young<br />

in den Hauptrollen, Autoren DeWitt Rodeen und Hermann J. Mankiewicz,<br />

Regie John Cromwell) Jahrzehnte danach seine poetische und<br />

emotionale Integrität, weil er sich nicht scheute, klarzustellen, dass<br />

Liebe nicht allein auf physische Anziehungskraft angewiesen ist. Beide<br />

Geschichten behandeln das Pr<strong>ob</strong>lem der physischen Versehrtheit in einer<br />

Welt, die in zunehmendem Masse von ästhetischen Werten besessen<br />

ist.<br />

93


schen Frauen untergebracht war, die <strong>als</strong> ihre Co-Stars für "Die<br />

vier Gesellen" bestimmt waren; die Dreharbeiten begannen in<br />

der zweiten Aprilwoche.<br />

Der historische Respekt der Schweden für den deutschen<br />

Ordnungssinn, die kul<strong>tu</strong>rellen Leis<strong>tu</strong>ngen und die Lutherische<br />

Tradition des Landes erhielt einen schweren Stoss, <strong>als</strong><br />

Hitler 1933 die Macht übernahm, und die schwedische Nostalgie<br />

für Deutschland schaffte ernsthafte ethische Pr<strong>ob</strong>leme vor<br />

und während des zweiten Weltkriegs im Land. Viele Schweden<br />

wollten weder vom Antisemitismus noch von den Ausdehnungsplänen<br />

der Nazis über die damaligen Reichsgrenzen hinaus<br />

etwas wissen. Verschiedene prominente Schweden, angeführt<br />

vom König, einem Erzbischof und einem Literaten, glaubten<br />

sogar, Hitler auf einen moderateren politischen Kurs bringen<br />

zu können, doch ihre Reise zum Führer verlief erfolglos.<br />

Einerseits kritisierte dieser Schwedens Neutralität; andererseits<br />

versprach er Schweden tatkräftige Hilfe durch den Ankauf<br />

von Rüs<strong>tu</strong>ngsgütern für die deutsche "Verteidigung". Wenigstens<br />

zwei bedeutende schwedische Waffenfabriken kamen<br />

gross ins Geschäft mit dem Reich. 1937 z.B. wurden 20<br />

Schiffsladungen Eisenerz nach Deutschland exportiert. Aber<br />

der vielfach erwartete "Anschluss" blieb aus. Selbst <strong>als</strong> Schweden<br />

den deutschen Truppen den Zugang nach Norwegen via<br />

schwedische Grenze erlaubte, erhielten Norweger und Dänen<br />

in Schweden politisches Asyl und Schutz vor der Nazi-<br />

Verfolgung. Mit andern Worten: die Doppelmoral war allgegenwärtig.<br />

Soviel war jedenfalls klar, <strong>als</strong> das schwedische Parlament<br />

1933 das Tragen politischer Insignien verbot: uniformierte<br />

Nazis wurden im Land nicht geduldet. Auch blieb die Regierung<br />

nicht untätig, <strong>als</strong> bekannt wurde, dass die Nazis für<br />

Schweden bestimmte Post in Deutschland abfingen und zensurierten.<br />

1934 schloss die schwedische Polizei eine Nazi-Agen<strong>tu</strong>r<br />

in einem Stockholmer Hotel mit der offiziellen Begründung, es<br />

handle sich dabei um "eine Organisation, die die öffentliche<br />

Ordnung gefährde". Wie sich herausstellte, war der Hotel-<br />

Direktor selbst ein überzeugter Nazi. Ein Jahr danach wurden<br />

94


ei einer Polizei-Razzia elf Nazis eingekerkert; das Gesetz zur<br />

Abwehr politischer Gruppen mit militärischem Charakter wurde<br />

mit vermehrter Strenge durchgesetzt. Durch die offene Opposition<br />

des Parlaments gegen das Nazi<strong>tu</strong>m wurde das schwedische<br />

Volk auch vermehrt sensibilisiert für die Gefahren und die<br />

Bedrohung der eigenen Sicherheit, die vom deutschen Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />

ausgingen.<br />

DAS ALLES KONNTE INGRID nicht verborgen bleiben,<br />

und sie war in Bezug auf ihren Entschluss, in Deutschland zu<br />

arbeiten, sehr offen:<br />

"Ich akzeptierte das deutsche Angebot, weil ich die<br />

Sprache beherrschte - aber sicher nicht mit der Absicht,<br />

dort zu bleiben. Natürlich hatte ich dam<strong>als</strong> bereits ein<br />

Auge auf Hollywood geworfen, es handelte sich einfach<br />

darum, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Die Politik<br />

hat mich nie interessiert, so wusste ich gar nicht, was<br />

ich tat... Hätte ich von Politik etwas verstanden, wäre<br />

ich nie auf die Idee gekommen, 1938 nach Deutschland<br />

zu gehen, um einen Film zu machen..."<br />

Dennoch fügte sie nachdrücklich hinzu: "Man spürte,<br />

dass da was gärte während der Produktion von "Die vier Gesellen",<br />

und die Angst war etwas Undefinierbares. Aber die Sache<br />

schien mich nicht zu betreffen, ich war hergekommen um einen<br />

Film zu drehen." Später hegte <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> ein echtes<br />

Schuldgefühl wegen ihrer Gleichgültigkeit gegenüber dem<br />

schrecklichen Geist jener Zeit.<br />

Ironischerweise war "Die vier Gesellen" ein kläglicher<br />

Reinfall. Eine farblose Geschichte von vier jungen Frauen, die<br />

mit ihrer Werbeagen<strong>tu</strong>r gescheitert waren, es war eine romantische<br />

Komödie, ein Genre, der dem deutschen Temperament<br />

noch weniger entsprach, <strong>als</strong> dem schwedischen. Nicht nur die<br />

sexuelle Selbstbestimmung, sondern auch die selbständige<br />

Denkweise der Frauen wurden diskriminiert - zwei Forderungen,<br />

die von den Nazi-Schergen bei der UFA resolut bekämpft<br />

95


wurden. Die schwangere <strong>Ingrid</strong>, die während der Produktion<br />

wochenlang morgendliche Übelkeit durchzustehen hatte, sah in<br />

grossen Teilen des Films abwesend und zerstreut aus, <strong>als</strong> wäre<br />

sie von ihrem Text ebenso gequält wie von den normalen<br />

Schwangerschaftsbeschwerden.<br />

Sie fand auch die s<strong>tu</strong>re Gewohnheit ihres Regisseurs,<br />

Carl Fröhlich, ärgerlich, sie jeder kleinsten Unsauberkeit der<br />

deutschen Aussprache wegen mitten in der Szene zu stoppen.<br />

Alle wüssten, dass sie ein schwedischer Import sei, sagte sie -<br />

und ausserdem hätte sie die Szene ja gut gespielt. Trotzdem:<br />

ihr Deutsch war wichtiger, Fröhlich insistierte, und die Szene<br />

musste wiederholt werden.<br />

Der Film wurde gegen Ende Mai fertiggestellt, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong><br />

im fünften Monat war. Petter kam nach Berlin, und zusammen<br />

fuhren sie zu einem Ferienaufenthalt nach Paris und anschliessand<br />

nach Monte Carlo. Anfang Juli waren sie zurück in Stockholm,<br />

wo sich <strong>Ingrid</strong> auf die Geburt vorbereitete und ihre Zukunftspläne<br />

überdachte. Wie üblich war Petter mit Helmer Enwall<br />

bei der Hand. "Ich fragte ihn, <strong>ob</strong> in England oder den USA<br />

nicht ein S<strong>tu</strong>dio finden könnte, das <strong>Ingrid</strong> einen J<strong>ob</strong> anzubieten<br />

hätte," erinnerte sich Petter. "Enwall erhielt aus England ein<br />

Angebot und aus Hollywood deren drei, aber deren finanzielle<br />

Bedingungen waren allesamt uninteressant, weshalb nichts<br />

daraus wurde. So unterzeichnete <strong>Ingrid</strong> den Vertrag, bei der<br />

UFA im folgenden Jahr zwei weitere Filme zu drehen.<br />

Am 20. September 1938 wurde den Lindströms ein<br />

Mädchen geboren, die sie Friedel Pia nannten: der erste Name<br />

zu Ehren von <strong>Ingrid</strong>s Mutter, der zweite <strong>als</strong> ein Konstrukt aus<br />

den Initialen der elterlichen Vornamen (Petter, <strong>Ingrid</strong>, Aron).<br />

Das Kind wurde später durch Pastor <strong>Bergman</strong> getauft, der bei<br />

der örtlichen Gemeinde immer noch im Amt war.<br />

Am Tag nach der Geburt hielt <strong>Ingrid</strong> in der Klinik eine<br />

Verabredung ein, die Petter und sie Wochen zuvor getroffen<br />

hatten. In ihr Zimmer trat eine kultivierte, intelligente Dame<br />

namens Jenia Reissar, die in London und Europa für David O.<br />

Selznick arbeitete, und zwar in derselben Funktion, wie Kay<br />

96


Brown in New York. In eine gebildete und einflussreiche Familie<br />

in Russland geboren, hatte sie zunächst in London Medizin<br />

s<strong>tu</strong>diert, doch war das ein Beruf, in welchem Frauen noch unerwünscht<br />

waren. So widmete Reissar ihre umfassenden Fähigkeiten<br />

eben der Kunst. David Selznick war klug genug, ihre<br />

Schnelligkeit und ihre wertvollen gesellschaftlichen Beziehungen<br />

in England zu erkennen und zu nutzen.<br />

Reissar hatte von Selznick den telegraphischen Auftrag<br />

erhalten, sich nach Stockholm zu begeben, die Rechte an "Intermezzo"<br />

zu erwerben, <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> einen Vertrag unterzeichnen<br />

zu lassen und Gustaf Molander <strong>als</strong> Regisseur zu verpflichten.<br />

"Mit den Lindströms war gut zu verhandeln," sagte<br />

Reissar, "sehr vernünftig und ehrlich. Wenn sie etwas sagten,<br />

dann galt das, und es gab keine Wenns und Abers. Im Hinblick<br />

auf all die Aufregung um das Neugeborene wurden aber noch<br />

keine festen Zusagen gemacht und man wollte sich dafür noch<br />

ein paar Tage Bedenkzeit lassen. Inzwischen lehnte Molander<br />

das Angebot ab. Er spreche zu wenig englisch; auch wolle er<br />

Schweden und seine Familie nicht für die Ungewissheit des<br />

Filmens in Hollywood verlassen.<br />

Ein paar Tage später lud <strong>Ingrid</strong> Jenia Reissar in ihre<br />

Wohnung ein und erklärte ihr, sie würde sich tatsächlich sehr<br />

freuen, in Hollywood arbeiten zu können, wo andere Schweden<br />

so erfolgreich seien. Nach neun schwedischen Filmen war sie<br />

eine der beliebtesten und populärsten Schauspielerinnen, aber<br />

wie immer war sie nicht schnell zufrieden mit sich selbst. <strong>Ingrid</strong><br />

wusste, dass Stücke wie "A Woman s Face" sehr selten<br />

waren: wo immer ihr Reiz liegen mochte, "Dollar" und "En<br />

enda natt" waren schauspielerisch keine anspruchsvollen Filme.<br />

Die Arbeit in Amerika, nahm sie an, werde wenigstens<br />

ihren beruflichen Horizont erweitern.<br />

Das Angebot wurde inzwischen noch attraktiver, <strong>als</strong><br />

Reissar erwähnte, dass Selznick <strong>als</strong> ihren männlichen Hauptdarsteller<br />

vermutlich Leslie Howard einsetzen werde, der momentan<br />

noch mit "Im Winde verweht" beschäftigt war. "Schon<br />

dafür gehe ich nach Hollywood!", sagte <strong>Ingrid</strong> entschlossen.<br />

97


"Ihr Gemahl war nicht sonderlich begeistert von den finanziellen<br />

Aspekten des Vertrags", sagte Reissar Jahre danach,<br />

"und nach einigen Diskussionen erklärte <strong>Ingrid</strong>, sie gehe zwar<br />

voller Begeisterung nach Amerika, wolle aber ihre neugeborene<br />

Tochter nicht sofort verlassen. Reissar hatte den Auftrag, sich<br />

in den zeitlichen Modalitäten flexibel zu zeigen, ging sofort<br />

darauf ein und bereitete den üblichen Siebenjahresvertrag für<br />

<strong>Ingrid</strong> vor.<br />

"Sie wollte nicht auf der Stelle unterzeichnen", erinnerte<br />

sich Jenia Reissar, "wir trafen uns noch mehrere Male und sie<br />

und ihr Gatte informierten sich genau über jeden Vertragspunkt<br />

und sie wollte vieles über die Bedingungen der Film-<br />

Arbeit in Hollywood und über Selznick <strong>als</strong> Produzenten wissen."<br />

Dann rückte Lindström mit dem Hauptpr<strong>ob</strong>lempunkt heraus:<br />

"Er widersetzte sich der Unterzeichnung eines langfristigen<br />

Vertrags mit Optionen und lehnte die Klausel ab, wonach <strong>Ingrid</strong><br />

im Falle einer Schwangerschaft entlassen werden könnte.<br />

So entfernte ich diese Stipulationen und wir einigten uns auf<br />

einen Ein-Film-Vertrag. Sollte ihr Hollywood gefallen, könnten<br />

sie und Selznick alles weitere nach "Intermezzo" aushandeln."<br />

Mitte Okt<strong>ob</strong>er legte Reissar <strong>Ingrid</strong> einen bereinigten<br />

Vertrag zur Unterzeichnung vor. "Ich dachte, nach allem sollte<br />

sie jetzt eigentlich unterzeichnen - was allerdings die Zustimmung<br />

ihres Ehemanns erforderte, denn er war es letztlich, der<br />

reihenweise Pr<strong>ob</strong>leme schuf." So wurde noch tagelang weiterdiskutiert.<br />

Inzwischen machte sich Selznick ernsthafte Sorgen,<br />

<strong>Ingrid</strong> arbeite auf Zeitgewinn und sei womöglich mit einem<br />

andern Produzenten in Verhandlung. So entsandte er Kay<br />

Brown mit dem Auftrag nach Stockholm, "nicht ohne einen<br />

Vertrag mit Miss <strong>Bergman</strong> zurückzukommen," wie er später<br />

schrieb. Die Verhandlungen waren kompliziert, und Petter bestand<br />

darauf, Helmer Enwall und den Anwalt Cyril Holm einzubringen.<br />

Petter hätte <strong>Ingrid</strong>s Unterschrift mit Leichtigkeit noch<br />

weiter verzögern können, hätte er gewusst, welche Konfusionen<br />

Selznicks Kopf verwirrten. "Eben durchfuhr mich ein kalter<br />

98


Schauer." schrieb er diesen Sommer an Kay Brown, "vielleicht<br />

sind wir wirklich hinter dem f<strong>als</strong>chen Mädchen her. Vielleicht ist<br />

unser Mädchen Gosta (sic) Stevens. Bitte um Prüfung und Bericht<br />

hierüber." Dann tat er sich schwer mit der Frage, <strong>ob</strong> er<br />

<strong>Ingrid</strong> für das Remake von "Intermezzo" vorsehen sollte; während<br />

mehrerer Wochen diesen Herbst war er nämlich mit der<br />

Idee beschäftigt, Loretta Young und Charles Boyer <strong>als</strong> Stars<br />

einzusetzen. Aber er wollte nach wie vor <strong>Bergman</strong> unter Vertrag<br />

haben und instruierte daher Kay Brown, die Sache zu Ende<br />

zu führen. Jenia Reissar, die den Handel bis fast zur Abschlussreife<br />

vorbereitet hatte, war inzwischen zu ihrer Aufgabe<br />

in London zurückgekehrt.<br />

1902 geboren, bestand Kay Brown 1924 ihren Abschluss<br />

am Wellesley-College; anschliessend arbeitete sie an<br />

der Theater-Akademie von New Hampshire. Joseph P. Kennedy<br />

war ein Leiter dieser Schule, und <strong>als</strong> er die Film Booking Offices<br />

of America (FBO), eine Film-Produktions- und Vertriebsgesellschaft<br />

kaufte, übernahm Kay einen J<strong>ob</strong> in der Produktions-<br />

und Litera<strong>tu</strong>r-Abteilung. Kennedy vereinigte später die<br />

FBO mit dem Radio-Keith-Orpheum-Unternehmen und übertrug<br />

Kay die Aufgabe, literarische Neuheiten ausfindig zu machen<br />

und deren Rechte für das S<strong>tu</strong>dio einzukaufen ("Cimarron"<br />

war unter ihren ersten Acquisitionen).<br />

1935 wurde sie von David Selznick <strong>als</strong> seine New Yorker<br />

Agentin engagiert, und Kay fuhr fort, einige der herausragendsten<br />

Verträge der Filmgeschichte abzuschliessen. Im darauffolgenden<br />

Jahr las sie Margaret Mtchells Novelle "Vom Winde<br />

verweht" noch vor deren Publikation und setzte beim unentschlossenen<br />

Selznick (der darin noch keine erfolgsträchtige<br />

Filmgeschichte sehen konnte) den Ankauf der Rechte an diesem<br />

Werk zum Preis von $ 50.000 durch (dam<strong>als</strong> der höchste<br />

für eine Story je bezahlte Preis). Dann überzeugte Kay Selznick<br />

1937 davon, Verhandlungen aufzunehmen, um sich die<br />

Dienste von Englands populärstem Regisseur, Alfred Hitchcock,<br />

zu sichern, dessen Filme weltweit Kassenschlager waren.<br />

99


KAY, DIE SELBST ZWEI KLEINE TÖCHTER HATTE, wollte,<br />

dass sich <strong>Ingrid</strong> volle Rechenschaft darüber gebe, welche<br />

Auswirkungen ein derart bedeutender Karriereschritt auf ihre<br />

Familie haben könnte und dass sie diesen Schritt wohlüberlegt<br />

unternehme. Aber mit Petters Zustimmung war <strong>Ingrid</strong> zuversichtlich.<br />

Ihr Gatte sagte übrigens: "<strong>Ingrid</strong> mag Schweden<br />

nicht" - eine Aussage, die <strong>Ingrid</strong> später in dem Sinne ergänzte:<br />

"Ich bin glücklich, <strong>als</strong> Schwedin geboren zu sein, was bedeutet,<br />

dass ich eine strenge Erziehung genoss - jedenfalls war das zu<br />

meiner Zeit noch so. Aber sogar in meinen Zwanzigerjahren<br />

konnte ich nicht dort leben. Schweden ist psychologisch zu<br />

weit entfernt vom Rest der Welt. Du fühlst dich dort auf eine<br />

Insel verbannt."<br />

Ende 1938 entschloss sie sich, im kommenden Frühjahr<br />

nach Amerika zu gehen, um im Hollywood-Remake von "Intermezzo"<br />

ihre Rolle zu übernehmen, die ihr die hübsche<br />

Summe von $ 2.500 die Woche einbringen sollte, eine der<br />

höchsten Gagen jener Zeit überhaupt und das Doppelte von<br />

Vivien Leighs Gage in "Vom Winde verweht". Wenn sie oder<br />

der Film enttäuschen sollte, mutmasste sie, könnte sie immer<br />

noch nach Schweden oder Deutschland zurückkehren.<br />

"Es war wirklich Petter Lindström, der alles kontrollierte<br />

und <strong>Ingrid</strong> veranlasste, Selznicks Angebot anzunehmen", erinnerte<br />

sich die schwedische Schauspielerin Signe Hasso, die in<br />

Amerika auf der Bühne und im Film ebenfalls Erfolg hatte und<br />

später Stücke schrieb. "Ihm ist es zu verdanken, dass sie nach<br />

Amerika kam. Er unterstützte sie enorm in ihrer Karriere und<br />

übte stets einen grossen Einfluss auf sie aus." Ihr Gatte, bestätigte<br />

<strong>Ingrid</strong> "trainierte und organisierte mich, und nur für ihn<br />

habe ich mich entschlossen, nach Hollywood zu gehen". Petter<br />

ermunterte sie auch, schon vor ihrer Abreise von Stockholm so<br />

häufig wie möglich english zu sprechen, worin ihr auch Kay<br />

eine grosse Hilfe war, die noch dreimal von New York herüber<br />

kam, um die letzten Vertragsdetails zu regeln und <strong>Ingrid</strong><br />

schliesslich nach Amerika zu begleiten. Als es Zeit zur Abreise<br />

wurde, entschieden sich die Lindströms schon im Hinblick darauf,<br />

dass <strong>Ingrid</strong> nur ein paar Monate abwesend sein würde, Pia<br />

100


die Mühen einer transatlantischen Seereise zu ersparen. Petter<br />

engagierte eine Nanny.<br />

Bei all den vergangenen Diskussionen war Kay stets beeindruckt<br />

von <strong>Ingrid</strong>s Unaffektiertheit, ihrer Direktheit, ihrer<br />

Herzlichkeit, ihrer Aufgestelltheit und Überzeugung, wonach<br />

die Verfeinerung ihres Talents viel wichtiger sei, <strong>als</strong> die Entfal<strong>tu</strong>ng<br />

eines f<strong>als</strong>chen Filmstar-Gepräges, von dem sie ohnehin<br />

wusste, dass es sich je nach Zeit und Mode von selbst bilden<br />

würde. <strong>Ingrid</strong> ihrerseits bewunderte die nette, elegante und<br />

kluge Kay, die um 13 Jahre älter war <strong>als</strong> sie, und schenkte ihr<br />

volles Vertrauen. Sie konnte alles aus jeder möglichen geschäftlichen<br />

oder privaten Perspektive sehen, und ohne jede<br />

F<strong>als</strong>chheit oder eisiges Kalkül hatte sie für <strong>Ingrid</strong> etwas Mütterliches<br />

- das führte, dirigierte, beschützte und Vorschläge<br />

machte. Laurence Evans, später <strong>Ingrid</strong>s Londoner Agent,<br />

brachte es treffend auf den Punkt: "Sie war alles in allem eine<br />

bemerkenswerte Frau mit ausgeprägter Intelligenz und Persönlichkeit.<br />

Sie war auch eine geborene Führerna<strong>tu</strong>r, was <strong>Ingrid</strong><br />

gerade in dieser Phase ihrer Karriere sehr zustatten kam."<br />

<strong>Ingrid</strong> selbst war ebensosehr bezaubert von der Aussicht,<br />

in Amerika zu arbeiten, <strong>als</strong> auch verunsichert über das<br />

mögliche Fazit: "Schweden erschien mir zu klein, ich suchte<br />

Möglichkeiten in einem grösseren Land - aber ich litt Todesängste,<br />

Hollywood würde mich nicht akzeptieren."<br />

1936<br />

„Valborgsmässoafton“<br />

(Walpurgisnacht) mit<br />

Victor Sjöström<br />

101


102<br />

1936 - „Intermezzo“


Portrait 1938<br />

103


104<br />

1939 - New York und Hollywood


1939<br />

"Als ich nach Amerika kam und all die Namen sah - Stingers,<br />

Daiquiries - begann ich einfach bei "A" und arbeitete mich das<br />

Alphabet runter."<br />

(Wie <strong>Ingrid</strong> mit den amerikanischen Cocktails bekannt wurde.)<br />

AM DONNERSTAG MORGEN, 20. April 1939 dockte die<br />

"Queen Mary" in New York an; an Bord waren <strong>Ingrid</strong> und ihre<br />

neue Freundin Kay, die ihr bei allen Vorberei<strong>tu</strong>ngen zu dieser<br />

Reise behilflich war. Auf Selznicks Kosten im Chatham Hotel<br />

einquartiert, erklärte <strong>Ingrid</strong> Kay, sie wolle keine Zeit verlieren,<br />

ihr Englisch zu vervollkommnen und den amerikanischen Lebensstil<br />

kennenzulernen. Sie wollte sich in typischen Cafeterias<br />

und Restaurants verpflegen, sie wollte Zei<strong>tu</strong>ngen lesen, Radio<br />

hören und Comics durchschnüffeln; am meisten freute sie sich<br />

aber auf Theaterbesuche.<br />

Ihre paar ersten Mahlzeiten verliefen recht monoton;<br />

ein Steak oder Hamburger mit einem Glas Wein, unausweichlich<br />

heruntergespült mit einem Kaffee und schliesslich gekrönt<br />

durch ihre erste aufregende Neuentdeckung, die amerikanische<br />

Ice Cream Sundae. Von da an tauchte sie oft bei Schrafft's,<br />

Child's oder Louis Sherry unter (oder bediente sich auch mal<br />

an einem Automaten) für zwei Kugeln Vanille, eine Doppelportion<br />

"hot fudge" mit einem grossen Hut aus Schlagsahne ("Es<br />

machte mich nie krank, nur dick."). Ice Cream blieb eine ihrer<br />

grossen Versuchungen, die nur unterdrückt wurde, wenn sie<br />

sich auf eine Produktion vorbereitete und schnell Pfunde loswerden<br />

musste.<br />

105


Sie lernte auch den amerikanischen Cocktail kennen,<br />

und im Handumdrehen entwickelte sie einen sicheren Geschmack<br />

für Gin Martinis, Rhum Drinks und Whisky Sours - für<br />

buchstäblich das ganze Angebot. "Als ich nach Amerika kam<br />

und all die Namen sah - Stingers, Daiquiries - begann ich einfach<br />

bei "A" und arbeitete mich das Alphabet runter." Glücklicherweise<br />

hatte <strong>Ingrid</strong> eine starke Konsti<strong>tu</strong>tion und hielt den<br />

Drinks stand. Ihr Leben lang genoss sie ihre Drinks unbeschwert,<br />

konnte für eine Diät jederzeit verzichten und war nie<br />

so etwas wie eine Alkoholikerin. Disziplin und Stolz hätten es<br />

ihr nicht erlaubt, sich von irgendeiner Lust bestimmen zu lassen.<br />

Was die Verbesserung ihrer Englischkenntnisse anbetraf,<br />

so war <strong>Ingrid</strong> viel zu quirlig, <strong>als</strong> dass sie sich in Ruhe hätte<br />

mit einer Zei<strong>tu</strong>ng hinsetzen oder eine solche gar konzentriert<br />

hätte lesen können. Da stimmte auch Kay zu, dass wohl<br />

das Theater das Richtige wäre. Nach einer Woche hatte sie<br />

"Abe Lincoln in Illinois", "The Little Foxes", "The Philadelphia<br />

Story" und "No Time for Comedy" gesehen - war aber dem<br />

Verständnis der amerikanischen Umgangssprache um nichts<br />

näher gekommen. Solange Kay langsam und klar sprach und<br />

sich auf elementare Satzkonstruktionen beschränkte, war alles<br />

gut. Aufgeschmissen war <strong>Ingrid</strong> aber, wie es sich um dramatische<br />

Dialoge, Dialekt oder etwas Komplizierteres <strong>als</strong> einen einfachen<br />

Satz handelte. Kay sah, dass hier schnell etwas geschehen<br />

musste, weil die Dreharbeiten zu "Intermezzo" im<br />

Mai beginnen sollten. In seiner Antwort auf ihr diesbezügliches<br />

Telegramm schrieb Selznick, er werde einen Sprachcoach in<br />

Hollywood für sie bereithalten.<br />

Die Ankunft dort erfolgte am frühen Samstag Nachmittag<br />

des 6. Mai. Kay begleitete <strong>Ingrid</strong> im Zug von New York<br />

nach Pasadena, wo ein Wagen mit Fahrer sie erwartete, um die<br />

beiden Damen zum Selznick Mansion am Summit Drive in Beverly<br />

Hills zu bringen. Mit einem Swimming Pool, einem riesigen<br />

gediegenen Esszimmer, verschiedenen Salons, einer Bibliothek<br />

und einem Filmvorführraum war das Selznick-Anwesen<br />

etwas Unvorstellbares für eine schwedische Schauspielerin, die<br />

106


mit einer anspruchslosen Wohnung durchaus zufrieden war.<br />

<strong>Ingrid</strong> hatte solchen Luxus in amerikanischen Filmen und Magazinen<br />

gesehen, war aber viel zu sensibel, um ihr Staunen<br />

professionell zu überspielen.<br />

Sie wurde sofort Davids Frau Irene (Tochter des MGM-<br />

Moguls Louis B. Mayer) vorgestellt, die eben das Ken<strong>tu</strong>cky<br />

Derby hörte. Ihr Mann sei in Culver City mit Dreharbeiten zu<br />

"Vom Winde verweht" beschäftigt. Erstaunt darüber, <strong>Ingrid</strong><br />

hier mit ein paar kleinen Gepäckstücken und ohne den bei<br />

Filmstars üblichen Überseekoffer zu sehen, führte Irene sie<br />

zum Gästetrakt der Selznick-Residenz, wo sie nun für's erste<br />

wohnen sollte. <strong>Ingrid</strong> staunte gleich weiter über die verschwenderisch<br />

ausgestattete Dreizimmer-Suite mit Bad und<br />

Salon, die ihr <strong>als</strong> Gästezimmer zugewiesen wurde.<br />

Am Abend lud Irene Selznick <strong>Ingrid</strong> ein, sie mit ein paar<br />

Freunden zum "Beachcomber" zu begleiten, einem Restaurant<br />

in Hollywood mit Südpazifik-Athmosphäre. Mit von der Partie<br />

an diesem Abend waren auch Miriam Hopkins, Richard Barthelmess<br />

und Grace Moore - neben <strong>Ingrid</strong>, die in dieser Gesellschaft,<br />

verwirrt von der "Maschinengewehr-Konversation",<br />

buchstäblich sprachlos war. Aber nach einem der tödlichen<br />

Beachcomber-Daiquiries (serviert in einer Keramik-Kokosnuss<br />

mit einem kleinen rosa Sonnenschirmchen geschmückt) machte<br />

sie eine scherzhafte Bemerkung über ihre Grösse, womit das<br />

Eis gebrochen war und (wie Irene sich erinnerte) ihr alle verfallen<br />

waren.<br />

Trotzdem <strong>Ingrid</strong>s Englisch beschränkt war, hatte sie eine<br />

bemerkenswerte Kommunikationsfähigkeit: was immer sie<br />

fühlte wurde irgendwie schnell durch einen feinen aber direkten<br />

Begriff, einen Blick und ein paar sparsame Gesten herübergebracht<br />

- ein Mix von Qualitäten übrigens, der ihre Gefühle<br />

auf der Leinwand so intensiv zum Ausdruck brachte. "Ihre<br />

Unaffektiertheit war grandios", fand Irene (die von den<br />

Stars ihres Gatten nicht schnell beeindruckt war). "Einfach und<br />

direkt, hatte sie ein frisches Auftreten. In der Tat war sie mit<br />

keiner mir bisher begegneten Schauspielerin zu vergleichen.<br />

107


Eigentlich wollte ich zu ihr nur gastfreundlich sein, aber ich<br />

nahm sie auf der Stelle unter meine Fittiche und versuchte, ihr<br />

Hollywood zu erklären."<br />

Nach dem Essen begab sich die Gruppe zum Projektionsraum<br />

bei Miriam Hopkins zuhause. Etwa um ein Uhr früh<br />

tippte jemand auf <strong>Ingrid</strong>s Schulter. Selznick hatte endlich den<br />

Weg zur Gruppe gefunden und erwartete <strong>Ingrid</strong> nun in der Küche.<br />

Über einen Tisch gebeugt, machte er sich über einige<br />

Restbestände aus Miriams Kühlschrank her. Eulenhaft, schwerfällig,<br />

überspannt und so geschwätzig, wie er immer geschildert<br />

wird, fasste er sie durch die dicken Brillengläser ins Auge<br />

und war von ihrer Grösse alarmiert (1m 75cm). "Gott, ziehen<br />

Sie die Schuhe aus", murmelte er nach einer flüchtigen Begrüssung.<br />

"Das bringt nichts", antwortete <strong>Ingrid</strong> gelassen, "ich<br />

trage flache Absätze". Der Produzent spiesste ein kaltes Stück<br />

Lamm auf und griff nach einer Whisky-Flasche.<br />

DAVID O. SELZNICK WAR EINE DER GROSSEN KRÄFTE<br />

in Hollywood. Mit seinen 37 Jahren war er bereits ein erfolgreicher<br />

Produzent bei RKO, Paramount und Metro-Goldwyn-<br />

Mayer, wo ihn sein Schwiegervater, Louis B. Mayer, <strong>als</strong> Vizepräsidenten<br />

und Produktionschef installiert hatte. Bis 1939<br />

hatte Selznick Dutzende von Hits produziert, worunter "What<br />

Price Hollywood?", "A BIll of Divorcement", "King Kong", "Little<br />

Women", "Dinner at Eight", "David Copperfield", "Anna Karenina"<br />

und "A Star is Born". "Vom Winde verweht" sollte in Kürze<br />

in die Kinos kommen, und "Rebecca" war <strong>als</strong> nächste Produktion<br />

geplant. "Intermezzo" sollte seine 55. Produktion<br />

werden.<br />

Mit finanzieller Unterstützung durch die Familie Whitney<br />

kam Selznick nun zu seinem eigenen S<strong>tu</strong>dio. Damit sollte nicht<br />

nur sein Imperium weiter ausgedehnt werden, sondern es sollte<br />

ihm auch ermöglichen, jedes Detail in jedem von ihm produzierten<br />

Film persönlich zu überwachen. Zehntausende von<br />

108


Notizen und Telegrammen, die er Tag und Nacht diktierte, belegen<br />

seinen unternehmerischen Eifer. Sinnlich und grüblerisch,<br />

ein Mann von scharfer Intelligenz und unersättlichem<br />

Appetit, war Selznick auch eine unerschöpfliche Quelle von<br />

Ideen, die oft in langen Nächten mit Whisky, Poker und Pillen<br />

geboren wurden. Kein Bereich seiner Produktion, sei es das<br />

Casting, Frisuren, Makeup oder Werbung, auf den er nicht Einfluss<br />

genommen hätte; mit seinen Anforderungen an deren<br />

Arbeitszeit, Energie und Aufmerksamkeit konnte er seine Vertrags-Schauspieler<br />

leicht an die Grenze des Wahnsinns treiben.<br />

Die erste Begegnung zwischen <strong>Ingrid</strong> und David über<br />

kaltem Lamm und Whisky nahm ihren Fortgang, indem er auf<br />

ihren Namen zu sprechen kam, den er zu deutsch fand. Warum<br />

sie nicht umbenennen in <strong>Ingrid</strong> Berryman? "<strong>Bergman</strong> ist ein<br />

guter Name und er ist mir lieb", konterte sie. "Wenn ich in<br />

Amerika durchfalle, kann ich <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> wieder nach<br />

Schweden zurückkehren."<br />

Ja, und ausser ihrem Namen gebe es da noch das Pr<strong>ob</strong>lem<br />

mit ihren Augenbrauen, fuhr Selznick fort, die viel zu dick<br />

seien. Nach einem weiteren Schuss Whisky ins Glas: ihre Zähne<br />

müssten dringend fixiert werden und auch hinsichtlich ihres<br />

Makeups müsste etwas geschehen und - <strong>ob</strong>'s denn in Miriams<br />

Kühlschrank keine übrigen Kartoffeln habe oder Brot und Butter?<br />

"Ich denke, Sie haben einen grossen Fehler gemacht,<br />

Mr. Selznick", unterbrach ihn <strong>Ingrid</strong> in ruhigem, überlegtem<br />

Tonfall, "ich dachte, Sie hätten mich in "Intermezzo" gesehen,<br />

für gut befunden und Kay Brown beauftragt, mich von Schweden<br />

hierher zu holen. Jetzt sehen Sie mich persönlich und wollen<br />

alles an mir ändern. Unter diesen Umständen möchte ich<br />

den Film lieber nicht machen. Wir sprechen nicht mehr darüber<br />

und bereiten uns keine Schwierigkeiten. Vergessen wir es. Ich<br />

nehme den nächsten Zug und fahre nachhause." Damit vergass<br />

David O. Selznick, der gewohnt war, zu bekommen was<br />

er wollte, weiterzumampfen und zu schlürfen. Er hatte eben<br />

seinen Meister gefunden. Tatsächlich erkannte er auch den<br />

109


erstaunlich hohen Grad an gesundem Menschenverstand in<br />

ihrer Antwort.<br />

110<br />

"Er sagte, es hätte phantastisch geklungen", erinnerte<br />

sich <strong>Ingrid</strong>,- der beste Werbeeinfall aller Zeiten - und<br />

dass er an der Idee eines natürlichen Mädchens arbeite<br />

- dass nichts geändert würde. "Er befahl den Leuten in<br />

der Makeup-Abteilung, meine Augenbrauen nicht anzurühren,<br />

und trotzdem ich für die Kamera etwas Makeup<br />

brauchte - mein Gesicht lief unter den heissen Lampen<br />

rot an - wurde alles auf sehr natürlich und ungeschminkt<br />

angelegt. So wurde ich der 'natürliche' Star.<br />

Und das kam gerade zur rechten Zeit, denn alles war so<br />

künstlich geworden in den Filmen, alle diese gerupften<br />

und nachgezogenen Augenbrauen, das ganze dicke Lippenrot<br />

und die lächerlichen f<strong>als</strong>chen Haarteile. Ich sah<br />

sehr einfach aus, mein Haar flatterte im Wind und ich<br />

spielte wie das Mädchen von nebenan."<br />

Plötzlich stand Selznick auf ihrer Seite. Es sei brillant,<br />

sagte er, ihr bürgerlicher Name, ihre echte Erscheinung, ihr<br />

echtes Haar, die echten Zähne. Das alles war in Hollywood so<br />

normal wie der Schnee im Sommer.<br />

Wie sie sagte, beruhte <strong>Ingrid</strong>s Widerstand gegen<br />

Selznicks Absichten auf der einfachen Überzeugung, dass wenn<br />

sie in Hollywood nicht den erhofften Erfolg hatte, sie leicht in<br />

Schweden oder Deutschland wieder Arbeit finden würde. Sie<br />

hatte genügend amerikanische Filme gesehen, um zu wissen,<br />

dass 1939 praktisch alle Filmschauspielerinnen bis zur Unkenntlichkeit<br />

frisiert und geschminkt waren. Klar, im schwedischen<br />

Film war alles etwas unsicherer, weshalb sie die enormen<br />

technischen Möglichkeiten und die scheinbar unerschöpflichen<br />

finanziellen Mittel in der amerikanischen Filmproduktion<br />

so schätzte; zudem wusste sie, dass in Amerika viele Ausländer<br />

grosse Filmkarrieren machten, w<strong>ob</strong>ei eine ganz bestimmte<br />

Vorliebe für deutsch-skandinavische Frauen festzustellen war<br />

(unter vielen andern Greta Garbo, Marlene Dietrich, Hedy<br />

Lamarr, Ilona Massey und Anna Sten).


Sie war aber auch gewitzt genug, zu wissen, dass der<br />

äussere Glanz ablenken konnte (schöne Frauen wurden selten<br />

für überragende darstellerische Fähigkeiten gel<strong>ob</strong>t), dass das<br />

rein künstliche ihre Popularität nur sehr vorübergehend sichern<br />

konnte (wenn's gut ging bis zum Alter von 35), und dass nur<br />

ein Talent, das in Verbindung mit guten Stücken reifen konnte,<br />

ihre Karriere zu sichern vermochte. Ausserdem gab sie sich der<br />

Hoffnung hin, eines Tages wieder auf der Bühne zu stehen.<br />

<strong>Ingrid</strong>s Theater-Ambitionen waren Teil einer grösseren<br />

Welt, die sie für sich anvisierte. Während den Monaten nach<br />

Pias Geburt besuchte sie mehrm<strong>als</strong> wöchentlich ein Stockholmer<br />

Kino, sah sich an, was sie nur konnte, und erkannte die<br />

erstaunlichen Möglichkeiten, die das internationale Filmgeschäft<br />

Schauspielern bot. Ihre Zeit in Deutschland konnte ihren<br />

permanenten Appetit auf neue Methoden, neue Aufgaben,<br />

neue Rahmenbedingungen und neue Schauplätze nicht stillen.<br />

Auch betrachtete sie das Leben in Schweden <strong>als</strong> eingeengt<br />

("auf eine Insel verbannt", wie sie sagte), aber an der Wurzel<br />

dieses Missbehagens sass vielleicht auch ihr Verdacht, dass sie<br />

die tiefste Befriedigung im Leben nicht in Ehe und Mutterschaft,<br />

sondern in der guten Arbeit finden würde. Ihr Charakter<br />

wurde durch zwei prägende Lebenserfahrungen geformt,<br />

die sie zu einem bemerkenswerten Selbstvertrauen führten:<br />

der Tod ihrer Angehörigen und das unerschütterliche Vertrauen<br />

in ihr Talent. Mit dreiundzwanzig reiste sie Tausende von Meilen<br />

zu einer fremden Kul<strong>tu</strong>r, wo sie sich auf nichts verlassen<br />

konnte, <strong>als</strong> auf ihre innere Stärke, ihre unaffektierte Art, die<br />

ihre aussergewöhnlichen Gaben <strong>als</strong> Schauspielerin zu gegebener<br />

Zeit aufblühen lassen konnten. Somit schien sie weder<br />

Heimweh noch Selbs<strong>tu</strong>nsicherheit zu kennen. Adjektive und<br />

Verben lernte sie leicht, Kühnheit und Energie besass sie bereits.<br />

Eine Woche nach ihrer Ankunft war <strong>Ingrid</strong> Ehrengast an<br />

einer Dinnerparty im Hause Selznick, unter deren zwei Dutzend<br />

Gästen auch Tyrone Power, Loretta Young, Errol Flynn,<br />

Claudette Colbert, Gary Cooper, Joan Bennett, Cary Grant,<br />

Spencer Tracy, Charles Boyer, Clark Gable und Ann Sheridan<br />

111


anzutreffen waren; die Letztgenannte wurde von Warner Bros.<br />

<strong>als</strong> "The Oomph Girl" vorgestellt. Niemand konnte <strong>Ingrid</strong> die<br />

Bedeu<strong>tu</strong>ng dieses seltsamen Namens erklären und auch ihr<br />

Schwedisch-Englisch-Dictionnaire brachte kein Licht in die Angelegenheit.<br />

Unfähig, die Bedeu<strong>tu</strong>ng von "Oomph" zu ergründen,<br />

begann sie zu bezweifeln, dass sie American-English je<br />

beherrschen würde. Aber die Hilfe nahte in der Person von<br />

Ruth R<strong>ob</strong>erts, die ihr ein paar Tage später <strong>als</strong> ihr Sprach- und<br />

Dialog-Coach vorgestellt wurde, eine ruhige, scharfsinnige<br />

Frau, die einigen Immigranten Englisch beibrachte. Sie war die<br />

Schwester des Schriftstellers und Regisseurs George Seaton<br />

und wurde nun <strong>Ingrid</strong>s Sprachtrainerin und Kollegin bei Filmaufnahmen<br />

- und später lebenslang ihre vertraute Freundin.<br />

Mitte Mai hatte Selznick für <strong>Ingrid</strong> ein Haus gemietet,<br />

eine charmante Villa im spanischen Stil an der South Camden<br />

Drive 260, Beverly Hills. Einmal mehr war Selznick von ihrer<br />

Reaktion schockiert: das sei eine unnötige Ausgabe, sagte <strong>Ingrid</strong>.<br />

Da ein möblierter Wohnanhänger in den S<strong>tu</strong>dios für sie<br />

bereitstand, fand sie, wäre sie damit absolut glücklich gewesen.<br />

Irene machte ihr dann in aller Ruhe klar, dass sowas für<br />

ihren neuen Stand <strong>als</strong> Selznick-Hauptdarstellerin keine angemessene<br />

Unterkunft wäre.<br />

Ihre neue Nachbarschaft war nicht zu vergleichen mit<br />

Summit Drive, hoch über dem Sunset Boulevard, wo Anwesen<br />

mit Swimming Pools, Gästehäusern, Tennisplätzen und Personalhäusern<br />

mehrere Acres Land beanspruchten. <strong>Ingrid</strong>s vorübergehende<br />

Residenz lag nun zwei Blöcke südlich vom Wilshire<br />

Boulevard auf einem schmalen Landstück ohne Swimming Pool<br />

- und hatte somit ein weniger glanzvolles Cachet. Sie war aber<br />

immer noch glanzvoller, <strong>als</strong> alles, was <strong>Ingrid</strong> bisher bewohnt<br />

hatte, und sie liebte den Charme des Hauses gleichermassen<br />

wie seine geradezu exotische Anlage: das rote Ziegeldach, die<br />

hellen S<strong>tu</strong>ckwände, die Balkendecken, die gewölbten Säulengänge,<br />

den üppigen Bestand an Yucca, Kakteen, Zitronen-,<br />

Oliven- und Eucalyp<strong>tu</strong>s-Bäumen, den süssen Duft der nachts<br />

blühenden Yasmine - alles zur Zierde eines geräumigen Vierbettheims<br />

für <strong>Ingrid</strong> und eine Frau, die Selznick <strong>als</strong> ihre Kö-<br />

112


chin, Chauffeuse und persönliche Assistentin eingestellt hatte.<br />

Gemäss ihrem Vertrag mit Selznick International Pic<strong>tu</strong>res<br />

(der später zu ihren Gunsten geändert wurde) sollte <strong>Ingrid</strong><br />

während der Produktion von "Intermezzo" eine Wochengage<br />

von $ 2.500 erhalten. Selznick stipulierte Optionen, wonach sie<br />

darüber hinaus jährlich in zwei weiteren Filmen engagiert werden<br />

konnte, wofür ihr eine Gage von wöchentlich $ 2.812.50<br />

bezahlt würde, mit einer Garantie auf 16 Wochen für das zweite<br />

Jahr. Jährliche Anpassungen würden dieses Gehalt bis zum<br />

6.Jahr auf wöchentlich $ 5.000 erhöhen. Mit einem 16wöchigen<br />

Arbeitsplan würde <strong>Ingrid</strong> bis 1946 ein garantiertes<br />

Jahreseinkommen von $ 80.000 beziehen - immer vorausgesetzt,<br />

sie wäre mit den Ergebnissen von "Intermezzo" zufrieden.<br />

Schliesslich erhielt <strong>Ingrid</strong> zwischen 1939 und 1946 von<br />

Selznick ein Bruttoeinkommen von über $ 750.000, was sie<br />

(neben Irene Dunne) zu einer der höchstbezahlten Frauen in<br />

Hollywood machte, aber nicht zu einer der reichsten im Lande.<br />

Obschon sie eine registrierte "niedergelassene Ausländerin"<br />

war, hatte sie dieses Einkommen zu versteuern. Zu jener Zeit<br />

besteuerte die amerikanische Regierung ihr Einkommen zu 90<br />

% womit sich ihr jährlicher Nettolohn um die $ 20.000 herum<br />

bewegte.<br />

WÄHREND DREI TAGEN ANFANGS MAI wurde <strong>Ingrid</strong> für<br />

ein paar Testaufnahmen benötigt, da Kameramann Harry<br />

Stradling und Regisseur William Wyler, der für "Intermezzo"<br />

bei Samuel Goldwyn ausgeliehen wurde, Haar, leichtes Makeup<br />

und Farben bestimmen mussten. Am Mittwoch, 24. Mai begann<br />

Wyler mit den Pr<strong>ob</strong>en, und bis Samstag entwickelten sich die<br />

Dinge ganz nach Wunsch. Aber am darauffolgenden Montag<br />

(Memorial Day) schrieb Wyler, der <strong>als</strong> detailbesessener Pedant<br />

für viele Wiederholungen jeder Szene bekannt war, Selznick,<br />

dass er sich aus diesem Film zurückziehe. Die Anforderung,<br />

"Intermezzo" in sechs Wochen fertigzustellen, sei unannehmbar<br />

– was mehr eine Ausrede <strong>als</strong> eine Begründung war. Tatsa-<br />

113


che aber war, dass "Intermezzo" <strong>als</strong> Stück überhaupt nicht<br />

nach Wylers Geschmack war.<br />

Selznick nahm die Nachricht gelassen. Das Budget für<br />

"Vom Winde verweht" hatte schon die unvorstellbare Höhe<br />

von $ 4 Mio. erreicht, und umsomehr <strong>als</strong> Selznick beabsichtigte,<br />

"Intermezzo" wirtschaftlich zu produzieren, projizierte Wylers<br />

Ruf für Wiederholungen Horror-Szenarien in Selznicks<br />

hochsensibles Vorstellungsvermögen. Dass Wylers "Jezebel"<br />

Bette Davis eben ihren zweiten Oscar eingebracht hatte, oder<br />

dass sein "Wuthering Heights" einer der grossen Erfolge des<br />

Jahres war, kümmerte ihn nicht. Eigentlich war Selznicks ursprüngliche<br />

Wahl für die Regie von "Intermezzo" auf Gregory<br />

Ratoff gefallen, einen russischen Immigranten, Schauspieler,<br />

Regisseur und ehemaligen Spielkumpanen, der Selznick aus<br />

früheren Pokerspielen noch eine stattliche Summe Geldes<br />

schuldete. So schaffte er es am Donnerstag, 1. Juni, Ratoff bei<br />

Darryl Zanuck von Twentieth Cen<strong>tu</strong>ry-Fox, wo er unter Vertrag<br />

stand, auszuleihen. In seinem breiten slawisch-jiddischen Akzent<br />

oft unverständliche Anweisungen bellend, entpuppte sich<br />

der neue Regisseur von "Intermezzo" für alle Beteiligten <strong>als</strong><br />

s<strong>tu</strong>rer Pauker – ausser für <strong>Ingrid</strong>, die er anbetete.<br />

Zuerst ärgerte sich <strong>Ingrid</strong> über den abrupten Transfer<br />

dieser wichtigen Aufgabe von einer Person auf die andere, aber<br />

dann begriff sie, dass es ja nicht allein Ratoffs Film war. Selznick,<br />

so begierig, Tempo und Wirtschaftlichkeit bei der Produktion<br />

durchzuhalten, wie auch den Erfolg der schwedischen "Intermezzo"-Version<br />

zu wiederholen, hatte jede Szene der ersten<br />

Version im Kopf. So schaffte er es zum Erstaunen und Missvergnügen<br />

buchstäblich aller Beteiligten, von der Überwachung<br />

von "Vom Winde verweht" zur Kontrolle jeder einzelnen Aufnahme<br />

von "Intermezzo" hin und her zu hetzen. Ratoff hatte<br />

daher meist den Anschein, Selznicks Helfer zu sein (was auch<br />

er selbst so sah). "Er war temperamentvoll, aber er war auch<br />

ein lieber, süsser Mann", sagte <strong>Ingrid</strong>, "sein Akzent war sehr<br />

lustig anzuhören. Oft kam er auf mich zu und sagte: 'You don't<br />

read ze line right. Lizzen to me and do eet zees way!' Dann<br />

kam Ruth daher und sagte: 'Um's Himmels Willen, hör' nicht<br />

114


auf ihn, hör' auf mich!'" Verständlicherweise führte dies für<br />

<strong>Ingrid</strong> gelegentlich zu Verwirrung, denn sie fürchtete bald, mit<br />

allem, was sie sagte, nicht verstanden zu werden. "Kein Grund<br />

zur Aufregung", meinte Selznick, unsaubere Stellen könnten<br />

später leicht nachgedoppelt werden.<br />

Während <strong>Ingrid</strong>s Aussprache korrigiert werden konnte,<br />

war das bei ihrer Erscheinung, wenn einmal fotografiert, nicht<br />

möglich. Vier Tage nachdem Ratoff mit den Aufnahmen begann,<br />

hatte Selznick plötzlich den Einruck, dass Stradling (der<br />

schon in Hollywood, England und Frankreich gearbeitet hatte)<br />

nicht die Fachkompetenz hatte, <strong>Bergman</strong>s amerikanisches Debüt<br />

zu fotografieren.<br />

"Bei der Produktion dieses Films gibt es nichts, was<br />

physisch wichtiger wäre, <strong>als</strong> die Fotographie von Miss<br />

<strong>Bergman</strong>. Wenn wir es nicht schaffen, dass sie göttlich<br />

aussieht, kann der ganze Film durchfallen. Es scheint,<br />

wir haben noch nicht erfasst, aus welchen Winkeln und<br />

in welcher Belich<strong>tu</strong>ng sie optimal aufzunehmen. Der<br />

wissbegierige Charme, den sie in der schwedischen<br />

"Intermezzo"-Version hatte, die Kombination von erregender<br />

Schönheit und frischer Reinheit – das alles einzufangen,<br />

sollte im Rahmen unserer Möglichkeiten liegen.<br />

Es wäre schockierend, wenn irgendein Kameramann<br />

in einem kleinen Stockholmer S<strong>tu</strong>dio fähig wäre,<br />

so viel besser mit ihr umzugehen, <strong>als</strong> wir das können."<br />

(Nach einer Durchsicht der noch erhaltenen Stradling-<br />

Szenen fällt es schwer, zu verstehen, was Selznick störte. Sein<br />

Auftrag an Stradling lautete: natürliche Ansichten. Und das<br />

war es, was Stradling lieferte.)<br />

Abgesehen von ihrer Grösse, deren Pr<strong>ob</strong>lematik durch<br />

entsprechende Aufnahmewinkel oder eine gute Positionierung<br />

kleinerer Partner leicht zu beheben war, bot <strong>Ingrid</strong> der Kamera<br />

keinerlei Schwierigkeiten. Und das Gerücht, sie trage in "Intermezzo"<br />

kein Makeup, wurde von Selznick mit Hingabe verbreitet,<br />

unterstützte es doch seine Werbekampagne über die<br />

Ankunft eines schwedischen Milchmädchens, das so hübsch<br />

115


ist, dass es keinerlei kosmetische Nachhilfe brauche. Tatsache<br />

ist, dass sie sehr hellhäutig war und die hellen Lichter ihre<br />

Haut rötlich erglänzen liessen, was mit dem passenden Puder<br />

etwas abgedämpft werden musste.<br />

Was nun Stradling anbetraf, war Selznick verzweifelt: er<br />

sah, was er in dieser zweiten Dreh-Woche sehen musste, nämlich<br />

eine Serie von visuellen Katastrophen, die den Film kaputt<br />

zu machen drohten. So war Stradling der Nächste, der aus der<br />

Produktion entlassen wurde; sein Ersatz war Gregg Toland (der<br />

für Wyler und Goldwyn "Wuthering Heights" fotografiert hatte)<br />

*) .<br />

Aber nun bekam es <strong>Ingrid</strong> mit der Angst zu <strong>tu</strong>n. "Sie<br />

hatte Tränen in den Augen", schrieb Selznick erstaunt in einer<br />

Notiz an William Herbert, seinen Werbedirektor. Sie fürchtete,<br />

das werde Stradlings Ansehen schädigen, und alles in allem sei<br />

er doch ein sehr guter Kameramann gewesen und es spiele<br />

doch keine Rolle, <strong>ob</strong> er sie jetzt etwas weniger gut fotografierte<br />

– sie würde das lieber in Kauf nehmen, <strong>als</strong> ihn zu verletzen.<br />

Selznick <strong>als</strong> Mann, der (speziell von Schauspielern)<br />

nicht leicht zu beeindrucken war, musste erfahren – wie er<br />

Herbert gegenüber sagte, dass <strong>Ingrid</strong> die verantwor<strong>tu</strong>ngsbewussteste<br />

Schauspielerin war, mit der er je gearbeitet hatte.<br />

Als Beweis dafür nannte er die Tatsache, dass sie ihr ganzes<br />

Leben den Anforderungen der Produktion unterordnete. "Sie<br />

verlässt das S<strong>tu</strong>dio zu keiner Zeit und verlangte noch keine<br />

einzige Minute vor 6 Uhr abends Feierabend . . .ganz im Gegenteil,<br />

sie ist unglücklich, wenn das Team nicht bis Mitternacht<br />

arbeiten will."<br />

Er wurde nicht müde, zu staunen. <strong>Ingrid</strong> war auch in<br />

Sorge über die Ausgaben für ihre Kleider in diesem Film. Wurde<br />

ein Kleid ausgeschieden, weil es ihr nicht stand, erkundigte<br />

sie sich bei der Garder<strong>ob</strong>e-Abteilung, <strong>ob</strong> es nicht mit einem<br />

*) Typisch für Selznick: er wechselte seine Auffassungen über Stradlings<br />

Talent von Tag zu Tag und beauftragte ihn dann (klugerweise) mit den<br />

anspruchsvolleren Aufnahmen für "Rebecca".<br />

116


Kragen, einer andern Farbe oder einem andern Schnitt zu retten<br />

wäre, womit man doch diese Geldverschwendung verhindern<br />

könnte. Ausserdem gefiel ihr ihr kleiner Umkleideraum<br />

(die grösseren wurden dem Starquartett aus "Vom Winde verweht"<br />

zugewiesen) so gut, dass sie Selznick vorschlug, die<br />

Miete für Camden Drive zu sparen und ihr zu erlauben, im S<strong>tu</strong>dio<br />

zu wohnen.<br />

"Das alles ist absolut unaffektiert", schrieb Selznick und<br />

auch darin sah er das Potenzial für einen positiven Werbeeffekt:<br />

"so dass ihr natürlicher Liebreiz, ihre Zurückhal<strong>tu</strong>ng und<br />

ihr Verantwor<strong>tu</strong>ngsbewusstsein zu einer Art Legende werden –<br />

speziell auch im Hinblick auf den zunehmenden Unsinn, den<br />

uns die Stars heute zumuten". <strong>Ingrid</strong> wollte eine erfolgreiche,<br />

seriöse Schauspielerin sein; das Drum und Dran des Star<strong>tu</strong>ms<br />

war nicht ihr höchstes Ziel. "Ich bin eine bodenständige Person",<br />

antwortete sie Jahre danach etwas müde auf die Frage,<br />

an welcher Stelle sie sich unter den Stars denn selbst sehe.<br />

"Ich stehe hier, wo ich bin. Ich mache meine Arbeit, das ist<br />

alles."<br />

Und so machte es auch Toland, der Selznick gab, was er<br />

verlangte: eine natürliche <strong>Bergman</strong>, dennoch mit allen verfügbaren<br />

Mitteln gerissen herausgeholt – Nuancen und Schatten,<br />

Umgebungs- und Schlaglichter, Winkel und Distanzen peinlich<br />

genau gemessen. In "Intermezzo" gibt es Momente von unglaublich<br />

realistischer Grösse – in der Boot-Szene zum Beispiel,<br />

wo ihr Haar im Wind flattert (eine Szene, die es in der<br />

schwedischen Originalversion nicht gibt). Aber das Natürlichste<br />

von allem war ihr Spiel.<br />

Der Film brachte hinsichtlich der romantischen Unbeholfenheiten<br />

des Origin<strong>als</strong> nicht viel Neues. Während die schwedischen<br />

Arrangements beibehalten (und manche längeren Szenen<br />

gleich von Molanders Version übernommen) wurden, entschlossen<br />

sich der anglophile Selznick und der Engländer Leslie<br />

Howard (Co-Produzent des Films) offenbar, den Film von britischem<br />

Geist zu erfüllen, mit britischen Teetassen, Manieren,<br />

Dekorationen und Akzenten. Wenig mehr <strong>als</strong> ein moralischer<br />

117


Glanz auf die erregende Geschichte eines Ehemanns und Vaters<br />

mittleren Alters, der eine Romanze mit einer wesentlich<br />

jüngeren Frau hat, litt "Intermezzo" unter den ständigen Einmischungen<br />

von Selznick, der nach <strong>Ingrid</strong> "dauernd neue Notizen<br />

runterschickte, denen wir nachzukommen hatten. 'Haben<br />

wir doch schon geschossen, um's Himmels Willen!' Er war unmöglich.<br />

Er konnte sich nicht entscheiden. Wir wiederholten<br />

und wiederholten meinen Auftritt, ich kann nicht sagen wie oft,<br />

ich tat es und tat es nochm<strong>als</strong>. Sein Argument: er wolle meine<br />

Ankunft im amerikanischen Film zu einem Schock machen."<br />

Ausserdem – <strong>als</strong> hätte er sich geschworen, das visuelle<br />

Gegenstück zum Adverb zu erfinden – wollte Selznick ein<br />

Übermass an Szenen mit der entsetzlich entzückenden Tochter<br />

des morbid verinnerlichten Violinisten (Leslie Howard) und dem<br />

schrecklich lebhaften Hund (kleine Mädchen und Haustiere waren<br />

für das amerikanische Publikum immer unwiderstehlich).<br />

Auch erweiterte er die Rolle der schrecklich n<strong>ob</strong>eln und unendlich<br />

leidenden Ehefrau (Edna Best), und er gab seinem Autor,<br />

George O'Neil, ermüdende Ideen für Szenen mit vortrefflich<br />

ergebenen Freunden und Bediensteten. Der Film war – in andern<br />

Worten – eine Sammlung von Saccharin-Clichés, erwähnenswert<br />

einzig wegen <strong>Ingrid</strong>, die ihn allein über das Mass der<br />

Niedlichkeit heraushebt.<br />

Eindrücklich in jeder Sequenz, kommunizierte sie die<br />

Gefühle einer jungverliebten Frau sowohl durch ihr Schweigen,<br />

wie auch durch ihre Sprache: ihre Gesten waren echt und unbefangen,<br />

ihre Reaktionen und ihr Timing waren Ausdruck einer<br />

authentischen Person – nicht das geschönte Konstrukt, das<br />

von einer weniger begabten Schauspielerin hätte produziert<br />

werden können. Noch besser <strong>als</strong> in der schwedischen Version<br />

schuf sie eine Anita Hoffmann, die von Moment zu Moment zu<br />

leben begann, eine junge Frau, deren Charakter erst sichtbar<br />

wird, wenn sie gefangen ist zwischen den Höhen des Entzückens<br />

und den Niederungen der Schuld. Dieser Version wurde<br />

zögernd etwas beigefügt, was von da an zu <strong>Ingrid</strong>s universeller<br />

Ausstrahlung wurde: Frauen im Publikum konnten sich mit<br />

ihrer Verletzlichkeit identifizieren, während sich die Männer in<br />

118


ihrem Sehnen bestätigt fühlen, ihre zögerliche Hal<strong>tu</strong>ng zu<br />

überwinden und Leidenschaft und Beruf frei auszuleben.<br />

WIE SIE DIE AMERIKANISCHE ART der Filmproduktion<br />

kennenlernte, erstaunte sie die Feststellung, dass es "so viel<br />

einfacher ist, hier Filme zu machen <strong>als</strong> in Europa ...Ein Set<br />

besteht aus mehr Leuten, es gibt mehr Kleider, mehr Ersatzkräfte<br />

– was wir alles in Schweden nicht hatten – mehr Kosmetikerinnen<br />

und Elektriker. Während du in einem schwedischen<br />

Set im Durchschnitt vielleicht zwölf Leute findest, sind es in<br />

einem amerikanischen leicht fünfzig. Der einzige andere Unterschied<br />

ist der, dass hier alles etwas glänzender ist und die Sets<br />

viel teurer sind." Sie erfasste sehr schnell alle aesthetischen<br />

und technischen Aspekte der Filmproduktion.<br />

"Intermezzo" war Ende Juli fertiggestellt, es brauchte<br />

noch ein paar Tage für die Nachbesserung schlechter Dialogstellen,<br />

und dann, am 3. August ordnete Selznick Farbfilm-Test<br />

mit <strong>Ingrid</strong> im "Vom Winde verweht"-Set in Rhett Butlers<br />

Schlafzimmer an. Selznick versprach ihr, dass wenn (er sagte<br />

nicht 'falls') sich der Erfolg für sie und "Intermezzo" einstelle,<br />

er ihr einen neuen Vertrag und eine Hauptrolle in einem Farbfilm<br />

anbieten werde. Sie erklärte ihm, dass ihr Traum die Rolle<br />

der Jeanne d'Arc sei, und er stimmte zu, dass dies ein perfektes<br />

Projekt für sie sei. Tags darauf, nach einer letzten Wiederholung<br />

ihres ersten Auftritts in "Intermezzo", bestieg <strong>Ingrid</strong><br />

nachmittags den Zug nach New York, wo sie unverzüglich nach<br />

Stockholm einschiffte.<br />

Sie musste Ende August zuhause sein, wie Petter beide,<br />

sie und Daniel O'Shea (Vizepräsident von Selznick International)<br />

informierte, wollte sie ihren Verpflich<strong>tu</strong>ngen zur Produktion<br />

eines weiteren deutschen Film nachkommen. Sie habe so<br />

manches Script von UFA zurückgewiesen, erinnerte Petter sie,<br />

dass es nun wirklich unklug wäre, das nochm<strong>als</strong> zu <strong>tu</strong>n;<br />

Lindströms Standpunkt, an Kay von <strong>Ingrid</strong> übermittelt, wurde<br />

in einem Memorandum vom 29. Juni an O'Shea festgehalten.<br />

Aber dann schrieb Petter so gewitzt wie ein Agent am 28. Juli<br />

119


an Kay Brown, "Ich habe UFA mitgeteilt, dass meine Frau von<br />

ihrem Vertrag zurücktritt (was sie nicht tat), aber ich habe<br />

nicht definiert, <strong>ob</strong> dies nur für einen oder beide Filme gilt, für<br />

die sie sich verpflichtet hatte". Mit diesem Brief erreichte Petter,<br />

dass Selznick darüber informiert war, dass <strong>Ingrid</strong> noch<br />

andere Karrieremöglichkeiten offenstanden, <strong>als</strong> Selznick und<br />

Hollywood. Mit andern Worten: er eröffnete eine vir<strong>tu</strong>elle Auktion<br />

für die Dienste seiner Frau.<br />

Ueberdies verhandelte Petter direkt mit Carl Fröhlich<br />

(<strong>Ingrid</strong>s Regisseur in "Die vier Gesellen"). In einem Brief vom<br />

19. Juli an Kay Brown von Stockholm aus schrieb Petter "Ich<br />

empfinde es <strong>als</strong> eine gewisse Sicherheit, dass der frühere Regisseur<br />

meiner Frau in Deutschland, Herr Fröhlich, in seiner<br />

Eigenschaft <strong>als</strong> Präsident der gesamten deutschen Interessen<br />

nun eine sehr einflussreiche Persönlichkeit im deutschen Film<br />

geworden ist....sie wird alles <strong>tu</strong>n, um das jetzt vorliegende<br />

Filmprojekt zu akzeptieren....und meine Frau sollte in Berlin<br />

sein" so bald wie möglich. Vier Tage später fügte er hinzu, er<br />

sei immer noch in Verhandlungen mit UFA und dass "meine<br />

Frau aufpassen sollte, die Geduld von UFA nicht zu überfordern".<br />

<strong>Ingrid</strong> überliess alle diese Dinge ihrem Mann. Einerseits<br />

verstand sie, dass sie mit Vorteil nicht persönlich in Verhandlungen<br />

involviert sein sollte; andererseits fragte sie sich, wer<br />

denn dafür vertrauenswürdiger sein konnte, <strong>als</strong> ihr eigener<br />

Mann, der bis jetzt ohnehin den zentralen Platz des Managers<br />

und Agenten eingenommen hatte. Kay sah noch einen andern<br />

wichtigen Punkt in Petters Vorgehen: "Ich nehme an, dass<br />

wenn Dr. Lindström sich so schnell aus dem deutschen Film<br />

zurückziehen konnte, UFA die Vertragsklauseln anwandte, die<br />

es Miss <strong>Bergman</strong> ermöglichten, den Grossteil ihres deutschen<br />

Geldes ausser Landes zu bringen" – so, wie auch Zarah Leander<br />

es geschafft hatte.<br />

"ICH HATTE EINE WUNDERVOLLE ZEIT in Hollywood",<br />

schrieb <strong>Ingrid</strong> an Ruth R<strong>ob</strong>erts, <strong>als</strong> der "Super Chief" am<br />

120


4. August von Los Angeles ostwärts nach New York ratterte.<br />

"So viele nette Leute. Wenn du zu den S<strong>tu</strong>dios zurückkehrst,<br />

überbring' ihnen bitte meine allerherzlichsten Grüsse."<br />

"Ich betete, dass ich gute Arbeit geleistet hatte und<br />

dass mich David zurückhaben wollte", sagte sie später. "Ich<br />

liebte die Erfahrung, in Hollywood zu arbeiten und ich liebte die<br />

Leute, mit denen ich arbeitete. Ich hoffte so sehr, zurückzukommen,<br />

doch ich hatte auch an mein Kind und Petters S<strong>tu</strong>dium<br />

zu denken. Es schien alles so kompliziert." Und das war es<br />

auch. Aber die Antwort auf ihr Gebet erreichte sie per Telegramm<br />

auf der "Queen Mary" unterwegs nach Schweden: "Liebe<br />

<strong>Ingrid</strong> – Du bist eine bezaubernde Person und du erwärmst<br />

unser aller Herzen. Ich wünsche dir eine wundervolle Zeit, aber<br />

komm' bald zurück. Dein Boss". Als Petter das Telegramm sah,<br />

feuerte er unverzüglich eine Antwort an Kay: er sei in Verhandlungen<br />

für einen englischen Film, teilt er ihr mit, damit<br />

Selznick dieses in was immer er <strong>Ingrid</strong> anbieten würde, berücksichtigen<br />

konnte.<br />

Petter erwartete <strong>Ingrid</strong> Samstag nachts, am 19. August<br />

in Cherbourg, von wo sie gleich nach Stockholm weiterfuhren,<br />

wo er ein altes, nicht modernisiertes aber sehr charmantes<br />

Haus, die Villa Sunnanlid im Djurgården-Park, gemietet hatte.<br />

Sie empfing einen Zei<strong>tu</strong>ngsreporter, dem sie erzählte, ja – sie<br />

sei spät für den Beginn des neuen Films bei UFA, wo sie in einem<br />

historischen Drama die Rolle der Charlotte Corday spielen<br />

würde – doch ihr Agent (...Petter, wer sonst?...) habe einen<br />

Aufschub für sie erwirkt, sodass sie im Okt<strong>ob</strong>er nach Berlin<br />

fahre. Inzwischen freute sie sich auf ein Familientreffen. Pia<br />

weinte in der ungewohnten Nähe ihrer Mutter; Petter war etwas<br />

herzlicher zu ihr, aber viel später wurde ihr klar, dass die<br />

viermonatige Trennung ernsthafte Differenzen in ihren Persönlichkeiten<br />

und anvisierten Perspektiven offenbarte. Später gab<br />

<strong>Ingrid</strong> zu, dass sich ihre Ehe von den Folgen dieser ersten<br />

Trennung "nie wieder richtig erholte". Mit der Distanz kam<br />

auch der erste Eindruck, dass ihr Geschmack und ihre Temperamente<br />

so verschieden seien, dass man sie buchstäblich <strong>als</strong><br />

inkompatible Partner bezeichnen musste. Denn jeder war ja<br />

121


einer schwierigen und aufreibenden Karriere verpflichtet, und<br />

während Petter vorgab, zu wissen, was für <strong>Ingrid</strong> das Richtige<br />

sei, hatte sie die unerschütterliche Erkenntnis, dass er sie bevormundete;<br />

andererseits hatte sie ihrerseits keinerlei Zugang<br />

zu seinem Lebensbereich (nicht einmal in der Konversation).<br />

Nahe am Zentrum des Pr<strong>ob</strong>lems lag <strong>Ingrid</strong>s Wunsch<br />

nach der Freiheit, dort zu arbeiten, wo sich die Gelegenheit<br />

dazu bot – ein Ansinnen, das mit den Erfordernissen von Ehe<br />

und Mutterschaft wie auch der Ethik im Umgang mit der verfügbaren<br />

Zeit kollidierte. In ihrem jungen Leben hatte sie eine<br />

Reihe von Erschütterungen erlebt: die Todesfälle in ihrer Familie,<br />

die vielen Umzüge von einem Heim zum andern, die Isolation,<br />

welche ambitiöse und fantasiebegabte Persönlichkeiten<br />

oft erleben - das alles hat die junge <strong>Ingrid</strong> in ihrem Innersten<br />

zu einem unabhängigen Wesen geformt. Aber gleichzeitig wurde<br />

sie durch ihre emotionalen Bedürfnisse dazu gedrängt, sich<br />

in die Abhängigkeit von einem Mann zu begeben. So lange sie<br />

Petter kannte, verliess sie sich auf seinen Rat.<br />

Natürlich wurde sie auch von Kay und Irene unterstützt<br />

bei ihrer beruflichen und gesellschaftlichen Einführung in Hollywood<br />

und selbstredend von David Selznick mit ihrer Anstellung.<br />

Aber nachdem nun "Intermezzo" auf gutem Wege war,<br />

fand sich <strong>Ingrid</strong> sehr auf sich selbst gestellt, und sie erfuhr aus<br />

ihren Kontakten mit allen vom Regisseur bis zum Tontechniker,<br />

von Ruth R<strong>ob</strong>erts bis zu ihrem Mädchen, dass sie die Klippen<br />

der gewöhnlichen Umgangssprache, sogar in Englisch, schadlos<br />

umschifft hatte. Sie hatte mit andern Worten begriffen,<br />

dass ihr Talent von den Leuten bewundert wurde und dass sie<br />

beträchtliche innere Reserven hatte, auf die sie sich bei ihrer<br />

eigenen Meinungsbildung und ihren künstlerischen Entscheidungen<br />

verlassen konnte, s<strong>ob</strong>ald es zur Auswahl und Interpretation<br />

von Rollen kommen würde.<br />

Drei Tage danach marschierten die deutschen Truppen<br />

in Polen ein, und nochm<strong>als</strong> zwei Tage danach erklärten England<br />

und Frankreich Deutschland den Krieg. Schweden blieb<br />

neutral, w<strong>ob</strong>ei niemand vorauszusagen wagte, für wie lange,<br />

122


und alles war sehr unsicher in den diplomatischen und wirtschaftlichen<br />

Beziehungen zu Deutschland. Kein vernünftiger<br />

Schwede wollte in einem kriegführenden Land arbeiten, womit<br />

auch UFA's Produktionsplan vorübergehend eingefroren wurde.<br />

"Mein deutscher Film gestrichen" kabelte <strong>Ingrid</strong> am 29. September<br />

an Selznick, ohne ein Wort über den Krieg zu verlieren.<br />

Aber sie war nicht ohne Perspektiven: ihr Mann und Helmer<br />

Enwall hatten ihr eine Rolle in einem in Vorberei<strong>tu</strong>ng befindlichen<br />

schwedischen Film beschafft. Dann, am 6. Okt<strong>ob</strong>er, hatte<br />

"Intermezzo" in Amerika Premiere, und Selznick übermittelte<br />

die Nachrichten, auf die sie alle so sehr gehofft hatten: Presse<br />

und Publikum hatten in <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> einen neuen Star gefunden.<br />

"Schwedens <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> ist eine derart liebliche<br />

Person und graziöse Schauspielerin", begann der Bericht in der<br />

New York Times, um weiter "ihre Frische, Einfachheit und natürliche<br />

Würde" zu l<strong>ob</strong>en.....ihr Spiel zeuge von einer überraschenden<br />

Reife und sei doch einmalig frei von stilistischen Macken<br />

(Manierismus, Posen, Intonationen), wie sie zum Inventar<br />

der reiferen Schauspielerinnen gehören.....da ist dieses Leuchten<br />

um Miss <strong>Bergman</strong>, dieser geistige Funke, der uns glauben<br />

lässt, dass Selznick eine neue Film-Diva entdeckt hat."<br />

Selznick fand kein Ende, ihr die Nachrichten in einem<br />

langen, oft unverständlichen, transatlantischen Telefongespräch<br />

vorzulesen (dam<strong>als</strong> eine sehr teure und wenig genutzte<br />

Kommunikationsmethode):<br />

"David O. Selznick war überaus klug, sich an die hübsche<br />

Hauptdarstellerin vom Original zu halten. Sie<br />

heisst <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> und ist die Hauptattraktion des<br />

Films. Sie verfügt über natürliche Selbstsicherheit und<br />

Würde, wie auch über ein faszinierendes Talent....Kaum<br />

geschminkt, spielt sie mit beweglicher Intensität, sie<br />

gestaltet die Rolle so lebendig und glaubhaft, dass sie<br />

zum Kern der ganzen Geschichte wird......Meines Erachtens<br />

ist sie die begabteste und attraktivste Nachwuchs-<br />

123


124<br />

spielerin, die die S<strong>tu</strong>dios seit langem im Ausland rekrutieren<br />

konnten."<br />

"Gross, hübsch, leidenschaftlich und eine grossartige<br />

Schauspielerin, ist <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> eine Neuentdeckung<br />

für den amerikanischen Film, von der wir nur träumen<br />

können."<br />

"Sie ist hübsch, talentiert und überzeugend – eine<br />

warmherzige Persönlichkeit, eine glänzende Nova in<br />

Hollywoods Sternenhimmel."<br />

"Sie ist das Beste, das seit langer Zeit von irgendwoher<br />

den Weg nach Hollywood gefunden hat. Es ist extrem<br />

unfair, sie <strong>als</strong> eine zweite Garbo zu bezeichnen, nur weil<br />

auch sie von Schweden stammt. Sie hat eine seltene<br />

Kombination von Schönheit, Frische, Vitalität und Fähigkeit<br />

– so selten anzutreffen, wie eine Jahrhundertpflanze<br />

in der Blüte." *)<br />

Und so ging's weiter, Seite um Seite, ekstatische Berichte.<br />

"Ich hab's ja gesagt!" wiederholte Selznick noch und<br />

noch. Viele zusätzliche Kopien wurden an weitere Kinos verschickt<br />

und vor den Kassen bildeten sich lange Schlangen von<br />

Menschen, <strong>als</strong> das Publikum in Scharen ankam, um Selznicks<br />

neuen Star zu sehen. Vivien Leigh hatte an "Vom Winde verweht"<br />

länger und unter wesentlich schwierigeren Bedingungen<br />

gearbeitet, aber der Film war noch nicht in die Kinos gekommen.<br />

So war <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> bis dahin die heisseste Neuigkeit<br />

dieses Jahres in der Unterhal<strong>tu</strong>ngsbranche. **)<br />

*) Wenn ein Journalist Garbo um ihre Meinung über <strong>Bergman</strong> befragte,<br />

nachdem sie die amerikanische Version von "Intermezzo" gesehen hatte,<br />

sagte sie: "Ich bitte Sie!" Und zwar ohne das leiseste Lächeln.<br />

**) Leigh gewann den Oscar <strong>als</strong> beste Schauspielerin; weiter nominiert waren<br />

Bette Davies für „Dark Victory“, Irene Dunne für „Love Affair“, Greta Gar-<br />

bo für „Ninotchka“ und Greer Garson für „Goodbye Mr. Chips“.


"Ich heulte den ganzen Tag lang in Stockholm", erinnerte<br />

sie sich, "während der Aufnahmen hatte ich einige Abzüge<br />

gesehen. David und Gregory Ratoff und andere sagten, ich sei<br />

gut, aber ich glaubte ihnen nicht. Es war böse von mir, so zu<br />

denken, aber wenn ich hörte, dass das Publikum zufrieden<br />

war, dann – und nur dann – war ich überzeugt und befriedigt."<br />

Am 9. Okt<strong>ob</strong>er, mit Petters Zustimmung, wie sie in einem Brief<br />

an Selznick schrieb, unterzeichnete <strong>Ingrid</strong> die Option für ein<br />

weiteres Jahr bei Selznick International mit Beginn im kommenden<br />

April. Sie bemerkte etwas zweifelhaft, dass sie an<br />

Selznick gebunden sei, <strong>ob</strong> er nun einen Film mit ihr produziere,<br />

sie an andere S<strong>tu</strong>dios ausleihe (er konnte sie zu jedem x-beliebigen<br />

Preis ausleihen, w<strong>ob</strong>ei sie stets nur die vertraglich<br />

vereinbarte Gage erhielt) oder sie arbeitslos auf ein neues<br />

Selznick-Projekt warten lassen.<br />

Über seine Gewinne durch ihre Ausleihungen sprach<br />

<strong>Ingrid</strong> Klartext: "Ich war nie unglücklich darüber, dass er mich<br />

zu derart hohen Preisen an andere S<strong>tu</strong>dios auslieh, ohne dass<br />

ich einen Cent davon gesehen hätte. Die Leute versuchten<br />

mich dagegen aufzustacheln, worauf ich nur antwortete, ich<br />

hätte einen Vertrag unterzeichnet, und wenn es ihm gelänge,<br />

zusätzliche $ 250'000 zu meinen $ 50'000 zu bekommen, dann<br />

störe mich das nicht – er sei eben clever und ich nicht!" Wenn<br />

sie aber etwas nicht ertrug, dann war es der Zustand der Arbeitslosigkeit.<br />

Für ihr Salär war sie verpflichtet, Selznick für jährlich<br />

zwei Filme zur Verfügung zu stehen, wenn er das wollte, aber<br />

sie war auch berechtigt, jährlich ein Bühnenstück aufzuführen<br />

– vorausgesetzt, es fand seine Zustimmung. Er war auch berechtigt,<br />

sie für Radio-Hörspiele zu verkaufen. Im Bewusstsein<br />

all' dieser Tatsachen plante <strong>Ingrid</strong>, nach Neujahr 1940 nach<br />

Hollywood zurückzukehren.<br />

Zuerst aber folgte die Produktion von "Juninatten" (Juninacht),<br />

deren Dreharbeiten in Stockholm am 18. Okt<strong>ob</strong>er<br />

begannen. Der lyrische Titel dieses Films war bewusst ironisch<br />

gewählt, denn der fertige Film (Regie von Per Lindberg nach<br />

125


einem Script von Ragnar Hylten-Cavallius) gilt heute noch <strong>als</strong><br />

eines der bittersten Filmdokumente über sexuelle Ausbeu<strong>tu</strong>ng<br />

und fehlgeleitete Leidenschaften. "Juninatten" erweiterte auch<br />

<strong>Ingrid</strong>s Repertoire an Charakteren: im Rückblick nach Jahren<br />

muss festgestellt werden, dass diese Leis<strong>tu</strong>ng ihren Platz ganz<br />

weit <strong>ob</strong>en in ihrem Leis<strong>tu</strong>ngsausweis hat.<br />

Sie wurde <strong>als</strong> Kerstin Nordback verpflichtet, eine freidenkende<br />

Frau in einer schwedischen Kleinstadt, liiert mit Nils,<br />

einem gr<strong>ob</strong>schlächtigen und gewaltbereiten Mann, der sie mit<br />

einem Schuss in die Herzgegend beinahe umgebracht hätte,<br />

<strong>als</strong> sie ihn verlassen wollte. Durch eine schwierige Herzoperation<br />

gerettet, erscheint sie im Gericht und plädiert für ihren Ex-<br />

Geliebten um Nachsicht, weil sie selbst die Verantwor<strong>tu</strong>ng für<br />

das Geschehene zu tragen habe: "Alles was ich wollte, war<br />

eine Affäre..." – ein mutiges und offenes Geständnis, das ihr<br />

nichts <strong>als</strong> öffentliche Schande einträgt. Sie ändert ihren Namen<br />

in Sara und zieht nach Stockholm, findet Arbeit in einer Apotheke<br />

und (mit einem Seitenblick auf "Die vier Gesellen") teilt<br />

in einer Pension ihre Unterkunft mit drei andern Frauen, die<br />

ebenfalls Männerpr<strong>ob</strong>leme haben.<br />

Hier nun beginnt der Sinn des Films klar zu werden,<br />

denn jede der drei Frauen ist ein Opfer von sexuellem Missbrauch<br />

durch ihren Freund. Selbst ein sanfter und menschlicher<br />

Arzt namens Stefan (Carl Ström) missbraucht seine Praxishilfe<br />

für die schnelle sexuelle Befriedigung, und wie er von<br />

Saras Geschichte erfährt, wird er vom Wunsch besessen, sie<br />

zu treffen und kennenzulernen. Später erleidet sie eine nahezu<br />

fatale Herzattacke durch den Schock, den sie erlebt, <strong>als</strong> Nils<br />

wieder auftaucht und sie wieder missbraucht. Stefan pflegt sie<br />

und bedrängt sie bald mit einer überstürzten Liebeserklärung,<br />

der sie auch erliegt. Das Finale, wie sie zu einem Landausflug<br />

durch frühsommerliche Blumenfelder wegfahren, lässt ahnen,<br />

dass Kerstin – wie sie ja hiess – nun doch die Möglichkeit zu<br />

echter Liebe im Leben gefunden habe. Aber die andern Frauen,<br />

deren Beziehungen zerstört waren, müssen den rechten Mann<br />

finden, wie Kerstin – so jedenfalls wünschten sie es sich alle in<br />

dieser legendären Juninacht.<br />

126


<strong>Ingrid</strong> machte aus Kerstin/Sara eine sympathische Persönlichkeit,<br />

deren Schädigung symptomatisch ist für die Härte<br />

der sexuellen Ausbeu<strong>tu</strong>ng. In dieser Beziehung ist "Juninatten"<br />

(der 1939 in Amerika nie hätte produziert werden können)<br />

erbarmungslos in seiner emotionalen Ehrlichkeit. Auf der Suche<br />

nach Liebe sieht Kerstin sofort – wie <strong>Ingrid</strong> es mit hochgezogener<br />

Augenbraue, einer leichten Grimasse oder einem kurzen<br />

Zögern zum Ausdruck bringt – die leichte Perfidie hinter<br />

den Liebesbeschwörungen.<br />

Eine einzige Sequenz gegen Ende des Films macht den<br />

ganzen destruktiven Egoismus hinter dieser brutalen sexuellen<br />

Gewalt der Männer dieser Geschichte sichtbar; hier verfällt<br />

sogar ein Gentleman und Arzt der verrückten Leidenschaft eines<br />

betrunkenen Triebtäters.<br />

Stefan (Ström): Ich habe so oft an dich gedacht.<br />

Kerstin (<strong>Bergman</strong>): Wirklich? Wir haben uns ja erst ken<br />

nengelernt.<br />

Stefan: Ich habe dich überall gesehen.<br />

Kerstin: Reine Phantasie und Wunschdenken –<br />

das ist alles.<br />

(Hier unterbricht sich <strong>Ingrid</strong> und dreht den Kopf leicht zur Seite,<br />

<strong>als</strong> wollte sie andeuten, dass auch Kerstin weiss, was solche<br />

Phantasien und Träume bedeuten können.)<br />

Stefan: Wenn man sich jemandem annähert,<br />

passiert etwas; die Persönlichkeiten<br />

verändern sich. – Schau nicht so<br />

skeptisch. Du bringst die Männer auf<br />

sonderbare und gefährliche Gedanken.<br />

Dein Herzchen – hütest du es auch gut?<br />

Kerstin: Ja, es ist mir zur Gewohnheit gewor<br />

den. Ich merke das selbst nicht mehr.<br />

Ich habe eine Narbe.<br />

(Ihre Stimme klingt weise und wehmütig: zwar erkennt sie die<br />

Ironie, dennoch kann sie sich nicht aus dieser Abhängigkeits-<br />

127


Si<strong>tu</strong>ation befreien.)<br />

Stefan: Ich möchte dich küssen.<br />

Kerstin: Nein – nicht heute.<br />

Stefan: Sag's - sag, dass du mich willst.<br />

Kerstin: Aber du weißt nichts von mir. Ich habe<br />

so alles durcheinandergebracht.<br />

Stefan: Wirklich? Du wühlst mich auf. Das ge-<br />

nügt mir.<br />

Carl Ström in der Rolle des wohlmeinenden aber verkommenen<br />

Doktors lieferte die überzeugende Verbindung von<br />

menschlicher Absicht und verspäteter pubertärer Verblendung.<br />

Aber <strong>Ingrid</strong> gab der komplexen Rolle der Kerstin einen tief tragischen<br />

Sinn, indem sie aus dem Cliché der Lebedame eine zu<br />

Unrecht in Verruf geratene Seele portraitierte, die von Schuldgefühlen<br />

gequält wird und auf Gedeih und Verderben der brutalen<br />

Presse und den pathetischen Verehrern ausgeliefert ist.<br />

Jahrzehnte später enthüllen die Gerichtsszene, die Sequenzen<br />

in der Apotheke, mit dem Doktor und das Finale, mit welch<br />

instinktiver Sicherheit sie im Alter von vierundzwanzig Jahren<br />

die vielen verschiedenen perversen Emotionen erkannte, die in<br />

der Welt der Erwachsenen <strong>als</strong> Gefühle (miss)verstanden werden.<br />

Regisseur Per Lindberg, der es ablehnte, seinen Star zu<br />

sehr einzuengen, überliess es <strong>Ingrid</strong> vertrauensvoll, den Kern<br />

dieser Persönlichkeit zu suchen und zu finden. Mögen er selbst<br />

und das Publikum vielleicht erstaunt darüber gewesen sein,<br />

dass Kerstin für sie heimatlos war, bis sie am Ende alles riskierte<br />

– und darin lag auch der tiefere Sinn von "Juninatten".<br />

DIE DREHARBEITEN WAREN AM 5. DEZEMBER abgeschlossen.<br />

Als Selznick <strong>Ingrid</strong> telegrafisch anfragte, wann sie<br />

wieder nach Hollywood zurückzukehren gedenke, war Petter<br />

mit der Antwort bei der Hand. Er hatte sich bei der schwedischen<br />

Armee ab Januar für ein paar Monate zu einem freiwilligen<br />

Dienst verpflichtet – und zwar vor allem <strong>als</strong> Dokumentarfilmer;<br />

er wollte die Produktion mehrerer Kurzfilme über die<br />

128


Fortschritte in der Dentalmedizin überwachen. Gleichzeitig teilten<br />

er und <strong>Ingrid</strong> die allgemeine Sorge um Schwedens strategische<br />

Lage und eine mögliche Verwicklung des Landes in die<br />

derzeitigen kriegerischen Ereignisse. Sie und Pia wären bestimmt<br />

sicherer in Amerika, und Petter könnte ihnen zu einem<br />

späteren Zeitpunkt nachfolgen.<br />

"Petter zurückzulassen, war keine einfache Entscheidung<br />

für mich", sagte <strong>Ingrid</strong> zu einer Freundin, aber "letzten<br />

Endes traf er die Entscheidung selbst, wie immer". Er begleitete<br />

seine Frau, Tochter und ein Kindermädchen nach Genua, wo<br />

er sie am 2. Januar 1940 an Bord des italienischen Linienschiffs<br />

"REX" – mit Ziel New York – brachte.<br />

Mit Leslie Howard in "Intermezzo"<br />

129


130<br />

1938 - „A Woman’s Face“


1939 - Hollywood, erste Hoffnungen auf Jeanne d’Arc<br />

131


132


1940<br />

"...Man hält sich gerne zurück, eine Schauspielerin bei ihrem<br />

ersten Auftritt zu sehr zu l<strong>ob</strong>en, aber die Zeit wird kommen,<br />

wo es uns schwerfallen wird, Miss <strong>Bergman</strong> noch genügend zu<br />

würdigen..."<br />

(Brooks Atkinson, New York Times, über <strong>Ingrid</strong>s Bühnendébut)<br />

WÄHREND INGRIDS LETZTEN WOCHEN IN SCHWEDEN<br />

versüsste ihr David O. Selznick die Aussichten auf ihre Arbeit<br />

in Hollywood durch sein Versprechen, ihren Traum zu erfüllen<br />

und einen Film über ihre geliebte Jeanne d'Arc zu produzieren.<br />

In der freudigen Erwar<strong>tu</strong>ng dieser Aussichten kam sie am 12.<br />

Januar in New York an – was von der New York Times am<br />

darauffolgenden Morgen mit einer kurzen Notiz und einigen<br />

bekannten Namen aus der Passagierliste der "Rex" vermerkt<br />

wurde. Aber Kay Brown stimmte auf Instruktion durch ihren<br />

Boss in das Schweigen um die Jungfrau von Orleans ein. Selznick<br />

wollte den Zeitplan für diesen Film zu gegebener Zeit persönlich<br />

bekanntgeben – was aber nie geschah. Nicht einmal<br />

von einem Ersatzprojekt für sie war je die Rede.<br />

"Obschon ich scheu war, brüllte ein Löwe in mir, der<br />

sich weder stillhalten noch schweigen wollte", sagte <strong>Ingrid</strong>.<br />

Während den ersten beiden Monaten des Jahres bedrängte sie<br />

Selznick unablässig, ihr Arbeit zu geben, was ihr wichtigstes<br />

Lebenselement war. Tatsächlich musste ihr Produzent schnell<br />

erkennen, dass sie weder stillzuhalten noch zu schweigen gedachte.<br />

"Ohne Arbeit zu sein, machte mich krank", erklärte sie<br />

später.<br />

133


Unbeschäftig zu sein, war unerträglich für <strong>Ingrid</strong>, deren<br />

Appetit auf Arbeit durch ihre Theaterbesuche in diesem Winter<br />

nur noch weiter angeheizt wurde. Wie so oft im kommenden<br />

Jahrzehnt, produzierte Untätigkeit in ihr eine Unruhe, die eine<br />

andere Art von Hunger generierte – den auf allerlei Leckereien<br />

und ganz speziell auf Ice Cream Sundaes. So holte sie sich in<br />

dieser Saison locker fünfzehn Pfunde, die sie durch Spaziergänge<br />

im Central Park oder Rudern auf dem See, durch Besuche<br />

des Flohmarkts in Harlem am Sonntag-Nachmittag und<br />

durch das Durchforsten der letzten Winkel der Weltausstellung<br />

loszuwerden versuchte. Auf ihren Ausgängen wurde sie dann<br />

und wann von Kinogängern, die "Intermezzo" gesehen hatten,<br />

erkannt, und <strong>ob</strong>schon sie willig Autogramme verteilte, konnten<br />

ihr Schmeicheleien nichts anhaben. Ein etwa elfjähriger Junge<br />

belästigte sie und Kay entlang zweier Blocks und stahl sich<br />

danach mit ihnen in ein Taxi, wo er ihr aufsässig weitere Autogramme<br />

abzupressen versuchte, bis ihn Kay entschlossen auf<br />

die Strasse stellte.<br />

"Oh, du hast ihn vielleicht verletzt", schrie <strong>Ingrid</strong> sie an,<br />

den Blick auf den (völlig unbeschadeten) Jungen gerichtet,<br />

während Kay den Fahrer bat, Gas zu geben.<br />

"Nichts da, verletzt", sagte Kay mit einem Zwinkern zu<br />

<strong>Ingrid</strong>, "ich hab' ihn umgebracht. Aber ohne Waffe, so ist es<br />

legal. Du wirst Amerika lieben – es ist ein grossartiges Land."<br />

BEUNRUHIGT DURCH INGRIDS SEHNEN NACH ARBEIT,<br />

bestürmte Kay Selznick vom Park Avenue Appartment aus, wo<br />

<strong>Ingrid</strong> mit Pia und dem Mädchen vorübergehend wohnte, mit<br />

Telegrammen und Anrufen. Schliesslich rief Selznick seinen<br />

neuen Star am 22. Januar nach Hollywood, wo sie sich einem<br />

Team für eine Radio-Ausstrahlung von "Intermezzo" anschliessen<br />

sollte. <strong>Ingrid</strong> liess Pia in Kays Obhut und bestieg<br />

den Zug, allerdings erst nachdem ein neues Mädchen zur<br />

Betreuung des Kindes gefunden war. Das schwedische Mädchen,<br />

das sie mitgebracht hatte, geriet in New York in schlechte<br />

Gesellschaft, nahm Drogen und fiel regelmässig in Absen-<br />

134


zen. <strong>Ingrid</strong> entliess sie und Kay engagierte einen r<strong>ob</strong>usten Ersatz,<br />

ebenfalls eine schwedische Immigrantin.<br />

In Kalifornien erklärte Selznick <strong>Ingrid</strong>, warum das<br />

Jeanne d'Arc-Projekt auf unbestimmte Zeit versch<strong>ob</strong>en werden<br />

musste. Vor 500 Jahren haben Frankreich und England beschlossen,<br />

die Jungfrau zu verraten, doch heute kämpfen sie<br />

gemeinsam gegen Deutschland. Der speziellen Logik jener Zeit<br />

entsprechend, musste somit in jedem Hollywood-Film im Hinblick<br />

auf die Europäischen Nationen strikte Neutralität bewahrt<br />

werden – sogar wenn sich die Geschichte vor 500 Jahren abspielte.<br />

Selznicks wahrer Grund dafür war allerdings nicht so<br />

diplomatisch, wie sie später erfuhr: seinen Anteil am Gewinn<br />

aus "Vom Winde verweht" musste er mit seinem Schwiegervater,<br />

Louis B. Mayer, bei MGM teilen (dem <strong>als</strong> Entgelt für die<br />

Ausleihung von Clark Gable das Vertriebsrecht und die Hälfte<br />

der Einnahmen am Film zustanden); ausserdem war "Rebecca"<br />

noch nicht in den Kinos. Ein Film über Jeanne d'Arc war ein<br />

weiteres kostspieliges Epos, weshalb Selznicks Finanzleute zur<br />

Vorsicht mahnten.<br />

Aber wenn nun schon keine Produktion über die Heilige<br />

Jungfrau von Orléans möglich war, orchestrierte Selznick fleissig<br />

seine Publizität für die Heilige <strong>Ingrid</strong> von Stockholm. Bosley<br />

Crowther, einem Filmkritiker der New York Times, wurde das<br />

einzige Manhattan-Interview des Monats gewährt, und am 21.<br />

Januar (dem Tag vor <strong>Ingrid</strong>s Abreise von New York nach Hollywood)<br />

brachte die Zei<strong>tu</strong>ng einen Artikel unter dem Titel "Die<br />

Dame aus Schweden".<br />

"Das Liebchen eines Wikingers", begann Crowther,<br />

"frisch geschrubbt mit elfenbeinener Seife, am ersten<br />

warmen Frühlingstag auf einer vom Meer umspülten<br />

Klippe Pfirsiche und Sahne aus einer Dresdener Porzellanschale<br />

essend – das gibt einen guten Eindruck von<br />

<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>"....Dieser Reporter setzte seinen Bericht<br />

fort mit Schilderungen wie 'dass ihm noch kein<br />

Star begegnet sei, der auch nur im Entferntesten mit<br />

135


136<br />

dem unglaublichen Neuankömmling aus Schweden zu<br />

vergleichen gewesen wäre'.<br />

Sie sei, wie er mit Posaunen und Fanfaren weiterfuhr,<br />

"ein skandinavisches Traummädchen...so schlicht und echt,.....<br />

wie von der nicht immer unfehlbaren Filmindustrie bisher noch<br />

niemand – die legendäre Garbo eingeschlossen – zu uns hergeholt<br />

wurde." Crowther schwelgte über ihre Unaffektiertheit<br />

und ihr kindlich-unschuldiges Lächeln, ihre gute Laune und<br />

Einfachheit, er bewunderte ihre Schönheit, die er genüsslich<br />

bis ins Detail beschrieb ("lichtbraunes Haar, hellblaue Augen,<br />

eine edle Erscheinung, die Gesundheit und Kraft ausstrahlt,<br />

eine athletische Figur"). Er berichtete weiter, dass sie viele<br />

verschiedene Rollen spielen wollte, "sogar komische und eine<br />

gefallene Frau".<br />

Während der kommenden zwei Jahre setzte Selznick<br />

seine Pressekampagne fort, die zusehends zu einem festen<br />

Bestandteil des amerikanischen Journalismus wurde, der die<br />

wachsende Liebesaffäre des Landes mit <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> sowohl<br />

reflektierte wie auch weiter entflammte. "Ein Mittagessen mit<br />

ihr", seufzte der Kommentator Thornton Delehanty in einem<br />

Anfall von schulbübischer Schwärmerei, "ist wie eine S<strong>tu</strong>nde<br />

oder so sich hinzusetzen, um mit einer charmanten und hochintelligenten<br />

Orchidee zu plaudern". Ein anderer Reporter fand,<br />

sie sei "so unverdorben wie frisch gefallener Schnee in Schweden".<br />

Orchideen, Schneefall, Pfirsiche und Sahne, Elfenbeinseife<br />

und Dresdener Porzellan: das war die Kraft von <strong>Ingrid</strong>s offensichtlichem<br />

Charme, der sogar abges<strong>tu</strong>mpfte New Yorker<br />

Autoren dazu verleitete, ihre Federn in Purpur zu tauchen und<br />

die unglaublichsten, anbetenden Metaphern zu kreieren und<br />

Gleichnisse zusammenzubasteln, die zum Schreien übertrieben.<br />

Sogar die nüchterneren und glaubwürdigen Berichte<br />

waren unisono positiv gestimmt. "Erstm<strong>als</strong> traf ich sie bei den<br />

Aufnahmen zu "Intermezzo" ', erinnerte sich der Autor und<br />

Universitäts-Professor Åke Sandler, Sohn des schwedischen<br />

Premierministers und dam<strong>als</strong> ebenfalls Immigrant. Er hatte


<strong>Ingrid</strong> mit Walter Danielson, dem schwedischen Vize-Konsul,<br />

im Selznick-S<strong>tu</strong>dio von Culver City besucht und einen reizenden<br />

Artikel über <strong>Ingrid</strong> in der Schwedisch-Amerikanischen<br />

Presse veröffentlicht. "Selten habe ich ein unschuldigeres Gesicht<br />

gesehen", gemäss Sandler. "Sie verströmte eine besondere<br />

Art von Reinheit und war unglaublich charmant und entgegenkommend.<br />

Ich verstand sehr wohl, dass Petter ihr verfallen<br />

war." So sehr sie sich darüber freuen mochte, so bereitete<br />

dieses Mass an Verehrung <strong>Ingrid</strong> auch einige Sorge: konnte<br />

sich dieses plötzliche und überschwängliche L<strong>ob</strong> nicht ebenso<br />

plötzlich durch die Laune eines Reporters oder ein unbedachtes<br />

Wort von ihr in der Öffentlichkeit ins Gegenteil verkehren?<br />

"Ja", sagte Selznick, "du musst dich einfach in Acht nehmen:<br />

Achte auf jeden Schritt, den du <strong>tu</strong>st, spiele nach den Regeln<br />

und <strong>tu</strong>', was ich dir sage." Sie versprach, es zu versuchen.<br />

ENDE JANUAR WAR INGRID ZURÜCK in New York bei<br />

Pia, dem Mädchen, Kay und Jim Barrett und Kays beiden kleinen<br />

Töchtern Kate und Laurinda, die eben ins Schulalter kamen<br />

und die noch nicht zweijährige Pia mit Freude in ihrer Mitte<br />

willkommen hiessen. Aber während die Kinder glücklich waren,<br />

fühlte sich die unbeschäftigte <strong>Ingrid</strong> mehr und mehr<br />

elend. Als Kay erfuhr, dass Vinton Freedley (der mehrere<br />

Gershwin-Music<strong>als</strong> produziert hatte) beabsichtigte, Ferenc Molnárs<br />

romantische Fantasie "Liliom" neu aufzuführen, packte<br />

sie die Gelegenheit beim Schopf, um <strong>Ingrid</strong>s nervöser Trägheit<br />

ein Ende zu bereiten.<br />

"Liliom" , dem Publikum besser bekannt durch die 1945<br />

durch Rogers and Hammerstein erfolgte Transformation in das<br />

Musical "Carousel", war die Geschichte eines faulen Marktschreiers,<br />

der für seine grossen Verführungskünste bekannt<br />

war. Liliom heiratet die sanfte Julie, die er liebt, aber oft vergewaltigt<br />

und misshandelt; <strong>als</strong> sie schwanger wird, versucht<br />

er, mit kriminellen Mitteln zu leichtem Geld zu kommen und<br />

lässt sich lieber umbringen <strong>als</strong> gefangen nehmen. Vor dem<br />

himmlischen Gericht bereut er seine Taten und erhält nach<br />

137


einer gewissen Zeit im Purgatorium die Gelegenheit, zur Erde<br />

zurückzukehren, um eine erlösende gute Tat zu vollbringen.<br />

Julie sei eine der sympathischsten Rollen in der modernen<br />

europäischen Litera<strong>tu</strong>r, erklärte Kay Selznick in einem ellenlangen<br />

Memorandum. Es würde ihm keinen Nachteil bringen,<br />

einen seiner neuen Stars während einer Pause in ihren<br />

Filmverpflich<strong>tu</strong>ngen an den Broadway auszuleihen, es würde<br />

<strong>Ingrid</strong> im Gegenteil sehr glücklich machen, wieder arbeiten zu<br />

können. Widerwillig erklärte sich Selznick damit einverstanden,<br />

<strong>als</strong> er erfuhr, dass das Stück eine limitierte Spielzeit von sechs<br />

Wochen haben und ihm der Handel auch einen kleinen Profit<br />

abwerfen würde. Sofort telefonierte Kay mit Freedly und Regisseur<br />

Benno Schneider und <strong>Ingrid</strong> verabredete sich für eine<br />

Pr<strong>ob</strong>elesung für die Rolle. Wegen ihres schwedischen Akzents<br />

wurde ein New Yorker Dialog-Coach engagiert, der ihr täglich<br />

während vier Arbeitss<strong>tu</strong>nden zur Verfügung stand. Das Stück<br />

handelte übrigens in Ungarn, sodass der Akzent keine grosse<br />

Bedeu<strong>tu</strong>ng hatte, solange sie ihren Text klar und verständlich<br />

herüberbrachte.<br />

Freedly war von Kays Vorschlag entzückt, und nach einer<br />

tief berührenden Anhörung wurde <strong>Ingrid</strong> verpflichtet. Zwei<br />

Wochen vor Beginn der Pr<strong>ob</strong>en empfand sie es nur <strong>als</strong> fair,<br />

Freedly daran zu erinnern, dass sie mit der Bühnenarbeit noch<br />

wenig Erfahrung hatte; ausserdem versprach sie, die Details<br />

des Bühnenbetriebs vor der Premiere im Griff zu haben.<br />

"Wovon reden Sie da überhaupt?", fragte Freedly, indem<br />

er Stücke von Ibsen, O'Neill und andern aufzählte, in welchen<br />

er glaubte, sie sei darin aufgetreten.<br />

138<br />

"Nein", erwiderte <strong>Ingrid</strong> ruhig, "das war Signe Hasso".<br />

Freedly wurde schlagartig bewusst, dass er hier einem<br />

Irr<strong>tu</strong>m aufgesessen war und wandte sich wütend an Kay. "Bitte,<br />

wie sollten wir wissen, wen Sie wollten?", konterte sie unbeeindruckt,<br />

"Signe ist momentan in Kalifornien, und Sie verlangten<br />

nach <strong>Ingrid</strong>." Kay lehnte für Freedlys Konfusion jede


Verantwor<strong>tu</strong>ng ab; jedenfalls war es zu diesem Zeitpunkt ohnehin<br />

zu spät für irgendeine Korrek<strong>tu</strong>r der Si<strong>tu</strong>ation.<br />

Der Autor war ebenso skeptisch über die Besetzung <strong>als</strong><br />

er die Hauptdarstellerin traf (deren grosse, ehrlich gesagt:<br />

plumpe Figur unter Röcken und Schürzen verborgen werden<br />

musste) und den Hauptdarsteller Burgess Meredith, der um<br />

vier Zoll kleiner war <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong>. "Warum spielen sie nicht Liliom?"<br />

fragte Molnár <strong>Ingrid</strong> sarkastisch, bevor er sich angewidert<br />

abwandte. Die meisten andern Neulinge, speziell wenn sie<br />

eine Hauptrolle in einer Fremdsprache spielen, wären wohl bis<br />

hin zur Resignation eingeschüchtert gewesen – nicht so <strong>Ingrid</strong>.<br />

Trotz ihren Bedenken zweifelte sie keinen Moment an ihren<br />

Fähigkeiten, und sie betrachtete Julie <strong>als</strong> die Rolle, die ihr die<br />

Zuneigung der New Yorker Theaterwelt eintragen und Selznicks<br />

offenbar schwindendes Interesse an ihr neu beleben<br />

würde.<br />

Produzent, Schauspieler, Regisseur und Mannschaft<br />

kämpften sich durch die Pr<strong>ob</strong>en bis zur Premiere, die am 25.<br />

März im Forty-Fourth Street Theatre über die Bühne ging, und<br />

keiner von ihnen hatte eine Ahnung davon, welchen Eindruck<br />

<strong>Ingrid</strong> auf das Publikum machen würde. In der ersten Vorstellung<br />

brachte sie das Publikum mit ihrem Monolog über dem<br />

toten Liliom zum Vers<strong>tu</strong>mmen, jedes Wort sass perfekt, jede<br />

Pause wirkte natürlich und war in eine Reihe von Zärtlichkeiten<br />

eingebettet.<br />

"Schlaf, Liliom, schlaf", sagte sie indem sie Merediths<br />

Kopf in ihren Händen wiegte. "Ich habe es dir nie gesagt –<br />

aber nun sag' ich es dir – du böser, jähzorniger, gr<strong>ob</strong>er, unglücklicher,<br />

boshafter, lieber Junge. Schlaf in Frieden, Liliom.<br />

Sie können meine Gefühle nicht verstehen – ich kann es ja<br />

nicht einmal dir erklären – nicht einmal dir – wie ich fühle. Du<br />

würdest mich nur auslachen. Aber du kannst mich nicht hören."<br />

Während sie diese Kombination von Julies Zärtlichkeit<br />

und Vorwurf herüberbrachte, wurde ihre Stimme im Kummer<br />

zusehends trockener, <strong>als</strong> wäre sie den Tränen nahe; dann, <strong>als</strong><br />

139


sie die Bibel öffnete, um daraus zu lesen, begann ihre Stimme<br />

zu zittern und ihr Ton wurde brüchig. Im Publikum flossen an<br />

diesem Abend viele Tränen, <strong>als</strong> sie Kapitel fünf aus dem Matthäus-Evangelium<br />

las, in welchem Jesus über Liebe und Vergebung<br />

für den Feind sprach.<br />

"Die Rolle von Julie", schrieb Brooks Atkinson in der Times<br />

, "macht uns mit einer jungen Schauspielerin von ausserordentlicher<br />

Begabung und Fähigkeit bekannt....Sie hat einen<br />

leichten Akzent. Sie ist auch eine makellose Schönheit punkto<br />

Figur und Auftreten, hat wache Augen, einen sinnlichen Mund,<br />

eine angenehme, modulierbare Stimme, die man hört. Und<br />

ausserdem scheint sie die vollständige Kontrolle über die Rolle<br />

zu haben, die sie spielt. Miss <strong>Bergman</strong> hält ihre Rolle lebendig<br />

und lässt sie immer wieder in voller Schönheit aufleuchten."<br />

Atkinson, der von talentierten Anfängern nicht leicht zu<br />

überzeugen war, fügte dem ein paar Tage später noch bei:<br />

"<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>, die erstm<strong>als</strong> auf der englischsprachigen<br />

Bühne steht, spielt mit unvergleichlicher Schönheit. Sie ist persönlich<br />

sehr hübsch und schenkt Julie eine wache, pulsierende geistige Anmut.<br />

Man hält sich gerne zurück, eine Schauspielerin bei ihrem ersten<br />

Auftritt zu sehr zu l<strong>ob</strong>en, aber die Zeit wird kommen, wo es uns<br />

schwerfallen wird, Miss <strong>Bergman</strong> noch genügend zu würdigen. Es ist<br />

etwas ganz Entzückendes an der Art, wie sie Julies Charakter zum<br />

Leuchten bringt.“<br />

Der Grundtenor des Kritiker-Beifalls wurde von Ernest<br />

Lehman auf den Punkt gebracht, einem Autor, der dam<strong>als</strong> für<br />

den Hollywood Reporter und das Magazin Dance über Dramen<br />

berichtete (und der im Laufe des folgenden Jahrzehnts zu einem<br />

von Hollywoods bedeutendsten Filmautoren wurde): "Miss<br />

<strong>Bergman</strong> erzielte einen grandiosen Triumph durch ihre anziehende<br />

Persönlichkeit, ihre frische Schönheit und ihre solide,<br />

glänzende Leis<strong>tu</strong>ng."<br />

WÄHREND DEM STURM AUF "LILIOM" in diesem Frühjahr<br />

schloss <strong>Ingrid</strong> Freundschaften mit Schauspielern und New<br />

Yorker Presseleuten, die sie mit ihrem Charme nach und nach<br />

140


in die huldvolle, blabbernde Unterwürfigkeit führte, und zwar<br />

mit dem einfachen Mittel, sie selbst zu sein und immer zu sagen,<br />

was sie dachte. 1940 erhielten die Journalisten in der Regel<br />

von den Künstleragenten und S<strong>tu</strong>dios vorbereitete Statements,<br />

und wenn die Stars sich öffentlich äusserten, geschah<br />

dies in vorsichtig gemessenen, überschwänglich höflichen<br />

Phrasen. In dieser Beziehung war <strong>Ingrid</strong> immer sie selbst.<br />

"Schreiben sie, dass ich New York liebe", sagte sie einem Reporter<br />

vom Journal-American. "Ich liebe die 'drugstores', und<br />

dann die Doppeldeckerbusse. Das alles gibt's in Stockholm<br />

nicht."<br />

So weit, so gut – doch sie fuhr fort: "Es gibt nur zwei<br />

unangenehme Dinge in New York. Die Untergrundbahn fährt zu<br />

schnell und sie schliessen die Türen, bevor man drin ist. Und<br />

die Luft ist schlecht. Sie ist so voll von Autoabgasen, sie<br />

stinkt!" Prominente sprachen dam<strong>als</strong> einfach nicht so offen. Sie<br />

waren die Gesandten des endlosen guten Willens und verbreiteten<br />

wo immer sie waren das Evangelium des frohen Perfektionismus',<br />

w<strong>ob</strong>ei das Auftreten anderer Meinungen um jeden<br />

Preis zu vermeiden war. Weit entfernt in Culver City erschütterte<br />

David Selznick den 'Journal-American' durch ein ellenlanges<br />

Memorandum, das er auf dessen Chefpublizisten abfeuerte,<br />

von dem er verlangte, dass er Miss <strong>Bergman</strong> zu mehr Diskretion<br />

in ihren Äusserungen zum Stadtleben veranlasse. Was<br />

wohl Selznick dazu sagen würde, fragte sie Kay <strong>als</strong> sie von<br />

dieser Notiz erfuhr, wenn er wüsste, dass <strong>Ingrid</strong> an einer Party<br />

bei Burgess Meredith eben Maxwell Anderson getroffen hat?<br />

<strong>Ingrid</strong> erzählte leidenschaftlich von Jeanne d'Arc, und Anderson,<br />

natürlich von ihr betört, versprach <strong>Ingrid</strong>, für sie ein Stück<br />

über die Heilige zu schreiben. Im Gegensatz zu Selznick hielt<br />

er Wort.<br />

KURZ VOR ENDE MAI waren die "Liliom" -Vorstellungen<br />

zu Ende, und Kay nahm ihr Sommerferiendomizil nahe am<br />

Strand von Amagansett, Long Island, in Betrieb, wo sie ihre<br />

beiden Mädchen, <strong>Ingrid</strong>, Pia und die Nanny unterbrachte. "Sie<br />

141


waren ein Teil unserer Familie, so erinnere ich mich an <strong>Ingrid</strong><br />

und Pia in meiner Kinderzeit", sagte Kays Tochter Laurinda<br />

Barrett. "Woran ich mich am besten erinnere: Ice Cream – sie<br />

waren alle verrückt nach Ice Cream."<br />

Die erweiterte Familie erhielt anfangs Juni einen weiteren<br />

Zuzug, <strong>als</strong> sich Petter für einen Ferienaufenthalt zu ihnen<br />

gesellte. <strong>Ingrid</strong> liess Pia und das Mädchen für ein paar Tage bei<br />

den Barrett-Töchtern, holte ihn am Flughafen ab und brachte<br />

ihn ins Hotelzimmer, das sie - hoch <strong>ob</strong>en - für ihn gebucht hatte<br />

und von dem man einen herrlichen Ausblick auf den Central<br />

Park genoss. "Sieh nur die prächtige Stadt", schwärmte <strong>Ingrid</strong><br />

ihrem Gatten vor und machte ihn auf den Baumbestand, die<br />

Pferdefuhrwerke und die weit unten flanierenden Menschen<br />

aufmerksam, "das ist die aufregendste Stadt der Welt". Aber<br />

Petter konnte nur den Staub und den Schmutz der Stadt sehen.<br />

Nachdem er die Schuhe ausgezogen hatte, reklamierte<br />

er: "Schau dir den Teppich an – wie schmutzig er ist, meine<br />

Socken werden dreckig." Eher nach seinem Gusto war Amagansett,<br />

wo er, wie Laurinda Barrett berichtete, alle seine akr<strong>ob</strong>atischen<br />

Kunststücke vollführen konnte. Auf den Händen<br />

schritt er im Rasen des Vorgartens die ganze Hausfront entlang<br />

und uns Kinder trug er auf dem Rücken umher. Ihre<br />

Schwester Kate erinnerte sich, dass Pia und die Mädchen in<br />

skandinavische Trachten gekleidet kleine schwedische Spielzeuge,<br />

die sie unter <strong>Ingrid</strong>s Anlei<strong>tu</strong>ng gebastelt hatten, an die<br />

Nachbarn verkauften.<br />

Nach drei Wochen in Amerika kehrte Petter nach<br />

Schweden zurück, um die definitive Umsiedlung der Familie<br />

nach Amerika vorzubereiten. Er wollte sie vom Konflikt in Europa<br />

möglichst weit entfernt halten und beabsichtigte, seinen<br />

medizinischen Doktortitel an einer renommierten amerikanischen<br />

Universität wie Harvard, Yale oder Columbia zu erwerben.<br />

Das kurze Zusammensein der Lindströms liess einmal<br />

mehr die Risse gleich unter dem Putz der Fassade erkennen.<br />

Mit ihren persönlichen Karrieren beschäftigt und im Tempera-<br />

142


ment weiter von einander entfernt, <strong>als</strong> je zuvor, begegneten<br />

sich Petter und <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> höfliche Freunde, deren einzige Gemeinsamkeit<br />

sich in der Freude an ihrer Tochter offenbarte.<br />

<strong>Ingrid</strong> liess sich ja nie über unerfreuliche Beziehungen aus und<br />

meinte nur, der Besuch sei "kein Erfolg" gewesen.<br />

Neben ihrer beruflichen Untätigkeit litt <strong>Ingrid</strong> diesen<br />

Sommer zusätzlich an einer inneren Einsamkeit. Ungeachtet<br />

ihrer grossartigen Fortschritte mit der amerikanischen Sprache,<br />

war <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> nach wie vor eine Aussenseiterin in<br />

einer Gesellschaft, die Ausländerinnen entweder <strong>als</strong> moralisch<br />

fragwürdige Exotinnen oder aber <strong>als</strong> potentielle Saboteure betrachtete.<br />

Das mag auch zum Teil erklären, warum <strong>Ingrid</strong> während<br />

ihrer New Yorker Zeit zwar viele berufliche Bewunderer<br />

hatte und <strong>als</strong> willkommene Ergänzung der Gästelisten an Parties<br />

gehandelt wurde, es ihr aber - <strong>ob</strong>schon sie sich darum<br />

bemühte - nicht gelang, in dieser Zeit eine andere lebenslange<br />

Freundschaft zu gewinnen, <strong>als</strong> die zu Kay.<br />

INGRID WURDE DIESEN SOMMER FÜNFUNDZWANZIG<br />

und hatte eine sprühende gesellschaftliche Anmut, einen hellen<br />

Sinn für Humor, einen guten Geschmack für Gin Tonics, guten<br />

Wein und Scotch Whisky entwickelt; ausserdem wurde ihr zunehmend<br />

die offene erotische Aura bewusst, die sie umgab.<br />

Aber all das erfüllte sie mit der Sorge, es könnte ihre Karriere<br />

ein für allemal ruinieren. Sich selbst und ihre Verpflich<strong>tu</strong>ngen<br />

immer unter Kontrolle haltend, hatte sie doch verstanden, dass<br />

in gewissen Si<strong>tu</strong>ationen diätetischer Ungehorsam etwas helfen<br />

konnte. "Ich nehme zu, weil ich mich bedaure", schrieb sie am<br />

2. September an Ruth R<strong>ob</strong>erts nach Kalifornien, "so muss ich<br />

ihr eben dann und wann etwas Ice Cream geben." Wie verschiedene<br />

andere Schauspielerinnen (u.a. Bette Davis, Marlene<br />

Dietrich, und Marilyn Monroe) referierte auch <strong>Ingrid</strong> über ihr<br />

berufliches Ich gerne in der dritten Person. "Ich betrachte mich<br />

immer von aussen her", sagte sie im darauffolgenden Jahr,<br />

"<strong>als</strong> würde ich eine Fremde be<strong>ob</strong>achten, für die ich verantwortlich<br />

bin; so kann ich auch selbstkritisch sein." Sie unterschied<br />

143


auch sehr zwischen der Privatperson und der öffentlichen Figur,<br />

die sie war, und in dieser Saison musste <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>,<br />

die arbeitslose Schauspielerin, ein bisschen verwöhnt werden.<br />

Weil sie in dieser Zeit wirklich von allen Seiten viele<br />

Freundlichkeiten und Gastfreundschaften genoss, begann auch<br />

unausweichlich die Gerüchteküche über ihr Liebesleben zu brodeln.<br />

Es hiess, ein schöne Frau, die den Gefahren des New<br />

Yorker Theaterlebens erfolgreich getrotzt habe, müsse bestimmt<br />

eine lange Telefonliste von Verehrern führen. Wenn das<br />

wirklich so war, haben sie und die andern dicht gehalten.<br />

WÄHREND DEN ERSTEN KÜHLEN HERBSTTAGEN 1940<br />

begann <strong>Ingrid</strong> das Leben in New York unerträglich zu empfinden.<br />

"Lieber Gott, wenn ich doch nur Jeanne d'Arc zum Leben<br />

erwecken könnte, anstatt nutzlos hier herumzuhängen und<br />

Glacé zu essen", klagte sie Ruth R<strong>ob</strong>erts. "Arbeit, bitte, Arbeit!..."<br />

Wenigstens hatte Selznick ihre Klage vernommen. Gregory<br />

Ratoff hatte von Columbia Pic<strong>tu</strong>res den Regieauftrag für<br />

den Film "Adam Had Four Sons" erhalten, die Filmversion von<br />

Charles Bonners Novelle "Legacy", über eine französische Gouvernante,<br />

die während mehr <strong>als</strong> zehn Jahren einen Witwer und<br />

seine vier Söhne betreut. Als Vater endlich zu seiner unterdrückten<br />

Liebe zu ihr steht, brechen Familienpr<strong>ob</strong>leme aus, die<br />

sich in einem Hollywood-Happy End glücklich auflösen. Ratoff<br />

bat Selznick, ihm <strong>Ingrid</strong> auszuleihen, und anfangs Okt<strong>ob</strong>er<br />

spurteten sie und Pia nach Kalifornien, allerdings ohne das<br />

Mädchen, das inzwischen beschloss, dass Amerika nichts für<br />

sie sei und (Krieg in Europa hin oder her) nach Schweden zurückkehrte.<br />

Selznicks Leute halfen <strong>Ingrid</strong>, eine einfache, helle und<br />

möblierte Wohnung mit zwei Schlafzimmern am Shirley Place<br />

zu finden, südlich vom Olympic Boulevard am westlichen Ende<br />

von Beverly Hills – eine angenehme Bleibe etwa in gleicher<br />

Distanz zu den S<strong>tu</strong>dios von Selznick, Metro und Columbia. Sie<br />

144


fanden auch eine Perle von Haushälterin-Köchin namens Mabel,<br />

die an Pias zweitem Geburtstag ihre Arbeit aufnahm und<br />

das Kind mit einem Geburtsgskuchen und zwei rosa Kerzen im<br />

S<strong>tu</strong>rm er<strong>ob</strong>ert hatte. Dann, ein paar Tage später, wurde <strong>Ingrid</strong><br />

für ihre Rolle in "Adam Had Four Sons" in Korsetts – frühes<br />

zwanzigstes Jahrhundert – geschnürt, in Kostüme der Zeit gesteckt<br />

und mit einer unangenehmen Perücke gekrönt.<br />

Obschon bekannt <strong>als</strong> Tummelfeld erfolgreicher Regisseure<br />

wie Frank Capra, genoss Columbia Pic<strong>tu</strong>res 1940 inoffiziell<br />

den Ruf eines Kategorie B-S<strong>tu</strong>dios, quasi ein etwas bescheidenerer<br />

Cousin zu Metro, Paramount, Warner Bros. und<br />

Fox. Aber <strong>Ingrid</strong> interessierte sich weniger für ihr Prestige <strong>als</strong><br />

für die Gelegenheit, wieder Arbeit zu haben. "Ich bin eine der<br />

wenigen Schauspielerinnen, die Filme wundervoll finden, ohne<br />

jeden Seitenblick auf's Geld", sagte sie, "eine gute Filmrolle ist<br />

so gut wie eine gute Bühnenrolle – das ist meine Meinung."<br />

Und mit dieser Einstellung machte sie ein Script voller Clichés<br />

zur glaubwürdigen Geschichte. "Sie überlebte 'Adam Had Four<br />

Sons' ", stellte Kay Brown trocken fest, "und wer immer einen<br />

Schmetter wie diesen unbeschadet übersteht, kann nur Erfolg<br />

haben."<br />

<strong>Ingrid</strong>s Spiel in diesem sentimentalen Film baute gerade<br />

auf diesen billigen Vorgängen ihre berufliche Stärke auf und<br />

liess die Intensität erkennen, mit der sie die Feinheiten des<br />

Filmschauspiels instinktiv beherrschte. In die Rolle der Emilie<br />

Gallatin, einer französische Gouvernante, die zur Erziehung der<br />

vier Söhne von Adam Stoddard (gespielt von Warner Baxter)<br />

nach dem Tod ihrer Mutter (Fay Wray) hergeholt wurde, brachte<br />

sie starke gallische Weisheit ein, die verhinderte, dass das<br />

Süsse in ihrer Rolle unerträglich wurde. Ihr leidende Erkenntnis<br />

von menschlicher Dummheit wiederspiegelndes Halblächeln,<br />

ihr wissender Blick auf menschliche Psychopr<strong>ob</strong>leme, ihre<br />

Standhaftigkeit gegenüber Regisseur Ratoff, die entsetzlich<br />

sentimentalen Szenen zu unterspielen: das waren die Qualitäten,<br />

die <strong>Ingrid</strong>s Portrait von Emilie Gallatin berührend machten,<br />

anstatt es in unerträglichen Schmalz ausufern zu lassen.<br />

145


Auf ihre persönliche Anregung hin und mit Ratoffs herzlicher<br />

Zustimmung vermenschlichte sie den frommen Charakter,<br />

wo immer es ging, indem sie Szenen hinzufügte, in welchen<br />

sie mit den Jungen Basketball spielte oder gymnastische<br />

Übungen machte. Das waren Lichtblicke in einem schwülstigen<br />

und traurigen Szenario, das, wie <strong>Ingrid</strong> sich erinnerte, "während<br />

der Aufnahmen von Minute zu Minute neu definiert wurde",<br />

und so war es für sie sowohl Herausforderung wie auch<br />

Gelegenheit, aus der Not eine Tugend zu machen. Fay Wray<br />

brachte die Nöte der Schauspieler und der Crew in diesem Film<br />

wie folgt auf den Punkt: "<strong>Ingrid</strong> hatte eine Qualität, die sich<br />

auf der physischen und geistigigen Ebene zugleich bewegte.<br />

Sie wirkte vollkommen real, überhaupt nicht, <strong>als</strong> würde sie<br />

spielen." Als der Film 1941 in die Kinos kam, war der allgemeine<br />

Konsens der Kritiker und des Publikums der, dass <strong>Ingrid</strong> ihr<br />

grosses Talent für einen unwürdigen Film einsetzte, dass sie<br />

"absolut glaubwürdig und gewinnend" war und dass etwas wie<br />

ihr grossartiges Schauspieltalent einen weit besseren Stoff<br />

verdiente, <strong>als</strong> "Adam Had Four Sons" .<br />

Der Durchbruch kam sicher nicht mit ihrem nächsten<br />

Film "Rage In Heaven" . in welchen sie im Spätherbst, einen<br />

Tag nach Ende der Produktion von "Adam.." hineingeriet.<br />

Christopher Isherwood und R<strong>ob</strong>ert Thoeren hatten ein humorloses,<br />

unwahrscheinliches Szenario entworfen, basierend auf<br />

einer Novelle von James Hilton, dessen frühere Werke den<br />

Grundstein zu den Hollywood-Hits "Lost Horizon" und "Good<br />

Bye Mr. Chips" gelegt hatten. Metro, an die Selznick <strong>Ingrid</strong><br />

ausgeliehen hatte, rechnete fälschlicherweise mit einem weiteren<br />

Erfolg – umsomehr <strong>als</strong> ihr Hauptdarsteller R<strong>ob</strong>ert Montgomery<br />

einer ihrer grossen Stars war; aber nachdem sie das<br />

Script gelesen hatte, hätte <strong>Ingrid</strong> ihre Begeisterung dämpfen<br />

können. Die Geschichte handelt von einem paranoiden Schizophrenen<br />

(Montgomery in einer Variation seine Rolle in "Night<br />

Must Fall"), der seine Frau (<strong>Ingrid</strong>) terrorisiert und die Loyalität<br />

eines alten Freundes (George Sanders) missbraucht. "Rage In<br />

Heaven" war fast komisch-unglaubwürdig.<br />

146


Mit dem enttäuschenden Script konnte <strong>Ingrid</strong> letztlich<br />

leben, denn einmal mehr fand sie die richtige dramatische<br />

Gangart, um aus einem Papier-Cliché eine unwiderstehliche<br />

Persönlichkeit zu formen. Ihr Portrait von Stella Bergen, der<br />

Gesellschafterin einer älteren Dame, die Herrin des Guts und<br />

Gattin des Verrückten wird (etwas finsterer in den Schattierungen<br />

<strong>als</strong> ihre vorhergehende Rolle in "Adam.." ) war bemerkenswert<br />

punkto Nüancierungen und feiner Balance zwischen<br />

Zutrauen und Terror.<br />

Nicht ertragen konnte <strong>Ingrid</strong> hingegen die bellende<br />

Gr<strong>ob</strong>heit von Regisseur W.S (Woody) Van Dyke, einem Zuchtmeister,<br />

der in Stiefeln und Breeches im Set herumstolzierte<br />

und seine Befehle herumbrüllte wie ein Drill Sergeant. Als Regisseur<br />

in 76 Filmen innerhalb von 20 Jahren war er zu jener<br />

Zeit sehr gefragt – allerdings nicht bei den Schauspielern, die<br />

ihm den Übernamen "One Shot Woody" gaben, weil er ihnen<br />

kaum je die Gelegenheit bot, eine Szene zu wiederholen. Er<br />

realisierte seine Filme unter dem Budget, wofür ihn Mogule wie<br />

Louis B. Mayer liebten – im Gegensatz zu seriösen Kollegen<br />

wie <strong>Ingrid</strong>. "Los vorwärts damit!" brüllte Van Dyke plötzlich,<br />

und "Bringt diesen Film endlich vom Boden!" im nächsten Moment.<br />

"Ich will die nächste Szene in fünf Minuten bereit haben!"<br />

Die Dreharbeiten zu "Rage In Heaven" waren für <strong>Ingrid</strong><br />

eine Nachtmär an Unzivilisiertheit und Unprofessionalismus.<br />

Diese Art konnte sie ebensowenig mehr geduldig über sich<br />

ergehen lassen, wie des Regisseurs leichtfertige Gleichgültigkeit<br />

für die feineren Nuancen der Gestal<strong>tu</strong>ng eines Charakters.<br />

Van Dyke war <strong>als</strong> Ersatz für einen langsameren Regisseur eingestellt<br />

worden und sah seine Aufgabe einfach in der Beschleunigung<br />

der Produktion – den albernen Film auf eine Art<br />

und Weise fertigzustellen, die Mayer gefiel. Zum Teufel mit den<br />

Schauspielern.<br />

Ihre einzige Zuflucht in diesem November war Selznick.<br />

Was konnte sie gegen einen Mann wie Van Dyke <strong>tu</strong>n? Ihre<br />

Leis<strong>tu</strong>ng interessierte ihn nicht, und sie fürchtete, das Endresultat<br />

werde ein Film sein, der weder ihr noch Selznick etwas<br />

nützte, der ja weitere Projekte für sie suchte. Er aber mochte<br />

147


nicht intervenieren, sondern streichelte ihre Hand und sandte<br />

sie zurück zu Metro mit dem Versprechen auf grosse Dinge, die<br />

da kommen sollten – nach "Rage In Heaven".<br />

Tags darauf bei Metro glich Van Dyke einem gereizten<br />

Boxkämpfer und begann sofort mit der gewohnten Methode,<br />

herumknurren und –stampfen, von einer Ecke in die andere<br />

schiessen um alle verbal einzuschüchtern. <strong>Ingrid</strong> hatte genug,<br />

und zum ersten Mal war klar, dass (wie unterordnend sie auch<br />

immer ihrem Ehemann gegenüber war) sie tatsächlich einen<br />

brüllenden Löwen in sich hatte, und mit dieser Kraft hatte sie<br />

ein beträchtliches Selbstvertrauen in ihrer Kunst entwickelt.<br />

"Warum bleiben Sie nicht bei der Armee, so wie Sie herumrennen<br />

und –brüllen?" schrie sie unbeherrscht, w<strong>ob</strong>ei sie<br />

ihre Stimme so erh<strong>ob</strong>, dass alle rundum schwiegen. "Sie haben<br />

keine Ahnung von den Gefühlen der Leute, ganz sicher keine<br />

Ahnung, wie eine Frau zu behandeln! Sie interessieren sich<br />

einzig und allein dafür, diesen Film zu Ende zu kriegen, völlig<br />

egal, was für ein Film es ist! Sie geben uns keine Möglichkeit,<br />

zu spielen." Niemand hätte je gewagt, den grossen Van Dyke<br />

so direkt anzuherrschen – dabei war <strong>Ingrid</strong> noch nicht fertig:<br />

"Warum ziehen Sie keine Roller Skates an, um schneller von<br />

einer Stelle zur andern zu kommen?"<br />

"Na gut", sagte Van Dyke, so, <strong>als</strong> würde sie jetzt entlassen.<br />

Das sei auch ihr recht, erwiderte sie und rauschte ab,<br />

um mit George Sanders zu reden, der diese Produktion ebenfalls<br />

hasste. Und dann, später am Tag, schlich sich Van Dyke<br />

zur Überraschung aller in <strong>Ingrid</strong>s Garder<strong>ob</strong>e, entschuldigte sich<br />

für sein Benehmen, sagte, sie leiste grossartige Arbeit und er<br />

werde sich um ein menschlicheres Benehmen bemühen. Dafür<br />

waren ihr alle an "Rage In Heaven" Beteiligten sehr dankbar.<br />

Van Dyke hatte aber nicht lange Zeit, sein Benehmen zu ändern:<br />

nach einigen weiteren belanglosen Filmen starb er 1943<br />

im Alter von 54 Jahren, die Erinnerung an "jene junge Schwedin"<br />

bis zuletzt noch vor Augen. Wie Selznick, hatte auch er<br />

seinen Meister gefunden.<br />

148


Zufälligerweise arbeitete jene junge Schwedin, die sich<br />

eben mit allem, was sie tat, zur Topschauspielerin entwickelte,<br />

in jenem Herbst im selben S<strong>tu</strong>dio wie die ältere Schwedin: die<br />

um zehn Jahre ältere Greta Garbo arbeitete dam<strong>als</strong> an "Two<br />

Faced Woman" (was übrigens ihr letzter Film werden sollte).<br />

<strong>Ingrid</strong> versuchte vergeblich, ein Treffen mit ihrer abgeh<strong>ob</strong>enen,<br />

asozialen Kollegin zu arrangieren, denn die gemeiname<br />

Herkunft und Sprache bedeuteten der Garbo nichts, die alle<br />

freundlichen Vorstösse <strong>Ingrid</strong>s zurückwies.<br />

"Kannst du dir das voirstellen?" fragte sie später, "sie<br />

war erst 35 Jahre alt und eine äusserst hübsche und talentierte<br />

Schauspielerin, und von da an arbeitete sie keinen einzigen<br />

Tag mehr. Kannst du dir all' diese Jahre vorstellen? Du stehst<br />

morgens auf und was <strong>tu</strong>st du den ganzen Tag lang? Wenn du<br />

Kinder und Grosskinder hast, ist das was anderes – aber so<br />

einsam zu sein!" Für sich selbst konnte sich <strong>Ingrid</strong> nicht vorstellen,<br />

nie mehr zu arbeiten – gute oder schlechte Scripts, auf<br />

Bühne oder Leinwand: "Es ist mir egal, welche Rollen ich spiele,<br />

gross oder klein. Solange eine Rolle Sinn macht und ein<br />

menschliches Wesen verkörpert, werde ich es versuchen."<br />

Ihre Direktheit und Offenheit, die ihr völlig fremde Berechnung<br />

und Künstlichkeit schaffe, wie Hollywood-Reporter<br />

schrieben, einen starken Kontrast zur sphinxartigen Zurückgezogenheit<br />

von Greta Garbo, die niemand sehen konnte, wie sie<br />

auf der Stossstange ihres Wagens auf und niedersprang, weil<br />

sich diese an einem andern Wagen verfangen hatte. "Tollstes<br />

Ding, was ich je sah", sagte der S<strong>tu</strong>dio-Polizist, der <strong>Ingrid</strong> zuhilfe<br />

eilte, "erster Filmstar, die ich sah, der es nichts ausmachte,<br />

schmutzige Hände zu kriegen oder die den Andern nicht<br />

anflucht, dessen parkierter Wagen ihr im Wege steht."<br />

Gerade rechtzeitig zu Weihnachten kam Petter in Amerika<br />

an, erschöpft von seiner Reise von Stockholm über Berlin,<br />

Lissabon und dann mit einem por<strong>tu</strong>giesischen Frachter nach<br />

New York, wo ihn <strong>Ingrid</strong> und Pia abholten. Er wollte alle Neuigkeiten<br />

über <strong>Ingrid</strong>s Arbeit hören, wie auch über die Förderung<br />

seiner eigenen Karriere in den USA, wozu er sich an einer me-<br />

149


dizinischen Schule immatrikulieren und für seinen amerikanischen<br />

Doktortitel arbeiten musste.<br />

Die Ferientage in New York erhielten ihren festlichen<br />

Glanz hauptsächlich von Kay Brown und ihrer Familie, die eine<br />

ganze Reihe von eleganten Parties gaben, deren Höhepunkt<br />

der Sylvesterabend bildete. Aber <strong>als</strong> Petter bei Kay Rat suchte<br />

wegen seiner Bewerbung bei einer medizinischen Schule, war<br />

<strong>Ingrid</strong> wieder zu Tode gelangweilt durch ihre Inaktivität. Von<br />

ihrer Suite im Carlyle Hotel aus schrieb <strong>Ingrid</strong> Selznick, ihre<br />

Arbeitslosigkeit treibe sie in einen Herzinfarkt. "Ich fühle mich<br />

wie ein Rennpferd", sagte sie zu einem Reporter, "ich kann Tag<br />

und Nacht arbeiten ohne ein Schlafbedürfnis zu verspüren. In<br />

Hollywood machen sie sich lustig über mich, weil ich regelmässig<br />

vor der Zeit im S<strong>tu</strong>dio stehe."<br />

Petter lotete inzwischen seine Optionen aus. Sein Erfolgszwang,<br />

dem ihren ebenbürtig, machte nur deutlich, was<br />

sie bald während <strong>Ingrid</strong>s Arbeitslosigkeit realisierten. Während<br />

den letzten zwei Jahren lebten die Lindströms meist voneinander<br />

getrennt. Das war eine kritische Periode in ihren Karrieren,<br />

und vielleicht war es von ihrer Ehe zuviel verlangt, beides zu<br />

ertragen: die lange Trennung und die Tatsache, dass sie beide<br />

emotionell und beruflich unabhängig geworden waren. Gleichgültig,<br />

wie sehr sie sich auch gegenseitig ermunterten oder<br />

gemeinsam an Pia erfreuten, <strong>Ingrid</strong> und Petter war klar geworden,<br />

dass nicht nur ihre verschiedenen Interessen sie trennten:<br />

sie vertraten auch praktisch zu allem verschiedene Auffassungen.<br />

Einerseits sagte <strong>Ingrid</strong>, was sie dachte, und ihre<br />

gedankenverlorene Art, dies zu <strong>tu</strong>n, ermöglichte ihr, zu praktisch<br />

allem erstaunlich offen Stellung zu nehmen. Durch ihre<br />

Amerikanisierung entwickelte sich <strong>Ingrid</strong> auch zu einer hochgradig<br />

kosmopoliten, selbstbewussten Frau von Welt; Petter<br />

bewahrte die Eigenheiten eines mittelklassigen Schweden,<br />

dessen Verhalten durch grösste Ernsthaftigkeit und seinen Verlass<br />

auf die kalte Intelligenz charakterisiert wird. Es wäre zu<br />

einfach, sie <strong>als</strong> kreative Künstlerin zu definieren und ihn <strong>als</strong><br />

einen verantwor<strong>tu</strong>ngsvollen Wissenschafter. Aber diese Defini-<br />

150


tionen, so unvollständig sie auch sein mögen, sagen etwas in<br />

die richtige Rich<strong>tu</strong>ng aus.<br />

Sehr nahe am Zentrum ihrer Verschiedenheiten lag Petters<br />

unglückseliger Glaube, dass die Gaben seiner Frau, wie<br />

immer sie zu gewichten waren, sie nicht mit viel Intelligenz,<br />

gesundem Menschenverstand oder der Fähigkeit verbanden,<br />

richtige Entscheidungen zu treffen. Seine verheerendste Fehlkalkulation<br />

war, dass diese anbe<strong>tu</strong>ngswürdige junge Frau nicht<br />

gerade viel Kopf auf ihren Schultern trug; er ging in andern<br />

Worten davon aus, dass ihr offensichtliches Bedürfnis, sich auf<br />

den Rat eines Mannes verlassen zu können, mädchenhafte<br />

Unreife und Unentschlossenheit signalisiere. Mit der Energie,<br />

die stets seine Handlungsweise für sie charakterisierte, verband<br />

er die Überwachung ihrer Karriere mit jener der seinen,<br />

was sie auch zuliess – und diese Tatsache, was keiner von ihnen<br />

vorhersehen konnte, war der fatale Fehler, der sie mit der<br />

Zeit voneinander trennte.<br />

Bei der Arbeit war <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> eine Frau, die eine<br />

Rolle, eine Produktion oder die Zusammenhänge zwischen einer<br />

Geschichte und ihrer künstlerischen Umsetzung erstaunlich<br />

korrekt beurteilen konnte. Ohne ins Analytische oder Intellek<strong>tu</strong>elle<br />

zu verfallen, verliess sie sich auf ihre leuchtende In<strong>tu</strong>ition,<br />

während sie zuhause leicht in die Unterwürfigkeit unter die<br />

Führung eines dominanten, willensstarken Ehemanns schlüpfte.<br />

Was sie nicht realisierte, war der Umstand, dass sie Petter<br />

Lindström nicht so dringend brauchte, wie er sie brauchte, ihn<br />

zu brauchen.<br />

151


152<br />

1941 - Ivy Petersen in „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“


1941<br />

„...Erstm<strong>als</strong> bin ich aus dem Käfig ausgebrochen, der mich<br />

umschliesst – habe ich eine Öffnung zur Welt hin gefunden.<br />

Ich bin Dinge angegangen, von welchen ich nur hoffe, dass<br />

sie real existieren, die ich aber noch nie anzugehen gewagt<br />

hätte...“<br />

(<strong>Ingrid</strong> über ihre Rolle <strong>als</strong> Ivy in „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“)<br />

AM 22. JANUAR KEHRTEN DIE LINDSTRÖMS von New<br />

York nach Beverly Hills zurück, und <strong>Ingrid</strong> durchkämmte die<br />

Presse nach Anzeigen über Broadway- und Hollywood-<br />

Castings. Unter den Beiträgen, die sie am meisten interessierten,<br />

war einer über Ernest Hemingways neueste Novelle "Wem<br />

die S<strong>tu</strong>nde schlägt", die sie in New York gelesen hatte. Paramount<br />

hatte sich die Filmrechte an dieser unwahrscheinlichen<br />

Liebesgeschichte aus dem spanischen Bürgerkrieg geschnappt,<br />

und es war in diesem Winter ein pausenloses Gesumme darüber,<br />

wer wohl Maria, das feurige spanische Mädchen neben<br />

Gary Cooper spielen würde. Dieser war schon in einem früheren<br />

Hemingway-Film zu sehen ("A Farewell To Arms", 1932)<br />

und war daher die Wahl des Autors für die Rolle des R<strong>ob</strong>ert<br />

Jordan, des lakonischen, idealistischen amerikanischen Helden.<br />

Bevor sie und Petter zu einem kurzen Skiurlaub wegfuhren,<br />

eilte <strong>Ingrid</strong> noch rasch ins Büro zu Selznick und bat darum, für<br />

die Rolle der Maria an Paramount ausgeliehen zu werden. Ja,<br />

sagte sie, um ihm gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen,<br />

sie wisse, dass sie weder spanisch aussehe noch so töne, aber<br />

<strong>ob</strong> man denn nicht durch das richtige Makeup, den richtigen<br />

Haarschnitt und die richtige Beleuch<strong>tu</strong>ng diese Details erledigen<br />

könne? Und wurde sie nicht mächtig gel<strong>ob</strong>t für ihre Auftrit-<br />

153


te <strong>als</strong> französische Gouvernante und deutscher Flüchtling? Es<br />

war nicht allein die Story, die <strong>Ingrid</strong> so packte – wie sie bekannte:<br />

sie wollte einen Film mit Gary Cooper drehen.<br />

Selznick hörte zu, ohne ein Wort darüber zu verlieren,<br />

dass er sie für diese Rolle bereits vorgesehen hatte; dass er<br />

seinen Bruder, den Agenten Myron Selznick, bereits beauftragt<br />

hatte, telefonisch bei Paramount etwas über die Casting-Liste<br />

in Erfahrung zu bringen; und dass er bereits so weit gegangen<br />

war, Hemingway persönlich über seine Meinung zu <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong><br />

Maria auszuhorchen. "Nun", sagte Selnick lakonisch, indem er<br />

nach einer Aufsteller-Pille und einem Becher Wasser griff, "wir<br />

werden sehen, oder?"<br />

Am 25. Januar fuhren <strong>Ingrid</strong> und Petter nach Norden für<br />

einen Skiurlaub am June Lake an der kalifornischen Grenze zu<br />

Nevada. Selznick – immer mit einem Hintergedanken an die<br />

Paramount-Leute – hatte der Idee einer Fotostory für LIFE<br />

MAGAZINE zugestimmt ("Inrid <strong>Bergman</strong> erholt sich kurz von<br />

Hollywood"), und während sich die Lindströms an den Schneehängen<br />

fröhlich und sich mit Schneebällen bewerfend den Kameras<br />

stellten, zog er buchstäblich rund um die Uhr die Fäden<br />

von seinem Büro aus. <strong>Ingrid</strong> ihrerseits hatte keine Ahnung davon,<br />

dass der LIFE-Artikel Teil von Selznicks strategischer<br />

Kampagne war. "Um dich bezüglich <strong>Ingrid</strong> und 'Wem die S<strong>tu</strong>nde<br />

schläg' auf dem Laufenden zu halten", schrieb er am 31.<br />

Januar an Kay Brown,<br />

154<br />

"nagelte ich Hemingway heute fest, und er bestätigte<br />

klar und offen, dass er sie gerne in der Rolle der Maria<br />

sehen würde. Er erklärte das heute auch der Presse.<br />

Aber er fügte auch bei, man sei bei Paramount der Ansicht,<br />

sie sei hölzern, untalentiert und noch ein paar andere<br />

Dinge. Unnötig zu sagen, dass ich auf all das eine<br />

Antwort hatte. Myron ist hart an der Arbeit.<br />

Ich betreibe gegenwärtig selbst eine Werbekampagne<br />

mit dem Ziel, Paramount so in die Ecke zu treiben, dass<br />

sie sie fast nehmen müssen. Du wirst diese Einschal<strong>tu</strong>ngen<br />

von Zeit zu Zeit zu sehen bekommen. Übrigens,


<strong>Ingrid</strong> war heute nicht erreichbar, sonst hätte ich sie<br />

mit Hemingway zusammengebracht. Wir suchen heute<br />

aber einen Flug für sie, damit sie Hemingway in San<br />

Franzisco noch treffen kann, bevor sie nach China abreist.<br />

Wenn sie ihm gefällt, bitte ich ihn, sich bei Paramount<br />

einzusetzen. Sollte sie die Rolle nicht bekommen,<br />

wäre es zumindest nicht, weil es keine systematische<br />

Kampagne für sie gegeben hätte!"<br />

Während er das schrieb, war <strong>Ingrid</strong> bereits auf dem<br />

Weg zu Hemingway. In der Nacht vom 30. zum 31. Januar<br />

fuhren sie und Petter von June Lake nach Reno, wo sie einen<br />

Morgenflug nach San Franzisko erwischten. Nachmittags begaben<br />

sie, Petter und ein LIFE-Fotograph sich zu Jack's Restaurant<br />

an der Sacramento Street, wo sie Ernest Hemingway und<br />

seine neue Frau, die Journalistin Martha Gellhorn, trafen. Über<br />

Salattellern und einigen Flaschen Weisswein diskutierten sie<br />

"Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt" , w<strong>ob</strong>ei Hemingway mit ausladenden<br />

Gesten und trunkener Tapferkeit über seine Charaktere und<br />

Themen referierte.<br />

Und dann, mit einer sonderbar heftigen Bewegung, griff<br />

er sich eine Handvoll von <strong>Ingrid</strong>s langen, hellbraunen Haaren:<br />

das alles müsste verschwinden, wenn sie Maria spielen wollte,<br />

die in der Geschichte <strong>als</strong> jungenhaft kurzgeschorene Blondine<br />

geschildert wird.<br />

Von diesem Element einer konfusen, unklaren Geschlechtlichkeit<br />

war Hemingway besessen. Viele seiner Hauptdarstellerinnen<br />

in Fiktion und realem Leben, von Lady Brett<br />

Ashley in "The Sun Also Rises" bis hin zu seinen eigenen Frauen,<br />

waren kurzgeschorene Androgene – woraus sich auch seine<br />

grosse Freundschaft z.B. zur bisexuellen Marlene Dietrich erklärt,<br />

die in seiner Gegenwart nur ihr Markenzeichen – eben<br />

Herrenanzüge - trug. Wie bei allen andern von Hemingways<br />

Lieblingsfrauen in Film und Leben, dachte er auch von <strong>Ingrid</strong>,<br />

sie wäre viel attraktiver <strong>als</strong> jungenhaftes Mädchen – das, im<br />

vorliegenden Fall, in Gary Cooper verknallt war.<br />

155


Der ausgedehnte Lunch ging seinem Ende zu, <strong>als</strong> die<br />

Kellner die Tische für das Abendessen vorzubereiten begannen.<br />

Beim Abschied drückte Hemingway <strong>Ingrid</strong> ein Exemplar seiner<br />

Novelle in die Hand, gewidmet mit den Worten: "Für <strong>Ingrid</strong><br />

<strong>Bergman</strong>, die Maria dieses Buchs". Aber all das einschliesslich<br />

Selznicks Publicity-Paukenschläge hinderten Paramount nicht<br />

an der Verkündung, dass die ersten Drehtests für Maria in<br />

zehn Tagen mit Betty Field erfolgen würden, die eben in John<br />

Steinbecks Film "Of Mice and Men" zu sehen war. Das S<strong>tu</strong>dio<br />

hatte keine Eile, eine komplette Besetzungsliste zu veröffentlichen:<br />

in Anlehnung an Selznicks Vorgehen 1938 während seiner<br />

Suche nach der perfekten Scarlett O'Hara, liess sich Paramount<br />

für die endgültige Wahl der Maria fröhlich Zeit, während<br />

Dudley Nichols sich abrackerte, eine filmgerechte Story aus<br />

Hemingways epischer Novelle herauszuhämmern. Und damit<br />

war <strong>Ingrid</strong> - nach einem allzu kurzen Höhenflug – einmal mehr<br />

nutzlos geworden.<br />

Sie solle sich nicht aufregen, meinte Selznick, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong><br />

nach Beverly Hills zurückkehrte. Er hatte bereits alles für ihre<br />

neuerliche Ausleihung an Metro arrangiert, diesmal für eine<br />

hübsche Rolle in einer Grossproduktion mit Victor Fleming, der<br />

in "Vom Winde verweht" und "Der Zauberer von Oz" Regie geführt<br />

hatte. <strong>Ingrid</strong>s Rolle war die der süssen, unschuldigen,<br />

loyalen und liebestollen Verl<strong>ob</strong>ten von Spencer Tracy in "Dr.<br />

Jekyll and Mr. Hyde". R<strong>ob</strong>ert Louis Stevensons berühmte Geschichte<br />

von der gespaltenen Persönlichkeit eines Mannes (die,<br />

wie später bekannt wurde, auf grauenvollen Erfahrungen des<br />

Autors im Zusammenhang mit dessen bewusstseinsveränderndem<br />

Drogenkonsum basierte) war seit ihrer Publikation 1885<br />

oft auf Bühne und Leinwand zu sehen. Unter den erfolgreichsten<br />

Darstellern der Hauptrolle waren Richard Mansfield, Daniel<br />

Bandman, John Barrymore und Frederic March. Durch seinen<br />

alten Kumpanen Victor Fleming (unter dessen Regie er schon<br />

in "Captains Courageous" und "Test Pilot" spielte) in diesen<br />

Film eingeschleust zu werden, betrachtete Tracy <strong>als</strong> eine willkommene<br />

Gelegenheit, denn er war <strong>als</strong> Schauspieler bestens<br />

bekannt für eher ruhigere und gefällige Rollen. Das Moment<br />

156


der Überraschung war das wichtigste Element, auf welches er<br />

in dieser Geschichte setzte.<br />

<strong>Ingrid</strong> übernahm die ihr zugedachte Aufgabe nicht<br />

kampflos, denn bei der Lektüre der Rolle von Beatrix Emery<br />

wurde sie mit jeder Seite von wachsender Langeweile und Verzweiflung<br />

gepackt. Einmal hatte die Rolle keine Tiefe. In Henry<br />

Jekyll verliebt und ahnungslos über die dunkeln Absichten hinter<br />

dessen Experimenten, verblasste die Verl<strong>ob</strong>te im Vergleich<br />

zu Ivy, dem Cockney-Flittchen, das den Doktor anmacht, ihm<br />

zum Opfer fällt und schliesslich von dessen zweitem Ego umgebracht<br />

wird.<br />

Die Charaktere, die <strong>Ingrid</strong> in ihrer bisherigen Karriere in<br />

Amerika gespielt hat, hatten nichts gemein mit den vielschichtigen<br />

Figuren, deren Darstellung sie in Schweden so genoss. In<br />

ihrer eigenen Sprache spielte sie komische, dramatische, tragische<br />

und romantische Rollen; im Vergleich dazu gewährte ihr<br />

Selznick wenig Spielraum. Obschon sie jede Rolle zu ihrer eigenen<br />

machte und den Kern eines jeden Charakters treffen<br />

konnte, war ihr amerikanisches Repertoire von lähmender Eintönigkeit.<br />

In "Intermezzo", "Adam Had Four Sons" und "Rage<br />

in Heaven" war sie eine bewunderungswürdige, selbstaufopfernde<br />

Gouvernante oder Kameradin. Jetzt sehnte sie<br />

sich danach, einmal jemand anderen zu portraitieren – und<br />

wäre es eine gefallene Frau, wie sie sich Bosley Crowther gegenüber<br />

äusserte<br />

Selznick und Fleming wischten diese Idee vom Tisch,<br />

der Produzent, weil er ihren Filmruf nicht auf's Spiel setzen<br />

wollte, und der Regisseur, weil er ihre Fähigkeit anzweifelte,<br />

eine Barmaid zu spielen, die einem bösen Ende entgegengeht.<br />

Übrigens, erzählten sie <strong>Ingrid</strong>, die Rolle, die sie so sehr begehrte,<br />

werde von Metros Pullover-Mädchen vom Dienst, Lana<br />

Turner, gespielt, die eben einundzwanzig geworden sei und<br />

nun <strong>als</strong> Sexy-Star aufgebaut werde.<br />

Aber <strong>Ingrid</strong> hielt Fleming weiterhin unter sanftem<br />

Druck, bis er sich schliesslich bereit erklärte, sie für Ivy zu testen.<br />

Am 20. Februar sah er sich genötigt, Selznick zu erklären,<br />

157


dass <strong>Ingrid</strong> ihn überrascht hätte. In nur einer Szene – <strong>als</strong> die<br />

dankbare Ivy aus einem Strassenüberfall grettet war, versucht<br />

sie Dr. Jekyll zu verführen, indem sie die Bluse wie für eine<br />

Untersuchung langsam auszieht – verströmte sie eine seltene<br />

Kombination von sexueller Raffinesse und pathetischer Unschuld.<br />

Wenn sie Lana Turner in die anspruchslosere Rolle stecken<br />

würden, rechnete Fleming Selznick und Louis B. Mayer<br />

vor, hätten Tracy und <strong>Bergman</strong> eine Chance auf verlockende<br />

neue Rollen.<br />

Das kam dabei heraus: Als die Dreharbeiten Ende Februar<br />

begannen, war <strong>Ingrid</strong> mit viktorianischen R<strong>ob</strong>en ausgestattet<br />

und der Autor John Lee Mahin hatte Ivy den Familiennamen<br />

Petersen gegeben, um ihren schwedisch gefärbten<br />

Cockney-Slang zu rechtfertigen. "<strong>Ingrid</strong> wird nicht nur den<br />

wichtigsten Faktor darstellen, um Hyde glaubhaft wirken zu<br />

lassen", sagte Spencer Tracy einmal während den Aufnahmen<br />

– um dann etwas gemässigter und leicht bedenklich anzufügen:"Nur<br />

mich wird in diesem Film niemand bemerken. Sie ist<br />

so überragend!"<br />

Und das war sie wirklich. <strong>Ingrid</strong> tritt erst zwanzig Minuten<br />

nach Filmbeginn mit einem Off-camera-Schrei in Erscheinung<br />

<strong>als</strong> Ivy von Jekyll in einer Londoner Allee vor dem Übergriff<br />

eines Passanten in Sicherheit gebracht wird. Eine verstauchte<br />

Fessel vortäuschend küsst sie den Doktor, w<strong>ob</strong>ei ihr<br />

vorsichtiges Lächeln einen Hauch sowohl von Unschuld, wie<br />

auch von Attraktion signalisiert. Er begleitet sie dann nachhause,<br />

wo sie ihr Verführungswerk fortsetzt indem sie ihre<br />

Strümpfe abstreift und Jacke und Bluse auszieht – <strong>als</strong> <strong>ob</strong> es<br />

ihre Hochzeitsnacht wäre. Tracys Jekyll ist fasziniert aber zurückhaltend;<br />

<strong>als</strong> Dank für seine Hilfe reicht sie ihm lediglich ihr<br />

Strumpfband hin und flüstert: "Das reicht bei weitem nicht, ich<br />

weiss." Und damit sind die Voraussetzungen für Ivy geschaffen,<br />

dass sie viel mehr bekommt, <strong>als</strong> worum sie feilschte.<br />

Mit Mahins messerscharf gezeichnetem Script und<br />

Flemings akribisch getreuer Regie wurde Stevensons Geschichte<br />

einer geistigen Verwandlung im Rahmen von sexueller Be-<br />

158


drohung auf einmalig eindringliche Art umgesetzt. Jekylls erste<br />

Verwandlung in Hyde spielt sich in einer halluzinatorischen<br />

Episode ab, in welcher Tracy zu sehen ist, wie er ein weisses<br />

und ein schwarzes Pferd so lange auspeitscht, bis diese sich<br />

plötzlich in diskret nackte Bilder von <strong>Bergman</strong> (anstelle des<br />

schwarzen Pferds) und Turner (anstelle des weissen Pferds)<br />

verwandeln. Dann entkorkt Jekyll/Hyde langsam eine Flasche,<br />

w<strong>ob</strong>ei der Korken die Kopfform von <strong>Ingrid</strong> annimmt, die nun<br />

rücklings auf Wellen treibend zu sehen ist. "Dieser Einfall muss<br />

von Fleming sein", sagte <strong>Ingrid</strong> Jahre danach, weil sie des Regisseurs<br />

Schwäche für Freudsche Sexu<strong>als</strong>ymbolik kannte.<br />

Erstm<strong>als</strong> brachte <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> in einem amerikanischen<br />

Film eine freizügig fleischliche Na<strong>tu</strong>r zur Darstellung.<br />

Sehr zu Flemings Vergnügen wurde das Korken-Motiv<br />

von <strong>Ingrid</strong> selbst in die nachfolgende Episode eingebracht, <strong>als</strong><br />

Ivy im Palace of Frivolities an der Bar arbeitet, singt und flirtet.<br />

Fasziniert und verängstigt, angezogen und abgestossen von<br />

Tracy <strong>als</strong> Hyde, versucht sie standhaft und selbstsicher zu<br />

sein, bleibt dabei aber vorsichtig und nervös. Über ihre Worte<br />

stolpernd, ihren Blick abwendend und von der entsetzlichen<br />

Macht des Seinen wieder zurückgeholt, gewinnt <strong>Ingrid</strong>s Ivy<br />

eine Tiefe, die im Script nicht zu finden ist. "Ich begann das<br />

Mädchen zu lieben", sagte sie am Ende der Dreharbeiten, und<br />

dieses Mass an Identifikation ermöglichte es ihr, in dieser Rolle<br />

aufzugehen.<br />

Tracy/Hyde l<strong>ob</strong>te Ivy für ihren Gesang (<strong>Ingrid</strong> selbst<br />

zeichnete die kecken Verse von "You should see me dancing<br />

the Polka" auf) und Fleming ordnete eine Nahaufnahme seines<br />

lüsternen Blicks an. Und dann gab <strong>Ingrid</strong> ihrem Regisseur in<br />

einer bemerkenswerten Einstellung etwas Unerwartetes und<br />

Unheimliches: um Freude und Furcht über dieses Kompliment<br />

auszudrücken, blähte sie für einen Moment die Nüstern, während<br />

der Dialog seinen Fortgang nahm:<br />

Hyde: Und woher kommt dein lieblicher Gesang?<br />

Ivy (geschmeichelt aber verkrampft):<br />

Ich weiss nicht, mein Herr.<br />

159


(Sie stellt die Champagnerflasche ab und versucht, den Tisch<br />

rasch zu verlassen.)<br />

Hyde (<strong>als</strong> <strong>ob</strong> er sie mit seiner tiefen, bedrohlich und<br />

doch sinnlich klingenden Stimme hypnotisieren<br />

wollte): Ein halbes Pfund?<br />

Ivy (angeekelt mit leicht geschürzten Lippen, wäh<br />

rend ihre Brauen Teilnahmslosigkeit vortäuschen):<br />

Ja, Herr.<br />

(Sie versucht wegzugehen, doch er hält sie zurück.)<br />

Also, auf einen Schluck Champagner –<br />

aber ich kann natürlich nicht lange bleiben.<br />

Hyde (rückt näher ran): Wo hast du die hübsche<br />

Stimme her?<br />

Ivy (mit starrem Blick scheint sie ihn langsam <strong>als</strong><br />

den wohltätigen Dr. Jekyll zu erkennen):<br />

Oh - ich - weiss nicht...<br />

Hyde (fixiert ihren H<strong>als</strong>, Busen, Körper): Vielleicht ist<br />

es das hübsche Gefäss, aus dem sie kommt?<br />

(Wie der Alb in der Halluzination öffnet sie den<br />

Mund leicht und bläht die Nüstern wieder.)<br />

Von da an entwickelt sich die Tragödie schnell und<br />

qualvoll der Gefangennahme der armen Ivy durch Hyde zu, der<br />

sie nun in elegantem Konkubinat brutalisiert und nahezu bis<br />

zum Wahnsinn quält. Der Schrecken der sexuellen Versklavung,<br />

der wohl in keinem andern Film so eiskalt dargestellt<br />

wurde, beginnt in dem Moment, <strong>als</strong> er sie in einer Kutsche entführt.<br />

Hyde (schäumend): Du gehörst zu den Unsterblichen!<br />

Komm mit mir zum Olymp! Trinke Nektar mit<br />

den Göttern! Singe die alten Gesänge der Lust<br />

und beschäme Athene und Diana!<br />

160<br />

(Das arme Mädchen versteht seine klassischen<br />

Metaphern nicht und möchte an den Beschützer<br />

glauben – selbst noch <strong>als</strong> er sie mit seinen bruta-


len Annäherungen verängstigt.)<br />

Hyde: Hab' keine Angst vor mir, Ivy. Wenn ein Botani<br />

ker eine seltene Pflanze findet, schreit er seinen<br />

Triumph eben heraus, oder nicht?<br />

Ivy (nickt leicht, <strong>ob</strong>schon ihr Gesichtsausdruck ver<br />

rät, dass sie nichts von allem versteht): Sind Sie<br />

einer von denen?<br />

Hyde (beugt sich für einen Kuss nach vorn):<br />

Du magst doch einen Mann, der ein Mädchen<br />

sieht und seinen Entschluss gefasst hat, oder?<br />

(Der Hufschlag des Pferds wird eindringlicher<br />

und erinnert an die Nachtmär.)<br />

Ivy (zitternd, mit brechender Stimme und vor Angst<br />

schluchzend): Oh – ich weiss nicht wovon Sie<br />

reden!<br />

Hyde (verächtlich): Oh – sie weiss nicht, wovon ich<br />

rede!<br />

Hier beginnt der schreckliche, emotionale Kern dieses<br />

ausserordentlichen Films, wie die Szene zu der durch ihren<br />

mörderischen Mentor in klaustroph<strong>ob</strong>ischer Isolation gehaltenen<br />

Ivy schwenkt, die von einem Mann, den sie stets mit<br />

"Herr" anzusprechen hat, in die Unterwürfigkeit geprügelt wird<br />

und der sie brutal dazu zwingt, ihm jederzeit Passagen aus<br />

Paradise Lost vorzulesen. Das Versprechen auf einen erlösenden<br />

Abendausgang wird ihr nur gemacht, um es postwendend<br />

brutal zurückzunehmen. So ist <strong>Bergman</strong>s Ivy ein Portrait in<br />

elendem Terror, ein herzerweichendes Schicksal wird schmerzhaft<br />

erfassbar, weil ihr eigener Verführungsversuch an ihm<br />

leider so entsetzlich erfolgreich verlief. Ihr Leben wird zur stinkenden,<br />

finsteren Gefangenschaft, einem grotesken Leidenszyklus,<br />

selbst <strong>als</strong> sie sich verzweifelt nach menschlichem Kontakt<br />

sehnt.<br />

<strong>Ingrid</strong>s Reaktionen mit trockenem Mund und starr geweiteten<br />

Augen, typisch für eine Beute, die von ihrem Liebha-<br />

161


er-Peiniger konstant überrumpelt wird, entstanden spontan,<br />

und es gibt wohl keine erschütterndere Szene von Angst in<br />

irgend einem <strong>Bergman</strong>-Film, <strong>als</strong> die, in welcher Ivy von ihrem<br />

dämonischen Peiniger gezwungen wird, in Wiederholungen<br />

"You Should See Me Dancing The Polka" zu singen. Nichts<br />

mehr an ihr erinnert an die unbeschwerte Barmaid und ihren<br />

fröhlichen Gesang; sie versucht nun, widerwillig und mit vor<br />

Angst zitternder Stimme zu singen – und die Freude am Tanz<br />

ist ihr für immer abhanden gekommen. Von einem lasterhaften,<br />

allzu menschlichen Monstrum an die Wand genagelt,<br />

scheint sie dem Zusammenbruch nahe, <strong>als</strong> er unvermittelt zurückspringt<br />

und ihr Gesicht und ihren Körper lüstern mit verdorbenen<br />

Früchten zu bewerfen beginnt.<br />

Von da an führt die Handlung nun schnell und direkt<br />

zum Tod der jungen Frau. Dank <strong>Ingrid</strong>s Beschreibung von Ivys<br />

Innenleben und ihrem Überlebenswillen, übt die Wiedererkennungs-Szene<br />

mit Dr. Jekyll (bei dem sie eine kurze Konsultation<br />

erwirken kann) eine nahezu unerträgliche Wirkung der Verzweiflung<br />

auf den Betrachter aus. Ihre letzte Szene, in der sie<br />

die Identität von Dr. Jekyll mit Mr. Hyde unausweichlich erkennt,<br />

ist auch heute noch, mehr <strong>als</strong> ein halbes Jahrhundert<br />

danach, kaum ohne Entsetzen mitanzusehen. Im Bewusstsein,<br />

dass ihre eigene Reue, die Hoffnung auf Freiheit und einen<br />

Neubeginn sie nun umgebracht haben, wird <strong>Ingrid</strong>s Ivy zu einem<br />

fast übermenschlichen Gemisch von Sehnsucht und Verzweiflung.<br />

Fleming seinerseits war sprachlos vor Bewunderung,<br />

l<strong>ob</strong>te aber vor allem Tracy; zu niemandes Verwunderung stellte<br />

Selznick fest, er habe ja immer gesagt, dass der Film ein<br />

Triumph werde. Nur <strong>Ingrid</strong> beendete den Film mit einem charakteristisch<br />

bescheidenen Kommentar: "Ich bin etwas überrascht,<br />

wie gut er herausgekommen ist." Aber Tracy brachte es<br />

nahezu auf den Punkt: Das Publikum erstarrte in Schweigen<br />

angesichts der qualvollen Agonie, die sein unprätentiöser, erstaunlicher<br />

Co-Star meisterhaft auf die Leinwand brachte.<br />

162


"Ich hätte alles bezahlt für diesen Film" schrieb sie ausgangs<br />

dieses Winters in ihr Tagebuch:<br />

"Kann ich bei meiner Arbeit je glücklicher sein? Kann<br />

ich je eine bessere Rolle <strong>als</strong> die des kleinen Mädchens<br />

Ivy Petersen finden, einen besseren Regisseur <strong>als</strong> Victor<br />

Fleming, einen wundervolleren Partner <strong>als</strong> Spencer Tracy<br />

und einen besseren Kameramann <strong>als</strong> Joe<br />

Ruttenberg. Ich war noch nie glücklicher. In noch keiner<br />

Rolle habe ich mich so vollkommen ausgegeben. Erstm<strong>als</strong><br />

bin ich aus dem Käfig ausgebrochen, der mich<br />

umschliesst – habe ich eine Öffnung zur Welt hin gefunden.<br />

Ich bin Dinge angegangen, von welchen ich nur<br />

hoffe, dass sie real existieren, die ich aber noch nie anzugehen<br />

gewagt hätte. Dieser Film macht mich so<br />

glücklich. Als <strong>ob</strong> ich fliegen könnte. Ich kann fliegen,<br />

höher und höher, weil die Stäbe meines Käfigs zerbrochen<br />

sind."<br />

Und der wahre Grund für ihr Glück, ihre Höhenflüge, die<br />

Er<strong>ob</strong>erung neuer Höhen über ihrem bisherigen Käfig? Sehr<br />

einfach: sie war verliebt.<br />

Aber nicht so, wie die meisten Leute dachten. Vielleicht<br />

unausweichlich, begannen die Gerüchte während der Produktion,<br />

und <strong>als</strong> der Film im August in die Kinos kam, sah es in Hollywood<br />

für viele so aus, <strong>als</strong> sei Spencer Tracys Filmliebe zu<br />

<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> im Leben zur Realität geworden. Pech für die<br />

Gerüchteköche: keine mit dem Film im Entferntesten verbundene<br />

Person hätte, dam<strong>als</strong> oder wann immer, das haltlose Geschwätz<br />

bestätigen können. Im Gegenteil: Billy Grady, ein mit<br />

der Überwachung von "Dr. Jekyll und Mr. Hide" beauftragter<br />

Metro-Direktor, wusste, dass Tracy <strong>Bergman</strong> anbetete, "aber<br />

Spence war zu diskret und er wusste, dass dieses Mädchen<br />

nicht für ihn war. So entschied er sich für eine nette berufliche<br />

Beziehung." Jahre später spezifizierte Tracy: "Das Einzige, was<br />

<strong>Ingrid</strong> und ich noch taten, war in einem Drive In in Beverly<br />

Hills Hamburger essen." Soviel zur Illusion.<br />

163


In Tat und Wahrheit lag die Quelle von <strong>Ingrid</strong>s rauschendem<br />

Glück in einer (vorderhand) unerwiderten und unerfüllten<br />

Vernarrtheit: "Als der Film gemacht war, war ich über<br />

beide Ohren in Victor Fleming verliebt. Aber er war es nicht in<br />

mich. Ich war einfach Teil eines weiteren Films, den er produziert<br />

hatte." Dieses Jahr war <strong>Ingrid</strong> 25-jährig, ihr Traumliebhaber<br />

58 – wie in Edvin Adolphson und Petter Lindström sah sie<br />

in ihm ihren Vater, Mentor, Beschützer und Liebhaber. Während<br />

der Dreharbeiten zu "Dr. Jekyll und Mr. Hyde" begann er<br />

sie "Engel" zu nennen, was sie <strong>als</strong> Liebeserklärung verstand.<br />

Victor Fleming war ein draufgängerischer Rennwagen-<br />

Fan mit geringer Bildung, aber einer grenzenlosen Arroganz,<br />

einem kantig-hübschen Gesicht und dem Ruf eines Hollywood-<br />

Casanova. Wenn ihn nachts das Wimmern der Katze oder das<br />

Bellen des Hundes eines Nachbarn störte, dann griff er zur<br />

Flinte und machte dem Lärm mit einem sauberen Schuss ein<br />

Ende. Junggesellenhafter Unabhängigkeit verpflichtet und<br />

emotional unerreichbar – es sei denn von Saufkumpanen wie<br />

Clark Gable, Spencer Tracy und John Lee Mahin - brachte Fleming<br />

das Wort "Liebe" bestenfalls noch mit seiner Hochzeitszeremonie<br />

in Verbindung, nach welcher er sich – <strong>als</strong> weiterer<br />

Beweis für sein Credo an das persönliche, unbeschwerte Wohlergehen<br />

– standhaft weigerte, seine Frau in sein Heim zu lassen,<br />

bis sie nach einem Jahr schwanger wurde.<br />

Danach war die glücklose Mrs. Fleming erschreckend oft<br />

die Zielscheibe von dem, was man nur <strong>als</strong> "seine sadistischen<br />

Manipulationen" bezeichnen kann: nach Aussagen ihrer Tochter<br />

Victoria behandelte er sie wie die Katze die Maus, und regelmässig<br />

zwang er sie, ihn zu einer Filmpremiere zu begleiten,<br />

w<strong>ob</strong>ei sie zehn Schritte hinter ihm und seinem jeweiligen<br />

weiblichen Star zu gehen hatte. Wenn ihn seine Frau langweilte,<br />

wusste er seinem Missvergnügen auf kuriose Weise Ausdruck<br />

zu geben. Eine seiner Lieblingsgesten war, ein imaginäres<br />

Insekt auf dem Tisch zu fangen, es zu würzen, in den Mund<br />

zu stecken und geräuschvoll zu zerkauen. Wenn die arme Frau<br />

dann den Tisch weinend verliess, betrachtete Fleming seine<br />

Vorstellung <strong>als</strong> erfolgreich beendet. Kurz: er war nicht nur eitel<br />

164


Charme – <strong>ob</strong>schon wenigstens einige Frauen ihn für unwiderstehlich<br />

hielten. Sein Leben geriet oft durcheinander dank einer<br />

bemerkenswerten Zahl gleichzeitiger Beziehungen zu<br />

schönen Frauen.<br />

Im Vergleich zu Edvin Adolphson und Petter Lindström<br />

hätte Victor Fleming für <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> anomaler Quasi-Liebhaber<br />

gelten können, umsomehr <strong>als</strong> sie dam<strong>als</strong> über sein Familienleben<br />

kaum etwas wusste. Ausserdem war er ihr gegenüber immer<br />

ein Gentleman. Nachdem sie die Testaufnahmen für Ivy<br />

bestanden hatte, gewann Fleming durch seine Anerkennung<br />

ihres Talents ihre Hingabe, und seine väterliche Obhut, mit der<br />

er sie durch alle Widrigkeiten der Drearbeiten führte, stand im<br />

Kontrast zu dem, was <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> Petters Gleichgültigkeit gegenüber<br />

ihrer Rolle in einem (seines Erachtens) billigen<br />

Schmierenfilm empfand. Mehr <strong>als</strong> einmal erwischte <strong>Ingrid</strong> Victor<br />

dabei, wie er den Männern der Crew schlüpfrige Geschichten<br />

erzählte, aber er konnte sie höflich durch eine Szene führen:<br />

hier begegnete ihr eine neue Art amerikanischer Mann,<br />

der sie faszinierte.<br />

Tatsächlich, wie sie seine harte Sprache und seinen<br />

noch härteren Lebensstil besser kennnenlernte, mochte ihr<br />

Fleming aufregend erscheinen, gerade weil sein Benehmen zu<br />

dem ihres Ehemanns stark kontrastierte. Fleming hatte <strong>als</strong><br />

Vorgesetzter eine hohe Meinung von ihr; aber er war auch unerreichbar<br />

und <strong>als</strong> spezieller Reiz und Paradoxon der romantischen<br />

Besessenheit übt Distanz auf manche Leute gerade die<br />

besondere Attraktion aus. Auf <strong>Ingrid</strong> wirkte Flemings intensivperverse<br />

Regie dieses Films bestimmt so anziehend wie seine<br />

etwas löwenhafte Kontrolle, womit er ihre lebenslange Bewunderung<br />

erwarb. "Er holte Dinge aus mir heraus, die ich noch<br />

nie zuvor getan hatte", sinnierte sie dreissig Jahre später.<br />

"Gewisse Leute sagten von "Dr. Jekyll und Mr Hyde", dass sie<br />

mich überhaupt nicht erkannt hätten. Was mehr kann ein<br />

Schauspieler noch wollen?" So entschied sich <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong><br />

für die Freundschaft mit Victor Fleming, bis sich die Verhältnisse<br />

ein paar Jahre später dramatisch änderten.<br />

165


Die Verliebtheit verlieh ihr diese Saison Flügel, stellten<br />

ihre Freunde fest. Selbst wenn sie im Set nicht benötigt wurde<br />

und zuvor bis spät nachts gearbeitet hatte, stand <strong>Ingrid</strong> morgens<br />

um sieben im S<strong>tu</strong>dio, um Flemings wohlüberlegte und<br />

doch frische Regie anderer Schauspieler zu verfolgen. Ausserdem<br />

bereitete sie ihre eigenen Szenen intensiv vor und las<br />

über Sitten und Verhalten viktorianischer Frauen quer duch<br />

das gesellschaftliche Spektrum. "Sie sah immer aus, <strong>als</strong> würde<br />

sie vor Gesundheit und Kraft noch platzen", erinnerte sich Ruth<br />

R<strong>ob</strong>erts, die während ihrer Dreharbeit ständig <strong>als</strong> Sprachtrainerin<br />

an Akzent und Diktion mit <strong>Ingrid</strong> arbeitete. "Einmal<br />

musste ich mit ihr eine Nacht (mit Alkohol und Nikotin) durchbringen,<br />

weil sie am folgenden Morgen für eine Szene in "Dr.<br />

Jekyll und Mr. Hyde" richtig ramponiert aussehen wollte. Am<br />

Morgen stand sie so blühend da, wie immer, nur ich war am<br />

Boden zerstört."<br />

UND WIE ES SICH SO GAB, erfasste die Kunde von <strong>Ingrid</strong>s<br />

grossartiger Leis<strong>tu</strong>ng ganz Hollywood noch während Fleming<br />

und sein Autor "Jekyll und Hyde" den letzten Schliff verpassten.<br />

Eine Gruppe von Regisseuren, die ihre Fortschritte<br />

während dreier Filme verfolgt hatten, wollten nun auch den<br />

neuesten sehen – und keiner war diesbezüglich gieriger <strong>als</strong> der<br />

Engländer Alfred Hitchcock, ein weiterer Einwanderer in David<br />

Selznicks Diensten. Dieses Frühjahr 1941 erhielt "Rebecca",<br />

Hitchcocks erster amerikanischer Film, den Oscar <strong>als</strong> bester<br />

Film des Jahres 1940. Die Sta<strong>tu</strong>ette ging natürlich an Produzent<br />

Selznick, der Hitchcock nun an United Artists, RKO, Universal<br />

und Fox auslieh, und zwar zu Bedingungen, die noch<br />

gigantischer waren, <strong>als</strong> die Gebühren, die er für <strong>Ingrid</strong> kassierte.<br />

Hitchcock benötigte (wie auch <strong>Ingrid</strong>) für jedes Projekt<br />

Selznicks Zustimmung, mit dem er sich regelmässig traf, um<br />

neue Filmideen durchzubesprechen.<br />

"Hitch erzählte mir", schrieb Selznick am 2. April Val<br />

Lewton, seinem Westküsten-Autor,<br />

166


"eine sehr interessante, wenn auch reichlich erotische<br />

Geschichte, die sich wunderbar für <strong>Bergman</strong> eignen<br />

würde und bei welcher er – wie ich annehme - wohl<br />

auch Regie führen möchte. Joan Harrison (ein Mitglied<br />

von Hitchcocks persönlichem Assistenten- und Autorenteam)<br />

habe die komplette Geschichte, die auf einer<br />

wahren Begebenheit beruht, bei welcher ein Paar von<br />

chinesischen Räubern gekidnappt wurde – ich denke,<br />

in unserem Film wären es dann Japaner ! – die junge<br />

Frau eines Militärattachés oder so ähnlich und eines<br />

engen Freundes, die von den Chinesen während sechs<br />

Monaten aneinandergekettet gefangen gehalten wurden.<br />

Ich verstehe Hitchcocks Begeisterung dafür, bin meinerseits<br />

noch nicht so sicher, könnte aber etwas sehr<br />

Interessantes daraus werden. Was wir nun bräuchten,<br />

wäre die Kombination aus einer Starrolle für <strong>Ingrid</strong><br />

und einem Film für Hitch. Würdest du dir bitte Miss<br />

Harrison vornehmen und für mich die Hand auf diese<br />

Story legen."<br />

Während mehrerer Monate und selbst während der Arbeit<br />

an andern Filmen versuchten Hitchcock und zwei Assistenten<br />

ein brauchbares Szenario auf dem Kern dieser Geschichte<br />

aufzubauen, aber am Ende gaben sie das Projekt klugerweise<br />

<strong>als</strong> zu wenig effektiv auf. Hitchcocks Wunsch, mit <strong>Ingrid</strong> zu<br />

arbeiten, wurde dadurch nur noch gesteigert, und während der<br />

folgenden zwei Jahre durchkämmte sein Team Bibliotheken<br />

und Magazine um etwas zu finden, was bei Selznick eine Chance<br />

hätte. Um sicherzugehen, <strong>ob</strong> <strong>Ingrid</strong> auch mit ihm zu arbeiten<br />

gewillt war, lud Hitchcock die Lindströms verschiedentlich<br />

zu kleinen Dinnerparties in sein gemütliches, unprätentiöses<br />

Heim im vornehmen Bel-Air Estates Quartier von Los Angeles<br />

ein. Dort regierte Hitchcock – beleibt, korrekt und endlos witzig,<br />

abwechselnd mit etwas gewagten Witzen, grauenvollen<br />

Mordgeschichten und detaillierten Anlei<strong>tu</strong>ngen, wie das feinste<br />

Soufflé zustandekomme.<br />

167


Der einundvierzigjährige Hitchcock war der geni<strong>als</strong>te<br />

und übersprudelndste Gastgeber, manchmal etwas lausbübisch<br />

mit seinen gr<strong>ob</strong>en Scherzen, mit welchen er die Damen schockieren<br />

konnte, aber immer ein faszinierender Unterhalter mit<br />

kristallklarem Geist. <strong>Ingrid</strong> las ihm die Worte von den Lippen<br />

ab – keine Frage, <strong>ob</strong> sie mit ihm arbeiten wollte – und sogar<br />

Petter musste zugeben, dass ja, Hitchcock ein grossartiges<br />

Gedächtnis und ein dauernd kreatives Vorstellungsvermögen<br />

besass und dass <strong>Ingrid</strong> sicher von ihm profitieren könnte.<br />

Nach dem Essen rollten Hitch und seine Frau Alma den<br />

Wohnzimmerteppich zurück und schalteten den Phonographen<br />

ein, womit das Haus an der Bellagio Road zum improvisierten<br />

Dancing wurde. Niemand war dabei aktiver <strong>als</strong> Petter, der <strong>Ingrid</strong><br />

rundum durch den Jitterbug, Samba, durch Polkas und<br />

den Rhumba wirbelte. Er schätzte dieses Vergnügen ebenso<br />

wie die damit verbundene körperliche Aktivität, weshalb er<br />

unweigerlich jeweils mit mindestens zwei bis drei Hemden zum<br />

wechseln daherkam, um sich während des Abends voll ausgeben<br />

zu können. Andere Gäste, unter ihnen Joan Fontaine, Cary<br />

Grant, George Sanders, Theresa Wright und deren Partner<br />

fanden es schwierig, mit Petter mitzuhalten; auch <strong>Ingrid</strong> wurde<br />

offen bewundert, weil sie nur eine Handvoll kalten Wassers<br />

benötigte und keinen einzigen kosmetischen Tupfer, um auch<br />

nach einer extrem anstrengenden Runde auf dem Tanzboden<br />

wieder strahlend dazustehen.<br />

Aber im Frühjahr 1941 hatte Petter wenig Zeit fürs Tanzen<br />

übrig. Im Bestreben, seinen amerikanischen Doktortitel zu<br />

erhalten und und dann praktizieren zu können, akzeptierte er<br />

gerne die Unterstützung und Verbindungen, die ihm Kay Brown<br />

und David Selznick anbieten konnten. "Hier ein Bericht über<br />

die Expedition, die du für mich gestartet hast", schrieb er am<br />

18. April von New York aus an Selznick. "Kay verschaffte mir<br />

einen Termin in Yale. Sie unternahm heroische Anstrengungen,<br />

um mir hier behilflich zu sein, und dann habe ich den Dekan<br />

der Columbia Universität angerufen." Schliesslsich entschied<br />

sich Petter aber für die Universität von Rochester, wo ihm seine<br />

schwedischen Diplome höher angerechnet wurden, <strong>als</strong> an-<br />

168


derswo, und weil ihm der M.D. schon nach nur sechzehn S<strong>tu</strong>dienmonaten<br />

anstelle der in amerikanischen Universitäten üblichen<br />

zwei Jahre verliehen wurde. Diese schnelle Regelung<br />

wurde durch den Dekan der Universität Rochester, Dr. Alan<br />

Valentine, einen engen Freund von Selznick und John Hay<br />

Whitney, ermöglicht, die ihn für Lindström kontaktierten. "Vielen<br />

Dank für eure gute Hilfe", schrieb Petter an Selznick, nachdem<br />

er in Rochester aufgenommen war.<br />

Dies bedeutete, dass das nördliche New York State für<br />

die nächsten paar Jahre zu Petters Lebensraum wurde; so entschied<br />

er, dass Pia, bald dreijährig, bei ihm und einer Nanny in<br />

Rochester besser aufgeh<strong>ob</strong>en wäre, <strong>als</strong> bei <strong>Ingrid</strong> in Beverly<br />

Hills. "Meine Mutter kämpfte dam<strong>als</strong> mit dem Dilemma, beim<br />

Kind zu bleiben oder die Karriere weiterzuverfolgen", erklärte<br />

Pia Jahre danach. "Die Karriere fand in Hollywood statt, weshalb<br />

es <strong>als</strong> das Beste für mich angesehen wurde, bei Vater in<br />

Rochester zu bleiben, wo er s<strong>tu</strong>dierte. Meine Mutter kam gelegentlich<br />

zu Besuch, doch sie lebte hauptsächlich in Kalifornien.<br />

Unser Familienleben war ihr nie so wichtig, wie was auf dem<br />

Set vor sich ging. Wenn sie nicht arbeiten konnte, hatte sie<br />

das Gefühl, ihre Zeit zu verschwenden."<br />

<strong>Ingrid</strong> sollte diesen Sommer mit einem Stück auf Tournée<br />

gehen, woraus Petter schloss, dass nur Gott und Selnznick<br />

wussten, wie es danach weitergehen sollte (was in der Tat nur<br />

Gott wusste). Noch bevor das akademische Jahr im Herbst<br />

1941 begann, bezogen Petter, Pia und Mabel ein charakterloses<br />

"S<strong>tu</strong>cco"-Haus an der South Avenue 985, in Rochester,<br />

zwanzig Gehminuten von der Universität entfernt. <strong>Ingrid</strong> wollte<br />

dort zugegen sein, so wie es ihr die Verhältnisse erlaubten.<br />

Nachdem sich "Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt" offensichtlich<br />

weiter verzögerte und er ihr im Moment auch sonst nichts Passendes<br />

anzubieten hatte, entschloss sich Selznick, <strong>Ingrid</strong> in<br />

einem dramatischen Bühnenstück einzusetzen, was sich ja im<br />

vergangenen Jahr <strong>als</strong> so unerwartet erfolgreich erwiesen hatte.<br />

Sommertheater war der ideale Lückenbüsser, stellte Selznick<br />

fest: während die Premiere von "Dr. Jekyll und Mr. Hyde" vor<br />

169


der Tür stand, konnte er seinen Star quer durchs Land schicken,<br />

was ihm sowohl Geld wie Publizität einbrachte. Das<br />

Stück, das <strong>Ingrid</strong> und Kay Selznick vorschlugen, war ein 1920<br />

entstandenes Drama von Eugene O'Neill, das sich <strong>als</strong> perfekte<br />

Fortsetzung zu Ivy Petersen anzubieten schien. Die Rolle, die<br />

Garbo in ihrem ersten Tonfilm 1930 spielte, war <strong>Ingrid</strong> auf den<br />

Leib geschrieben, weshalb sich Selznick damit einverstanden<br />

erklärte, sein Empire in den sogenannten Strohhut-Zyklus des<br />

diesjährigen Sommertheaters einzubringen, und zwar durch<br />

Vorstellungen unter John Housemans Regie in Santa Barbara,<br />

San Francisco und Maplewood, New Jersey.<br />

"Anna Christie" zeichnet den Weg der Titelfigur nach,<br />

nachdem sie die Liebe in einer lieblosen Gesellschaft entdeckt<br />

hatte. Chris Christopherson, ein ehemaliger Hochseekapitän,<br />

der die See hassen lernte und sich nun auf einem Kohlekahn<br />

niedergelassen hat, erfährt, dass seine Tochter Anna, die er<br />

vor fünfzehn Jahren in Schweden verlassen hatte, ihn demnächst<br />

von Minnesota aus besuchen werde. Nicht wissend,<br />

dass sie sich nach einer Vergewaltigung der Prosti<strong>tu</strong>tion zugewandt<br />

hatte, wird Chris mit der Tatsache konfrontiert, dass sie<br />

an seiner Vernachlässigung gelitten hat. Überzeugt davon,<br />

dass sie keine Liebe erleben würde, verweigert sich Anna zunächst<br />

auch der gegenseitigen Leidenschaft mit dem Matrosen<br />

Mat Burke. Schliesslich versucht sie aber, mit ihm ein neues<br />

und illusionsloses Leben zu beginnen – wie auch Chris, der<br />

nach Jahren wieder seine erste Überseefahrt unternehmen will.<br />

Die See entscheidet letztlich über das Schicksal aller.<br />

O'Neill beschrieb Anna <strong>als</strong> eine grosse, zwanzigjährige<br />

Blondine, "eine hübsche Vikinger-Tochter, jetzt aber gesundheitlich<br />

heruntergekommen und äusserlich eindeutig dem ältesten<br />

Gewerbe zuzuordnen". Aber <strong>Ingrid</strong> schaffte diesen verwüsteten<br />

Auftritt nur halbwegs, denn kein blasses Makeup<br />

konnte ihren Glanz von Fitness und die dominante Ausstrahlung<br />

von gesundem Geist und Körper überdecken, die sie verströmte.<br />

"Es war eine Freude, mit <strong>Ingrid</strong> zu arbeiten", erinnerte<br />

sich Houseman. "Sie war eifrig, leidenschaftlich, immer gut<br />

vorbereitet und sie gab mir alles, was ich von ihr verlangte,<br />

170


nur nicht das Gefühl, dass Anna krank, kaputt und zerstört<br />

war. Man hatte den Eindruck, dass die Unterwäsche unter ihrem<br />

schmutzigen Rock gestärkt, sauber und wohlduftend sei."<br />

"Ich sehe Anna Christensen so, wie ich selbst bin, ein<br />

starkes, gesundes Schwedenmädchen", erzählte <strong>Ingrid</strong> diesen<br />

Sommer einem Reporter, so <strong>als</strong> <strong>ob</strong> sie eine Bemerkung Housemans<br />

während der Pr<strong>ob</strong>en beantworten würde. "Sie muss<br />

nicht verloren oder trostlos wirken – krank, ja, und bitter – sie<br />

ist ein Landmädchen, das sich in die Stadt verirrt hat. Ich denke,<br />

dass in der berühmten Szene, <strong>als</strong> sie auf das Kruzifix<br />

schwört, (<strong>als</strong> Prosti<strong>tu</strong>ierte) nie einen andern Mann zu lieben<br />

und rechtschaffen leben zu wollen, man ihr das glauben muss.<br />

Zu glauben, sie gehe zurück zu ihrem alten Leben, wäre sinnlos."<br />

Das war sicher eine Interpretation, die im Text zu lesen<br />

war (und die den Besuchern des Sommertheaters zweifellos<br />

gefiel), die dem Stück aber auch etwas von seinem Biss nahm.<br />

Ihr Einstand am 30 Juli am L<strong>ob</strong>ero Theater, Santa Barbara,<br />

wo "Anna Christie" bis zum 2. August lief, liess mit aller<br />

Deutlichkeit das Pr<strong>ob</strong>lem erkennen, <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> <strong>als</strong> heruntergekommene<br />

Hure glaubhaft zu machen. Wie sie sich abgekämpft<br />

in "Johnny the Priest's Bar" in einen Sessel fallen lässt,<br />

spricht sie die unsterblichen Worte: "Gib mir einen Whysky und<br />

Ginger Ale, und sei nicht mickerig, Baby!" Worauf das Publikum<br />

– darunter Lana Turner, Tony Martin, George Raft, Samuel<br />

Goldwyn, Alfred Hitchcock, Olivia de Havilland neben einer<br />

unzählbaren Menge – in Gelächter ausbrach. "Sie erwarteten,<br />

mich sagen zu hören: 'Gib mir ein Glas Milch'", sagte <strong>Ingrid</strong><br />

Jahre später lachend, "aber gut, wir haben das überlebt."<br />

Das Theaterpublikum der drei Städte erlebte diesen August<br />

und September ein tief beeindruckendes Portrait. <strong>Ingrid</strong>s<br />

natürliche Rastlosigkeit und ihr hochgezüchtetes Temperament<br />

fanden ihren Niederschlag in Annas Gr<strong>ob</strong>heit, und im Kern der<br />

Rolle projizierte sie eine gewisse Ruhe, gegen deren Ursache<br />

sie ständig ankämpfte. Auch darin waren sich Anna und <strong>Ingrid</strong>,<br />

wie sie nachdrücklich feststellte, sehr ähnlich: beide versuchten,<br />

den hohen Ansprüchen gerecht zu werden, die andere –<br />

171


im romantischen Sinne - an sie stellten. Da ist auch eine spezielle<br />

aut<strong>ob</strong>iographische Analogie zu einigen ihrer Texte aufgefallen.<br />

"Ich kann mich an meine Mutter überhaupt nicht erinnern.<br />

Wie war sie nur?" und "Kinder ...sie immer brüllen und<br />

schreien hören ...gefangen, wenn man selbst <strong>als</strong> Kind hinausgehen<br />

und alles sehen möchte."<br />

Aber ihr Schlusssatz brachte das Publikum zum Schweigen.<br />

"Hör auf zu grübeln", sagte sie zu ihrem Liebhaber Mat in<br />

einem Ton von gespielter Fröhlichkeit, in dem auch ein Hauch<br />

von Hoffnung mitschwang. "Wir wissen nun alle, was wir zu<br />

<strong>tu</strong>n haben, ich und du, oder etwa nicht?" Sie giesst beiden Bier<br />

ein. "Los komm: auf die See! Wie immer sie sei! Sei ein Kumpel,<br />

lass uns darauf trinken!" Nie zuvor und kaum seither wurden<br />

O'Neills langem, struk<strong>tu</strong>rell pr<strong>ob</strong>lematischem Stück derart<br />

umfassende Realisations-Möglichkeiten geboten. "Sie hat O'-<br />

Neills Drama eine poetische Interpretation und neues Leben<br />

gegeben", lautete etwa ein Standardkommentar, "und damit<br />

hat sie sich ihren Platz in der Theatergeschichte der Vereinigten<br />

Staaten gesichert".<br />

Zur gleichen Zeit strömten die Massen im ganzen Land<br />

in die Kinos, wo "Dr. Jekyll und Mr. Hyde" am 13. August Premiere<br />

hatte und für <strong>Ingrid</strong>s Leis<strong>tu</strong>ng unglaubliche Begeisterungstürme<br />

auslöste. In den zwanzig Monaten seit ihrer Rückkehr<br />

nach Amerika ist sie in zwei Bühnenstücken und drei Filmen<br />

aufgetreten – eine überragende Leis<strong>tu</strong>ng für jede Schauspielerin,<br />

aber nicht genug für <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>, die jeden Erfolg<br />

<strong>als</strong> Herausforderung betrachtete, ihre Möglichkeiten beim<br />

nächsten Projekt noch weiter zu steigern und zu verfeinern.<br />

Zweckorientierte Arbeit bestimmte ihr Leben und die banalen<br />

Erfordernisse des täglichen Lebens langweilten und ärgerten<br />

sie, womit sie sich nach und nach von ihrer Familie, ihren<br />

Freunden und sich selbst entfremdete. Von den Frauenfiguren,<br />

denen sie auf Bühne und Leinwand Leben gab, wurde sie inspiriert;<br />

die Texte, die sie rezitierte, beflügelten ihre Fantasie und<br />

entflammten ihre angeborene Intelligenz.<br />

172


Während das Stück am Curran Theater in San Francisco<br />

lief, erhielt <strong>Ingrid</strong> eine Einladung von Carlotta Monterey O'Neill,<br />

dem Schriftsteller zum Sonntagslunch im Tao House, seinem<br />

Sitz auf einem Felsen hoch über dem Ocean, Gesellschaft zu<br />

leisten. "Er führte mich in sein Arbeitszimmer", erinnerte sich<br />

<strong>Ingrid</strong>, "wo er neun Stücke herumliegen hatte. Er war an seiner<br />

berühmten amerikanischen Familiensaga, die über 150<br />

Jahre führte – einem Zyklus über Amerikas Entwicklung und<br />

vor allem über seine Gier, wie wir unser Leben durch die Gier<br />

ruinieren." O'Neill wollte <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> Mitglied eines Tournée-<br />

Ensembles gewinnen, in welchem jedes Mitglied in der einen<br />

Stadt diese und in der nächsten Stadt eine andere Rolle spielt.<br />

Aber <strong>als</strong> die Rede darauf kam, dass das Projekt eine zeitliche<br />

Bindung während sechs Jahren erforderte, war das Gespräch<br />

zu Ende. Ihre Verpflich<strong>tu</strong>ngen Selznick gegenüber konnte und<br />

wollte sie nicht missachten.<br />

MIT SECHSUNDZWANZIG WAR INGRID EINE FRAU, die<br />

mit Trivialitäten nicht leicht zu befriedigen war. Sie war – andersrum<br />

gesagt – das Musterbeispiel für eine Schauspielerin<br />

<strong>als</strong> kreative Persönlichkeit: Sie 'spielte' nicht einfach ihre Rollen,<br />

sondern diese zogen sie auf eine vertiefte Wahrnehmung<br />

und Konzentration auf das Leben selbst. Ihre natürliche<br />

Schüchternheit, ihre Weigerung, wichtig und grossartig aufzutreten,<br />

ihre rückhaltlose Offenheit – all diese Eigenschaften<br />

verboten es ihr, ihre Kunst in blumiger Rhetorik anzupreisen<br />

oder sich über die Feinheiten des Künstlerlebens auszubreiten.<br />

Für derartige Selbstdarstellungen hatte sie keinerlei Geduld,<br />

gleich woher sie kamen. <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> hatte einen J<strong>ob</strong> zu<br />

erledigen; das war das Ethos, das sie mit Duse und Bernhardt<br />

teilte, deren Biogaphien sie im späteren Jahr noch verschlang,<br />

während sie arbeitslos auf Selznick wartete.<br />

"Es war unerträglich langweilig ohne Arbeit", sagte <strong>Ingrid</strong><br />

von ihrer Zeit in Rochester im Herbst 1941. Man kann ihre<br />

Enttäuschung und Langeweile durchaus nachvollziehen. Hausarbeit<br />

konnte ihrem Talent und ihren Interessen nichts bieten,<br />

173


und ihre einzige Gesellschaft waren Petters Kollegen. "Wenn<br />

die im Haus waren, gab's nur das Thema 'Medizin'. Das war ja<br />

natürlich und auch recht so, aber für mich war es nicht leicht."<br />

Ruth R<strong>ob</strong>erts vertraute sie an: "In unserem über vierjährigen<br />

Eheleben waren wir gerade mal während zwölf Monaten zusammen."<br />

Was Ihre Verpflich<strong>tu</strong>ngen <strong>als</strong> Mutter anbelangt, war sie<br />

schlicht und einfach zu sehr auf ihre Karriere fokussiert, <strong>als</strong><br />

dass sie alles zugunsten eines zweifelhaften Vergnügens der<br />

täglichen Kindererziehung und -fürsorge hätte preisgeben mögen.<br />

Sie liebte ihr Kind, und wenn sie in Rochester war, gab sie<br />

Pia die ganze Zuwendung, die sie brauchte und wollte. Aber<br />

bald fühlte sie sich zuhause nicht nur gelangweilt, sondern<br />

auch überflüssig: Mabel war von Petter, der an <strong>Ingrid</strong>s Methoden<br />

und Stil alles auszusetzen hatte, inzwischen zur Perfektion<br />

erzogen worden. So konnte sich Mama nur mehr denn je zuvor<br />

nach einer Gelegenheit sehnen, an die Arbeit zurückkehren zu<br />

können. Man mag sich fragen, wo der Unterschied zu den vielen<br />

anderen hochbegabten Frauen liegt, die ihre Mutterschaft<br />

nicht <strong>als</strong> die einzig zählende Karriere ansehen mochten.<br />

Kommt hinzu, dass <strong>Ingrid</strong> selbst nie die Zuwendung einer<br />

aufmerksamen Mutter erlebt hat und daher auch die Ansprüche<br />

an diese Aufgabe nicht kennen konnte. Greta Danielsson<br />

war eine geniale Schwesterfigur, bot aber keinerlei Mutterersatz;<br />

Tante Ellen starb sechs Monate nachdem sie <strong>Ingrid</strong> bei<br />

sich aufnahm; und Kay war schliesslich eine Angestellte ihres<br />

Chefs und hatte ihre eigene Lebensaufgabe <strong>als</strong> Frau und Mutter.<br />

In jedem Element ihres Lebens und ihrer Kunst gestaltete<br />

<strong>Ingrid</strong> ihre Rolle in<strong>tu</strong>itiv, w<strong>ob</strong>ei sie sich nie in ein bestehendes<br />

Muster einpressen liess. Pia Lindström, deren Beurteilung von<br />

<strong>Ingrid</strong>s Mutterqualitäten bei diesen Betrach<strong>tu</strong>ngen von zentraler<br />

Bedeu<strong>tu</strong>ng sind, erreichte das Erwachsenenalter bestimmt<br />

mit einem Gewirr von gemischten Gefühlen über ihre Mutter.<br />

Aber sie verstand auch, wie sie sagte, dass "<strong>ob</strong>schon es wunderbar<br />

ist, einen Elternteil immer bei sich zu haben, es auch<br />

schön ist, aufzuwachsen ohne ständig von einem Elternteil<br />

bemuttert zu werden. Ich denke, wir Kinder haben alle begrif-<br />

174


fen, was sie alles zu bewältigen hatte – die Kräfte in ihrem<br />

Leben, die Anforderungen ihres Berufs, ihr Bedürfnis nach einer<br />

zufriedenen Familie, die sie im Set ihrer Filme fand."<br />

Aber von September 1941 bis zum Frühjahr 1942 wartete<br />

sie vergeblich auf einen Anruf mit einem Arbeitsangebot,<br />

von Hollywood oder irgendeiner Bühne. Von ihrer Arbeitslosigkeit<br />

verdrossen, ärgerte sich <strong>Ingrid</strong> zusätzlich über die guten<br />

Leute von Rochester, die die Privatsphäre ihrer lokalen Berühmtheit<br />

Tag und Nacht stürmten. Times Union und Democrat<br />

and Chronicle berichteten, dass sich vor ihrem Haus ständig<br />

Menschenmengen sammelten und das Telephon der<br />

Lindströms dauernd läutete. "Ich habe eine hübsche Tochter,<br />

Miss <strong>Bergman</strong>. Würden Sie sie bitte anschauen und sehen, <strong>ob</strong><br />

sie gut genug ist für einen Filmtest?..." "Miss <strong>Bergman</strong>, ich<br />

habe einen Freund...und ich wüsste gerne, <strong>ob</strong>...." "Miss<br />

<strong>Bergman</strong>, können wir rasch für ein Autogramm rüberkommen,<br />

es ist für meine Cousine..." Das Telefon war unter einer Geheimnummer<br />

registriert, doch Fremde scheuten sich nicht, ihre<br />

Wünsche an der Haustür vorzubringen, sodass die Polizei von<br />

Rochester täglich mehrm<strong>als</strong> vorbeikommen musste, um für<br />

Ordnung zu sorgen. "Es ist nett und komfortabel hier", schrieb<br />

<strong>Ingrid</strong> an Selznick, "wie im Gefängnis".<br />

Ihre Reisen nach New York (zu Kays Appartment in<br />

Manhattan an der East Eighty-sixth Street, zum Theater oder<br />

Museum) begannen sich zu häufen. Und wenn sie in Rochester<br />

war, verleitete sie die Langeweile – wie schon so oft – ihrem<br />

Appetit die Zügel schiessen zu lassen: Glacé, Knäckebröd und<br />

Ziegenkäse – "Ich glaube alles versucht zu haben, um meine<br />

Esslust einzudämmen. Nun, es half nichts." Das Schönste an<br />

Rochester, nach <strong>Ingrid</strong>s Meinung, war der Bahnhof, wo sie die<br />

Züge zur Flucht bestieg.<br />

Wie sie Freunden erzählte, plante sie ihre Tage in Rochester,<br />

<strong>als</strong> wäre sie zurück in der Schule. Sie schrieb am Morgen<br />

ihre Briefe, ging mit Pia spazieren, spielte Klavier, führte<br />

ihr Archiv mit den Presseclips und absolvierte ihre Englischlektionen.<br />

Am Piano und im Englisch war sie dam<strong>als</strong> wirklich ganz<br />

175


gut drauf; ihr musikalisches Repertoire umfasste nun auch<br />

einige Chopin-Préludes, und ihre Beherrschung der neuen<br />

Sprache war nachgerade beeindruckend, ihr Vokabular wuchs,<br />

ihre Briefe waren durchwegs korrekt und nahmen Stil an.<br />

"Nur meine Lektüre und das Stricken retteten mich",<br />

vertraute sie Ruth in einem Brief an.<br />

176<br />

"Ich stricke Pia eine Puppe, Pullover und Röcke. Sie ist<br />

ein aussergewöhnliches Kind. Ich sagte ihr, dass wir zu<br />

Weihnachten alles Spielzeug, das sie nicht mehr mochte<br />

oder mit dem sie glaubte, andern Kindern eine<br />

Freude machen zu können, weggeben würden. Aber<br />

sie selbst sollte auswählen und entscheiden, denn es<br />

waren ihre Sachen und ich hatte da nichts zu bestimmen.<br />

Und Ruth, mir kamen die Tränen. Ich sah zu, wie<br />

sie während einer S<strong>tu</strong>nde alles sehr sorgfältig musterte...sie<br />

war so süss. Sehr schöne Sachen gab sie weg<br />

und sagte: "Ich denke nicht, dass ich damit noch oft<br />

spielen werde". Aber eine alte, schmutzige und abgenutzte<br />

Puppe behielt sie mit den Worten: "Ja, sie ist<br />

schmutzig, aber sie war wirklich ein ganz liebes Mädchen".<br />

Und ihre Mutter schwieg. All das von einer Dreijährigen!"<br />

Weihnachten war nur eine kurze Verschnaufpause auf<br />

dem Lebensweg einer Schnecke. "Ein Heim, einen Mann und<br />

ein Kind zu haben, sollte eigentlich jeder Frau genügen – ich<br />

meine, dafür sind wir doch bestimmt, oder?" fragte <strong>Ingrid</strong> dam<strong>als</strong><br />

Ruth R<strong>ob</strong>erts mit klagendem Unterton, womit sie ein Dilemma<br />

ansprach, das weiter verbreitet war, <strong>als</strong> ihr bewusst<br />

war. "Aber für mich ist nach wie vor jeder Tag ein verlorener<br />

Tag. Als würde ich nur zur Hälfte leben. Die andere Hälfte in<br />

einen Sack gesteckt und erstickt. Was soll ich nur <strong>tu</strong>n? Wenn<br />

ich nur ein Licht sähe."


Blick zurück auf „Casablanca“<br />

177


178<br />

Gary Cooper und Joe Steele auf Besuch im<br />

"Jeanne d'Arc"-Set


1942<br />

"...Er war auch sehr scheu und einsilbig, aber auch sehr nett.<br />

Und wie hübsch! Ihm zuzusehen, war so wundervoll. Es war<br />

unglaublich, dass ich dort mit ihm gearbeitet habe. F<strong>als</strong>ch<br />

war, dass man mir auf der Leinwand mein Glück ansah. Ich<br />

war viel zu glücklich, um Marias tragische Figur ehrlich zu<br />

portraitieren.“<br />

(<strong>Ingrid</strong> über Gary Cooper)<br />

WÄHREND NAHEZU NEUN MONATEN, von Anfang September<br />

1941 bis Ende Mai 1942 war das Stricken <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s<br />

Hauptbeschäftigung. "Herrgott", beklagte sie sich bei<br />

Kay Brown und Ruth R<strong>ob</strong>erts, "ich bin bald in der Lage, jeden<br />

Soldaten dieser Welt mit einem Pullover auszurüsten". Während<br />

sie abwartend in Rochester sass, Damen der lokalen Gesellschaft<br />

zum Tee und die Kollegen ihres Mannes zum Dinner<br />

empfing, ihr kul<strong>tu</strong>relles Leben schrumpfte und ihre Karriere<br />

offensichtlich ins Wanken geriet, begann <strong>Ingrid</strong> die Geduld zu<br />

verlieren; noch nie hatte sie sich so nutzlos gefühlt.<br />

Keine guten Nachrichten auch von David Selznick, der<br />

kurz erwog, sie <strong>als</strong> Nonne für die geplante Filmversion von A.J.<br />

Cronins Novelle "The Keys of the Kingdom" einzukleiden. Dann<br />

änderte er seine Meinung und verkündete, dass sie in einem<br />

Stück namens "She Walks in Beauty", basierend auf der Novelle<br />

"The Wings of the Dove" von Henry James auftreten sollte –<br />

welche Idee ebenfalls in der Versenkung verschwand. John<br />

Houseman schlug Selznick vor, <strong>Ingrid</strong> mit Alfred Hitchcock zusammen<br />

auf einen Film von Stefan Zweigs Novelle "Letter from<br />

an Unknown Woman" anzusetzen, aber Selznick (dem scharfsinnigen<br />

Rat von Kay Brown Folge leistend) antwortete, dass<br />

dies kein Stoff für Hitchcock sei (Houseman produzierte den<br />

Film später selbst).<br />

179


Selznick hatte unverdrossen und hart für <strong>Ingrid</strong>s Einsatz<br />

<strong>als</strong> Maria in "Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt" gekämpft, doch das<br />

neue Jahr brachte die Erkenntnis, dass sich auch diese Hoffnung<br />

in nichts auflöste. Paramount, um Hemingways Forderung<br />

nach Gary Cooper nachzukommen, hatte für dessen Ausleihung<br />

durch Samuel Goldwyn tief in die Tasche greifen müssen,<br />

weshalb sie für die Maria auf eine ihrer Vertrags-<br />

Darstellerinnen zurückgriffen – die norwegische Tänzerin und<br />

Schauspielerin Vera Zorina, eine Veteranin aus verschiedenen<br />

unspektakulären Film-Music<strong>als</strong>, die dam<strong>als</strong> gerade ein Broadway-Engagement<br />

zu Ende brachte. Auch Olivia de Havilland,<br />

ihre Schwester Joan Fontaine, Susan Hayward und eine Reihe<br />

anderer Anwärterinnen wurden für die Rolle getestet, doch<br />

Paramount war auf Sparkurs und entschied sich für Zorina,<br />

eine grosse Schönheit, von der nun auch eine grosse Leis<strong>tu</strong>ng<br />

erwartet wurde.<br />

"Ich bin jetzt wirklich fertig", schrieb <strong>Ingrid</strong> deprimiert<br />

an Selznick, nachdem sie die Sache von Zorina erfahren hatte.<br />

"Seit deinem Telegramm von 1940 betreffend die Verschiebung<br />

von "Joan of Arc" habe ich eine Serie von Aufschüben<br />

und Verzögerungen deiner Pläne erlebt....ich kann nicht so<br />

untätig weitermachen. Speziell in diesen Kriegszeiten fühle ich<br />

mehr denn je, dass man arbeiten sollte, man muss doch etwas<br />

<strong>tu</strong>n. Ich bin sehr traurig."<br />

Irene Selznick kannte <strong>Ingrid</strong>s Pr<strong>ob</strong>lem mit der Untätigkeit:<br />

"Die wenigsten Leute reissen sich um harte Arbeit, für<br />

<strong>Ingrid</strong> ist sie aber eine Notwendigkeit." In der Tat war <strong>Ingrid</strong><br />

diesen Winter durch die Dunkelheit und ihre 'Gefangenschaft'<br />

nahe am Zustand einer klinischen Depression angelangt.<br />

Selbst an sonnigen Tagen sass sie lustlos herum und bat Mabel,<br />

an ihrer Stelle mit Pia auszugehen. Mit ihrer mürrischen<br />

Verweigerung forderte sie auch Petters Ungeduld heraus. Ende<br />

März begaben sie und Petter sich zum Hollywood-Agenten<br />

Charles K. Feldman, und nachdem Petter sich über dessen<br />

Bonität informiert hatte, unterschrieb <strong>Ingrid</strong> bei der Feldman-<br />

Blum-Agen<strong>tu</strong>r in Hollywood. Weil aber <strong>Ingrid</strong>s Karriere ausschliesslich<br />

von Selznick abhängig war, konnte Feldman sie im<br />

180


wesentlichen nur managen und beraten. Nach wie vor kontrollierte<br />

Petter jede jährliche Vertragserneuerung mit Selznick,<br />

beriet er sie bezüglich Garder<strong>ob</strong>e, Gewicht, Benehmen und<br />

Sprache und entschied über Radiorollen, die seiner Frau angeboten<br />

wurden.<br />

Schliesslich begann er <strong>als</strong> ihr de facto-Agent zu operieren,<br />

was vorhersehbare Pr<strong>ob</strong>leme mit Selznick und Feldman<br />

schuf. Am 10. April, beispielsweise, sollte sich <strong>Ingrid</strong> für eine<br />

Radiorolle nach New York begeben, aber Selznick widerrief<br />

seine Erlaubnis dazu; <strong>als</strong> Grund dafür, wie er in einer Notiz an<br />

seinen Vizepräsidenten und Generaldirektor Dan O'Shea vermerkte,<br />

nannte er den Umstand, dass Petter sich weigerte,<br />

ihm die ihm vertraglich zustehende Hälfte des Honorars von $<br />

1750 zu überlassen. Petter seinerseits stellte sich auf den<br />

Standpunkt, dass, weil er selbst den Radio-Deal abgeschlossen<br />

hatte, er auch das Honorar nicht zu teilen brauchte. Ausserdem<br />

schrieb Petter O'Shea: "Wir werden über <strong>Ingrid</strong>s<br />

Wunsch, zum Theater zurückzukehren, spätestens im September<br />

entscheiden" – womit er glaubte, dieser werde entscheiden<br />

und Selznick darüber gebührend informieren. Durch<br />

diese Entwicklung wurde die <strong>Bergman</strong>-Selznick-Lindström-<br />

Beziehung in der Tat ordentlich belastet. Natürlich wusste<br />

Selznick, dass er Petter beschwichtigen musste um <strong>Ingrid</strong>s<br />

Dankbarkeit zu erwirken – daher <strong>als</strong>o sein Versprechen, mit<br />

$ 500 die Kosten für Petters medizinische Lizenz in Kalifornien<br />

zu übernehmen.<br />

ENDLICH, AM 24. APRIL, informierte Selznick <strong>Ingrid</strong><br />

darüber, dass er einen Film für sie hätte. Er konnte mit diesem<br />

Handel nämlich viel Geld machen - $ 125'000 von Warner<br />

Bros., während er <strong>Ingrid</strong> ihr normales Salär von $ 35'000 auszahlte<br />

– und ausserdem wollte er <strong>Ingrid</strong>, vor dem Hintergrund<br />

der deutsch-schwedischen Allianz in Italien, zum Einsatz bringen,<br />

bevor sich in Hollywood eine Aversionsstimmung gegen<br />

eine schwedische Schauspierin, die noch keinerlei Einbürgerungsversuch<br />

in den USA unternommen hat, breitzumachen<br />

181


egann.<br />

So kam es, dass <strong>Ingrid</strong> an den Produzenten Hal Wallis<br />

bei Warner Bros. ausgeliehen wurde und dieses S<strong>tu</strong>dio im Gegenzug<br />

seine Vertrags-Schauspielerin Olivia de Havilland für<br />

einen Selznick-Film zur Verfügung stellte. "Der Film heisst<br />

'Casablanca' und ich weiss wirklich nicht, worum es dabei<br />

geht", schrieb <strong>Ingrid</strong> an Ruth R<strong>ob</strong>erts. Und mit diesem Pr<strong>ob</strong>lem<br />

war sie tatsächlich nicht allein; während der ganzen Produktion<br />

tappten alle Beteiligten völlig im Dunkeln über die<br />

politische und romantische Logik des Films. Am 2. Mai verliess<br />

<strong>Ingrid</strong> Petter und Pia um erstm<strong>als</strong> seit einem Jahr wieder nach<br />

Hollywood zurückzukehren. Selznicks Leute hatten an der<br />

South Spalding Drive 413 in Beverly Hills ein gemütliches kleines<br />

Appartment für sie gefunden, im selben einfachen Komplex,<br />

in dem sie schon früher um die Ecke am Shirley Place<br />

gewohnt hatte.<br />

"Casablanca", "Gone with the Wind" und "Citizen Cane"<br />

fanden wohl weit mehr Beach<strong>tu</strong>ng <strong>als</strong> viele andere amerikanische<br />

Filme. Allesamt begannen sie <strong>als</strong> unsicheres Wagnis gegen<br />

schreckliche kreative Wirrnisse und alle endeten sie ohne<br />

dass eine klare Vorstellung davon vorhanden gewesen wäre,<br />

wie das Endprodukt schliesslich auf den Markt zu bringen war.<br />

"Casablanca" war der Film, mit dem <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> wohl am<br />

häufigsten identifiziert wurde, dessen Herstellung am schwierigsten<br />

war und der zu einer der frustrierendsten Filmerfahrungen<br />

ihres Lebens wurde. Als Klassiker – seiner selbst zum<br />

Trotz, wurde er täglich von verschiedenen authoritären Kompetenzen<br />

improvisiert, und sein Erfolg ist praktisch ausschliesslich<br />

einer Reihe glücklicher Zufälligkeiten zuzuschreiben,<br />

wie das in Hollywood gelegentlich vorkommt.<br />

Die Besetzung war nicht das Pr<strong>ob</strong>lem, das Script war<br />

es. Den Produktionsakten von Warner Bros. ist zu entnehmen,<br />

dass die Brüder Julius und Philip Epstein mehr <strong>als</strong> andere an<br />

dem Stück gearbeitet hatten, aber auch Howard Koch ist <strong>als</strong><br />

Autor erwähnt neben einer ganzen Anzahl weiterer Schriftsteller<br />

(u.a. Willy Kline, Aeneas McKenzie, Casey R<strong>ob</strong>inson und<br />

182


Lenore Coffee), die wesentliche Beiträge geleistet haben.<br />

QAuch Regisseur, Produzent und Darsteller hatten die Möglichkeit,<br />

Dialogbeiträge zu leisten. Im Gegensatz zum akademischen<br />

Verständnis der Filmproduktion ist dieser Vorgang gar<br />

nicht so ungewöhnlich, wie man denken würde.<br />

Der Ursprung von "Casablanca" ist rasch veranschaulicht.<br />

Ende 1938 besuchte der New Yorker Lehrer Murray Burnett<br />

einen französischen Nachtclub namens 'La belle Aurore',<br />

dessen Musik und Atmosphäre ihn an eine Broadway Show<br />

Namens "Everybody's Welcome" erinnerten; dieses Musical<br />

enthielt einen Song von Herman Hupfeld namens 'As Time<br />

Goes By'. Im Sommer 1940 hatten Burnett und seine Autor-<br />

Partnerin Joan Alison ein Stück mit dem Titel "Everybody Comes<br />

to Rick's" geschrieben, das am Ende des folgenden Jahres<br />

noch immer unveröffentlicht war, <strong>als</strong> vom Produzenten Hal<br />

Wallis von Warner Bros. die Filmrechte für $ 20'000 gekauft<br />

wurden – die grösste Summe, die je für ein unveröffentlichtes<br />

Werk die Hand wechselte.<br />

Unter dem Eindruck von Charles Boyers und Hedy<br />

Lamarrs kürzlichem Erfolg in der exotischen Romanze "Algiers"<br />

brachte Wallis das Stück zu den Autoren Julius und<br />

Philip Epstein, gab dem Projekt den Titel "Casablanca" und<br />

liess Anfang 1942 verlauten, dass die Hauptrollen durch Ronald<br />

Reagan, Ann Sheridan und Dennis Morgan besetzt würden.<br />

Ende April erhielten Wallis und Warner eine dritte Version<br />

des Stücks vorgelegt, und Michael Curtiz, der für "Casablanca"<br />

bestimmte ungarische Regisseur, machte sich an die<br />

Arbeit. Er hatte in Schweden mit Victor Sjöström und Mauritz<br />

Stiller zusammengearbeitet und war in Hollywood so gefragt,<br />

dass er zeitweise bis zu fünf Filme gleichzeitig produzierte.<br />

Aber die Pr<strong>ob</strong>leme mit dem Script dauerten an und<br />

beschäfigten <strong>Ingrid</strong> sehr, <strong>als</strong> sie anfangs Mai die vierte Version<br />

zu lesen bekam. Selznick versprach ihr, dass sie mit der endgültigen<br />

Fassung des Stücks für immer zu einer der unvergesslichen<br />

romantischen Filmheldinnen würde und dass ihr<br />

183


nichts Besseres widerfahren konnte, <strong>als</strong> an der Seite von<br />

Humphrey Bogart (der jetzt <strong>als</strong> Hauptdarsteller genannt wurde)<br />

zu spielen – was mehr konnte sie noch wollen? – dass sie<br />

mit der Photographie von Arthur Edeson in den schicken,<br />

schmeichelhaften Kleidern von Orry-Kelly umwerfend in Szene<br />

gesetzt würde. Dennoch konnte <strong>Ingrid</strong> der verschwommenen<br />

Logik des Stücks nicht folgen: bevor sie der weiblichen Hauptrolle<br />

Leben geben konnte, musste sie diese Frau verstehen.<br />

Und diesbezüglich passierte nun etwas ganz ungewöhnliches.<br />

Am 22. und 23. Mai bat <strong>Ingrid</strong> um eine vertrauliche Besprechung<br />

mit Wallis, Curtis, Warner und Selznick, welchen sie<br />

einige Fragen zu "Casablanca" vorlegte. Wer genau war diese<br />

Ilsa Lund? Was war der emotionale Hintergrund dieser Frau,<br />

die sich so leidenschaftlich in zwei so unterschiedliche Männer<br />

verlieben konnte? Wie tief geht der Graben, den sie zwischen<br />

Liebe und Pflichterfüllung spürt? Wie ist dieser Text zu verstehen,<br />

nachdem man jene Passage ein paar Seiten weiter gelesen<br />

hat? Wie kann diese Szene mit jener in Einklang gebracht<br />

werden? Dass sie auf Antworten zu all diesen Fragen beharrte,<br />

zwang Produzent und Regisseur, ihr Script unter den Arm zu<br />

nehmen und die letzte, schwierigste Meile damit in Angriff zu<br />

nehmen. Alle waren noch am Tippen, <strong>als</strong> am 25. Mai in den<br />

Warner S<strong>tu</strong>dios die Aufnahmen begannen.<br />

IM ZENTRUM DER GESCHICHTE VON "CASABLANCA"<br />

steht die Beziehung zwischen dem enigmatischen Ausland-<br />

Amerikaner Rick Blaine (Bogart) und Ilsa Lund (<strong>Ingrid</strong>), seiner<br />

ehemaligen Geliebten, die jetzt aber mit dem Anti-Nazi-<br />

Untergrundkämpfer Victor Laszlo (Paul Henreid, der 1936 einen<br />

lukrativen Vertrag mit UFA zerriss) verheiratet war. Um<br />

sie alle herum wirbelt ein Schwarm von Spionen und Oppor<strong>tu</strong>nisten,<br />

deutschen Offizieren und Vichy-Beamten – ihnen allen<br />

voran der Polizeichef von Casablanca, Louis Renault (Claude<br />

Rains).<br />

"Niemand hatte die leiseste Ahnung, wohin der Film<br />

führen sollte", erinnerte sich <strong>Ingrid</strong>.<br />

184


"Jeden Morgen und jeden Nachmittag wurden uns<br />

neue Dialogblätter ausgehändigt, die wir hopp hopp<br />

Stückchen um Stückchen auswendig zu lernen hatten<br />

– das Rollens<strong>tu</strong>dium war im Eimer! Jedesmal wenn ich<br />

Curtiz fragte, wer ich denn sei in diesem Film, was ich<br />

fühlte, was ich tat, sagte er: "Nun, ich bin mir nicht<br />

ganz sicher, aber machen wir diese Szene jetzt und<br />

morgen werde ich es dir sagen." Wirklich, es war unmöglich!"<br />

Und so taumelte "Casablanca" in diesem heissen<br />

Sommer 1942 unberechenbar seiner Vollendung entgegen, mit<br />

einer Besetzung und Crew, die dauernd Überzeitarbeit leistete<br />

und sich verbissen bemühte, ihr Bestes zu geben. <strong>Ingrid</strong>, die<br />

sich mit ihrer Aufgabe herumzuquälen begann, fühlte sich<br />

während der ganzen Produktion richtig elend, dabei hatte<br />

niemand die entfernteste Ahnung davon, dass dieser Film einer<br />

der populärsten Dauerbrenner der amerikanischen Geschichte<br />

würde.<br />

Zum einen lag das idealistisch-romantische Finale, in<br />

dem Rick seine Liebe zu Ilsa opfert und sie überzeugt, mit<br />

ihrem Ehemann weiterzuziehen und für den Frieden zu kämpfen,<br />

bis zum Produktionsende noch nicht fest. Auf Anweisungen<br />

von Curtiz, Wallis und Jack Warner hatten die Schreiber<br />

das alternative Finale bereits vorliegen, wonach Ilsa bei Rick<br />

bliebe. Diese Version sollte zu einem späteren Zeitpunkt gefilmt<br />

werden; aber die erste Fassung gefiel allen so gut, dass<br />

die zweite in Vergessenheit geriet – speziell im Hinblick auf die<br />

letzten Worte im Film (von Hal Wallis erdacht), die Bogart an<br />

Rains binden und die zwei Wochen nachdem die Mannschaft<br />

entlassen war, aufgezeichnet wurden: "Louis, ich glaube das<br />

ist der Beginn einer schönen Freundschaft". Die berühmtesten<br />

Worte des Films, allerdings, - "Here's looking at you, kid" –<br />

hatte Bogart aufgeschnappt und spontan einfliessen lassen: er<br />

hat sie mitbekommen, <strong>als</strong> Ruth R<strong>ob</strong>erts <strong>Ingrid</strong> während einer<br />

Mittagspause simultan Poker und Slang beibrachte.<br />

185


Eine ganz andere Sache hätte die Popularität des Films<br />

dauerhaft schädigen können. Nach Ende der Aufnahmen verlangte<br />

der Komponist Max Steiner von Wallis, "As Time Goes<br />

By" fallenzulassen. Dieser Entscheid hätte aber bedeutet, dass<br />

alle Szenen in welchen die Melodie gespielt oder gesungen<br />

wird, neu gefilmt werden müssten, denn das war ja der romantische<br />

Draht zwischen Rick und Ilsa. <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> ihrerseits<br />

hatte schon am Tag nach der Fertigstellung von "Casablanca"<br />

die Arbeit an einem neuen Film aufgenommen,<br />

weshalb ihre Rückkehr zur Wiederholung so vieler Szenen eine<br />

logistische Nachtmär gewesen wäre. So blieb "As Time Goes<br />

By" eben drin. Die von Steiner vorgeschlagene Alternative<br />

wäre nach Meinung zahlloser Fans auch eine zu schreckliche<br />

Idee gewesen.<br />

EIN KOMPLEXES SPEKTRUM VON EMOTIONEN verströmend<br />

– wiedererwachte Liebe, Verletzbarkeit, Ehre in Unsicherheit<br />

– brachte <strong>Ingrid</strong> eine Art von fragiler Romantik in den<br />

Film ein, die direkt zu den Herzen des kriegsgebeutelten Publikums<br />

sprach. Dieser Film prägte ihr Filmimage für alle Zeiten,<br />

<strong>ob</strong>wohl es bei dessen Produktion nicht einen einzigen erfreulichen<br />

oder erinnerungswürdigen Tag gab. Ilsa war gebändigtes<br />

Feuer, mit Ergebenheit kollidierte Sehnsucht, vom Kopf<br />

niedergekämpftes Herz – und irgendwann 1942 und jedes Jahr<br />

danach erkannte das Publikum, dass hier eine Frau war, um<br />

die ein moralischer Aristokrat wie Henreid kämpfen konnte,<br />

aber auch eine Frau, die ein zynischer Schlägertyp wie Bogart<br />

nie aus seinem kalten, ungezähmten Herz loswerden konnte.<br />

"Casablanca" brachte <strong>Ingrid</strong> ihre erste grosse Liebesrolle<br />

(wenn nicht ihre erste grosse Rolle schlechthin). Aber<br />

weil ihr die Erinnerung daran immer Mühe bereitete – und dies<br />

mit den Jahren in zunehmendem Masse, <strong>als</strong> der Film Kultsta<strong>tu</strong>s<br />

erreichte und sie mit ihm identifiziert wurde – verliess sie<br />

sich nie darauf, dass dieser Ruf sie weit bringen würde und<br />

wollte sie nie zu dieser schrecklich netten Ikonographie der<br />

Ilsa Lund zurückkehren.<br />

186


WIE ÜBLICH TRIUMPHIERTE SIE über alle andern, und<br />

ihre Leis<strong>tu</strong>ng wird zu Recht bewundert. Während den ersten<br />

zwei Dritteln des Films gab sie Ilsa eine ausserordentliche Ruhe,<br />

wodurch deren romantische Zurückhal<strong>tu</strong>ng ihre Prägnanz<br />

und Reife erhält. "Casablanca" enthält ausserordentlich zahlreiche<br />

und lange Nahaufnahmen auf <strong>Ingrid</strong>, die aber dem<br />

Fortgang der Handlung oder der emotionalen Energie des<br />

Films keinen Abbruch <strong>tu</strong>n. Ihr Freund, die Kamera (wie sie zu<br />

sagen pflegte), erfasste jede Nuance, und im Gegensatz zu<br />

vielen andern Darstellern schuf diese Schauspielerin den Eindruck<br />

von Gefühlsverwirrungen im emotionalen Netzwerk, wie<br />

sie das Innenleben eines jeden erwachsenen Menschen beeinflussen.<br />

Im letzten Drittel des Films dann gab sie Ilsa jene höhere,<br />

verdünnte Leidenschaft, die sich den Weg durch die<br />

Konfusion bahnte. In der Szene, in welcher sie versucht, Bogart<br />

Transitbriefe zu entlocken, um mit Henreid Casablanca<br />

verlassen zu können, fixierte Curtiz die Kamera praktisch ausschliesslich<br />

auf <strong>Ingrid</strong>, die die richtigen Pausen und das wechselweise<br />

Zittern vor Aufregung beherrschte, womit sie die Gefühlsskala<br />

ihrer Figur im emotionalen Spannungsfeld zwischen<br />

Drohungen und einer Liebeserklärung fühlbar werden liess.<br />

Ilsa (<strong>Bergman</strong>): Das ist reines Selbstmitleid, oder etwa<br />

nicht? Da steht so viel auf dem Spiel und<br />

du denkst an nichts anderes <strong>als</strong> an deine<br />

Gefühle. Eine Frau verletzt dich. Und du<br />

nimmst Rache an der ganzen Welt. Du bist<br />

ein – ein Feigling, ein Weichling!<br />

(Sie meint das im Grunde nicht ernst, ihre Augen füllen sich<br />

mit Tränen).<br />

Nein, nein Richard – es <strong>tu</strong>t mir Leid, es <strong>tu</strong>t<br />

mir Leid – aber du bist unsere letzte Hoffnung<br />

(ihre Stimme verkommt zum Geflüster).<br />

Wenn du uns nicht hilfst, wird Victor<br />

Laszlo in Casablanca sterben.<br />

187


Rick (Bogart): Ja und? Ich werde auch in Casablanca<br />

sterben. Es ist ein guter Ort dafür. Nun,<br />

wenn du...<br />

Ilsa: (unterbricht abrupt, zieht einen Revolver)<br />

Also gut – ich versuchte, mit dir zu verhandeln.<br />

Ich versuchte alles. Jetzt will ich<br />

diese Briefe. Geh' sie holen.<br />

Rick: Nicht nötig, ich habe sie hier.<br />

Ilsa: (mit tränenden Augen)<br />

Leg sie auf den Tisch.<br />

Rick: Wenn dir Laszlo und diese Sache so viel<br />

Wert sind, wirst du vor nichts Halt machen.<br />

(Er bewegt sich auf sie zu) Gut. Machen<br />

wir es einfacher für dich. Los schiess.<br />

Du <strong>tu</strong>st mir damit einen Gefallen.<br />

Ilsa: (Zitternd) Richard, ich versuchte wegzu-<br />

bleiben. Ich dachte, dich nie wieder zu sehen.<br />

Dass du weg wärst aus meinem Leben.<br />

(Sie umarmen sich) Am Tag, <strong>als</strong> du<br />

Paris verliessest – wenn du wüsstest, was<br />

ich durchgemacht habe – wenn du wüsstest,<br />

wie sehr ich dich geliebt habe – wie<br />

sehr ich dich immer noch liebe. (Sie küssen<br />

sich.)<br />

Auf dem Papier ist die Szene, wie der grosse Filmautor<br />

Ben Hecht in einem andern Zusammenhang sagte, viel romantisches<br />

Blabla; aber durch <strong>Ingrid</strong>s durchwegs glaubhafte Darstellung<br />

ist sie reine, zitternde Poesie vis-à-vis von Bogarts<br />

stoischer Prosa – es funktioniert perfekt.<br />

Aller Filmromantik zum Trotz gab es keine freundschaftlichen<br />

Verbindungen, welche die Darsteller während der<br />

Produktion gefördert und miteinender verbunden hätten. "In<br />

'Casablanca' küsste ich Bogart", sagte <strong>Ingrid</strong>, "aber ich kannte<br />

ihn nie wirklich. Er kam aus seiner Garder<strong>ob</strong>e, erledigte<br />

188


seine Szene, und verschwand wieder. Es war alles sehr seltsam<br />

und distanziert." Erst sehr viel später erfuhr sie, dass<br />

Bogarts Frau, die exzentrische Schauspielerin Mayo Methot,<br />

auf ihren Ehemann krankhaft eifersüchtig war und ihm regelmässig<br />

mit hässlichster Gewalt drohte, sollte er sich mit einer<br />

Schauspielerin auch nur anfreunden. Bogart, die Ikone des<br />

unabhängigen, selbstbewussten Machos, gehorchte. Vielleicht<br />

hatte er auch einen persönlichen Grund dafür, denn auch er<br />

vertraute Kollegen an (wie vor ihm Spencer Tracy), dass er<br />

das Gefühl habe, <strong>Ingrid</strong> stehle allen andern Darstellern den<br />

Focus des ganzen Films.<br />

Während eines kurzen Urlaubs vom 14. Juni bis zum 4.<br />

Juli besuchte Petter Hollywood (Pia blieb bei Mabel in Rochester)<br />

und begab sich direkt zu den Warner S<strong>tu</strong>dios; bei sich<br />

hatte er – zum Erstaunen aller – zehn Rollen 16-mm-Filme,<br />

die er vom Lindström-Familienleben in Rochester aufgenommen<br />

hatte, vor allem von Pias Kapriolen, die ein anspruchsvoller<br />

kleiner Zwirbel von vier Jahren war. <strong>Ingrid</strong> war entzückt<br />

und lud nach Feierabend einige Leute vom Set ein, sich diese<br />

improvisierten Aufnahmen mitanzusehen.<br />

ALLEN PROFESSIONELLEN SCHWIERIGKEITEN um "Casablanca"<br />

zum Trotz war der Film ein unmittelbarer Erfolg,<br />

der mit einem historischen Zufall begann. Am 8. November<br />

landeten die alliierten Streitkräfte in Casablanca, weshalb Jack<br />

Warner von seinen Publizisten aufgefordert, den Fim in New<br />

York vorzeitig in die Kinos zu bringen. Nach einer ausverkauften<br />

Premiere wurde die letzte Stehplatzkarte für alle bis zum<br />

Jahresende noch folgenden Vorstellungen verkauft. Als Präsident<br />

Roosevelt im Januar 1943 von der Casablanca-Konferenz<br />

zurückkehrte, war der Erfolg des Films zementiert: er erschien<br />

gleichzeitig mit den Schlagzeilen der Weltpresse und Mitte<br />

Februar lief er über die Leinwand von über 200 amerikanischen<br />

Kinos. Tatsächlich war der Präsident selbst unter den<br />

Fans; er orderte eine Kopie des Films, den er seinen Gästen<br />

an der Neujahrs-Party im landeseigenen 'casa blanca' an der<br />

189


Pensylvania Avenue 1600 vorführen wollte.<br />

Vor jedem Kino im Land bildeten sich lange Menschenschlangen,<br />

und es war wohl unausweichlich, dass diese unwiderstehliche<br />

Geschichte um Liebe und Verzicht - <strong>ob</strong>schon sie<br />

von f<strong>als</strong>chen Tatsachen, logischen Fehlern und solchen bei der<br />

Zeichnung der Charaktere durchsetzt war – für acht Academy<br />

Awards nominiert wurde (keiner davon für <strong>Ingrid</strong>). Er gewann<br />

dann deren drei (bester Film, beste Regie und bestes Script<br />

des Jahres 1942), und wurde noch mehr <strong>als</strong> ein halbes Jahrhundert<br />

danach zu den populärsten Filmen aller Zeiten gezählt<br />

– nicht wegen seiner historischen Ak<strong>tu</strong>alität, sondern weil er<br />

auch heute noch erstklassige Unterhal<strong>tu</strong>ng bietet. Aber <strong>Ingrid</strong><br />

<strong>Bergman</strong> selbst konnte nie verstehen, warum. Wenn sie für<br />

ihre Leis<strong>tu</strong>ng Komplimente erhielt, schmunzelte sie geduldig<br />

und meinte lachend: "Na ja, es war eine sehr seltsame Erfahrung.<br />

Ich möchte sagen, wir wussten nie, wie's weitergehen<br />

würde..."<br />

EINES TAGES ENDE JULI bemerkte Paul Henreid <strong>Ingrid</strong><br />

in einer Drehpause in stiller Niedergeschlagenheit. Nun, erklärte<br />

sie, sie sehe überhaupt keine Perspektive für sich. Selznick<br />

gab ihr zu wenig zu <strong>tu</strong>n, ein Leben ohne Arbeit war ihr<br />

unerträglich, und einer massiven Kampagne zum Trotz hatte<br />

sie die Rolle der Maria an Vera Zorina verloren. Und wie sie<br />

davon sprachen, hatten die Dreharbeiten zu "Wem die S<strong>tu</strong>nde<br />

schlägt" in Nordkalifornien begonnen. Sie war ehrlich (und zu<br />

Recht) der Meinung, die Rolle wäre mit ihr besser besetzt gewesen.<br />

"Sie dachte dabei sicher nicht an ihre eigene Schönheit",<br />

sagte Henreid nach Jahren, "sie war nur vom Wunsch<br />

beseelt, in ihrem Beruf die bestmögliche Arbeit einzubringen."<br />

Während <strong>Ingrid</strong> Paul Henreid ihr unglückliches Herz<br />

ausschüttete, konnte sie nicht wissen, dass die Glocken hunderte<br />

von Meilen weg vor Ort die Katastrophe über einer Produktion<br />

einläuteten, die wie "Casablanca" von Pr<strong>ob</strong>lemen er-<br />

190


schüttert wurde, am Ende aber weit weniger populär und erfolgreich<br />

war.<br />

Vorab gab es Pr<strong>ob</strong>leme mit Regisseur Sam Wood,<br />

selbst unter besten Bedingungen kein sehr einfühlsamer Regisseur,<br />

ein Techniker, dem die Aufstellung der Pferde wichtiger<br />

war, <strong>als</strong> die Arbeit mit den Schauspielern. Aber Wood hatte<br />

eben mit Gary Cooper in "Pride of the Yankees" gearbeitet<br />

und war Coopers Kumpan, womit ein Ersatz hier ausser Frage<br />

stand. Ausserdem schätzten weder Cooper noch Wood Vera<br />

Zorina besonders, die zwar eine exquisite Schönheit, aber für<br />

die Rolle der Maria und die harte Arbeit in den kalifornischen<br />

Bergen zu zerbrechlich war. Gemeinsam informierten Cooper<br />

und Wood den Pruduktionsleiter, B.G. de Sylva, dass sie im<br />

Einvernehmen mit Hemingway und Selznick beschlossen hätten:<br />

<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> sei die Richtige für diese Rolle. Zorina<br />

müsse gehen.<br />

Daraus ergab sich allerdings ein delikates Dilemma,<br />

denn Wood hatte Zorina – entgegen seiner echten Meinung –<br />

bereits erklärt, ja, ihr Test sei grossartig verlaufen und dass<br />

die eine Szene, die er mit ihr gefilmt habe, zeige, dass sie eine<br />

zauberhafte Schauspielerin sei. Diese Ausflüchte, die zweifellos<br />

schmeicheln und ermutigen sollten, fielen nun mit lautem<br />

Getöse auf den Urheber zurück, denn die arme Frau hatte sie<br />

für bare Münze genommen. Von Beruf Ballerina und gegenwärtig<br />

die Frau von Choreograph George Balanchine, stand sie<br />

bei Paramount unter Vertrag, ohne über eine nennenswerte<br />

schauspielerische Erfahrung zu verfügen. Als Wood sie ins Visier<br />

nahm, graute ihr vor dem Gedanken, in einer derart grossen<br />

Produktion wie "Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt" aufzutreten.<br />

Woods L<strong>ob</strong>hudelei erfüllte sie mit f<strong>als</strong>chen Hoffnungen – womit<br />

der Paukenschlag der Entlassung umso stärker dröhnte.<br />

Und wie es so geht, soll Zorina dafür Kerzen gespendet haben,<br />

in einem Film nicht in Erscheinung treten zu müssen, der in<br />

seiner endgültigen Fassung zu den allerlangweiligsten Unterhal<strong>tu</strong>ngsflops<br />

in Hollywoods Geschichte zählt.<br />

191


Ende Juli war "Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt" um einige<br />

Wochen im Verzug, weil Cooper (mit Wood in seinem Kielwasser)<br />

gelassen auf die Nachricht wartete, dass "Casablanca"<br />

fertiggestellt und <strong>Bergman</strong> verfügbar sei. Dann, drei Tage vor<br />

Einstellung dieser Produktion wurde Zorina in De Sylvas Büro<br />

beordert. Cooper und Wood hatten ihm das Ultima<strong>tu</strong>m gestellt,<br />

dass entweder <strong>Bergman</strong> eingesetzt werde oder sie beide<br />

die Produktion verlassen würden. Zorina fühlte sich für den<br />

Rest ihres Lebens betrogen, wütend auf das, was sie später<br />

<strong>als</strong> "das von David O. Selznick rücksichtslos konstruierte Ultima<strong>tu</strong>m"<br />

bezeichnete.<br />

Aber das war nicht die Wahrheit, und niemand hatte<br />

den Mut, sie ihr zu gestehen. Das Drehbuch war viel zu lang<br />

und die Pr<strong>ob</strong>leme damit mehrten sich täglich; sie selbst konnte<br />

nicht genügend Wirkung erzeugen, um den Film an Coopers<br />

Seite voranzubringen; und niemand, wie das LIFE-Magazin es<br />

ungewöhnlich sarkastisch ausdrückte, "konnte sie daran hindern,<br />

sich <strong>als</strong> Ballett-Primadonna aufzuführen". Hemingway,<br />

der im Hintergrund starken Einfluss ausübte, war nicht überrascht;<br />

schliesslich war <strong>Ingrid</strong> seine Wahl der ersten S<strong>tu</strong>nde.<br />

Und da rief De Sylva, der es sich nicht leisten konnte,<br />

Cooper, Wood und Hemingways Unterstützung neben all dem<br />

vielen Geld, das er für das Projekt bereits bewilligt hatte, zu<br />

verlieren, Selznick an. Wäre <strong>Ingrid</strong> bereit, den Grossteil ihrer<br />

Haarpracht abzuschneiden? Am 31. Juli unterbreitete Selznick<br />

<strong>Ingrid</strong> diese Frage beiläufig. Notfalls würde sie auch ihren Kopf<br />

abschneiden, rief sie aufgeregt. Glücklich, "Casablanca" hinter<br />

sich zu haben, ahnte sie nicht, wie weit grössere Pr<strong>ob</strong>leme auf<br />

sie zukommen sollten. Auch Selznick zeigte sich ziemlich zufrieden:<br />

er machte mit Paramount einen schnellen, glatten<br />

Deal, wonach ihm für <strong>Ingrid</strong> $ 150'000 bezahlt wurden (wovon<br />

<strong>Ingrid</strong>, inklusive Entschädigung für Überzeitarbeit $ 34'895<br />

erhielt).<br />

AM 5. AUGUST KAMEN INGRID UND RUTH ROBERTS in<br />

Sonora, den Ausläufern der Sierra Nevada beim Stanislaus<br />

192


National Forest an. Tags darauf schrieb Ruth an Dan O'Shea,<br />

<strong>Ingrid</strong> sehe blendend aus und sei zum Zerspringen glücklich.<br />

Sie freute sich auf ihre Traumrolle, auf den Schnitt und die<br />

Tönung ihres Haars und darauf, dass ihre blasse Gesichtsfarbe<br />

etwas auf Olive getrimmt würde. Es war ihr erster Farbfilm<br />

und vor allem freute sie sich auf die neuen Erfahrungen – und<br />

selbstverständlich auf Gary Coopers Gesellschaft, dessen natürlichen<br />

Arbeitsstil sie so sehr bewunderte.<br />

<strong>Ingrid</strong> hätte keine Freude gehabt, wären ihr die von<br />

Petter unbeabsichtigt verursachten Schwierigkeiten zu Ohren<br />

gekommen. Irrtümlicherweise sandte jemand in Selznicks<br />

Rechtsabteilung den Optionsvertrag nach Rochester, den <strong>Ingrid</strong><br />

zur Legalisierung ihres Einsatzes in "Wem die S<strong>tu</strong>nde<br />

schlägt" unterzeichnen sollte. Petter s<strong>tu</strong>dierte die verschiedenen<br />

Klauseln und hatte einige Einwendungen zu machen, was<br />

ein veritables Ping-Pong von Briefen und Telegrammen zwischen<br />

Rochester und Culver City auslöste. Ohne Charles Feldman<br />

zu konsultieren begann Petter einfach in <strong>Ingrid</strong>s Namen<br />

zu verhandeln, um höhere Boni, mehr Freizeit und andere<br />

Konzessionen, die <strong>Ingrid</strong> nie verlangt hat und die Selznick <strong>als</strong><br />

überrissen bezeichnete. "Das Einzige, was <strong>Ingrid</strong> noch von<br />

ihrem grossen Glück und Erfolg trennen kann, ist Ihr wirrer<br />

Versuch, sie zu managen", schrieb Selznick in seinem Brief<br />

vom 6. August an Lindström.<br />

Zwei Wochen später schrieb Petter an O'Shea: "Ich bedaure<br />

meine Zusage, Ihnen den Vertrag schnellstens wieder<br />

zurückzusenden . . . .Ich kann <strong>Ingrid</strong> nicht veranlassen, einen<br />

Vertrag zu unterzeichnen, den ich nur eine halbe S<strong>tu</strong>nde lang<br />

sehen konnte . . . Ich werde Sie heute Abend anrufen." Selznick<br />

war wütend und beklagte sich bei Feldman: "Lindström<br />

versucht wieder Tricks und will aus <strong>Ingrid</strong>s künftig höherem<br />

Marktwert durch "Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt" ..seinen Vorteil<br />

schlagen. Wenn Lindström auf seinem Standpunkt beharrt und<br />

versucht, <strong>Ingrid</strong>s Freunde, Produzenten und Agenten für<br />

dumm zu verkaufen, wird <strong>Ingrid</strong> die Zeche zu bezahlen haben."<br />

Ihr Vertrauen in ihren Ehemann und ihre Bereitschaft,<br />

ihn selbst ihre privaten Geldangelegenheiten verwalten zu las-<br />

193


sen, hat ihr bereits einige Sorgen eingetragen: "Sie wagte<br />

nicht einmal, ohne seine Zustimmung ein Kleid zu kaufen",<br />

sagte Michel Bernheim, ein französischer Filproduzent und<br />

Freund der Lindströms.<br />

"Ich persönlich hätte Dr. Lindström nachhause geschickt",<br />

sagte Selznick zu seinem PR-Chef Whitney Bolton,<br />

der sich darüber beklagte, dass Lindström zu jedem Aspekt<br />

von Selznicks Management von <strong>Ingrid</strong> Kritik anzubringen hatte.<br />

Selznick hatte einen persönlichen Grund für die Ablehnung<br />

von Petters Managementstil, weil dieser während seines Juni-<br />

Besuchs in Hollywood mit Selznick ziemlich undiplomatisch<br />

umgesprungen war. "David war scheinbar nicht sehr gut auf<br />

mich zu sprechen", schrieb Petter an Davids Frau Irene, "vielleicht<br />

hat er mir die Bemerkung übelgenommen, seine Frau<br />

und sein Schwiegervater seien seine wertvollsten Aktiven." Mit<br />

solcher Offenheit konnte Petter keine Verbündeten gewinnen.<br />

VORDERHAND SOLLTE INGRID von dieser Entwicklung<br />

der Dinge nichts erfahren, was vor allem Selznick so wollte; er<br />

wusste, dass sie jetzt in der Sierra Nevada <strong>ob</strong>en mit viel Arbeit<br />

hart gefordert wurde.<br />

Das Leben von Anfang August bis Ende September war<br />

dort <strong>ob</strong>en in mancherlei Hinsicht recht rauh, in anderer Beziehung<br />

aber auch enorm angenehm. Wie schon so oft, machte<br />

<strong>Ingrid</strong> im ersten Fall aus der Not eine Tugend, während sie<br />

den zweiten Fall glücklich auszukosten wusste.<br />

Erstens herrschten dort Lebensbedingungen, die nur<br />

von wenigen Stars klaglos hingenommen worden wären. Nahe<br />

beim Stanislaus River wurde ihr und Ruth eine kleine Ferienhütte<br />

zugewiesen, die Paramount von einer kalifornischen Familie<br />

gemietet hatte. Im malerischen Bach hinter der Veranda<br />

schwammen Forellen, und wenn sie Zeit dazu fanden, angelten<br />

sich <strong>Ingrid</strong> und Ruth eine für Gary Cooper oder Sam<br />

Wood. Das war aber kein Hollywood-Bungalow: es gab da nur<br />

wenig Wasser und weder Elektrizität, noch Heizung oder Tele-<br />

194


fon. Der Produktions-Direktor fürchtete sich vor dem Zorn der<br />

Hauptdarstellerin, war dann aber überrascht zu sehen, wie sie<br />

das rustikale Leben genoss. Ihre Garder<strong>ob</strong>e für die Rolle erforderte<br />

wenig mehr <strong>als</strong> ein Herrenhemd, eine alte Hose und<br />

ein Paar Espadrilles, worin sie sich auch in der Freizeit am<br />

wohlsten fühlte. Es war eine neue Erfahrung, ein einfacheres<br />

Leben, das sie mit Humor führte ohne irgendwelche Wünsche<br />

zu haben. "Ich bin gerne draussen an der Sonne", schrieb sie<br />

am 23. August an Irene Selznick, "und mit dem Klettern und<br />

Reiten fühle ich mich so viel besser, <strong>als</strong> beim Herumsitzen in<br />

einem bequemen Garder<strong>ob</strong>es<strong>tu</strong>hl."<br />

Dann kamen die Anstrengungen der Dreharbeiten. Der<br />

gesamte Film war von William Cameron Menzies entworfen,<br />

der für das Aussehen jeder Szene in "Gone With the Wind",<br />

"Our Town", "Kings Row" und "Pride of the Yankees" verantwortlich<br />

war, und er wählte alles, was am ehesten dem zerklüfteten<br />

spanischen Terrain gleichsah. Dies bedeutete meistens,<br />

dass sich Darsteller und Mannschaft etwa 15 Meilen weiter<br />

in die Berge hinauf begeben mussten, zwischen blanke<br />

Granitklötze auf achttausend bis neuntausend Fuss über Meer.<br />

Am frostigen Morgen kam die Gesellschaft dort an, arbeitete<br />

während des heissen Tages durch, um sich dann abends mit<br />

warmem Kaffee gegen die Kälte zu wappnen, bevor sie in Wagen<br />

verfrachtet wieder in die Stadt zurückfuhren. <strong>Ingrid</strong> liebte<br />

jede Minute dieses Lebens.<br />

Allerdings nicht, weil sie wusste, dass sie an einem<br />

Meisterwerk arbeitete. Dem naivsten Crew-Mitglied war sehr<br />

bald klar, dass "Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt" mit seinen endlosen<br />

Dialogen und seinen ebenso endlosen Nahaufnahmen auf dem<br />

besten Weg war, zu einem vernichtend langweiligen und emotionell<br />

flachen Film zu werden, der mit Leben und Liebe (vom<br />

wichtigen politischen Aspekt nicht zu reden) in der Hemingway-Novelle<br />

nichts mehr gemein hatte. Es war das Jahr 1942,<br />

und Hollywood-Produktionen hatten in erster Linie politisch<br />

korrekt zu sein: der spanische Faschismus wurde nicht verurteilt,<br />

Franco und seine Streitkräfte nicht erwähnt, über die<br />

Guerillas nur sehr wenig Hintergrundinformation geboten, und<br />

195


nur mit den höflichsten Andeu<strong>tu</strong>ngen wurde die pr<strong>ob</strong>lematische,<br />

leidenschaftliche Affäre zwischen dem Friedenskämpfer<br />

R<strong>ob</strong>ert Jordan und dem ungebildeten Bauernmädchen Maria<br />

beleuchtet. (Fünfzig Jahre später wurden einige Schnitte für<br />

den Heimvideomarkt überarbeitet: Der Film wurde so weniger<br />

langfädig ohne die Liebesgeschichte zu beeinträchtigen, aus<br />

weniger wurde etwas mehr.)<br />

Aber es waren nicht nur die Motion Pic<strong>tu</strong>re Code's-<br />

Zensoren, die die Geschichte verdünnten: Sam Wood ging<br />

jedes Gefühl für das Tempo ab, und er interessierte sich für<br />

keinen der Darsteller ausser für seinen Freund Gary Cooper.<br />

Der Film ist aber deshalb von besonderem Interesse, weil es<br />

<strong>Ingrid</strong> offensichtlich gelungen ist, den sonst hölzernen Cooper,<br />

der von ihrer Nähe scheinbar mehr beeindruckt war, <strong>als</strong> normalerweise<br />

von anderen weiblichen Co-Stars, zu einer lebendigeren<br />

Darstellung zu bringen. Da und dort deuten spontane<br />

Fröhlichkeit und Lacher seine Sympathie zu ihr an und ein<br />

Aufblühen in den Liebesszenen, wie man es bei Cooper sonst<br />

nicht kennt. Betrachtet man seine Filme Jahrzehnte später,<br />

wird sofort klar, dass seine Popularität genau in seiner Distanziertheit<br />

und und seinem fein ziselierten Spiel begründet ist –<br />

Qualitäten, die oft mit Talent verwechselt werden. Aber Gary<br />

Cooper war immer Gary Cooper, gross im Sattel aber klein im<br />

Bereich seiner schauspielerischen Fähigkeiten.<br />

Wood hatte wirklich Glück in diesen seltenen Momenten,<br />

wo "Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt" Feuer fing; aber für sie und<br />

die Talente von Bill Menzies, Katina Paxinou und ein Team von<br />

erfahrenen Schauspielern in Nebenrollen mochte der Film<br />

überhaupt keine Bedeu<strong>tu</strong>ng haben. Paxinou alleine unter acht<br />

Nominationen für den Film, erhielt den Oscar <strong>als</strong> beste Nebenrolle<br />

des Jahres. <strong>Ingrid</strong> war auch nominiert <strong>als</strong> beste Schauspielerin<br />

des Jahres. Aber am Ende erwies sich "Wem die<br />

S<strong>tu</strong>nde schlägt" <strong>als</strong> dicker Technicolor-Ferienprospekt für die<br />

kalifornischen Berge, ein absurd aufgeblasener Gähner, der<br />

selbst den hyperaktiven, pillenschluckenden Selznick hätte<br />

narkotisieren können.<br />

196


Die Produktion wurde unbeabsichtigt verbrämt im Geiste<br />

von Disneys "Piraten der Karibik". Indem Menzies Woods<br />

Anweisungen unbesehen folgte, verherrlichte er den Film in<br />

der Weise, dass jede Szene zu einem Gemälde wurde, das zu<br />

schön war, um zur rohen Geschichte zu passen. Beispielsweise<br />

in den Winterszenen ist der Film so attraktiv wie ein Paket<br />

Hallmark-Weihnachtskarten; nur der alte St. Niklaus fehlt, der<br />

auf dem Schlitten um den Berg kurvt. Auch Victor Youngs romantischer<br />

Ablauf stimmt nicht immer – sein Hauptmotiv wird<br />

eindeutig zu oft wiederholt und jede Szene mit Handlung wird<br />

von aufdringlicher Musik untermalt. In einer Szene, in der ein<br />

Republikaner Pablo angreift, unterstreicht Young jeden Schlag,<br />

den der Mann dem Verräter verpasst, mit einem explosiven<br />

Akkord. In solchen Momenten nähert sich der Film gefährlich<br />

der Satire. In der Schlussanalyse erschien der Krieg nirgendwo<br />

so attraktiv, wie in Paramounts Spanien.<br />

Selbst in einer der beiden Hauptrollen konnte die sonst<br />

einfallsreiche <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> keine Gelegenheiten finden, ihr<br />

Talent einzusetzen. Obschon sie in ihren Memoiren auf die<br />

erfreuliche Zusammenarbeit mit Cooper Bezug nimmt, vertraute<br />

sie Jahre später Freunden an, dass die Monate der Arbeit<br />

an diesem Film für sie zu den frustrierendsten und<br />

enttäuschendsten Erlebnissen ihrer Karriere zählten: "Ich<br />

hasste jeden Moment davon", sagte sie tonlos, denn sie wusste<br />

von Anfang an, dass ihr das Script nichts geben würde, woran<br />

sie hätte arbeiten können – selbst ihre beiden dramatischen<br />

Monologe ergaben keinen Kontext, der beim Publikum<br />

ein logisches Einfühlungsvermögen generiert hätte.<br />

<strong>Ingrid</strong>s beste Leis<strong>tu</strong>ngen entstanden in der Zusammenarbeit<br />

mit erstklassigen Darstellern und inspirierten Regisseuren,<br />

die eine Atmosphäre schufen, in der sie ihr Talent entfalten<br />

konnte. Cooper, die perfekte Verkörperung des Charakters<br />

von Jordan, bot ihr nichts, woran sie hätte arbeiten können,<br />

ausser seinem Charme, und für "Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt"<br />

war das bei weitem zu wenig. Letztlich spielte Cooper Cooper<br />

(wie nur Cooper es kann), und durch seine Unfähigkeit, seine<br />

Diktion anzupassen, wirkte sein überspannter, repetitiver<br />

197


Schlussmonolog an <strong>Ingrid</strong> auf das Publikum dam<strong>als</strong> und heute<br />

nur ärgerlich: "Du musst gehen, weil du ich bist und ich du<br />

bin, und wohin du gehst, gehe auch ich – verstehst du? – und<br />

wenn du bleibst, kann ich nicht gehen, weil wir uns nie trennen<br />

können, weil ich nur gehe, wohin du gehst und wenn du<br />

gehst, dann bin ich frei zu gehen, <strong>ob</strong>wohl ich bleibe – weil ich<br />

du bin und du ich bist."<br />

Der Geist gerät ins Torkeln bei dieser Art von Humbug-<br />

Mystik, in Zweitklässler-Syllogismus von der Sorte verpackt,<br />

mit der Primarschüler ihre Kumpel zu überrumpeln versuchen,<br />

so wenig überzeugend, wie das Versprechen eines Politikers,<br />

die Steuern senken zu wollen. Abgesehen davon enthält der<br />

Text einen gravierenden logischen Fehler: wenn sie er ist und<br />

er sie, dann müsste sie eigentlich bleiben und mit ihm umkommen<br />

– weil sie er ist! Doch was soll's. Cooper murmelt die<br />

Szene herunter, <strong>als</strong> litte er eher an Gehirnerweichung <strong>als</strong> an<br />

einem gebrochenen Bein.<br />

Was <strong>Ingrid</strong> anbelangt, so war sie in "Walpurgis Night",<br />

"A Woman's Face", "Dr. Jekyll and Mr. Hyde" und "Casablanca"<br />

so souverän, dass sie hier ausnahmsweise der Oberfläche<br />

von Marias Charakter entlang schlittern konnte. Ohne jede<br />

Führung durch das Script, die Regie oder den Co-Star, muss<br />

Marias quälende Vergangenheit und die Ungewissheit ihrer<br />

Zukunft zum Durcheinander geraten. <strong>Bergman</strong>s Spiel in diesen<br />

Schlüsselszenen wiederspiegelt einen uncharakteristisch <strong>ob</strong>erflächlichen<br />

Kummer, der in keiner Relation zur brutalen Wirklichkeit<br />

einer Frau steht, die monströsen Verrat überlebt hat.<br />

Sie wendet sich ab von ihrem Freund, der Kamera, zupft an<br />

ihren geschorenen Locken und umarmt einen Baumstamm,<br />

um ihrem Kummer Ausdruck zu geben. Aber selbst die rastlose<br />

Folge dieser Szenen kann ihre emotionale Leere nicht verbergen<br />

– und niemand empfand das quälender, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong><br />

selbst.<br />

Es ist unmöglich, Sam Wood freizusprechen, denn er<br />

hatte nicht das Format, seine Darsteller ins tiefere Wasser zu<br />

führen; statt dessen verherrlichte der Film den Krieg, den<br />

198


Hemingway verdammte. Ein Film muss die Schrecknisse des<br />

Krieges herüberbringen, um den Segen des Friedens spürbar<br />

zu machen; "Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt" homogenisiert beides.<br />

<strong>Ingrid</strong>s hübsch gestylter Haarschnitt und sorgfältiges Pfannkuchen-Makeup<br />

wurden dadurch wirkungslos, und so erschien<br />

sie letztlich nordischer <strong>als</strong> je zuvor – wohl weil sie sich in Maria<br />

nicht verlieren konnte. Ihr erster Technicolor-Film zeigt sie<br />

hinreissend verwahrlost, wie alle ihre Mitspieler, unter welchen<br />

es nicht einen einzigen Spanier hatte. Sam Wood, dem die<br />

Szenerie und die Pferde viel wichtiger waren <strong>als</strong> die Story und<br />

die Schauspieler, präsentierte ein Fantasieland, in dem die<br />

Glocken des Patriotismus laut aber leer tönten. "Es war alles<br />

sehr schwierig", sagte <strong>Ingrid</strong> Jahre später, "mit Sam Wood,<br />

der aufgeregt herumschrie und brüllte. So oft hatte er die<br />

Kontrolle über sich völlig verloren – wirklich, ich habe sowas<br />

noch nie zuvor erlebt."<br />

Die Kritiker äusserten sich respektvoll, aber enttäuscht.<br />

Sie bot wirklich gutes Spiel, wurde immerhin festgehalten,<br />

aber sie schuf nicht mehr <strong>als</strong> eine flüchtige Ähnlichlichkeit mit<br />

einem echten menschlichen Wesen. Ein Mädchen, das von<br />

einer Gang vergewaltigt wurde und Massenmord mitansehen<br />

musste, kann nicht wie aus einer Palmolive-Anzeige entflohen<br />

in die Szene springen. Ueber Gary Cooper äusserte sich James<br />

Agee ganz im Sinne vieler anderer: er sah gut aus, "aber generell<br />

etwas blass".<br />

<strong>Ingrid</strong>s einzige glücklichen Erinnerungen an den Film<br />

hatten einen einzigen Grund. S<strong>tu</strong>nden nachdem sie zum Team<br />

gestossen war, war sie über beide Ohren in Gary Cooper verliebt.<br />

Immer diskret, sprach <strong>Ingrid</strong> meistens von seinen<br />

schauspielerischen Fähigkeiten. "Er war einer der natürlichsten<br />

Schauspieler überhaupt", sagte sie später,<br />

"so natürlich, dass du nicht wusstest <strong>ob</strong> er spielte –<br />

du musstest im Script nachsehen, <strong>ob</strong> er seinen Text<br />

sprach oder einfach plauderte. Er war auch sehr scheu<br />

und einsilbig, aber auch sehr nett. Und wie hübsch!<br />

199


200<br />

Ihm zuzusehen, war so wundervoll. Es war unglaublich,<br />

dass ich dort mit ihm gearbeitet habe. F<strong>als</strong>ch<br />

war, dass man mir auf der Leinwand mein Glück ansah.<br />

Ich war viel zu glücklich, um Marias tragische Figur<br />

ehrlich zu portraitieren."<br />

Auf <strong>Ingrid</strong>s Bemerkungen, die gewiss für ihre romantische<br />

Verliebtheit sprechen, aber keinen eindeutigen Hinweis<br />

für eine gelebte Affäre boten, wurde nach ihrem Tod verwiesen,<br />

um eben dieses zu belegen. Aber gibt es einen Beweis für<br />

diese Annahme?<br />

Wir wissen dass Cooper, dam<strong>als</strong> 41-jährig, in einer wenig<br />

glücklichen Ehe mit einer Frau lebte, die ihm die Scheidung<br />

verweigerte und dass sein Leben mit einer Serie stürmischer<br />

Liebesaffären stark gepfeffert war. Er hatte Beziehungen<br />

zu einigen der verführerischsten und leichtlebigsten Frauen<br />

Hollywoods dokumentiert, so unter andern zu Clara Bow, Marlene<br />

Dietrich und Lupe Velez, deren Liste der Er<strong>ob</strong>erungen ein<br />

kleines Telefonbuch hätte füllen können. (Patricia Neal, wäre<br />

noch beizufügen, hatte auch eine lange intime Beziehung zu<br />

Cooper, nur passte sie nicht ins Muster der andern Männer<br />

verschleissenden Persönlichkeiten.)<br />

Die weniger skrupellosen Märchentanten Hollywoods<br />

wollten nach Coopers und <strong>Bergman</strong>s Tod sicher wissen, dass<br />

sie den schlacksigen, lakonischen Mann mit seinem intensiven<br />

Sex Appeal, den er sowohl seiner offenkundigen Schüchternheit,<br />

wie auch seiner Länge von 6 ½ Fuss nebst seinen leuchtend<br />

blauen Augen verdankte, unwiderstehlich fand. Das Geschwätz,<br />

mit andern Worten, wusste allzu oft, was es wissen<br />

wollte, und auf dieser Gier nach Skandal wuchs die verbreitete<br />

Meinung, dass die Affäre weil möglich, auch wirklich war –<br />

<strong>ob</strong>schon weder einer der Vorgesetzten noch irgend eine andere<br />

mit den beiden Filmen, die sie miteinander gemacht haben,<br />

verbundene Person je den geringsten Hinweis auf eine wirkliche<br />

Romanze der beiden machen konnte. Klar, dass in jenen<br />

Tagen 1943 niemand sein intimes Leben publizierte, und momentane<br />

Intrigen wurden nicht in Nachmittags-Talk-Shows


eitgeschlagen. Aber es ist auch bezeichnend, dass weder<br />

Cooper noch <strong>Bergman</strong> Freunden gegenüber je eine solche Beziehung<br />

erwähnten, wie das in anderen Fällen geschah.<br />

Es ist möglich, dass die Liebe diesen Sommer in der Sierra<br />

Nevada loderte, und wenn es so war, hatte es keine Bedeu<strong>tu</strong>ng.<br />

Es könnte auch durchaus sein, dass die beiden sich<br />

gegenseitig etwas Wärme und Trost spendeten gegen den<br />

Mangel an Charme dieser Produktion und die Auswirkungen<br />

ihrer beider Ehen. Coopers Liebesgeflüster zu <strong>Bergman</strong> vor<br />

der Kamera und seine beharrlich liebenswürdige Aufmerksamkeit,<br />

die er ihr auch schenkte, nachdem die Kamera längst<br />

gestoppt hatte, können tatsächlich auf ein kurzes Feuer hinweisen.<br />

Ausserdem vermisste <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> temperamentvolle<br />

Siebenundzwanzigjährige sowohl die Gesellschaft <strong>als</strong> auch ein<br />

einvernehmliches Verhältnis mit ihrem Ehemann. Als weiteren<br />

Hinweis mag man eine Bemerkung sehen, die <strong>Ingrid</strong> im folgenden<br />

Winter Ruth gegenüber beim Besuch einer Farm im<br />

mittleren Westen machte (zwischen den beiden Filmen, die sie<br />

mit Cooper drehte): "Du solltest die Söhne dieses Farmers<br />

sehen. Wäre es nicht wegen Petter und Gary Cooper, denke<br />

ich, möchte ich eine Farmersfrau werden." Die – allerdings<br />

sehr <strong>ob</strong>erflächliche - Andeu<strong>tu</strong>ng schien zu signalisieren, dass<br />

wenn sie sich nicht diesen beiden Männern verpflichtet fühlte,<br />

sie einen Wechsel in ihrem Leben oder doch wenigstens eine<br />

neue Romanze durchaus ins Auge fassen würde.<br />

Aber <strong>Ingrid</strong> hatte ihr Leben lang ein "byronsches" Verhältnis<br />

zu Hauptdarstellern und Regisseuren, und diese Hal<strong>tu</strong>ng<br />

war generell Teil ihrer sentimentalen Einstellung Männern<br />

gegenüber – das heisst, ihre Intimitäten waren wie gallische<br />

Idylle, zärtliche und romantische Verbindungen, manchmal<br />

erotisch, aber meistens nicht. Ob sie und Cooper 1942/43 ein<br />

Liebespaar waren, ist letztlich weniger wichtig <strong>als</strong> die Tatsache,<br />

dass ihre Verliebtheit in ihn in ihrer Na<strong>tu</strong>r etwas freisetzte.<br />

201


MEHR NOCH ALS ZUM SCHWERFÄLLIGEN Victor Fleming<br />

fühlte <strong>Ingrid</strong> in der kalifornischen Wildnis eine leidenschaftliche<br />

Verbundenheit zu Cooper, was ihr Selbstvertrauen<br />

erheblich stärkte und ihre Leis<strong>tu</strong>ngen belebte. Für alle Zeit war<br />

sie ihm dankbar dafür, dass er ihr die Gelegenheit bot, sich<br />

(keusch oder nicht) in ihn zu verlieben – eine Voraussetzung,<br />

die sie brauchte, um Maria spielen zu können und eine, die sie<br />

seit Victor Fleming für keinen Mann mehr empfand.<br />

Wie immer die Beziehung war oder für wie lange sie<br />

immer gedauert haben mag, ist <strong>Ingrid</strong>s letzter Kommentar<br />

ernst zu nehmen: "Ich schaffte es nie, eine wirklich vertraute<br />

Freundin Gary Coopers zu sein." Aus ihren speziellen Gründen<br />

mögen die Sentimentalisten und die Moralisten dies ignorieren<br />

und auf eine klare sexuelle Affäre erkennen. Aber der Historiker<br />

braucht solidere Grundlagen <strong>als</strong> die schnellen Gerüchte,<br />

und im vorliegenden Fall gibt es einfach keinen brauchbaren<br />

Hinweis auf eine Affäre zwischen <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> und Gary<br />

Cooper, <strong>ob</strong>schon sie diese im Geiste vielleicht hatten. Wie so<br />

oft bei solchen Geschichten hat die simple Wiederholung der<br />

einfachsten Version diese zur Tatsache erh<strong>ob</strong>en.<br />

Die Romanze wurde ausserdem von jenen zur physischen<br />

Realität erklärt, die wissen wollten, dass <strong>Ingrid</strong> während<br />

den Aufnahmen zu "Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt" Selznick darum<br />

gebeten habe, sie im kommenden Frühjahr wieder an Warner<br />

Bros. auszuleihen, wo Cooper und Wood einen Film auf Basis<br />

der Novelle "Saratoga Trunk" von Edna Ferber zu drehen beabsichtigten.<br />

Aber sie wusste nicht, dass ihr Co-Star und Regisseur<br />

sie <strong>als</strong> nur eine Anwärterin auf die Liste der möglichen<br />

Hauptdarstellerinnen gesetzt hatten, neben Vivien Leigh, Olivia<br />

De Havilland, Hedy Lamarr und andern.<br />

IM OKTOBER WURDE DIE PRODUKTION in die Paramount-S<strong>tu</strong>dios<br />

in Hollywood verlegt, wo Dutzende (und Dutzende)<br />

von Szenen und Prozess-Aufnahmen, bei welchen gefilmte<br />

Hintergründe mit Schauspielern kombiniert wurden,<br />

gefilmt wurden. Seit dem 16. Juli hatte Petter mit Selznick und<br />

202


Kay Brown einen lebhaften Briefwechsel über <strong>Ingrid</strong>s Optionen<br />

für das kommende Jahr und das künftige Einkommen seiner<br />

Frau losgetreten. Petter sah sich zunehmend in der Pflicht,<br />

<strong>Ingrid</strong> vor den Industrie-Wölfen zu schützen – bis hin zum<br />

Punkt, wo er sich nun anschickte, sich selbst rechtens zu ihrem<br />

de facto-Anwalt aufzuschwingen. Am 7. November forderte<br />

Petter Selznick ostentativ auf, ihm die Kosten seiner Bahnreise<br />

von Rochester nach New York nebst seinen Hotelspesen<br />

dort zu vergüten, wo <strong>Ingrid</strong>s Vertrag Gegenstand einer Besprechung<br />

mit Ernest I. Scanlon, Selznicks Finanzchef, war.<br />

Zu Beginn der Feiertage war Petter in Festlaune: er<br />

hatte von der Universität Rochester seinen amerikanischen<br />

Doktortitel der Medizin mit Auszeichnung verliehen erhalten<br />

(offiziell im Januar 1943). Und so beschloss er, eine kleine<br />

Gesellschaft von Filmleuten zur Feier im Appartment am Shirley<br />

Place einzuladen.<br />

"Er war natürlich der perfekte Gastgeber", erinnerte<br />

sich der Künstler Dietrich, der dam<strong>als</strong> bei Paramount arbeitete<br />

und <strong>als</strong> Mitglied der Schwedisch-Amerikanischen Gemeinde<br />

des öftern bei den Lindströms zu Gast war. "Aber er war<br />

schrecklich gr<strong>ob</strong> zu <strong>Ingrid</strong>, Sie kam von einem S<strong>tu</strong>dio-<br />

Arbeitstag nachhause, müde aber glücklich – da sagte er:'So,<br />

kannst du jetzt etwas Brauchbares <strong>tu</strong>n?' Was immer sie zur<br />

Antwort gab, sie schien zu sagen: 'Nein, es wäre besser, du<br />

würdest dieses oder jenes <strong>tu</strong>n'. Ich wunderte mich, wie er so<br />

zu ihr sein konnte. Schliesslich hatte er noch keine Praxis,<br />

denn sie war es ja, die das ganze Geld einbrachte."<br />

Alfred Hitchcock, der sich ständig bemühte, das richtige<br />

Projekt aufzutreiben, für welches ihm Selznick <strong>Ingrid</strong> nicht<br />

verweigern konnte, blies ins selbe Horn. "Es war entzückend<br />

bei den Lindströms, aber da war immer ein gespannter Unterton<br />

in der Luft. Man dachte, jemand sollte kommen und <strong>Ingrid</strong><br />

retten." Beruflich hätte er sich in dieser Rolle gesehen, romantisch<br />

– zu seinem Leidwesen – müsste es jemand anderer<br />

sein.<br />

Nach den Festtags-Parties kehrten <strong>Ingrid</strong>, Petter, Pia<br />

203


und Mabel nach Rochester zurück, um das Haus in Betrieb zu<br />

nehmen. Petter setzte sein Medizinpraktikum am Spital fort,<br />

während er sich nach einem Lehrauftrag an einer kalifornischen<br />

Universität umsah.<br />

204


1944 - in "Gaslicht"<br />

205


206<br />

1944 - in "Gaslicht" - ein Verdacht kommt auf...


1943<br />

"Wenn sie weniger das Geld im Auge hätten, das sie für Set,<br />

Kostüme und Kosmetik ausgeben können, sondern mehr, wie<br />

realistische, glaubhafte menschliche Wesen zu produzieren,<br />

wäre vieles besser".<br />

(<strong>Ingrid</strong> über Hollywood im Allgemeinen und<br />

"Saratoga Trunk" im Besonderen)<br />

"WENN SCHWEDEN VON DEN NAZIS überrollt werden<br />

sollte", sagte <strong>Ingrid</strong> den Presseleuten, "hoffe ich, das amerikanische<br />

Volk würde sich nicht gegen mein Volk wenden. Schweden<br />

– wie die Schweiz – ist umzingelt, abgeschnitten, vom<br />

Feind hilflos gemacht. Es könnte sehr wenig <strong>tu</strong>n. Wenn es<br />

wirklich zu diesem tragischen Angriff kommen sollte, hoffe ich,<br />

die Amerikaner würden das nicht vergessen."<br />

Ihr Plädoyer wurde 1943 von keinem Geringeren <strong>als</strong><br />

vom "Overseas Bureau of the Office of War Information" erhört,<br />

das den Auftrag hatte, die Kunde von den Bestrebungen<br />

zu verbreiten, mit welchen die verschiedenen Ethnien des<br />

Schmelztiegels sich vereint gegen den Feind rüsteten. Im<br />

Dienste dieser Bestrebungen produzierte der Dokumentarfilmer<br />

Irving Lerner während des Krieges verschiedene fremdsprachige<br />

Kurzfilme für den Export an alliierte und neutrale Staaten.<br />

Dieses gesamte Propaganda-Programm stand unter der Lei<strong>tu</strong>ng<br />

von R<strong>ob</strong>ert Riskin, dem Oscar-Gewinner aus Frank Capras<br />

Spinnerkomödie "It Happened One Night" - einem Mann, der<br />

nun mit ernsteren Realitäten konfrontiert war.<br />

So geschah es, dass <strong>Ingrid</strong> im Januar 1943 via Selznick<br />

diplomatische Post aus Washington mit einer Einladung erhielt,<br />

207


in ein paar Wochen eine Reise zu den schwedischen Gemeinden<br />

in Minnesota zu unternehmen. Dort würde sie beim Besuch<br />

von Farmen und Heimen von typischen Einwanderern gefilmt.<br />

Zurück in Hollywood, würde sie dann (schwedisch für den Export<br />

und englisch für die Archive des Büros) über den Patriotismus<br />

ihrer Landsleute in der neuen Welt berichten. Damit<br />

könnte den Schweden im Ausland die n<strong>ob</strong>le Hal<strong>tu</strong>ng der<br />

'Schweden in Amerika' (so auch der Filmtitel) vor Augen geführt<br />

werden.<br />

Am 2. Februar 1943 verliessen <strong>Ingrid</strong>, Pia und Mabel<br />

Rochester per Bahn (Petter blieb noch mit Auspackarbeiten<br />

beschäftigt zurück); nach einem kurzen Zwischenhalt in Chicago<br />

langten sie tags darauf im eisigen Minnesota an, wo sich die<br />

Tempera<strong>tu</strong>ren so um die zwanzig Grad unter null bewegten.<br />

Empfangen wurden sie von Selznicks neuem Publicity Director<br />

Joseph H. Steele, der auf der Stelle zu einem der grössten Bewunderer<br />

<strong>Ingrid</strong>s wurde. Gross, schlank und intelligent, alles<br />

andere <strong>als</strong> der bekannte Typ des primitiven Hollywood "flacks"<br />

(der Branchenbegriff für einen Werber), verliebte sich Joe sofort<br />

in <strong>Ingrid</strong> – allerdings platonisch, denn er war verheiratet<br />

und <strong>Ingrid</strong> hatte kein romantisches Interesse an ihm.<br />

Aber sie bewunderte Joes Sprachbegabung sehr. Sein<br />

Vater war Missionar in der Türkei und Joes Kindheit verlief<br />

peripatetisch: mit sechs Jahren sprach er Türkisch, Arabisch,<br />

Armenisch und Englisch, wozu später noch Französisch und<br />

Italienisch kamen. Sie war aber auf diesem Gebiet auch geschickt:<br />

ihr Englisch wurde merklich fliessender und sie übte<br />

fleissig Französisch; diese Sprachen neben Schwedisch und<br />

Deutsch wurden nach und nach ergänzt durch fliessendes Italienisch.<br />

<strong>Ingrid</strong> schätzte an Joe auch seine Manieren sehr, seine<br />

Ethik und seine Bewunderung für sie, seine Weigerung, sie der<br />

zunehmend unersättlichen Presse und Oeffentlichkeit auszuliefern.<br />

Zuerst stürzte ihn ihre sanfte Abwehr seiner subtilen Annäherungsversuche<br />

in romantischen Trübsinn, so etwa wie bei<br />

einem unglücklich verliebten Schuljungen, doch sehr schnell<br />

erkannte er, dass eine dauerhafte kameradschaftliche Verbindung<br />

– die er auch lebenslang danach zu ihr hatte – besser<br />

208


war <strong>als</strong> eine kurze Affäre. In andern Worten: er war ein Mann<br />

mit Charakter und einer gewissen Reife.<br />

Am nächsten Morgen, 4. Februar, holte Joe <strong>Ingrid</strong> im<br />

Nicollet-Hotel ab und fuhr sie in zwei S<strong>tu</strong>nden nach Chisago<br />

County. Dort verbrachte sie zwei Tage und wurde bei der Familie<br />

C.E. Swanson gefilmt, einer Immigranten-Familie, die je<br />

nach Saison Land- und Milchwirtschaft betrieb, Schafe schor<br />

und Wolle spann. <strong>Ingrid</strong> stürzte sich ins Überkleid und packte<br />

überall zu. Sie schaufelte Schnee und baute für Pia Schneemänner.<br />

Sie half gefrorenes Heu stampfen, liebkoste kleine<br />

Schweinchen und sass mit den alten Damen am Webs<strong>tu</strong>hl.<br />

Auch das Magazin LOOK dokumentierte den Bericht (Selznick<br />

hatte Ideen, <strong>als</strong> er davon hörte), doch Steele spürte, dass <strong>Ingrid</strong><br />

hier den guten Zweck im Auge hatte. Sie suchte keinen<br />

Star-Komfort und interessierte sich für alles, was für die<br />

schwedischen Einwanderer hätte von Interesse sein können.<br />

Und zufälligerweise endete die viertägige Tour ausgerechnet in<br />

einer Stadt namens Lindstrom, Minnesota.<br />

AM 8. FEBRUAR BEGLEITETE JOE <strong>Ingrid</strong>, Pia und Mabel<br />

per Bahn nach Los Angeles, wo der Star zu Makeup- und Garder<strong>ob</strong>e-Tests<br />

für "Saratoga Trunk" erwartet wurde. Selznick<br />

hatte dem allem nur zugestimmt, weil er (wie alle in Hollywood,<br />

die den Set zum Film nicht gesehen hatten) glaubte,<br />

<strong>Ingrid</strong>s Zusammenarbeit mit Wood und Cooper in "Wem die<br />

S<strong>tu</strong>nde schlägt" werde ein enormer Erfolg beschieden sein -<br />

und weil er für <strong>Ingrid</strong>s Ausleihe eine Entschädigung von<br />

$ 15'625 die Woche während 8 Wochen ausgehandelt hatte,<br />

während er ihr während dieser Zeit das übliche Salär von<br />

$ 2'250 bezahlte. Das Trio Cooper-<strong>Bergman</strong>-Wood könne nur<br />

gewinnen, meinte Selznick, während man eher sagen möchte,<br />

dass vor allen andern er nicht verlieren könne.<br />

Tatsächlich verloren alle an diesem Geschäft, ausser<br />

Selznick. "Saratoga Trunk" war der teuerste Warner Bros.-Film<br />

209


is dahin, mit 96 Sets, über 11'000 Requisiten, Dutzenden von<br />

19.-Jahrhundert-R<strong>ob</strong>en für <strong>Ingrid</strong>, zweihundert S<strong>tu</strong>ntmen für<br />

eine einminütige Nachtszene von einem Zugsunfall und einer<br />

Menge Krinolinen, Wagen, und Gaslampen, welche die Film-<br />

Magazine zum Bersten brachten. Spektakulär würde er sicher<br />

werden, und das war auch das Haupt-Verkaufsargument, denn<br />

er war im übrigen ein überladener Schmarren, auf den effektiv<br />

niemand stolz sein konnte ausser den S<strong>tu</strong>dionäherinnen.<br />

Sein Ursprung war nicht einfach – eine wortreiche Edna<br />

Ferber-Liebesgeschichte von einer glanzvollen, unehelichen<br />

Hexe namens Clio Dulaine (<strong>Ingrid</strong>), die von Paris zurückkehrt,<br />

um sich für das ihrer Familie von der Gesellschaft zugefügte<br />

Unrecht, das die vornehmen Kreise entlang der ganzen Ostküste<br />

schockierte, zu rächen. Geld ist ihr Gott, Männer sind ihr<br />

Mittel zum Zweck. Sie missbraucht ihr Mulattenmädchen<br />

(weisse Flora R<strong>ob</strong>son <strong>als</strong> anstössige Farbige), bellt ihren Diener,<br />

einen übellaunigen Zwerg namens Cupido (Jerry Austin),<br />

mit ihren Befehlen herum, beutet einen anständigen Mann aus<br />

(John Warburton) und akzeptiert schliesslich einen schlaksigen<br />

Texaner namens Clint Maroon (Cooper).<br />

Aber der Senior-Autor Casey R<strong>ob</strong>inson ("Captain Blood",<br />

"Dark Victory", "Kings Row" und "Now, Voyager") konnte die<br />

erzählerischen Pr<strong>ob</strong>leme nicht meistern und die Pappe erträglich<br />

oder gar interessant machen. Eine Analyse zeigt, dass der<br />

Film auf der Suche nach einem Zusammenhang ist: einmal ist<br />

"Saratoga Trunk" ein Thriller, dann ist er auch eine Gesellschaftskomödie,<br />

dann ein Liebesfilm und schliesslich ein Westernknüller.<br />

<strong>Ingrid</strong> hatte Selznick um diese Rolle gebeten, zu ihrem<br />

Entsetzen aber die letzten zweihundert Seiten der Geschichte<br />

erst einen Tag vor Beginn der Aufnahmen gelesen, worauf sie<br />

prompt in Tränen ausbrach und in Ruth R<strong>ob</strong>erts Arme fiel.<br />

Dass nun brennende Erinnerungen an "Casablanca" in ihr aufstiegen,<br />

war eines; aber sie konnte es drehen und wenden wie<br />

sie wollte, von ihren bisher sechs amerikanischen Filmen konnte<br />

sie gerade auf einen stolz sein: "Dr. Jekyll und Mr. Hyde".<br />

210


Von ihrer Wohnung am Shirley Place, Beverley Hills, fuhr sie<br />

nun während 6 Tagen die Woche schweren Herzens nach Burbank<br />

zu den Dreharbeiten, die von Ende Februar bis Mitte Mai<br />

dahinkrochen. Die Romanze mit Cooper, welcher Art sie auch<br />

immer gewesen sein mag, war offensichtlich vorbei, und zum<br />

Missvergnügen der Garder<strong>ob</strong>eabteilung nahm <strong>Ingrid</strong> während<br />

der Produktion um elf Pfunde zu. Grössere Büstiers und voluminösere<br />

Lagen von Seide mussten in einige ihrer Kleider eingenäht<br />

werden, denn sie war in noch keinem Film so schwer,<br />

wie in diesem.<br />

Als die gereizte, oft hysterische Clio wurde <strong>Ingrid</strong> in<br />

schwere brünette Perücken gezwängt, und die Makeup-<br />

Abteilung war angewiesen, ihr dick Eyeliner aufzutragen und<br />

die Lippen mit dicker Farbe über die Lippenlinie hinaus nachzuziehen.<br />

Manchmal sah es so aus (wie Vivien Leigh einmal Laurence<br />

Oliviers groteskes Makeup für "Macbeth" schilderte), <strong>als</strong><br />

träte auf der Leinwand zuerst ihr Makeup, dann ihr Kostüm<br />

und zuletzt sie selbst in Erscheinung, mehr oder weniger unkenntlich<br />

unter der Sauce. "Wenn sie weniger das Geld im Auge<br />

hätten, das sie für Set, Kostüme und Kosmetik ausgeben<br />

können, sondern mehr, wie realistische, glaubhafte menschliche<br />

Wesen zu produzieren, wäre vieles besser", sagte sie einige<br />

Jahre später. Sie mag dabei wohl an "Saratoga Trunk" gedacht<br />

haben. Ihre Rezepte für gute Filme und ihre bittere Kritik<br />

an diesen Exzessen haben Jahrzehnte danach noch volle Gültigkeit.<br />

Um sich von den Schrecknissen der Produktion dieses<br />

teuersten Schlafmittels von Film abzulenken, kaufte <strong>Ingrid</strong> eine<br />

neue 8mm-Filmkamera um ihre Fertigkeit <strong>als</strong> Amateurfilmerin<br />

weiterzuentwickeln, und dokumentierte so alles, was Sam<br />

Wood mit den Massenszenen arrangierte (woraus für ihre<br />

Freunde – die das Material zu sehen bekamen - leicht erkennbar<br />

war, dass sie <strong>als</strong> Regisseurin einiges besser gemacht hätte).<br />

Aber wie gross ihr Kummer auch gewesen sein mag, ihre<br />

kollegiale Einstellung blieb in jeder Hinsicht unangetastet. <strong>Ingrid</strong>s<br />

Ersatz, Betty Brooks, musste für die komplizierten Belich<strong>tu</strong>ngstests<br />

massive Überzeitarbeit in Kauf nehmen, w<strong>ob</strong>ei sich<br />

211


<strong>Ingrid</strong> laut reklamierend für die junge Frau einsetzte, bis sie<br />

mit einem angemessenen Bonus für ihre ermüdende Arbeit<br />

entschädigt wurde.<br />

Sie war auch bereit, Joe Steele jeden Sonntag zu treffen,<br />

um mit ihm Anlässe und Aktivitäten zu besprechen, die<br />

Selznick zur Genehmigung vorgelegt werden sollten. Diese<br />

Erweiterung ihres Arbeitspensums veranlasste Selznick, Steele<br />

am 17. Mai einen bedeutsamen Brief zu schreiben:<br />

212<br />

"Ich schätze Ihre Arbeit mit <strong>Ingrid</strong> am Sonntag, aber<br />

trotzdem sie sich nicht darüber beklagt hat, möchte<br />

ich Sie bitten, sie an Sonntagen für Publicityfragen<br />

....bis zur Beendigung von "Saratoga Trunk" nicht in<br />

Anspruch zu nehmen.<br />

<strong>Ingrid</strong> ist so ausserordentlich kooperativ, dass ich<br />

meine, wir müssen an uns halten, ihre Gutmütigkeit<br />

nicht auszunützen; wir wollen ihren wundervollen Charakter<br />

nicht herausfordern (sic) und es nicht darauf<br />

ankommen lassen, dass sie sich eines Tages gegen<br />

uns wendet, wie es mit Garbo bei Metro <strong>als</strong> Folge eines<br />

unbedachten Vorgehens der Werbeabteilung geschah.<br />

Während all den Jahren, die ich im Filmgeschäft verbracht<br />

habe, habe ich von keiner jungen Frau gehört,<br />

die so klaglos ein Arbeitsprogramm bewältigt hat, wie<br />

<strong>Ingrid</strong> in den letzten Monaten, und <strong>ob</strong>wohl dies alles<br />

ihr eigener Wille ist, denke ich, sollten wir auf jeden<br />

Fall darauf achten, dass sie ihre Sonntage zur Erholung<br />

und für ihr Kind nutzen kann..... "Saratoga Trunk"<br />

war für sie auch in der Beziehung aussergewöhnlich,<br />

<strong>als</strong> sie während über zehn Wochen ohne einen einzigen<br />

arbeitsfreien Tag gearbeitet hat .......Ich versuchte<br />

so dezidiert wie erfolglos, sie zu Arbeitspausen zu<br />

zwingen; so müssen wir allerwenigstens dafür sorgen,<br />

dass ihr die Sonntage erhalten bleiben.<br />

Übrigens ist auch zu berücksichtigen, dass <strong>Ingrid</strong><br />

selbst den einen freien Tag, der weiblichen Stars pro


Monat zusteht, nicht in Anspruch nimmt – und wie Sie<br />

wissen, gibt es welche, die sich gut und gerne zwei<br />

und drei Tage herausnehmen."<br />

Sie suchte die Rolle der Clio Dulaine <strong>als</strong> Gelegenheit,<br />

nach der verliebten Ilsa und der leidgeprüften Maria eine amoralische<br />

Intrigantin zu spielen. Stattdessen musste sie nun in<br />

einem aufgeblasenen Film ohne jeden Anspruch an einen Charakterdarsteller<br />

spielen. Jack Warner erkannte diesen Mangel,<br />

<strong>als</strong> er im Juni 1943 den endgültigen Schnitt sah, der zur Unterhal<strong>tu</strong>ng<br />

der amerikanischen Truppen (die vor der Leinwand<br />

vielleicht ihren ersten tiefen Schlaf seit Monaten gefunden haben)<br />

nach Übersee geliefert wurde; in die amerikanischen Kinos<br />

kam der Film erst anfangs 1946. "Mein Herz singt vor<br />

Freude" hatte <strong>Ingrid</strong> gesagt, <strong>als</strong> Selznick ihr seine Zustimmung<br />

zu diesem Film gab. Über das Endprodukt hüllte sie sich<br />

dann in Schweigen, und selbst in ihrer Aut<strong>ob</strong>iografie fast vierzig<br />

Jahre später beklagte sie lediglich, in ihren hochgestylten<br />

Aufmachungen kaum erkennbar gewesen zu sein. Das Lied in<br />

ihrem Herzen muss abrupt zum flachen Echo zusammengefallen<br />

sein.<br />

So ist es verständlich, dass <strong>Ingrid</strong> dann zur Sommerzeit<br />

verzweifelt war; während den letzten Drehwochen war sie so<br />

deprimiert, dass sie tatsächlich erstm<strong>als</strong> seit Beginn ihrer Karriere<br />

krank wurde (wohl nicht von ungefähr an Lanryngitis),<br />

sodass ihre Ärzte sie für eine Woche von der Arbeit fernhielten.<br />

Dann verschwand Gary Cooper, der seine Arbeit beendet hatte,<br />

aus ihrem Leben, und Petter zog nach San Francisco, um seine<br />

Stelle in der Chirurgie des Stanford University Hospit<strong>als</strong> anzutreten.<br />

Coopers Abwesenheit liess sie lediglich den Begleiter zu<br />

den Parties vermissen *) . Nachdem "Saratoga Trunk" vollendet<br />

war, wollte Selznick sie in etwas bringen, was "Valley of Deci-<br />

*) In den späten Siebzigerjahren, lange nach Coopers Tod, schrieb ihm ein<br />

Gerücht folgende Bemerkung zu: "Niemand liebte mich mehr <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong><br />

<strong>Bergman</strong>. Nach dem Ende der Dreharbeit konnte ich sie aber nicht einmal<br />

am Telefon erreichen." Eine derart offene Aussage wäre uncharakteristisch<br />

für Cooper, und in ihrer Gr<strong>ob</strong>heit wäre sie unvereinbar mit<br />

<strong>Ingrid</strong>s Art.<br />

213


sion" hiess, wo sie eine mutige, selbstaufopfernde, vir<strong>tu</strong>ose<br />

Langweilerin spielen sollte - "Immer so lieb und gut, dass es<br />

dich krank macht", kommentierte <strong>Ingrid</strong> die Rolle. Für solcher<br />

lei Seifenoper-Karika<strong>tu</strong>ren hatte sie nur eine Antwort: "Reicht<br />

mir das Gewehr". Stattdessen überzeugte sie Selznick, dass ihr<br />

Elend in dieser Rolle sie lebenslang unglaubwürdig machen<br />

würde.<br />

<strong>Ingrid</strong> war klug genug, auf all diese Angebote nicht einfach<br />

einzugehen, um Arbeit zu haben. Metro hatte George Cukor<br />

<strong>als</strong> Regisseur verpflichtet und Charles Boyer <strong>als</strong> Co-Star für<br />

die zweite Filmversion von Patrick Hamiltons Bühnen-Thriller<br />

"Angel Street", und die S<strong>tu</strong>dioverantwortlichen verhandelten<br />

mit Selznick um <strong>Ingrid</strong> für die schwierige Hauptrolle. (Cukor<br />

wollte <strong>Ingrid</strong> auch für die amerikanische Version von "A<br />

Womans Face", aber Metro bestand auf Joan Crawford.) Selznick<br />

lehnte zuerst ab, weil Boyer im Vorspann an erster Stelle<br />

aufgeführt werden sollte. Als <strong>Ingrid</strong> davon erfuhr, stürmte sie<br />

schluchzend in Selznicks Büro, er behindere ihre Karriere. Es<br />

sei ihr völlig egal, <strong>ob</strong> ihr Name an erster oder an achter Stelle<br />

stehe; das sei eine wunderbare Rolle und er solle die Sache<br />

nicht durch seine unvernünftigen Forderungen sabotieren.<br />

Selznick gab widerstrebend nach (und strich an dem Handel $<br />

253'750 ein), und anfangs Juli meldete sich <strong>Ingrid</strong> bei Metro<br />

für die Testaufnahmen zu "Gaslight".<br />

Hamiltons Bühnenstück war in London und New York<br />

äusserst erfolgreich, und eine britische Filmversion wurde<br />

ebenfalls sehr gel<strong>ob</strong>t. Columbia Pic<strong>tu</strong>res kaufte die Remake-<br />

Rechte in der Absicht, Irene Dunne in der Rolle der Frau einzusetzen,<br />

deren Ehemann versuchte, sie in den Wahnsinn zu<br />

treiben, um an die versteckten Juwelen ihrer Tante zu kommen,<br />

die er ermordet hatte. Aber Louis B. Mayer mischte sich<br />

mit einem besseren Angebot ein, in der Absicht, Hedy Lamarr<br />

für die Metro-Version ins Spiel zu bringen. Gleichzeitig kaufte<br />

Mayer das Negativ und alle noch irgendwie vorhandenen Kopien<br />

des Films auf, was er alles vernichtete, um damit jede<br />

Konkurrenz zu Metros neuem "Gaslight" auszuschalten.<br />

214


Aber der Film wäre so oder so nicht zur Konkurrenz geworden,<br />

denn die fertige Geschichte im nebelverhangenen viktorianischen<br />

London (alles in Culver City gedreht) stellte eine<br />

glänzende Leis<strong>tu</strong>ng aller Beteiligten dar – in andern Worten:<br />

der Film hatte alles, was in "Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt" und "Saratoga<br />

Trunk" vermisst wurde. Das Script (von John Van<br />

Druten, Walter Reisch und John L. Balderston) baute die Spannung<br />

systematisch auf und entfaltete seine Charaktere mit<br />

raffinierter Sparsamkeit. Cukor, vor allem an Haute Cou<strong>tu</strong>re-<br />

Komödien gewöhnt oder stimmungsvolle Geschichten für etablierte<br />

Hollywood-Damen, führte seine Truppe ruhig aber mit<br />

peinlicher Detailtreue. Boyer verlieh der Person des bösartigen<br />

Ehemanns einen ölig-dumpfen Charme von frostiger Glaubwürdigkeit.<br />

Joseph Cotten unterspielte auf sympathische Art<br />

die Rolle eines Detektivs. Und in ihrem Filmdebüt verwandelte<br />

die dam<strong>als</strong> siebzehnjährige Angela Lansbury die Rolle des kessen<br />

Hausmädchens in eine glänzende Minia<strong>tu</strong>r von frecher<br />

Bosheit.<br />

Aber <strong>Ingrid</strong> hatte den dornenvollsten J<strong>ob</strong>, denn die Rolle<br />

der Paula Alquist musste sorgfältig nuancieren zwischen<br />

glaubhafter und sympathischer Wirkung, nicht nur melodramatisch<br />

in ihrer Hysterie und irritierend in ihrer Fragilität. Vom<br />

ersten Tag an realisierte <strong>Ingrid</strong>, dass diese Frau nicht <strong>als</strong> eine<br />

willige Komplizin ihrer eigenen Qual dargestellt werden konnte<br />

– die sie ja nicht war. Es brauchte Rückblendungen auf die<br />

junge Paula, das Mädchen das gerne tanzte und sang und das<br />

sich im Gesangsunterricht verzehrend in seinen Korrepetitor<br />

verliebte. Sie musste das psychische Leiden in eine etablierte,<br />

starke Frau einbringen, die sich an ihr früheres Glück erinnerte<br />

– nur so konnte ihre Notlage quälender und ihr schliesslicher<br />

Triumph erhebender zum Ausdruck kommen.<br />

In dieser Beziehung hatte <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Na<strong>tu</strong>r eine<br />

betont mutige Seite. Vielleicht teilweise bedingt durch ihre<br />

wiederholten Kindheitserlebnisse um menschlichen Verlust und<br />

den daraus resultierenden Zwang, auf die eigenen Beine zu<br />

stehen, wurde sie zu einer Frau, der blosse Gegnerschaft<br />

nichts anhaben konnte. Bei der Lektüre der Geschichte jener<br />

215


Frau, die den Mann anbetet, der an ihrer Zerstörung arbeitet,<br />

mag <strong>Ingrid</strong> wohl der eine oder andere Gedanke an ihre eigene<br />

emotionale Geschichte gekommen sein. Wie Paula, hatte auch<br />

sie ihre Mutter <strong>als</strong> Kind verloren, ihr Vater starb, <strong>als</strong> sie ein<br />

junges Mädchen war, und aufgezogen wurde sie von einer Tante.<br />

Ebenfalls wie Paula, genoss auch <strong>Ingrid</strong> Gesangsunterricht.<br />

Und wie die Heldin, die sie portraitierte, hatte auch <strong>Ingrid</strong> Geld<br />

von ihrer Tante Hulda, Otto <strong>Bergman</strong>s Witwe, geerbt (es handelte<br />

sich um ein paar tausend Dollars, aber dessen ungeachtet<br />

war es ein Testament ihrer Familie). Sie fand einiges von<br />

sich selbst in dieser Figur. Und weil sich die Makeup-Abteilung<br />

freute, <strong>Ingrid</strong> <strong>Ingrid</strong> sein zu lassen, fühlte sie sich vor ihrem<br />

alten Freund, der Kamera, freier, <strong>als</strong> sie sich im vergangenen<br />

Jahr je fühlen konnte.<br />

Ebenfalls wie Paula, wusste <strong>Ingrid</strong> wie man sich fühlt,<br />

wenn man von jenen beleidigt wird, die man liebt – wusste sie<br />

auch, was es für eine Frau bedeutet, sich so nahe ans Feuer zu<br />

setzen, dass Gefahr droht. Um das gleich vorwegzunehmen: In<br />

den Charakteren und Handlungsweisen von Petter Lindström<br />

oder Gary Cooper gab es keinen Hauch von Grausamkeit. Aber<br />

sehr wahrscheinlich hat keiner von beiden je das Ausmass ihrer<br />

Gefühlswelt, das Verhältnis zwischen ihrer Abhängigkeit<br />

und ihrer Selbstsicherheit, ihrer verzagten Unsicherheit und<br />

ihrem bedingungslosen Vertrauen in ihre Begabung begriffen.<br />

Ihre rückhaltlose Offenheit zu diesen Männern, ihr Bedürfnis<br />

nach deren Unterstützung, ihr Vertrauen in deren Kooperation<br />

und ihr verletzbarer Verlass auf deren Entscheidungen – diese<br />

Gefühle bestimmten ihre Sensibilität <strong>als</strong> Frau und <strong>als</strong> hochgradig<br />

kreative Künstlerin.<br />

Diesen Sommer lebte <strong>Ingrid</strong> noch immer unter dem Einfluss<br />

einer Ehe, die zu einer distanziert-höflichen Belas<strong>tu</strong>ng<br />

verkommen war, und sie hatte eben die emotionalen und professionellen<br />

Demütigungen des Cooper/Wood-Films hinter sich<br />

gelassen. Enttäuschung und Distanzierung können verbittern,<br />

oder auch klären und adeln, und genau das ist es, was <strong>Ingrid</strong><br />

zur Personifizierung der Paula Alquist brachte. "Gaslight" war<br />

ihr Weg, sich über die Flammen zu erheben – auf eine Art zum<br />

216


siegreichen Soldaten zu werden. Wie ihre Freunde wussten,<br />

war Jeanne d'Arc nie häufiger in ihren Gedanken, kam sie in<br />

Gesprächen nie häufiger über ihre Lippen, <strong>als</strong> in dieser Saison.<br />

<strong>Ingrid</strong> betrachtete sich nie <strong>als</strong> Märtyrerin (noch weniger <strong>als</strong><br />

eine Heilige), aber sie verstand die schreckliche Einsamkeit<br />

einer Frau, deren Ideale sich eben erst so unerreichbar erwiesen.<br />

Weder zum ersten noch zum letzten Mal in ihrem Leben,<br />

brachte sie etwas in Bewegung – nein, nicht nur in Bewegung,<br />

zum Blühen.<br />

Bei den Vorberei<strong>tu</strong>ngen war sie so sorgfältig und präzise<br />

wie immer. Nach dem S<strong>tu</strong>dium einer enormen Zahl von Büchern<br />

und Artikeln über Halluzinationen, Illusionen und vererbter<br />

Schizophrenie, bestand <strong>Ingrid</strong> darauf, dass Metro und Cukor<br />

ihr Gelegenheit bieten würden, eine psychiatrische Klinik<br />

zu besuchen. Sie erhielt dann irgendwie die Bewilligung, wiederholt<br />

eine einsame Patientin zu besuchen, die trotz gelegentlichen<br />

Perioden von klarem Bewusstsein an der schlimmsten<br />

Form von Demenz litt. <strong>Ingrid</strong> be<strong>ob</strong>achtete die Augen der Frau,<br />

die abwechslungsweise voller Hoffnung und handkehrum von<br />

Furcht getrübt waren, deren Verhalten warme Zugänglichkeit<br />

und gleich wieder finsterste Angst zum Ausdruck brachte. Aber<br />

die Schauspielerin war keine aufdringliche Neugierige; sie<br />

brachte Spiele und Unterhal<strong>tu</strong>ng für die Patientin und wurde<br />

für diese zu einer verlässlichen Freundin, bis die arme Frau im<br />

darauffolgenden Jahr an Tuberkulose starb.<br />

INGRIDS LEISTUNG IN DIESEM FILM war von so vielen<br />

Eindrücken inspiriert. Anstelle von wilden Augen und hysterischen<br />

Ausbrüchen wandte sie einfach ihren Blick, zwinkerte<br />

mit den Augenlidern, befeuchtete die Lippen ihres trockenen<br />

Mundes und stotterte gelegentlich. Cukor hatte keine Pr<strong>ob</strong>leme<br />

mit ihr, denn sie war immer empfänglich und ging auf seine<br />

Reaktionen ein. Er wusste auch, wann ihre klagenden Augenbrauen<br />

und ihr ahnungsloser Blick durch eine Nahaufnahme<br />

einzufangen waren. Wenn Gregory (Boyer) darauf besteht,<br />

dass sie vergesslich und verwirrt werde, ist etwas in ihrem<br />

217


Verhalten, das der Diagnose widerspricht, <strong>ob</strong>schon sie aufgeschreckt<br />

ist, es könnte etwas daran sein. Ihr unterdrückter<br />

Ausbruch an der musikalischen Soiree, wo ihr weisgemacht<br />

wird, sie habe die Uhr ihres Mannes geklaut, ist ein Meisterwerk<br />

der Improvisation – ein abgedämpfter Schluchzer, ein<br />

kurzer Aufschrei ihres Kummers, die gezügelte Angst und dann<br />

der entsetzliche Zusammenbruch, alles durch ihren tapferen<br />

Widerstand umso wirkungsvoller.<br />

Mehr <strong>als</strong> ein halbes Jahrhundert danach ist <strong>Ingrid</strong>s Paula<br />

nach wie vor ein ergreifendes Portrait einer zwischen der<br />

Angst vor dem Wahnsinn und dem Bewusstsein ihrer Gesundheit<br />

aufgeriebenen Frau. In ihrer letzten grossen Szene – <strong>als</strong><br />

sie ihren gefangenen Peiniger mit der Behaup<strong>tu</strong>ng verhöhnt, er<br />

sei so verrückt, wie er sie haben wollte – m<strong>ob</strong>ilisierte <strong>Ingrid</strong><br />

alles, was ihr Na<strong>tu</strong>rell an Subtilität zu bieten hatte. Nichts war<br />

übertrieben; nichts schien auskalkuliert zu sein. Als sie die<br />

Szene beendet hatte, hallte der Applaus der Crew von über<br />

den Laufstegen bis hinter die Kamera. "Ja gut, vielleicht war's<br />

recht so," sagte sie. Diesen Winter wurde sie von der Akademie<br />

<strong>als</strong> eine der besten Schauspielerinnen des Jahres nominiert,<br />

und "Gaslight" erhielt noch sechs weitere Nominationen<br />

dieser Art – für den besten Film, Schauspieler (Boyer), weibliche<br />

Nebenrolle (Lansbury), Script, Kamera (Joseph<br />

Ruttenberg) und Regie (Cedric Gibbons, William Ferrari, Edwin<br />

B. Willis und Paul Huldschinsky).<br />

Mit Bezug auf <strong>Ingrid</strong> durchforsteten die Kritiker ihre Vokabularien<br />

nach Superlativen: "Miss <strong>Bergman</strong> ist grossartig in<br />

ihrer entnervenden Rolle. Ihr sympathisches und gefühlvolles<br />

Spiel hält den Zuschauer in dauernder Spannung", lautete etwa<br />

der Tenor. Das Publikum stimmte zu: "Gaslight" habe sie<br />

<strong>als</strong> erstklassige Schauspielerin bestätigt, und aus Umfragen<br />

der Filmzeitschriften ging sie <strong>als</strong> Amerikas beliebteste Schauspielerin<br />

hervor. So brachte es TIME Magazine vom 2. August<br />

auf den Punkt, wo sie die Titelseite zierte: "<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong><br />

(<strong>als</strong> Maria) – wem immer in Hollywood die S<strong>tu</strong>nde schlug, sie<br />

läutete sie".<br />

218


Die Ausgabe enthielt einen hymnischen Artikel mit den<br />

Eckpfeilern ihres Lebenslaufs und ihrer bisherigen Karriere,<br />

gipfelnd: "Nicht nur, dass <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> keinen einzigen<br />

Feind in der ganzen Gemeinde hat: das Publikum liebt auch<br />

ihre Art zu arbeiten....ihre besondere Schönheit kommt von<br />

innen heraus; es ist die Schönheit eines Individuums.... sie ist<br />

eine ungewöhnlich ausgeglichene und charmante Frau mit Hal<strong>tu</strong>ng,<br />

Aufrichtigkeit, Zurückhal<strong>tu</strong>ng, Sensibilität, Charme und<br />

Talent." Und so ging's mit dem L<strong>ob</strong>, Seite über Seite, einschliesslich<br />

der unverdünnten L<strong>ob</strong>hudeleien der beiden Hexen<br />

Hedda Hopper und Louella Parsons. Kein lebender Mensch<br />

könnte einen derartigen Heiligsprechungsprozess lange überleben;<br />

allen voran ihm misstraute <strong>Ingrid</strong>.<br />

DIE PRODUKTION VON "GASLICHT" dauerte von Anfang<br />

Juli bis Ende Okt<strong>ob</strong>er und war nicht eine pausenlos ernste Angelegenheit,<br />

wie leidenschaftlich immer die Vorberei<strong>tu</strong>ngen<br />

und Pr<strong>ob</strong>en oder wie hoch die emotionalen Anforderungen jeder<br />

Szene gewesen sein mögen. Eines Abends hatte Selznick<br />

eine stattliche Zahl von potenziellen Investoren zu einer Party<br />

geladen, an der seine wichtigsten Vertrags-Stars teilnehmen<br />

sollten. Joseph Cotten erhielt den Auftrag, <strong>Ingrid</strong> zum Selznick-Mansion<br />

zu begleiten. Beide waren erschöpft, hatten einen<br />

frühen Arbeitsbeginn am nächsten Tag vor sich und waren<br />

nicht mehr in der Laune, zum Nutzen ihres Chefs einen höflichstilvollen<br />

Auftritt zu inszenieren.<br />

Spontan entwickelte <strong>Ingrid</strong> den Plan zu einem harmlosen<br />

Streich; so eilten sie zu Metros Garder<strong>ob</strong>e-Abteilung. Für<br />

sie fanden sie ein komplettes Kostüm für eine Serviererin<br />

(schwarzer Rock, weisse Schürze, weisse S<strong>tu</strong>lpen und Häubchen)<br />

und für ihn eine Butler-Uniform. Eine S<strong>tu</strong>nde danach<br />

schlüpften sie beide durch Selznicks Dienstboten-Eingang, beschworen<br />

den Majordomus, nichts zu verraten, behändigten<br />

ein Hors d'Oeuvre-Tablett und ein Tablett voller Getränke und<br />

begannen, mit dem <strong>ob</strong>ligaten Hollywood-Ach<strong>tu</strong>ngsgebaren ihren<br />

Weg durch die protzige Versammlung zu nehmen. "Das<br />

219


Mädchen dort hat eine auffallende Ähnlichkeit mit <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>",<br />

flüsterte Irene Selznicks Schwester, Edie Goetz.<br />

Kurz danach drehten die beiden noch etwas auf. Sie<br />

vereinbarten, auf offener Szene einige Gläser Champagner<br />

schwungvoll hinunterzustürzen und dann den Schwips vorzutäuschen.<br />

Dann, zwar mit schwerer Zunge aber immer korrekt,<br />

rief Butler Cotten zu <strong>Ingrid</strong> hinüber: "Komm Martha, wir haben<br />

nur eine S<strong>tu</strong>nde Arbeitszeit vereinbart! Unsere Kinder warten<br />

auf uns!" Aller Augen nun auf <strong>Ingrid</strong> gerichtet, stürzte sie zwei<br />

weitere Gläser hinunter und kicherte so unkontrolliert, dass<br />

Selznick auf die Szene aufmerksam wurde und sie sofort erkannte.<br />

Leider genossen nur die Spassvögel den Scherz.<br />

ENDLICH KONNTE INGRID DIESEN HERBST etwas zur<br />

Ruhe kommen. Sie verbrachte mehr Zeit mit ihrer Tochter,<br />

jetzt ein hübsches, lebhaftes Kind von fünf Jahren, und sie<br />

schrieb Petter, was er wohl zu ihrer Idee sagen würde, über<br />

den Kauf eines Hauses in Beverly Hills nachzudenken – mit viel<br />

Platz für Pia und den Räumen zur Unterhal<strong>tu</strong>ng von Freunden<br />

und Kollegen. Schliesslich betrugen ihre Bruttoeinkünfte 1943<br />

fast $ 100'000, wovon ihr nach Steuern und Abgaben fast $<br />

25'000 bleiben würden – sicher genug für eine grössere Anzahlung<br />

für ein hübsches Haus nördlich des Sunset Boulevards. Ihr<br />

Ehemann antwortete, sie wollten zu suchen beginnen, s<strong>ob</strong>ald<br />

er für seinen Urlaub nach Los Angeles zurückgekehrt sei.<br />

Jahre später gestand Petter, dass die emotionale Distanz,<br />

die sie zu dieser Zeit zunehmend trennte, sowohl durch<br />

seine Karriere wie durch die ihre verursacht wurde. Die Ehe<br />

war brüchig, sagte er, weil "nicht nur <strong>Ingrid</strong>, sondern auch ich<br />

zu sehr auf meine berufliche Arbeit fokussiert war – ich hätte<br />

nicht gezögert, von Kalifornien wegzuziehen, wenn mich das<br />

beruflich vorwärts gebracht hätte." Noch ein paar Jahre später<br />

war er in einem Brief an <strong>Ingrid</strong> noch offener: "Die einfache<br />

Wahrheit ist, dass ich kein guter Ehemann und zu sehr von<br />

meiner eigenen anspruchsvollen Arbeit absorbiert war; darüber<br />

hinaus war unsere Ehe nicht ideal, <strong>ob</strong>wohl wir uns in den ers-<br />

220


ten Jahren – wie ich glaube – gegenseitig ehrlich begegnet<br />

sind und voll vertraut haben." In dieser Hinsicht war seine Offenheit<br />

so bewunderungswürdig, wie die ihre; die fortschreitende<br />

Auflösung des Bandes zwischen ihnen kann kaum <strong>als</strong> die<br />

Folge eines sogenannten Hollywood-Lifestyles bezeichnet werden.<br />

Tatsache bleibt aber, dass Petters Arbeit sehr wohl die<br />

seiner Frau einschloss, und 1943 war er – der hohen Inanspruchnahme<br />

seiner Zeit und Energie zum Trotz – mehr <strong>als</strong> je<br />

zuvor mit der vollständigen Kontrolle von <strong>Ingrid</strong>s Karriere beschäftigt,<br />

was all jene mit Sorge erfüllte, die dieses Management<br />

mit grossem Missbehagen betrachteten. "Er wusste, dass<br />

er am Lenkrad sass und die uneingeschränkte Kontrolle über<br />

den heissesten Star der Filmgeschichte ausübte", sagte Joe<br />

Steele, der Petter <strong>als</strong> barsch und hartnäckig beschrieb, <strong>als</strong> einen<br />

Mann, dessen freudlose Nüchternheit ihren Ursprung in<br />

seinem ungeheuerlichen Misstrauen allem und jedem gegenüber<br />

hatte.<br />

IM INTERESSE DER PUBLIZITÄT liehen die S<strong>tu</strong>dios ihre<br />

Stars oft an Radio-Gesellschaften aus, die Zusammenfassungen<br />

von populären Filmen ausstrahlten. So kam es, dass Selznick<br />

<strong>Ingrid</strong> im September das Script zu einer Radio-Version<br />

von "Casablanca" sandte. Sie nahm es mit zu einem ihrer<br />

häufigen Besuche bei Petter in San Francisco; er überlas es<br />

rasch und brachte sogleich und zu <strong>Ingrid</strong>s Überraschung einige<br />

Änderungen am Dialog an. "Ich habe das Script so gut wie<br />

möglich geändert", schrieb Petter an Dan O'Shea, <strong>als</strong> er das<br />

Script am 20. September zurücksandte. Man kann sich das<br />

allgemeine Augenbrauenheben entlang den Korridoren von<br />

Selznick International Pic<strong>tu</strong>res etwa vorstellen. Ein Star könnte<br />

Änderungen vorschlagen, ein Agent könnte Anfragen stellen,<br />

ein Direktor kann Einwendungen registrieren. Aber ein derart<br />

plumpes Vorgehen wie dieses war schlicht jenseits von Petters<br />

Kompetenz.<br />

221


Vielleicht hat er sich zur selbstherrlichen Ausdehnung<br />

seines Einflusses auf <strong>Ingrid</strong>s Karriere durch eine Verhandlung<br />

berechtigt gefühlt, die er früher in diesem Jahr mit Selznick<br />

geführt hatte. Um sein kleines S<strong>tu</strong>dienstipendium aufzubessern,<br />

bot Petter Selznick seine Sprachkenntnisse und seine<br />

Beziehungen <strong>als</strong> Schwede an. In einem von Selznick und Petter<br />

unterzeichneten Vertrag vom 2. Mai, wurde Petter bei einem<br />

Jahresgehalt von $ 5'000 beauftragt, "Zusammenfassungen<br />

von ak<strong>tu</strong>eller schwedischer Litera<strong>tu</strong>r, die sich für Filme mit<br />

Miss <strong>Bergman</strong> eignen würde, zu liefern, Herausgeberlisten von<br />

schwedischer Belletristik zu beschaffen und alte Filme mit Miss<br />

<strong>Bergman</strong> aufzukaufen." Niemand erwartete, dass diese Aufgaben<br />

erfüllt würden, aber solche Vereinbarungen waren in Hollywood<br />

an der Tagesordnung, wodurch Ehepartner, Freunde<br />

und Liebhaber von Stars an die Geldtruhen der S<strong>tu</strong>dios gelangten.<br />

Ende Jahr unternahm Petter einen Schritt, der seine<br />

Frau, David Selznick, Charles Feldman, Kay Brown und jeden,<br />

der davon hörte, in Staunen versetzte. In einem Brief vom 30.<br />

Dezember an O'Shea sprach er wieder für sie und akzeptierte,<br />

dass "in Anbetracht Ihrer Zahlung des vollen Betrags an <strong>Ingrid</strong><br />

für ihren vierten Film (innerhalb von achtzehn Monaten) ich<br />

mich damit einverstanden erkläre, dass das im Vertrag stipulierte<br />

Da<strong>tu</strong>m vom 6. Januar 1944 um 5 Wochen nachversch<strong>ob</strong>en<br />

wird". Dann kam die erstaunliche Unterschrift: "Petter<br />

Lindström, Attorney-In-Fact for <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>". Wie Selznick<br />

und Co. schlagartig zur Kenntnis nahmen, hatte sich Petter<br />

selbstherrlich zum offiziellen Rechtsvertreter seiner Frau ernannt<br />

– und damit trug er zweifellos selbst mindestens soviel<br />

zur späteren Auflösung seiner Ehe bei, wie jede von <strong>Ingrid</strong> dazu<br />

ergriffene Massnahme. Eine Woche später wies er Selznick<br />

an, sämtliche Korrespondenz und Verträge für <strong>Ingrid</strong> an ihn zu<br />

adressieren <strong>als</strong> "Attorney-In-Fact, at 414-C Shirley Place, Beverly<br />

Hills". <strong>Ingrid</strong> erfuhr davon durch Selznick.<br />

222<br />

Ebenfalls im Dezember veranlasste Petter seine Frau,


weil sie nach "Gaslight" ja kein unmittelbares Projekt hatte,<br />

etwas für die amerikanische Kriegführung zu <strong>tu</strong>n. Sie stimmte<br />

zu, und er traf für sie ein Arrangement, wonach sie zur Unterhal<strong>tu</strong>ng<br />

der amerikanischen Truppen der Armeebasen in Alaska<br />

eingesetzt würde. Während fünf Wochen hüpfte sie von einem<br />

entlegenen Aussenposten zum andern mit dramatischen Lesungen,<br />

schwedischen Volksliedern und Fotos signieren für<br />

nicht im Einsatz stehende oder genesende Soldaten.<br />

"Wie wir alle", erinnerte sich später ein Veteran, "hatte<br />

sie Tempera<strong>tu</strong>ren von minus 20 Grad und tiefer auszuhalten,<br />

wurde in Uniform gekleidet und verbrachte die Nächte oft am<br />

Boden im Schlafsack. Einmal war es so kalt, dass ihr Eau de<br />

Cologne zu Eis wurde! Während den Busreisen gab es keinen<br />

Komfort, und während Wochen war kein Bad in Sicht. Aber<br />

<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> beklagte sich nie und war nie zu müde, die<br />

Soldaten zu unterhalten."<br />

"Wir tanzten mit den Soldaten", erinnerte sie sich, "wir<br />

assen zusammen und machten Spitalbesuche. Sie sind so<br />

dankbar für alles, was du für sie <strong>tu</strong>st." Aber dann ereilte sie<br />

eine schreckliche Erkäl<strong>tu</strong>ng mit hohem Fieber, und am 20. Januar<br />

wurde sie in ein Spital nach Seattle geflogen, wo die Ärzte<br />

eine doppelte Lungenentzündung diagnostizierten. Sowie ihr<br />

ein weiterer Flug zugemutet werden konnte, wurde sie nach<br />

Los Angeles zurückverlegt, wo sie für einen Monat Bettruhe<br />

verordnet erhielt. Dank der Fürsorge durch Mabel, Petter und<br />

ihren Hausarzt Dr. Culley verlief der Heilungsprozess dann ohne<br />

Komplikationen.<br />

223


224<br />

In Alaska


1944 - in "Gaslicht" mit Charles Boyer<br />

225


226<br />

1944 - kein einfaches Jahr - aber eines mit Aussichten


1944<br />

„Ich glaube, ich wartete einfach auf jemanden, der mich<br />

aus dieser Ehe herausholte. Allein hatte ich die Kraft dazu<br />

nicht mehr."<br />

(<strong>Ingrid</strong> über ihren Seelenzustand)<br />

WÄHREND DER ERSTEN MONATE DES NEUEN JAHRES<br />

war <strong>Ingrid</strong> erschöpft. Pia, die nachmittags vom Kindergarten<br />

nachhause kam, wurde oft aus Mamas Zimmer gescheucht,<br />

was ihre Freundinnen Ruth R<strong>ob</strong>erts und Kay Brown gelegentlich<br />

beunruhigte: Die Krankheit machte <strong>Ingrid</strong> ungewöhnlich<br />

müde, weshalb sie viel Schlaf brauchte.<br />

Ihre ganze Umgebung riet ihr, nun nicht gleich wieder<br />

in ihren normalen Arbeitsgalopp zurückzufallen, was sie auch<br />

einsah und eine persönliche Art der Entspannung für sich fand:<br />

Sie fuhr hinaus zur Küste – sei es zum Strand von Malibu oder<br />

zu den steilen Klippen der Santa Monica Palisades – und setzte<br />

sich irgendwo hin zum Lesen und um Scripts zu s<strong>tu</strong>dieren, wie<br />

sie es in ihrer Mädchenzeit dem Strandvägen entlang getan<br />

hatte. Ihr ganzes Leben lang übte das Meer eine belebende<br />

und ausgleichende Wirkung auf sie aus.<br />

Aber meistens war sie in Eile.<br />

"Alle sagen mir 'take it easy', aber ich möchte ständig<br />

etwas <strong>tu</strong>n", sagte sie<br />

Drum hasse ich die Sonntage. Andere Leute freuen<br />

sich auf den Sonntag, weil sie segeln gehen, Poker<br />

spielen oder zur Jagd gehen. Aber ich habe kein H<strong>ob</strong>by.<br />

Ich kann nicht bis Montag warten. So ist das im-<br />

227


228<br />

mer mit mir. Ich muss arbeiten, ich kann mich nicht<br />

entspannen, und ich bin unglücklich, wenn ein Film zu<br />

Ende gedreht ist – so lese ich eben ständig Scripts<br />

oder nehme irgendwelche Unterrichtss<strong>tu</strong>nden. Französisch,<br />

Tennis, Schwimmen, Reiten – nicht zur Ertüchtigung,<br />

sondern nur um etwas zu lernen, was ich möglicherweise<br />

einmal in einem Film gebrauchen kann, und<br />

dann verliere ich das Interesse daran. Ich lese auch<br />

viele Bücher, Stücke, Fiktion und Biographien. Wenn<br />

man mir die Bühne wegnähme, würde mir der Atem<br />

wegbleiben. Ich hoffe, sie werden später einmal auf<br />

meinen Grabstein schreiben: "Ihr Leben war das<br />

Schauspiel bis zum letzten Tag. Hier ruht eine gute<br />

Schauspielerin."<br />

Diesen Winter ging die Kontrolle über <strong>Ingrid</strong>s Leben stetig<br />

und zunehmend in die Hände ihres Ehemanns über. "Er<br />

sagte mir, was ich <strong>tu</strong>n und was ich sagen solle, und ich verliess<br />

mich in allen Dingen auf ihn. Er meinte es gut. Er nahm Lasten<br />

von meinen Schultern." Er korrigierte auch ihre Figur, beriet<br />

sie hinsichtlich ihrer Frisur und schalt sie für ihren unvernünftigen<br />

Kalorienhaushalt aus. "Natürlich half mir, was er sagte, in<br />

all den Jahren sehr viel. Petters Nörgelei unterstützte mich<br />

auch, aber in jenen Tagen ging er mir damit über alle Massen<br />

auf die Nerven."<br />

1944 war er mehr Mentor und Manager <strong>als</strong> Ehemann,<br />

und in <strong>Ingrid</strong> wuchs ein stilles Ressentiment heran. Einmal<br />

hielt sie es für überflüssig, nach der Genesung von ihrer Lungenentzündung<br />

auf ihre Diät zu achten, wo es doch dieses<br />

Frühjahr keine Arbeit gab.<br />

Petter wollte mich sehr schlank bis dünn sehen. Er<br />

konnte nie verstehen, wie ich bei all diesen Diätprogrammen,<br />

denen ich unterworfen war, nicht an Gewicht<br />

verlor. Was er nicht wusste, war, dass ich – <strong>ob</strong>schon<br />

abends bei Tisch mit Fruchtsaft und etwas Salat<br />

sehr vernünftig – in meinem Schlafzimmer eine Schale<br />

mit Gebäck stehen hatte, das ich nach dem Abendes-


sen fein säuberlich bodigte. Und dass ich mitten in der<br />

Nacht zum Kühlschrank hinunter ging und alles ass,<br />

was sich zur Ergänzung meines schmalen Abendessens<br />

anbot.<br />

Die Geschichten berühmter Frauen, die in Diätkuren gequält<br />

oder gedemütigt wurden, sind natürlich Legion; dies gab<br />

der Ehe nicht den fatalen Schlag, aber es waren, wie sie es<br />

ausdrückte, "alle die kleinen Dinge", die sich kumulierten und<br />

den Respekt verblassen liessen und mit dieser Erosion – auch<br />

die Liebe. <strong>Ingrid</strong> gab ihre Fehler unumwunden zu, und immer<br />

wenn sie um Verzeihung bat, erinnerte sie ihren Mann daran,<br />

dass auch er nur ein Mensch sei. "Ich begehe Fehler? Ich, Fehler?",<br />

pflegte er zu fragen,"Nein, sicher nicht. Ich überdenke<br />

alles sehr sorgfältig, bevor ich handle!" Petter Lindström war in<br />

mancherlei Hinsicht sehr ehrbar, so sei ihm seine ungeheuerliche<br />

Selbstgerechtigkeit verziehen.<br />

<strong>Ingrid</strong>s Taschengeld wurde von ihrem Ehemann so klein<br />

bemessen, dass sie nicht in der Lage war, bei Bedarf ein passendes<br />

Kleidungsstück zu kaufen. Mehr <strong>als</strong> einmal war Joe<br />

Steele entsetzt darüber, wenn <strong>Ingrid</strong> Petter anrufen musste,<br />

um seine Erlaubnis zu einem Interview einzuholen oder um<br />

Geld für einen Rock oder ein Kleid zu bitten. "Sie war immer<br />

die unterwürfige Ehefrau", meinte Selznick <strong>als</strong> Echo der Eindrücke<br />

von Michel Bernheim. "Lindström verwaltete das Geld,<br />

und sie selbst konnte keinen Penny für sich oder das Haus<br />

ausgeben, ohne zuerst seine Einwilligung eingeholt zu haben."<br />

Auch Joe Steele wusste das: "Ihr Mann kontrollierte die Finanzen."<br />

Das war wohl in den meisten amerikanischen Familien<br />

so, nur lebten die meisten amerikanischen Familien nicht ausschliesslich<br />

vom Einkommen der Frau.<br />

Petters Überwachung und Organisation ihres Lebens<br />

dehnten sich nun weit über die vertraglichen Details und Abschlüsse<br />

mit Selznick aus. "Oft kritisierte er an meinen Interviews,<br />

ich hätte nicht die richtigen Dinge gesagt", erinnerte<br />

sich <strong>Ingrid</strong>. "Und auch schon, wenn wir von einer Party nachhause<br />

kamen, sagte Petter: 'Du solltest nicht so viel reden. Du<br />

229


hast ein intelligentes Gesicht, so lass doch die Leute denken,<br />

du seiest auch intelligent. Sowie du zu plaudern beginnst, redest<br />

du jeden Unsinn'."<br />

Ungeachtet dessen, wie sehr er ihren Charme und ihre<br />

Intelligenz stets herunterzuspielen bestrebt war, hielt er ihre<br />

Ausstrahlung doch für stark genug, um mit allen ihren Hauptdarstellern<br />

Affären zu haben. "Einige mochte ich wirklich gut,<br />

und ich denke, bei einigen beruhte es auf Gegenseitigkeit",<br />

sagte sie, "aber da gab es sicher keine Liebesaffären." Ohne<br />

einen Beweis für das Gegenteil (und wir haben keinen), und<br />

weil <strong>Ingrid</strong> in ihrem späteren Leben mit Bezug auf die Männer<br />

sehr offen war, gibt es keinen Anlass, sie anzuzweifeln. Aber<br />

Petter glaubte aus rein persönlichen Gründen, was er glauben<br />

wollte.<br />

Jahre später gestand sich <strong>Ingrid</strong> selbst ein, dass sie<br />

dam<strong>als</strong> trotz ihres Vertrauens in ihr Talent, wie viele Frauen<br />

ihrer Zeit, durch ihren Ehemann völlig eingeschüchtert wurde.<br />

In einer Kul<strong>tu</strong>r aufgewachsen, die von der männlichen Überlegenheit<br />

und der na<strong>tu</strong>rgegebenen Abhängigkeit der Frauen von<br />

den höheren Fähigkeiten der Männer ausgeht, hinterfragte<br />

<strong>Ingrid</strong> diese Ordnung nie. Viele Konflikte in ihrer ersten und<br />

zweiten Ehe beruhten auf ihrer Unfähigkeit, die Kraft ihres beruflichen<br />

Selbstvertrauens und ihre klare Urteilsfähigkeit bezüglich<br />

ihrer Fähigkeiten und Karrieremöglichkeiten in ihr Privatleben<br />

hinüberzubringen. "Um ehrlich zu sein, ich hatte<br />

Angst vor ihm – und es war Wahnsinn, jemanden zu heiraten,<br />

vor dem ich mich ängstigte."<br />

Irene Selznick erfasste <strong>Ingrid</strong>s Dilemma klar. Sie erinnerte<br />

sich an Petter lebenslang <strong>als</strong> an einen rechthaberischen<br />

und strengen Mann, der das Leben der Lindströms in Hollywood<br />

so dominierte, wie er es in Schweden tat. Irene versuchte<br />

einst, <strong>Ingrid</strong> für eine wichtige Premiere zum Kauf eines passenden<br />

Kleides zu bewegen, sie aber konnte Petter nicht davon<br />

überzeugen, dass das nötig wäre.<br />

Was Pia anbelangt, wäre es ein Leichtes, <strong>Ingrid</strong> das<br />

Versagen <strong>als</strong> Mutter vorzuwerfen, weil ihr ihre Karriere von<br />

230


zentraler Bedeu<strong>tu</strong>ng war. "Aber wenn wir zusammen waren",<br />

erzählte Pia später, "verbrachten wir glückliche S<strong>tu</strong>nden mit<br />

Kinderspielen, Kissenschlachten, in die Nacht hinein plaudernd."<br />

Pia hatte keine Neigung zu Mutters Beruf. Wenn ein<br />

Besucher sie fragte, <strong>ob</strong> sie auch einmal Schauspielerin werden<br />

möchte, fragte sie: "Muss ich das?"<br />

Im Rückblick bezeichnete Pia ihre Kindheit <strong>als</strong> gütige<br />

Vernachlässigung. "Meine Mutter unterwarf sich den Anforderungen<br />

ihrer Karriere und Vater war hinter der seinen her, sodass<br />

ich sehr oft alleine war – und einsam. Ich habe keine lebendigen<br />

Erinnerungen an die glückliche Familie."<br />

Später ging <strong>Ingrid</strong> wegen dieser Zeit härter mit sich ins<br />

Gericht: "Ich fühlte mich schuldig, aber nicht schuldig genug,<br />

um den Beruf aufzugeben.<br />

Ich war <strong>als</strong> Mutter zu jung – nicht so sehr nach Jahren,<br />

<strong>als</strong> eher unreif. Ich war so sehr absorbiert von meiner<br />

Karriere, von Hollywoods Starsystem und all dem,<br />

dass ich für das kleine Mädchen in meinem Haus keine<br />

Zeit fand. Es wartete den ganzen Tag lang auf meine<br />

Heimkehr vom S<strong>tu</strong>dio, und dann, wenn ich zuhause<br />

war – oft viel später <strong>als</strong> erwartet, war ich entweder zu<br />

müde, um mich mit dem Kind abzugeben oder hatte<br />

mich gleich umzuziehen für einen Anlass oder was<br />

immer. Es gibt keinen Zweifel darüber, dass ich sie<br />

vernachlässigt habe, und dafür habe ich ein lebenslanges<br />

Schuldgefühl."<br />

Irene Selznick hielt <strong>Ingrid</strong>s Reue für unbegründet. "Ich<br />

konnte nie verstehen, warum sich <strong>Ingrid</strong> wegen ihres Kindes<br />

derart in der Schuld fühlte, nur weil sie berufstätig war", erinnerte<br />

sich Irene Selznick. "Was immer <strong>Ingrid</strong> mit ihr oder für<br />

sie getan hat, es schien ihr nie genug zu sein. Ich kannte niemanden,<br />

der so besorgt war." Tatsächlich unterhielt <strong>Ingrid</strong><br />

<strong>Bergman</strong> ihre Familie, und Millionen von Frauen hatten dam<strong>als</strong><br />

und später wenig Zeit für ihre Kinder aus genau denselben<br />

Gründen.<br />

231


Vielleicht sind <strong>Ingrid</strong>s Gefühle verständlich, weil sie<br />

selbst den Mangel an mütterlicher Fürsorge in ihrer eigenen<br />

Kindheit erlebt hatte und nicht wollte, dass ihre Tochter mit<br />

denselben Kindheitserinnerungen aufwachsen musste. Aber<br />

unter bestimmten Umständen wird der Tod der Mutter von<br />

einem Kind vielleicht besser verkraftet, <strong>als</strong> ihre gelegentliche<br />

Anwesenheit für einen oder zwei Gänge beim Abendessen.<br />

Wenn <strong>als</strong>o <strong>Ingrid</strong> ihre Tochter zu vernachlässigen glaubte,<br />

mag dieses strenge Urteil auch eine andere Ursache haben<br />

– dieselbe emotionale Anfälligkeit, die sie dazu veranlasste,<br />

ihre abschätzige Beurteilung durch Petter allzu leichtfertig für<br />

bare Münze hinzunehmen. Tatsache ist, dass Pias Los in den<br />

1940er-Jahren nicht viel anders war, <strong>als</strong> das vieler anderer<br />

Kinder dam<strong>als</strong> und jederzeit (mag man beifügen: Speziell in<br />

Hollywood). Im Wohlstand lebenden Kindern blieb oft die nötige<br />

elterliche Zuwendung versagt, was aber nicht unbedingt<br />

fatal ist und auch keine erkennbare Schädigung verursachte;<br />

viele weniger wohlhabende Familien erleben weniger "Gemeinsamkeit",<br />

<strong>als</strong> uns die "happy family"-Märchen garantieren wollen,<br />

und Kinder aus diesen Verhältnissen sind oft erstaunlich<br />

lebenstüchtig (<strong>Ingrid</strong> selbst war eines von ihnen).<br />

Andererseits kann man sich sehr leicht vorstellen, welche<br />

Ressentiments gegen Kinder in einer Mutter entstehen<br />

könnten, welche die Gelegenheit zu einer bedeutenden Berufstätigkeit<br />

gehabt hätte, aber darauf verzichten musste (oder<br />

wollte), weil sie zuhause dringend gebraucht wurde. Gewisse<br />

Eltern und Kinder haben tatsächlich dieses überwältigende Bedürfnis;<br />

andere wiederum können sich den Luxus, diesem Bedürfnis<br />

nachzuleben, aus wirtschaftlichen Gründen nicht leisten;<br />

und wieder andern Eltern und Kindern geht es deutlich<br />

besser ohne den ständigen Kontakt zueinander. Im Gegensatz<br />

zu andern Ländern hat Amerika – allerdings erst seit dem 2.<br />

Weltkrieg – den Mythos der wunderbaren Mutter verbreitet, die<br />

Dick und Jane betreute, sie und ihren Hund zum Abendessen<br />

nachhause rief und mit links den unmöglichen Spagat zwischen<br />

ihren Pflichten <strong>als</strong> Köchin, Dienstmädchen, Kinderschwester<br />

und Lehrerin schaffte. Kein Wort über ihre Verpflich<strong>tu</strong>ngen <strong>als</strong><br />

232


treue, verlässliche Ehefrau: das alles versteht sich selbstredend<br />

<strong>als</strong> ganz "natürlich".<br />

Zugegeben: Für viele war es das auch. Aber für eine<br />

grosse Mehrheit war das der Lesestoff für Primarschulen. In<br />

dieser Beziehung machen wir die interessante Be<strong>ob</strong>ach<strong>tu</strong>ng,<br />

dass die amerikanische Kul<strong>tu</strong>r davon ausging, dass Väter meistens<br />

von zuhause abwesend waren, um ihre Familie zu ernähren,<br />

oft auf der Geschäftsreise oder damit beschäftigt, sich die<br />

Erfolgsleiter des Unternehmens hochzuarbeiten und ihren Kindern<br />

deshalb nur sehr wenig Zeit opfern konnten. Das war erhaben<br />

– und auch "natürlich". Mütter hatten brillante Schoko-<br />

Chip-Kuchen-Bäckerinnen zu sein, das Mädchen für alles, immer<br />

bereit mit Heftpflastern, Milchgläsern, Antworten auf geographische<br />

und arithmetische Fragen und endloser Geduld für<br />

die Bedürfnisse der Kiddies.<br />

Aber gleichzeitig hatten gewisse Industriezweige (wie<br />

z.B. die Filmindustrie) immer anspruchsvolle J<strong>ob</strong>s für Frauen<br />

bereit, und die Gesellschaft akzeptierte es auch, dass diese<br />

angenommen wurden. Wie, <strong>als</strong>o, soll eine Frau eine solche<br />

Aufgabe übernehmen und gleichzeitig die Idealrolle der Vollzeit-Hausmutter<br />

mit Schürze und Kochlöffel spielen? Speziell<br />

während des Krieges war das nur wenigen möglich. In den<br />

1940er-Jahren waren viele Frauen gezwungenermassen von<br />

ihren Kindern getrennt: Die Frauen vieler im Ausland kämpfender<br />

Soldaten hatten lange Arbeitszeiten zu bewältigen; viele<br />

von ihnen arbeiteten in Flugzeugwerken und Munitionsfabriken;<br />

und "Nieten-Rosies" – die damalige Bezeichnung für die in<br />

Rüs<strong>tu</strong>ngsbetrieben tätigen Frauen – waren in jeder amerikanischen<br />

Stadt und jedem Dorf massenhaft zu finden.<br />

Pia Lindström war kein missbrauchtes Kind. Aber dass<br />

sie tatsächlich unter einem Mangel an Zuwendung litt, unterliegt<br />

keinem Zweifel, und der Mangel an Geschwistern machte<br />

sie in ihrem jungen Leben umso einsamer. Zwei Faktoren<br />

stützten die Vorwürfe, die ihr andere und <strong>Ingrid</strong> sich selbst<br />

machten: die heuchlerische Verdammung, mit der Amerika sie<br />

1949 und 1950 abstrafte, und der in den 50er-Jahren wach-<br />

233


sende Wohlstand der Mittelschicht. Dam<strong>als</strong> waren viele Mütter<br />

nicht mehr erwerbstätig und konnten sich zuhause abschinden<br />

- wo die S<strong>tu</strong>nden länger und das Einkommen kleiner waren.<br />

Mag sein, dass die Gestalt des omnipotenten, allwissenden<br />

Mamis weitgehend die Erfindung der Autoren von "Fun with<br />

Dick and Jane" - mit etwas Schützenhilfe durch Dr. Benjamin<br />

Spock war. Vor allem verbreitete aber das Fernsehen die<br />

Stimmung der Zeit: Mami war die wichtigste Person im Leben<br />

eines Kindes, und solange sie sich nach den Regeln (welche<br />

immer das waren) verhielt, konnte nichts danebengehen. So<br />

war jedenfalls das Heim der Braven, und wie Dr. Lindström<br />

hatte nie-mand einen Fehler zu machen.<br />

Letztlich ist im Zusammenhang mit <strong>Ingrid</strong>s Verantwor<strong>tu</strong>ngsgefühl<br />

für ihre Familie immer im Auge zu behalten, dass<br />

sie für ihr eigenes Leben, das ihres Ehemannes und das ihrer<br />

Tochter selbst aufkam. Petters Einnahmen beschränkten sich<br />

auf das kleinste Stipendium für einen S<strong>tu</strong>denten, das nicht<br />

einmal ansatzweise ausgereicht hätte, eine Familie zu erhalten;<br />

ihren Lebensstil und Komfort verdankten sie alle ausschliesslich<br />

<strong>Ingrid</strong>s Einkommen. So ist nicht einfach einzusehen,<br />

warum sie <strong>als</strong> eine vernachlässigende Mutter betrachtet<br />

wurde, nur weil sie Filmstar und nicht ein hohes Tier in der<br />

Wirtschaft oder Ärztin war.<br />

SELZNICK ERWARTETE <strong>Ingrid</strong>s und Petters Teilnahme<br />

an der Verleihung der Academy Awards, die am 2 März im<br />

Graumans Chinese Theatre in Hollywood stattfand, umsomehr<br />

<strong>als</strong> sie für ihre Leis<strong>tu</strong>ng in "For whom the Bell Tolls" nominiert<br />

war. Jean Arthur, Joan Fontaine, Greer Garson und Jennifer<br />

Jones waren ebenfalls im Rennen. Als Jones gewann, eilte <strong>Ingrid</strong><br />

zu ihr, um ihr zu gra<strong>tu</strong>lieren. "Tut mir leid, <strong>Ingrid</strong>", sagte<br />

sie, "du hättest Anrecht auf den Titel gehabt." Aber <strong>Ingrid</strong> war<br />

anderer Meinung: "Nein, Jennifer, deine Bernadette war besser<br />

<strong>als</strong> meine Maria." Sie hatte Recht und wusste es auch.<br />

Diesen Monat beendete Petter sein Chirurgie-Praktikum<br />

im Stanford und begann ein dreimonatiges Praktikum <strong>als</strong> As-<br />

234


sistenzarzt in Otorhinolaringologie (H<strong>als</strong>, Nasen Ohren) im<br />

County Hospital Los Angeles. Danach folgte ein Praktikum <strong>als</strong><br />

Assistenzarzt in Neurochirurgie, das er 1947 abschloss, um<br />

sich danach lebenslang seiner Karriere <strong>als</strong> Neurochirurg zu<br />

widmen.<br />

Das alles hielt ihn aber nicht davon ab, sich um <strong>Ingrid</strong>s<br />

Karriere zu kümmern, und für einmal hatte nun David Selznick<br />

einen seiner langen Brief an Petter zu diktieren, um die harsche<br />

Kritik, die dieser in einem Brief vom 6. April über <strong>Ingrid</strong>s<br />

Chef zum Ausdruck brachte, zu kontern.<br />

Petter beanstandete, (a) dass <strong>Ingrid</strong> bei einem andern<br />

Produzenten, der sie besser beschäftigt (und wohl auch reicher<br />

gemacht) hätte, besser aufgeh<strong>ob</strong>en wäre; (b) dass sie nur für<br />

mittelmässige Filme ausgeliehen worden sei; (c) dass ihre Originalverträge<br />

aus den Jahren 1939 und 1940 zahllose Änderungen<br />

erfahren hätten; (d) dass Selznick sein Versprechen,<br />

mit <strong>Ingrid</strong> Jeanne d'Arc zu verfilmen, noch immer nicht eingehalten<br />

habe; (e) dass diese Umstände <strong>Ingrid</strong> nun veranlassten,<br />

sich für die Zeit nach Auslauf des Vertrags mit ihm nach einem<br />

andern Produzenten umzusehen, "dass sie aber nichts unterzeichnen<br />

würde, bevor sie ihn (Selznick) verständigt hätten".<br />

Petter: "Natürlich kam der Brief in <strong>Ingrid</strong>s Hände, worauf sie<br />

mich mit ihrem üblichen gesunden Menschenverstand ausschimpfte."<br />

Selznicks Antwort umfasste sieben Seiten; eine nach<br />

der andern beantwortete er Petters Vorhal<strong>tu</strong>ngen.<br />

"Du hast die Tendenz", begann er scharf aber korrekt,<br />

"unser dem deinen überlegenes Fachwissen im Filmgeschäft zu<br />

ignorieren. Ich würde mir nicht gestatten, dir zu sagen, du<br />

seiest im Stanford besser dran <strong>als</strong> im County Hospital, oder in<br />

der Columbia-Universität besser <strong>als</strong> in Rochester. Ich gehe<br />

davon aus, dass du deine Medizin verstehst und weisst, was du<br />

<strong>tu</strong>st. Du aber willst nicht akzeptieren, dass ich mein Geschäft<br />

kenne und dass auch ich weiss, was ich <strong>tu</strong>." Er wusste am besten,<br />

was für <strong>Ingrid</strong> gut war, <strong>Ingrid</strong> und Dan O'Shea wussten<br />

das "am zweitbesten". Aber Petter war "ein schlimmer Dritter".<br />

235


Mit Petters Einwand bezüglich mittelmässiger Filme<br />

wurde der Produzent leicht fertig. Er verwies ganz einfach auf<br />

die grosse Popularität und die Einnahmen aus "Dr. Jekyll and<br />

Mr. Hyde“, "Casablanca" und "For Whom the Bell Tolls" (der<br />

ungeachtet seiner Kritiken auf nationaler Ebene zahllose Massen<br />

anzog); ausserdem sollte "Gaslight" im Mai in die Kinos<br />

kommen, wofür alle Prognosen mehr <strong>als</strong> ermutigend lauteten.<br />

Auch die dritte Klage sei fadenscheinig, stellte Selznick<br />

fest: alle die Vertragsänderungen, vorgezogen wie sie waren<br />

(meist auf Petters Verlangen hin), brachten <strong>Ingrid</strong> einen höheren<br />

Pro-Film-Ertrag und höhere Boni – wo <strong>als</strong>o lag das Pr<strong>ob</strong>lem?<br />

Was Jeanne d'Arc anbelangte, war das während des<br />

Krieges praktisch ausgeschlossen. "Zeitweise waren die Gefühle<br />

unseres Landes für die Franzosen nicht die allerbesten, und<br />

wenn schon, dann waren wir nie sehr sicher, <strong>ob</strong> wir nicht tatsächlich<br />

mit Vichy kämpften (die kollaborierende französische<br />

Strohpuppen-Regierung während der deutschen Besetzung des<br />

Landes). Selbst heute noch ist die Si<strong>tu</strong>ation so delikat für einen<br />

Film, der Frankreich auf Kosten Englands (und/oder der katholischen<br />

Kirche: jemand verbrannte sie ja!) glorifiziert, dass<br />

man sich das kaum vorzustellen wagt.<br />

Aber die Drohung, <strong>Ingrid</strong> würde fremdgehen, wurmte<br />

Selznick. "Das ist etwa gleichbedeutend wie das militärgerichtliche<br />

Urteil für den Angeklagten, er werde im Morgengrauen<br />

nicht erschossen ohne zuvor darüber verständigt worden zu<br />

sein....Dein ganzer Brief, Petter, erschüttert mich im Hinblick<br />

auf <strong>Ingrid</strong>s Zusage, bei mir zu bleiben, solange sie im Filmgeschäft<br />

tätig sei." Selznick endete im Ton, mit dem er begann:<br />

"Meine Verbindung mit <strong>Ingrid</strong> ist eine helle Freude, getrübt nur<br />

durch deine hartnäckige Weigerung, das Fachwissen zu anerkennen,<br />

das ihre Führung erfordert.....Ich meinerseits habe<br />

das vollste Vertrauen in deinen grossen Erfolg – <strong>als</strong> Arzt."<br />

Selznicks sachliche Antwort traf ins Schwarze. Am 13.<br />

Mai antwortete Petter:<br />

236


1944 - in "Gaslicht", unten mit Charles Boyer<br />

237


238<br />

"Wie ich im Dezember sagte, denken wir, <strong>Ingrid</strong> sollte<br />

für einige Zeit keine neuen Verträge ins Auge fassen.<br />

Ich wollte dir aber sagen, dass ich deinen letzten Brief<br />

mit Freude gelesen habe.<br />

<strong>Ingrid</strong> ist fest entschlossen, ihre Filme mit dir zu machen.<br />

In den Pausen, wenn du sie in deinen Produktionen<br />

nicht benötigst, werden wir uns bemühen, ihr Arbeit<br />

zu verschaffen und zu wissen, ungefähr wann sie<br />

frei und wann sie an der Arbeit ist.<br />

<strong>Ingrid</strong> hat sich mit dir über diese "Extra-Verpflich<strong>tu</strong>ngen"<br />

schon kurz unterhalten.....deshalb wollte ich das<br />

Da<strong>tu</strong>m dafür festlegen: 1. Januar 1945. Es war nie<br />

meine Absicht, sie einen Exklusivvertrag mit einem<br />

Aussenseiter unterzeichnen zu lassen, weder vor noch<br />

nach diesem Da<strong>tu</strong>m."<br />

Wo beim Teufel (resp. in Beverly Hills) war denn Charles<br />

Feldman, wollte Selznick wissen? Hatte denn <strong>Ingrid</strong>s Agent<br />

hier keinen Einfluss? Die einzige Antwort darauf lautete: Mochte<br />

er es auch versucht haben, er hatte keinen.<br />

"Es ging bis zu meiner vollständigen Unterwerfung",<br />

sagte <strong>Ingrid</strong> später. "Petter bestand darauf, alle meine geschäftlichen<br />

Angelegenheiten zu regeln, und das Vertrauen zu<br />

andern lag nicht in seiner Na<strong>tu</strong>r, speziell nicht das zu Geschäftspartnern.<br />

Er behauptete oft, kein Mann habe seiner<br />

Frau je soviel Freiheit gelassen, wie er. Das war so. Aber frei<br />

fühlte ich mich immer weg von ihm, nicht bei ihm."<br />

UNTER ETWAS ANDERN UMSTÄNDEN hätte Selznick die<br />

Frage von Petters Management gerne noch weiterverfolgt.<br />

Aber dieses Frühjahr wollte er nur <strong>Ingrid</strong> unterstützen. Alfred<br />

Hitchcock war mit Autor Ben Hecht an der Arbeit mit einem<br />

Projekt für <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> und Gregory Peck, der nun auch<br />

bei Selznick unter Vertrag stand. Pecks beide ersten Filme hatten<br />

ihn postwendend zum grossen Star gemacht. "Ich möchte<br />

betonen", schrieb Selznick seiner Autorin Magareth McDonell,


"dass ich verzweifelt darauf warte, diese psychologische oder<br />

psychiatrische Geschichte mit Hitch zu realisieren." Übrigens<br />

waren beide, Selznick und Hecht, zu jener Zeit in einer Psychoanalyse.<br />

Hitchcock betrachtete Selznicks Drängen auf psychiatrischen<br />

Jargon und Freudsche Traumdeu<strong>tu</strong>ng eher <strong>als</strong><br />

Vorwand für eine Liebesgeschichte.<br />

Die Grundlage dazu bildete die 1927 veröffentlichte Novelle<br />

"Das Haus von Dr. Edwardes" von John Leslie Palmer<br />

und Hilary Aidan St. George Saunders (die unter dem gemeinsamen<br />

Pseudonym Francis Beeding schrieben), ein bizarres<br />

Märchen von Hexenmeisterei, satanischem Kult und Mord, was<br />

sich alles in einer schweizerischen Psychiatrischen Klinik abspielte.<br />

Hitchcock hatte Selznick davon überzeugt, dass dieses<br />

eigenwillige Stück (dessen Recht Hitchcock für einen Pappenstiel<br />

eingekauft und mit einem stattlichen Gewinn an Selznick<br />

weiterverkauft hatte) so bearbeitet werden konnte, dass daraus<br />

ein Thriller entstünde, in dem eine Psychiaterin einen<br />

Kriminalfall löste und damit ihrem Patienten – in den sie sich<br />

verliebt hatte – das Leben rettete.<br />

Wie <strong>Ingrid</strong> hatte auch Hitchcock (der Selznick eben den<br />

Oscar für "Rebecca" eingebracht hatte) erst einen Film für<br />

Selznick gedreht, bevor er an andere S<strong>tu</strong>dios ausgeliehen wurde,<br />

wo er durch eine Anzahl populärer und erfolgreicher Filme<br />

auf sich aufmerksam machte (darunter "Foreign<br />

Correspondent", "Suspicion", "Shadow of a Doubt" und<br />

"Lifeboat"). Hecht war Journalist, Stückeschreiber, Romancier<br />

und wahrscheinlich der schnellste Screenwriter, den Hollywood<br />

je sah. Die meisten seiner siebzig Filme waren in weniger <strong>als</strong><br />

drei Wochen geschrieben, und an jenen, an welchen er<br />

herumzubeissen hatte, arbeitete er gerne auch ohne eine Entschädigungszusage<br />

in Höhe von $ 125'000 (eine Summe, welche<br />

zu Hechts Zeiten das Zehnfache der den Filmautoren normalerweise<br />

bezahlten Entschädigungen ausmachte). Unter<br />

seinen bekanntesten Filmen (oder jenen, deren Pr<strong>ob</strong>leme er<br />

lösen half, ohne dafür verantwortlich gewesen zu sein) waren<br />

"Twentieth Cen<strong>tu</strong>ry", "Nothing Sacred", "Gunga Din", "Wuthering<br />

Heights", "Queen Christina" und "Gone With the Wind".<br />

239


Die Hitchcock-Hecht-Kooperation war erspriesslich. Beide<br />

teilten das Interesse an den finstern Gängen in der menschlichen<br />

Seele, beide wollten ein kräftiges Garn spinnen, beide<br />

wollten eine Liebesgeschichte weben. Als Selznick den definitiven<br />

Entwurf (mit ein paar Änderungen durch die Psychiaterin<br />

Dr. May E. Romm) las, war er begeistert.<br />

Begonnen <strong>als</strong> "The House of Dr. Edwardes", wurde der<br />

Film später umbenannt in "Spellbound". Die Erzählung beginnt<br />

damit, dass Dr. Murchison (Leo G. Caroll), der Direktor der<br />

Psychiatrischen Klinik 'Green Manors', einen Zusammenbruch<br />

erleidet und danach durch den bekannten Dr. Antony Edwardes<br />

(Gregory Peck) ersetzt werden soll, der sich auf der Stelle in<br />

seine neue Kollegin Dr. Constance Petersen (<strong>Ingrid</strong>) verliebt.<br />

Aber dann fällt Edwardes durch sein absonderliches Verhalten<br />

auf; emotionale Ausbrüche werden bei ihm immer ausgelöst,<br />

wenn sein Blick auf parallele Linien auf weissem Untergrund<br />

fällt. Constance entdeckt, dass Edwardes nicht Edwardes ist,<br />

sondern ein von Gedächtnisschwund befallener Schwindler, der<br />

wie die Polizei selbst davon überzeugt ist, den echten Dr. Edwardes<br />

umgebracht zu haben. Das Gesetz ist ihm auch bald<br />

auf den Fersen.<br />

Unfähig zu akzeptieren, dass der Mann, den sie liebt,<br />

ein Verbrecher ist, versteckt sie ihn vor der Polizei bei ihrem<br />

ehemaligen Doktorvater Prof. Dr. Alex Brulov (Michael Chekhov),<br />

und gemeinsam versuchen die beiden Psychiater nun die<br />

seltsamen Träume ihres Patienten zu entwirren. Dabei stellt<br />

sich heraus, dass der junge Mann seine Erinnerungen an den<br />

Unfalltod seines kleinen Bruders in der Kinderzeit verdrängte,<br />

weil er sich daran schuldig fühlte. Schliesslich stellte sich heraus,<br />

dass nicht der junge Mann, sondern der kranke Dr. Murchison<br />

selbst den wirklichen Dr. Edwardes ermordet hatte, um<br />

seine Position in der Klinik zu retten. Als Constance am Schluss<br />

alle diese Zusammenhänge offenbart, begeht Murchison<br />

Selbstmord. Sie und ihr Patient, der nun von jeder rechtlichen<br />

und eingebildeten Schuld befreit ist, können nun heiraten.<br />

240


<strong>Ingrid</strong> gefiel die Beschreibung von Dr. Petersen im Roman<br />

("Constance betrachtete sich selbst nüchtern und vorurteilslos.....sie<br />

war vor allem stolz darauf, klar zu denken") und<br />

sie mochte besonders Constances grosszügige Loyalität. Aber<br />

sie fand die Vermischung von professioneller Psychiatrie mit<br />

der Romanze unglaubhaft: "Ich werde diesen Film nicht machen,<br />

weil ich die Liebesgeschichte unmöglich finde", sagte sie<br />

zu Selznick. "Die Heldin ist eine intellek<strong>tu</strong>elle Frau, und eine<br />

Intellek<strong>tu</strong>elle kann sich einfach nicht so abgrundtief verlieben."<br />

Um ihre Bedenken zu zerstreuen, trafen sich Selznick,<br />

Hitchcock und Hecht mit ihr. Letztlich gehe es doch darum,<br />

sagte Hitchcock, dass jedermann eine gute Liebesgeschichte<br />

schätzt, und dass wenn sie sich der Realität verschreiben wollten,<br />

sie eben Dokumentarfilme machen müssten. Dieses Argument<br />

hatte für sie nicht halb soviel Gewicht wie Hitchcocks<br />

durch und durch professionelle Überzeugungskraft, seine Fähigkeit,<br />

die Komplexität einer Sache offenzulegen und gleichzeitig<br />

zu unterhalten und sein ausserordentliches Talent, sie<br />

den Film "sehen" zu lassen, während er erzählte. <strong>Ingrid</strong> hatte<br />

von Hitchcocks Zaubereien natürlich gehört, und ganz besonders<br />

hatte es ihr sein Film "Shadow of a Doubt" angetan, in<br />

dem ihre Freundin Theresa Wright die Hauptrolle spielte.<br />

Überdies würden die Liebesgeschichte und die technischen<br />

Innovationen, die Hitchcock für "Spellbound" geplant<br />

hatte, ihre wirklichen Herausforderungen darstellen. Wegen<br />

des psychiatrischen Jargons erinnerte Hitchcock <strong>Ingrid</strong> daran,<br />

dass das Publikum wenig Erfahrung und Wissen um Filme aus<br />

dem psychiatrischen Umfeld habe. Siegmund Freud war vor<br />

fünf Jahren verstorben und seine Terminologie (Schuldkomplex,<br />

Vaterfixierung, Traumsymbolik) war nicht verbreitet und<br />

wurde vom Durchschnittspublikum auch kaum verstanden.<br />

Was im Script <strong>als</strong> eine vereinfachte Lösung des Geheimnisses<br />

der Geschichte durch eine kindische Interpretation von Traum-<br />

bildern erschien, war 1944 etwas Neues und Faszinierendes.<br />

241


NACH ZWEISTÜNDIGER DISKUSSION war <strong>Ingrid</strong> gewonnen.<br />

Am 20. Juni trat sie in den Selznick-S<strong>tu</strong>dios an für<br />

Makeup- und Garder<strong>ob</strong>e-Tests, und die ersten Szenen wurden<br />

am 10. Juli, <strong>Ingrid</strong>s siebentem Hochzeitstag, geschossen. Zur<br />

Feier des Tages liess Hitchcock nach des Tages Arbeit einen<br />

riesigen Geburtstagskuchen für Schauspieler und Crew auffahren.<br />

Zweifellos war <strong>Ingrid</strong> bei den Gedanken an die bevorstehende<br />

Arbeit eher ums Festen zumute, <strong>als</strong> bei den Gedanken<br />

an ihre Ehe.<br />

"Ich erinnere mich, wir hatten einige Meinungsverschiedenheiten<br />

während der Dreharbeiten", erinnerte sich <strong>Ingrid</strong><br />

Jahre später.<br />

242<br />

Ich sagte: "Ich glaube nicht, dass ich euch dieses Mass<br />

an Emotionen liefern kann". Hitchcock sass da und<br />

sagte: "<strong>Ingrid</strong> - <strong>tu</strong> <strong>als</strong> <strong>ob</strong>!" Also: das war der nützlichste<br />

Rat, den ich in meinem ganzen Leben bekommen<br />

habe, denn in all den kommenden Jahren gaben mir<br />

Regisseure immer wieder Anweisungen, die ich <strong>als</strong><br />

unmöglich durchführbar empfand, und sonstwie extrem<br />

schwierige Aufgaben, und immer wenn ich Atem<br />

holte um mit ihnen zu diskutieren, hörte ich die Stimme<br />

zu mir durchdringen, die sagte: "<strong>Ingrid</strong> - <strong>tu</strong> <strong>als</strong><br />

<strong>ob</strong>!". Das ersparte mir viele Unannehmlichkeiten und<br />

Zeitverluste.<br />

Mit "Spellbound" begannen <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> und Alfred<br />

Hitchcock eine historische Zusammenarbeit, die drei Filme hervorbrachte<br />

und eine lebenslange Freundschaft bis zu Hitchcocks<br />

Tod 1980 zur Folge hatte. Aber wie lohnend sie für beide<br />

gewesen sein mag, war diese Beziehung eine der pr<strong>ob</strong>lematischsten<br />

im Leben beider, denn Hitchcock verliebte sich sehr<br />

schnell und hoffnungslos in seine erste Dame. Aber er konnte<br />

in ihr keine Gegenliebe entzünden: sie bewunderte sein Genie<br />

und empfand eine enorme Zuneigung für ihn <strong>als</strong> ihren Mentor,<br />

<strong>als</strong> Vater-Figur und Freund, doch hier endeten ihre Gefühle. So<br />

wurde ihre Zusammenarbeit – während eines Zeitraums von<br />

vier Jahren – für beide sehr erfreulich, für Hitchcock allerdings


auch zu einer schmerzlichen Plage.<br />

Während den Diskussionen in der Vorproduktion von<br />

"Spellbound" war er zunächst einfach fasziniert von <strong>Ingrid</strong>;<br />

aber <strong>als</strong> die Aufnahmen begannen war Hitch liebeskrank – daher<br />

die ausserordentliche Subtilität seiner Regie an ihr und die<br />

weit grössere Genialität ihres nächsten Films, "Notorious". So<br />

wie <strong>Ingrid</strong> in einer Scheinwelt leben musste, um glaubhafte<br />

Gefühle für ihre Figuren zu finden, so verdankten Hitchcocks<br />

Meisterwerke ihre Kraft seinem unerreichten Genie <strong>als</strong> "visueller"<br />

Geschichtenerzähler, der mit dem Rohmaterial seiner eigenen<br />

Fantasie arbeitete. Sein langes kreatives Leben brachte<br />

er im Käfig des gequälten abgeblitzten Liebhabers zu: Seine<br />

frustrierte Leidenschaft für einige seiner Hauptdarstellerinnen<br />

verursachte ihm grossen Kummer. Aber es war gerade dieses<br />

Leiden, das der Welt grösste künstlerische Leis<strong>tu</strong>ngen verschaffte,<br />

die im Ofen ungestillter menschlicher Leidenschaft<br />

entstanden sind. In dieser Beziehung hinterliess er uns ein<br />

profundes geistiges Testament in einer Reihe von bemerkenswert<br />

offenherzigen, selbstverräterischen Filmen.<br />

"Irgend etwas muss Hitchcock dieses Jahr belastet haben",<br />

sinnierte Gregory Peck, dessen Leis<strong>tu</strong>ng <strong>als</strong> verletzlicher<br />

Patient dem Film einen grossen Teil seiner Kraft verlieh, "aber<br />

es war nicht herauszufinden, woran er litt". Er konnte nicht<br />

wissen, dass es des Regisseurs akute, unerwiderte Leidenschaft<br />

für <strong>Ingrid</strong> war.<br />

Hitchcock, der diesen Sommer 45 wurde, war seit 1926<br />

mit Alma Reville, seiner engsten Mitarbeiterin, verheiratet. Von<br />

ihrer Meinung, Zustimmung und Führung vollkommen abhängig,<br />

hätte er eine Scheidung niem<strong>als</strong> in Erwägung gezogen.<br />

Sein Gefühlsleben war wirr und kompliziert, seine Verdrängungen<br />

tiefgreifend und sein Geist zermartert. Aber irgendwie hat<br />

er seine privaten Ängste und Gefühle in Liebesgeschichten eingebracht,<br />

die weltweit Millionen Menschen berührten, und das<br />

noch lange nach seinem Tod. So gesehen liegt auch die Annahme<br />

nahe, dass, hätte er seine Leidenschaften ausleben<br />

können, er womöglich unfähig gewesen wäre, damit umzuge-<br />

243


hen – und noch weniger, sie in Kunst umzusetzen.<br />

Während seines ganzen weiteren Lebens vertraute<br />

Hitchcock seinen Freunden ein deftiges Märchen an, das in der<br />

Schmiede seiner überbordenden Fantasie entstand: Es war die<br />

fantastische Erzählung von <strong>Ingrid</strong>s hysterischer Weigerung,<br />

nach einer Party in seinem Heim sein Schlafzimmer zu verlassen,<br />

bevor er sie befriedigt hatte. Wäre diese Erfindung nicht<br />

so pathetisch, wäre sie amüsant, aber Hitchcock schilderte<br />

damit, was er <strong>als</strong> die emotionale (wenn nicht buchstäbliche)<br />

Wahrheit ihrer Beziehung betrachtete. Er und <strong>Ingrid</strong> (glaubte<br />

er von ganzem Herzen) wären das perfekte Paar, wenn nur –<br />

na ja, schliesslich lässt er sie in "Spellbound" sagen: "Wir sind<br />

alle nur Bündel von Hemmungen".<br />

WÄHREND DER GANZEN FILMARBEIT tat sie natürlich<br />

nichts, was seinen amourösen Neigungen hätte Vorschub leisten<br />

können, aber ihre Zurückhal<strong>tu</strong>ng hatte den gegenteiligen<br />

Effekt. Er verstand das <strong>als</strong> vorsichtige Diplomatie und verdoppelte<br />

seine Anstrengungen, sie fest in sein Leben einzubinden.<br />

Dazu entwickelte er ihr die Grundzüge von "Notorious" und sie<br />

ging spontan darauf ein. Als Selznick davon erfuhr, erinnerte<br />

er beide höflich daran, dass sie bei ihm unter Kontrakt stünden<br />

und dass Entscheide über Projekt und Besetzung in seinem<br />

Zuständigkeitsbereich lägen – <strong>ob</strong>schon auch er Hitchcocks<br />

Ideen sehr zugetan war.<br />

"Hitchcock war einer der wenigen Regisseure, die sich<br />

Selznick gegenüber behaupten konnten", erinnerte sich <strong>Ingrid</strong>,<br />

244<br />

"und Selznick liess ihn in der Regel gewähren. Wenn er<br />

zum Set herunterkam, stoppte der Kameramann plötzlich<br />

und Hitchcock sagte, der Kameramann könne nicht<br />

weiterfahren. Er wisse nicht was los sei, sagte er Selznick:<br />

'Sie arbeiten daran, sie arbeiten daran.' Schliesslich<br />

ging Selznick seines Wegs und wie durch ein Wunder<br />

bewegte sich die Kamera plötzlich wieder. Das war<br />

Hitchs Art, mit Störungen umzugehen, und trotzdem


ich annehme, dass Selznick den Bluff durchschaute,<br />

sagte er nichts dazu. Danach liess ihn Selznick in Ruhe.<br />

Sie waren beide starke Männer und hatten grossen<br />

Respekt vor einander."<br />

Gregory Peck stimmte dem zu und fügte bei: "Selznick<br />

pflegt seine Schauspieler wie kleine Zinngötter zu behandeln,<br />

aber mit den Regisseuren verfährt er etwas streng. Hitchcock,<br />

denke ich, hat den Dreh gefunden."<br />

Während der Produktion von "Spellbound" war Hitchcock<br />

höflich und aufmerksam zu seiner Hauptdarstellerin aber<br />

nie überschwänglich in Gegenwart anderer. Indem er sich jede<br />

Äusserung seiner tiefsten Gefühle versagte und diese, wie so<br />

oft, ins Script entlud, verfügte er im letzten Moment eine Dialogänderung<br />

für <strong>Ingrid</strong> und Emery, in der Rolle eines Kollegen,<br />

dessen Verliebtheit (wie bei Hitchcock) unerwidert bleibt:<br />

Dr. Fleurot (Emery):<br />

Constance (<strong>Bergman</strong>):<br />

Sie sind im Grunde genommen eine süsse,<br />

lebendige, anbe<strong>tu</strong>ngswürdige Frau. Ich denke<br />

es jedesmal, wenn ich in ihre Nähe komme.<br />

Das sind nur Ihre eigenen Gefühle und Empfindungen<br />

– ich versichere Ihnen, meine sind<br />

völlig anders.<br />

Die Grundidee von "Spellbound" - eine liebestolle Psychiaterin<br />

spielt Detektiv, um die Unschuld ihres eines Verbrechens beschuldigten<br />

Patienten zu beweisen – wurde von Hitchcock während<br />

der Dreharbeiten ständig verfeinert, um Constances<br />

Wandlung von der weltfremden Wissenschafterin zur heiss Verliebten<br />

zunehmend deutlicher zu machen. Ganz konkret wurde<br />

"Spellbound".zur Geschichte einer doppelten Verwandlung –<br />

die Behandlung des verstörten Peck/Hitchcock durch <strong>Ingrid</strong><br />

und, folgerichtig, die Erlösung, zu ihren innersten weiblichen<br />

Gefühlen für diesen geschundenen Mann stehen zu dürfen. Bis<br />

zu diesem Moment in ihrer Karriere erlebte Constance die ver-<br />

245


trauensvollste Beziehung zu ihrem ehemaligen Doktorvater Dr.<br />

Brulov (eine Art Petter Lindström); nun braucht sie ihren gequälten<br />

Patienten für ihre Befreiung zur Leidenschaft. In<br />

"Spellbound" müssen die von <strong>Bergman</strong> und Peck gespielten<br />

Figuren demnach zuerst einer gewissen emotionalen Blockierung<br />

entkommen, um eine Liebesbeziehung aufbauen zu können.<br />

Einer der Aufhänger, mit welchen Hitchcock das Interesse<br />

des Publikums für diese bizarre Si<strong>tu</strong>ation ankurbeln wollte,<br />

bestand aus einer Serie von Traumbildern, die in Zusammenarbeit<br />

mit dem Surrealisten Salvador Dalí entstanden. Sie<br />

gaben Hitchcock den gewünschten De Chirico-Effekt, aber wie<br />

provokativ diese Bilder auch immer wirken, sie waren nur ein<br />

Teil von dem, was Dalí beisteuerte. Während Jahren erzählte<br />

Hitchcock nur von "einer Sta<strong>tu</strong>e, die wie eine Schale zerbersten<br />

würde, mit Ameisen, die sich krabbelnd über die ganze<br />

Szene verbreiteten – und dann anstelle der Sta<strong>tu</strong>e <strong>Ingrid</strong><br />

<strong>Bergman</strong>n stand." Der grösste Teil dieser Sequenz wurde gefilmt,<br />

und Still-Aufnahmen davon haben überlebt. Aber Selznick<br />

verlangte, dass vor Fertigstellung des Films die ganze<br />

Szene weggeschnitten werde.<br />

246<br />

<strong>Ingrid</strong> erinnerte sich sehr genau daran:<br />

"Es war eine wundervolle zwanzigminütige Sequenz,<br />

die wirklich ins Museum gehörte. Die tragende Idee<br />

war, dass ich in Gregory Pecks Geist zur Sta<strong>tu</strong>e würde.<br />

Um das darzustellen schossen wir den Film in umgekehrter<br />

Reihenfolge. Ich erhielt einen Strohhalm in den<br />

Mund gesteckt, damit ich atmen konnte, und dann<br />

wurde um mich herum die Sta<strong>tu</strong>e gebildet. Ich war in<br />

ein griechisches Faltengewand gekleidet mit einer Krone<br />

auf dem Kopf und einem Pfeil, der so positioniert<br />

war, dass er meinen H<strong>als</strong> zu durchbohren schien. Dann<br />

begannen die Kameras zu drehen. Ich war in der Sta<strong>tu</strong>e,<br />

die ich nun aufbrach, während die Szene weiterlief.<br />

Wir spielten den Film rückwärts ab, sodass es<br />

schien, dass ich zur Sta<strong>tu</strong>e würde. Es war grossartig,


1944 - "Spellbound": Bei den Aufnahmen zu den<br />

(geschnittenen) Traumbildern mit der Sta<strong>tu</strong>e<br />

247


248<br />

aber jemand ging zu Selznick und fragte: "Was soll der<br />

Unsinn?", und so wurde die Szene eben geschnitten.<br />

Es war so schade. Es hätte diesen Touch von wirklicher<br />

Filmkunst haben können."<br />

Ihre Proteste verhallten dam<strong>als</strong> ungehört. Sie war der<br />

Auffassung, dass was auf dem Boden des Schneideraums landete<br />

mehr war <strong>als</strong> nur Spielerei: Denn der Pfeil in Constances<br />

H<strong>als</strong> soll nur veranschaulichen, wie weit des Patienten Wut und<br />

Schuld seiner eigenen Auffassung nach gehen konnte: Hier ist<br />

ein klarer Zusammenhang zwischen seinem Glauben an seine<br />

kriminelle Energie <strong>als</strong> Mörder und seinen gemischten Gefühlen<br />

für Constance <strong>als</strong> Heilerin und Geliebte zu erkennnen. Die Sta<strong>tu</strong>e<br />

versinnbildlicht auch das Gefühl, das er für sie <strong>als</strong> Mutter-<br />

Göttin empfand (daher das Venus/Cybele-Kostüm), mit dem<br />

Pfeil <strong>als</strong> Reminiszenz an den mit Pfeilspitzen gekrönten Zaun,<br />

der seinen kleinen Bruder in ihrer Kindheit das Leben kostete.<br />

Constance <strong>als</strong> Sta<strong>tu</strong>e suggeriert auch, dass er sie <strong>als</strong> klassisch<br />

kalt, künstlich, fern, unberührbar sieht. Das unveröffentlichte<br />

Original, wie <strong>Ingrid</strong> richtig erfasst hatte, hätte die paradoxkompatibeln<br />

Gefühle von Hass und Liebe, von Wunsch nach<br />

Hilfe und Misstrauen dem Helfenden gegenüber und der alles<br />

überspannenden Angst vor Entdeckung womöglich noch weit<br />

besser zum Ausdruck gebracht.<br />

"SPELLBOUND" VERDANKT SEINE NACHHALTIG emotionale<br />

Wirkung keineswegs seiner verwickelten Handlung, sondern<br />

vornehmlich dem absolut natürlichen und unprätentiösen<br />

Spiel von <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> und Gregory Peck, die beide ihre<br />

Entdeckung von bislang unbekannten Geisteswelten in einer<br />

Art neugierigem Erstaunen portraitieren. Beide begeben sich<br />

auf eine erschreckende Reise zur Selbstverwirklichung – und<br />

dass diese doppelte Reise so unwahrscheinlich ist, war genau<br />

Hitchcocks Punkt. Er schuf die richtige Atmosphäre, in welcher<br />

diese schauspielerischen Leis<strong>tu</strong>ngen zur Gel<strong>tu</strong>ng kommen<br />

konnten, und mit Filmen wie "Spellbound" wurde klar, wie gut<br />

er Schauspieler zu führen verstand.


Die Natürlichkeit und Feinheit, mit der <strong>Ingrid</strong> Constance<br />

portraitierte, die Art, wie sie den Kopf drehte, ihre Hände faltete<br />

und ein Schluchzen unterdrückte war buchstäblich wie ein<br />

Handbuch für ausdrucksvolles, erstklassiges Filmschauspiel.<br />

Von allem, was Hitchcock ihr beibrachte, war die Bedeu<strong>tu</strong>ng<br />

von Nahaufnahmen ihres Blicks vielleicht die wertvollste Lektion:<br />

ihr wechselnder Blick nach unten, oder nach rechts, nach<br />

links liess ihre Nachdenklichkeit, ihre Beklemmung oder einen<br />

Moment intensivster Konzentration erkennen.<br />

Ein schönes Beispiel dafür haben wir in der Szene, wo<br />

<strong>Ingrid</strong> mit einem Buch von Dr. Edwardes in Pecks Zimmer erscheint.<br />

Lesend in seinen Fauteuil hingelümmelt, sieht er plötzlich<br />

<strong>Ingrid</strong> vor sich stehen. Sie gesteht ihm, dass sie nicht zu<br />

ihm kam, um das Buch zu diskutieren, sondern über das zu<br />

reden, was heute mit ihnen geschehen sei. Ihre anschliessende<br />

Umarmung und ihr Kuss sind voll von überwältigenden Gefühlen,<br />

wirken aber dennoch <strong>als</strong> etwas verhaltene, von Verunsicherung<br />

gezeichnete Gesten – ein Effekt, der für spätere Aufführungen<br />

auf Selznicks Insistieren hin durch eine symbolische<br />

Szene überlagert und dadurch etwas reduziert wurde. Die Szene<br />

zeigt während des Kusses einen Flur, in dem sich hintereinander<br />

eine Reihe von Türen öffnen.<br />

Noch berührender ist Constances Abschied von ihrem<br />

ehemaligen Lehrer, Dr. Alex Brulov. Wie <strong>Ingrid</strong>, völlig in ihrer<br />

Rolle aufgehend, schluchzend über ihrem misslungenen Ret<strong>tu</strong>ngsversuch<br />

für ihren Liebsten zusammenbricht, wird sie von<br />

Brulov getröstet: "Es ist sehr schwer, jemanden zu lieben und<br />

zu verlieren", sagt er (kurz bevor das Finale den Tag rettet).<br />

"Aber du wirst bald vergessen und die Fäden deines Lebens<br />

dort wieder in die Hand nehmen, wo sie dir vor kurzem entglitten<br />

sind. Und du wirst hart arbeiten. In harter Arbeit findest du<br />

so viel Glück – vielleicht mehr <strong>als</strong> irgendwo sonst." Alfred<br />

Hitchcock präsentierte sich hier – wie so oft – selbst. Es liegt<br />

enorm viel Zärtlichkeit in dieser Szene, die zur perfekten Metapher<br />

für das delikate Verhältnis zwischen <strong>Ingrid</strong> und ihrem<br />

Regisseur wurde.<br />

249


"Spellbound" wurde zu einem weit grösseren Erfolg, <strong>als</strong><br />

je einer der daran Beteiligten vorauszusagen gewagt hätte.<br />

Seine Produktion kostete $ 1,7 Mio., während seine erste Veröffentlichung<br />

$ 8 Mio. einspielte, womit er einer der zwei drei<br />

lukrativsten Filme der 1940er-Jahre war. Er erhielt 6 Oscar-<br />

Nominationen – bester Film, beste Regie, Nebendarsteller,<br />

Kamera, Spezialeffekte und Score; nur Miklos Rosza konnte die<br />

Sta<strong>tu</strong>ette für die Musik nachhause tragen. Es war auch der<br />

erste amerikanische Film, in dessen Vorspann <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong><br />

an <strong>ob</strong>erster Stelle erschien.<br />

KURZ NACH BEGINN IHRER ARBEIT an "Spellbound" im<br />

Juli fanden <strong>Ingrid</strong> und Petter ein ihnen zusagendes Haus, nach<br />

dem sie schon während einiger Zeit gesucht hatten. 1220 Benedict<br />

Canyon Drive, nördlich des Sunset Boulevards in Beverly<br />

Hills, war im Stile eines Chalets oder einer Berghütte gebaut.<br />

Das 1920 aus gemeisseltem Stein und Holz erstellte<br />

Haus lag am Ende einer kurzen, steilen Zufahrt und war umgeben<br />

von üppiger Bepflanzung und alten Bäumen. Es bestand<br />

aus einem riesigen Wohn-Essraum mit gewölbter Balkendecke<br />

und einem steinernen Cheminée; einer antiken Kupferbar; einer<br />

Master-Suite; einer grossen rustikalen Küche mit Office;<br />

einem kleinen Schlafzimmer für Pia und einem kleinen Gäste-<br />

Cottage. Bei Gelegenheit wurde dem Besitz ein Swimmingpool<br />

hinzugefügt und Erwei<strong>tu</strong>ngspläne um zusätzliche Räume wurden<br />

auch besprochen.<br />

"Stell dir vor! Wir sind gestern eingezogen", schrieb <strong>Ingrid</strong><br />

ihrem Schwiegervater in Schweden am 3. August.<br />

250<br />

"Wie glücklich wir sind. Ich konnte kein Auge schliessen,<br />

wanderte nur umher und tätschelte meine Möbel<br />

und herumstehenden Koffer. Ich bin so glücklich, und<br />

ich denke nicht, dass Petter in vielen, vielen Jahren so<br />

glücklich war, wie jetzt. Wir konnten das Haus zum<br />

Glück mit einem Grossteil des M<strong>ob</strong>iliars kaufen, genau<br />

die Art, die ich wollte und die heutzutage neu so<br />

schwer zu finden ist. Aber weil ich keinen Schlaf fand,


eklagten sie sich heute, ich sei nicht schön genug für<br />

die Nahaufnahmen, die sie heute schiessen wollten...<br />

S<strong>ob</strong>ald es geht, werden wir noch einen Swimmingpool<br />

und einen Tennisplatz einrichten. Als Erstes will Petter<br />

jetzt eine Sauna bauen...<br />

Ich habe meinen neuen Film begonnen und alles läuft<br />

nach Wunsch. Ich spiele eine Ärztin, was wieder völlig<br />

anders ist, <strong>als</strong> in den Filmen, in welchen ich bisher<br />

mitwirkte. Es macht Spass, in so unterschiedlichen<br />

Rollen zu spielen. Das ist bei Hollywood-Schauspielern<br />

eher ungewöhnlich – die spielen in der Regel immer<br />

und immer wieder denselben Menschentyp bis sie<br />

sterben.<br />

Pia geht es wieder gut und sie ist froh, ihre Mandeln<br />

loszusein... sie wird im Herbst mit der Grundschule<br />

beginnen. Ich kann es kaum glauben, dass auch wir<br />

älter werden – ich fühle mich keinen Tag älter <strong>als</strong> 19.<br />

Aber Petter arbeitet zu viel. Er sieht so abgekämpft<br />

aus, und wir haben für lange Zeit keine Aussicht auf<br />

Ferien."<br />

Am 10. Okt<strong>ob</strong>er schrieb sie ihrem Schwiegervater<br />

wieder:<br />

"Ich habe meinen Film beendet und denke,<br />

"Spellbound" wird ein interessanter Film sein. Ich habe<br />

es wirklich genossen, mit Alfred Hitchcock zusammenzuarbeiten<br />

und freue mich nun sehr darüber, auch in<br />

seinem nächsten Film mit dabei zu sein. Es ist eine<br />

Spionagegeschichte...<br />

An sich hätte ich vor diesem einen andern Film vorgezogen,<br />

aber es scheint sich momentan nichts geeignetes<br />

anzubieten. So plane ich eine Tour durch Amerika,<br />

um Geld- und Blutspenden für die Verwundeten zu generieren.<br />

Man redet und redet und redet, und ich hoffe,<br />

es gehe nicht nur zum einen Ohr rein und zum andern<br />

raus."<br />

251


Die "Tour durch Amerika" führte sie in Beglei<strong>tu</strong>ng von<br />

Joe Steele nach Indiana, Penssylvania, Wisconsin und Kanada.<br />

Steele hatte den Eindruck, <strong>Ingrid</strong> sei "wie ein Rennpferd am<br />

Start, begierig darauf, von ihrer eingefleischten Rastlosigkeit<br />

wegzukommen". Bezüglich ihres Ehemanns stellte Steele fest,<br />

dass Petter gegen <strong>Ingrid</strong>s Abreise einmal mehr nichts einzuwenden<br />

hatte. Steele glaubte den Grund für diese stille Übereinstimmung<br />

darin zu sehen, dass es für die Lindströms immer<br />

schwieriger wurde, zusammenzusein. 1944 gab es praktisch<br />

kein Eheleben mehr.<br />

Bei jedem Halt auf dieser Werbetour (die sie auf Einladung<br />

des War Department unternahm), verlas <strong>Ingrid</strong> Reden,<br />

die in Hollywood von vom War Department eingesetzten<br />

Schreibern verfasst wurden – ausgedehnte, grandiose Elaborate,<br />

die in keiner Weise zu ihrer Persönlichkeit passten. Oft legte<br />

sie diese langweiligen Passagen einfach zur Seite und sprach<br />

aus dem Stegreif zu ihrem Publikum – in Schulen, Baseball<br />

Parks und Ballräumen, wo sie den Leuten von Ihrem Leben in<br />

Schweden und von ihrer Dankbarkeit, in Amerika arbeiten zu<br />

dürfen, erzählte. Dann folgte eine kurze dramatische Lesung<br />

aus einer kleinen Sammlung von Geschichten und Versen, die<br />

sie zusammengestellt hatte: Auszüge aus Paul Gallicos "The<br />

Snow Goose", Gedichte von Paul Sandburg oder eine Geschichte<br />

von Ben Hecht.<br />

Mit ihrer eindrücklichen, fliessenden Rede und ihrer Aura<br />

von Wärme und Aufrichtigkeit er<strong>ob</strong>erte sie jede dieser Zuhörergruppen<br />

und brachte damit jedesmal einen wertvollen Geldbetrag<br />

ein. Neben diesen Veranstal<strong>tu</strong>ngen wurden auch zivile<br />

Luncheons, Cocktail-Parties, Spitalbesuche, Radio-Interviews<br />

und Presse-Konferenzen im Interesse der Sache durchgeführt.<br />

So brachte sie lange Tage hinter sich, um danach in eine andere<br />

Stadt weiterzuziehen, wo noch längere Tage auf sie warteten,<br />

aber – nach Steele – war von <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> nie ein<br />

Hauch von Klage zu vernehmen, nur "eine erstaunliche, unermüdliche<br />

Begeisterung für die Arbeit, die noch vor ihr lag"<br />

festzustellen.<br />

252


An Thanksgiving besuchten <strong>Ingrid</strong> und Steele nochm<strong>als</strong><br />

die schwedischen Einwanderer, die sie bei der Produktion von<br />

"Swedes in America" in Minnessota kennengelernt hatten, und<br />

dann war sie noch vor Weihnacht wieder zuhause und mit den<br />

Einkäufen für Pia und den Hausdekorationen beschäftigt. Wegen<br />

Petters Sparsamkeitsfimmel kaufte <strong>Ingrid</strong> Selznick einen<br />

Teil ihrer "Spellbound"-Garder<strong>ob</strong>e ab, wofür sie einen Check in<br />

Höhe von $ 122.77 auszustellen hatte. Schliesslich sei Petters<br />

Kleiderschrank auch nicht extravagant gefüllt, stellte er fest,<br />

und er komme pro Saison gut mit einem bis zwei Anzügen aus.<br />

Wenn es sich allerdings darum handelte, das Leben in<br />

ihrem neuen Heim angenehmer zu gestalten, war von solchen<br />

Sparübungen nichts zu hören. Innerhalb eines Jahres hatten<br />

die Lindströms zusätzlich zu Mabel Pias Nanny Mary Jackson<br />

und eine Teilzeit-Sekretärin namens Doris Collup eingestellt.<br />

Das Haus (von seinen vorhergehenden Eigentümern Hillhaven<br />

Lodge genannt) kostete $ 65'000; das Geld hierfür und für alle<br />

Zusatzkosten wie auch für das Hauspersonal stammte alles aus<br />

<strong>Ingrid</strong>s Einkommen: Petter schloss sein Neurochirurgie-<br />

Praktikum erst 1947 ab, sodass er erst danach eine Praxis eröffnen<br />

und ein respektables Gehalt erwirtschaften konnte.<br />

Das Zentrum im neuen Heim der Lindströms bildete ein<br />

grosser runder Tisch vor dem eingebauten Sofa, das dem<br />

Wohnzimmer-Cheminée gegenüber lag. Wenn Freunde und<br />

Kollegen während der Weihnachtsfeiertage hereinschauten,<br />

kümmerte sich <strong>Ingrid</strong> ungezwungen um die Gäste (in der Regel<br />

in einen einfachen Pullover und einen Tweedrock gekleidet).<br />

Nach deren Begrüssung eilte sie in die Küche, um ein Tablett<br />

mit Snacks, Käse und Cocktails bereitzustellen. Doch oft hatten<br />

sich die Gäste etwas zu gedulden, denn ihre Inkompetenz an<br />

der Bar und in der Küche zwang sie regelmässig, die Hilfe von<br />

Angestellten in Anspruch zu nehmen – wie ungern sie das auch<br />

immer tat.<br />

Wegen seiner langen Arbeitszeiten traf Petter gewöhnlich<br />

spätabends zuhause ein, aber dann entpuppte er sich <strong>als</strong><br />

guter Gastgeber. Er drehte den Grammophon an, Pop-Musik<br />

253


erfüllte das Haus und Petter führte die Gäste in einen energiegeladenen<br />

Tanzabend. Bei solchen Gelegenheiten war er die<br />

Seele der Party und machte eine blendende Figur; keine Dame<br />

lehnte eine Runde mit dem unermüdlichen Dr. Lindström ab.<br />

Die Gästeliste war am Anfang noch ein Pr<strong>ob</strong>lem. <strong>Ingrid</strong><br />

glaubte, ein Abend mit Freunden sei nichts anderes, <strong>als</strong> eben<br />

das – und so lud sie Irene und David Selznick, Ruth R<strong>ob</strong>erts,<br />

Alma und Alfred Hitchcock, den französischen Regisseur Jean<br />

Renoir und seine Frau, Teresa Wright und Ihren Mann, Ben<br />

Hecht und eine Anzahl Leute von der "Spellbound"-Crew ein,<br />

die sie besonders gut mochte. "Das ist unmöglich – absolut<br />

unmöglich", meinte Irene Selznick, <strong>als</strong> sie die Liste sah; in der<br />

hochgradig klassenbewussten Filmwelt-Aristokratie konnte<br />

man unmöglich Stars mit Technikern und Sprachtrainern und<br />

Produzenten zusammenbringen. (<strong>Ingrid</strong> wird sich wohl daran<br />

erinnert haben, wie Kay Brown, nachdem diese sie 1939 zu<br />

Selznicks gebracht hatte, vom Willkommensessen am selben<br />

Abend kalt ausgeschlossen wurde.)<br />

Soviel <strong>als</strong>o zum Mythos des klassenlosen Amerika. "Das<br />

war ein grosser Schock", sagte <strong>Ingrid</strong>, und <strong>als</strong> sie die Sache<br />

Hitchcock erzählte, lächelte sie dieser nur an und hiess sie in<br />

Hollywoods Gesellschaftsleben willkommen. "Gottseidank gab's<br />

noch die Hitchcock-Gruppe", sagte <strong>Ingrid</strong> später. "Hitch und<br />

Alma verkehrten oft mit Schauspielern ohne zu fragen, <strong>ob</strong> sie<br />

Stars seien oder nicht." Nachdem sie für diese erste Winterparty<br />

Irene Selznicks Wünschen nachgekommen war, ging <strong>Ingrid</strong><br />

mit kleinen, ungezwungenen Buffet-Parties ihren eigenen Weg<br />

und lud dazu Leute wie Charles Boyer, Gary Cooper, Clark<br />

Gable, Ernst Lubitsch, Gregory Peck, Josef Cotten und deren<br />

Ehefrauen ein.<br />

Aber Petters Bestrebungen, <strong>Ingrid</strong>s Leben durchgehend<br />

zu managen, bedrohten mit der Zeit auch das gesellschaftliche<br />

Leben, wie genial er sich auch immer zu geben versuchte.<br />

Nach Joe Steele pflegte er die Gäste überschwänglich zu begrüssen,<br />

um sich dann intensiv zu bemühen, sich am herrschenden<br />

Geist der entspannten Geselligkeit zu beteiligen.<br />

254


Aber etwas stimmte nicht: er war zu formell, zu managerhaft,<br />

zu schulmeisterlich in allem, was Hollywood betraf, wovon er<br />

doch so wenig verstand – und in der Tat, warum sollte ein begnadeter<br />

Chirurg wie er sich im ak<strong>tu</strong>ellen Filmgeschäft und in<br />

der Hollywood durchdringenden Kleinkariertheit auskennen<br />

müssen? Immer öfter wurde <strong>Ingrid</strong> (nach Steele) bei solchen<br />

Gelegenheiten "plötzlich unterwürfig, die Stimmung gedrückt<br />

und die Disharmonie zu offenkundig, seine Interessen zu verschieden<br />

von jenen der Gäste. Der Doktor bemühte sich sehr,<br />

extrem sogar, aber das Resultat blieb hohl."<br />

BEKLEMMUNG LAG IN DER LUFT, und nie schlimmer, <strong>als</strong><br />

wenn von <strong>Ingrid</strong>s kommenden Rollen oder Publicity-Verpflich<strong>tu</strong>ngen<br />

die Rede war. "Nein, ich denke das ist nicht gut für<br />

dich, das sollst du nicht <strong>tu</strong>n", sagte Petter oft, wenn Steele<br />

einen bevorstehenden Anlass oder Auftritt erwähnte.<br />

"Ach, ich sehe nichts Negatives dabei, Petter", erwiderte<br />

<strong>Ingrid</strong> gelassen.<br />

"Ich sagte, es ist nicht gut", insistierte Petter ruhig.<br />

"Und du wirst es bleiben lassen."<br />

In dieser Saison musste sich <strong>Ingrid</strong> auch Selznick gegenüber<br />

behaupten. Während sie auf Tour war, wurde er von<br />

Regisseur Leo McCarey angesprochen, der dieses Jahr mit der<br />

herzerwärmenden religiösen Komödie "Going My Way" einen<br />

grossen Schlager in der Hinterhand hatte. McCarey wünschte<br />

sich <strong>Ingrid</strong> für die Rolle der eifrigen, sensibeln, erdverbundenen<br />

Nonne aus der Serie "The Bells of St-Mary’s", w<strong>ob</strong>ei Bing<br />

Crosby wieder den Part des eifrigen, sensibeln, erdverbundenen<br />

Vaters O'Malley spielen würde. Unsinn, sagte Selznick,<br />

Serien sind nie populär. Der direkteste Weg zum Herzen eines<br />

Produzenten, mutmasste McCarey, führt wohl über seinen beharrlichsten<br />

Star. So schaltete er während <strong>Ingrid</strong>s Anwesenheit<br />

in Minnessota in den dortigen Zei<strong>tu</strong>ngen eine Anzeige: "Wartet<br />

nur, bis <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> erfährt, welche Idee Leo McCarey für<br />

sie hat!"<br />

255


Wieder zuhause, rief sie Selznick sofort an, der ihr sagte,<br />

er habe das Script gelesen und – ja, es wäre eine nette<br />

Rolle, aber er sei sehr unsicher. <strong>Ingrid</strong> rief sofort McCareys<br />

Büro bei RKO an, vereinbarte, das Script zu lesen und begann<br />

unverzüglich Selznick zu beackern: "Wenn ich das nicht machen<br />

darf, werde ich nach Schweden zurückkehren!"<br />

McCarey bekam <strong>Ingrid</strong>, und Selznick bekam $ 175'000<br />

bar für die Ausleihe, sowie die Rückgabe von zwei RKO-Filmen,<br />

die er vor mehr <strong>als</strong> einem Jahrzehnt produziert hatte, "A Bill of<br />

Divorcement" und "Little Women".<br />

Und so begann <strong>Ingrid</strong> ihre Vorberei<strong>tu</strong>ngen für die neue<br />

Rolle, was in diesem Falle den Besuch eines Konvents von unterrichtenden<br />

Schwestern in Los Angeles bedeutete, wo sie<br />

McCareys Tante traf, die Mitglied des Ordens und wohl auch<br />

weitgehend die Inspiration für die Rolle war, die sie nun spielen<br />

wollte. Von ihren Besuchen bei den Schwestern empfing<br />

<strong>Ingrid</strong> konkrete Vorstellungen, wie sie Schwester Benedict in<br />

"The Bells of St. Marys" spielen respektive eben nicht spielen<br />

wollte. Sie war entzückt davon, alle gängigen Clichés über<br />

Schwestern erschüttert zu sehen: im Leben dieser Frauen hatte<br />

es keinen Platz für aufgesetzte Frömmigkeit. Statt dessen<br />

sah sie ruhige Hingabe, harte Arbeit, Zielstrebigkeit und einen<br />

erfrischenden Sinn für Humor. Diese Frauen waren, wie sie<br />

überrascht feststellen musste, in mancherlei Beziehung wie sie<br />

selbst.<br />

ABER DIE NONNEN WAREN MIT IHREN PFLICHTEN<br />

GLÜCKLICH; <strong>Ingrid</strong> war es nicht. Als ihre Ehe am Ende dieses<br />

Jahres völlig aus den Fugen war, bat sie Petter schliesslich um<br />

die Scheidung. Aber sie hätten sich doch nie gestritten, protestierte<br />

er: warum sollten sie sich denn trennen? Streitereien<br />

seien nutzlos, entgegnete <strong>Ingrid</strong>, weil zwischen ihnen überhaupt<br />

kein Gedankenaustausch stattfand. Ihr Leben, ihre Karriere,<br />

der familiäre Betrieb und das Kind: alles hätte er fest<br />

unter seiner Kontrolle. "Ich will nicht mit dir streiten", sagte sie<br />

traurig, "ich gehe einfach weg". Aber er überzeugte sie davon,<br />

256


dass es absurd sei, wenn sie an verschiedenen Orten leben<br />

würden: sie hätten beide keinen andern Partner und schliesslich<br />

seien sie doch für Pia aneinander gebunden.<br />

Das Kind hatte offenbar die Hellhörigkeit seiner Eltern<br />

geerbt.<br />

"Du <strong>tu</strong>st immer, was Papa will", sagte Pia ihrer Mutter<br />

eines Nachmittags.<br />

"Natürlich <strong>tu</strong> ich das", entgegnete <strong>Ingrid</strong>, zweifellos aufgeschreckt<br />

durch das kecke Urteil einer Siebenjährigen.<br />

"Papa ist sehr intelligent und er ist unser Familien<strong>ob</strong>erhaupt."<br />

"Aber <strong>tu</strong>t Papa je etwas, was du möchtest?" Gute Frage.<br />

Ein paar Tage danach mampfte <strong>Ingrid</strong> bei der Lektüre<br />

eines Magazins ein Stück Schokolade. "Oh", sagte Pia, "weiss<br />

das Papa?"<br />

Bei nochm<strong>als</strong> anderer Gelegenheit erlaubte <strong>Ingrid</strong> Pia,<br />

sich mit ein paar Freundinnen einen Film anzusehen. "Was<br />

nützt mir das, wenn du mir das sagst?", beklagte sich Pia, "ich<br />

muss ja doch auf Papas Erlaubnis warten." Und so weiter und<br />

so fort...<br />

"Ich glaube, ich wartete dam<strong>als</strong> einfach auf jemanden,<br />

der mich aus dieser Ehe herausholte", sagte <strong>Ingrid</strong> später, "allein<br />

hatte ich die Kraft dazu nicht mehr."<br />

257


258<br />

1944 - in „Spellbound“ mit Gregory Peck


1944 - „Spellbound“<br />

259


260<br />

1944 - in "Spellbound" mit Gregory Peck


1945<br />

"Miss <strong>Bergman</strong> kann einfach nicht anders, <strong>als</strong> auf der Leinwand<br />

ein gutes Mädchen zu sein, weil sie eben so ist. Sie trinkt nicht,<br />

sie raucht nicht und führt kein Nachtleben. . . ."<br />

(Die Presse über <strong>Ingrid</strong> nach ihrer Rückkehr von Deutschland)<br />

IN DEN ERSTEN WOCHEN DES NEUEN JAHRS verbrachte<br />

<strong>Ingrid</strong> lange Vorproduktions-Besprechungen mit Leo McCarey,<br />

dem sie ihre Ideen für die Rolle der Schwester Benedict<br />

darlegte. Manchmal tauchte auch Bing Crosby auf, der an seiner<br />

Pfeife nuckelte, gelegentlich einmal nickte und sonst aber<br />

sehr schweigsam blieb. Ihre Garder<strong>ob</strong>e- und Makeup-Tests für<br />

"The Bells of St-Mary’s" spielten für einmal eine höchst untergeordnete<br />

Rolle. Ihre Bekleidung bestand während des ganzen<br />

Films einzig aus der schwarzen Ordenstracht (die auf angenehme<br />

Art die Folgen von <strong>Ingrid</strong>s Weihnachtszeit-Sünden verbarg).<br />

Die Kosmetik-Abteilung, die mit der angemessenen<br />

kosmetischen Behandlung von "Nonnen", die weder glamourös<br />

noch kränklich aussehen durften, oft Pr<strong>ob</strong>leme hatte, fand,<br />

dass <strong>Ingrid</strong>s Teint seinem Ruf alle Ehre machte. Mit einem<br />

Hauch von Puder und einem Nichts von Lippenrouge sah sie so<br />

ungekünstelt wie gesund aus.<br />

Am 15. März 1945 wurden im Grauman's Chinese Theater<br />

am Hollywood Boulevard die Academy Awards verteilt; in<br />

Übereinstimmung mit den allgemeinen Restriktionen während<br />

der Kriegszeit bestanden die Sta<strong>tu</strong>etten diesmal aber nicht aus<br />

Bronze, sondern aus Gips. Niemand wunderte sich darüber,<br />

dass Leo McCareys Knüller "Going My Way" sieben Oscars ge-<br />

261


wann – für besten Film, Regie, Hauptdarsteller (Crosby), Nebenrollen<br />

(Frank Butler und Frank Cavett) und Song ("Swinging<br />

on a Star" von James Van Heusen und Johnny Burke).<br />

Jennifer Jones verkündete die Nominationen für die beste Leis<strong>tu</strong>ng<br />

einer Schauspielerin, worauf <strong>Ingrid</strong> unter anhaltendem<br />

Applaus ihren Award für "Gaslight" entgegennehmen konnte.<br />

"Deine Kunst hat unsere Stimmen gewonnen und deine Liebenswürdigkeit<br />

unsere Herzen", sagte Jennifer, die dam<strong>als</strong><br />

noch spontan aus dem Stegreif sprach, bevor nun heutzutage<br />

alles für die Sprecher bis ins Kleinste vorbereitet wird.<br />

"Ich bin von Herzen dankbar", sagte <strong>Ingrid</strong>, die dasselbe<br />

einfache Kleid wie im Vorjahr trug. "Tatsächlich bin ich sogar<br />

sehr froh darüber, den Preis jetzt zu bekommen, da ich<br />

morgen meine Arbeit an einem neuen Film mit den Herren<br />

Crosby und McCarey aufnehmen werde und fürchte, dass –<br />

käme ich ohne einen Award – keiner von beiden mehr mit mir<br />

sprechen würde!" Während Wochen trafen im Benedict Canyon<br />

Massen von Briefen, Blumen und Karten ein, aber <strong>Ingrid</strong>s<br />

erste Dankeszeilen gingen an ihren Regisseur, George Cukor:<br />

"Ich bin immer noch überwältigt von meinem Oscar und ich<br />

weiss mich in keiner Sprache auszudrücken. Aber ich muss dir<br />

sagen, wie dankbar ich dir für deine Hilfe und dein Verständnis<br />

für die arme Paula in "Gaslight" bin."<br />

Im Falle des genialen und sie bewundernden McCarey<br />

hatte <strong>Ingrid</strong> keinen Grund zur Sorge, er würde anderntags im<br />

Set nicht mit ihr sprechen. Aber von genau diesem nächsten<br />

Morgen bei RKO an erwies sich Bing Crosby <strong>als</strong> rätselhafter Co-<br />

Star, angenehm in der Zusammenarbeit aber distanziert und<br />

stets umgeben von einem kleinen Team von Lakaien und Faktoten.<br />

Seit seinen Anfängen im Alter von 18 im Jahre 1922<br />

machte Crosby schnell seinen Weg zu einem der einflussreichsten<br />

und populärsten Schnulzensänger der Welt, dem er ab<br />

1930 eine enorm erfolgreiche Filmkarriere folgen liess. Seine<br />

unprätentiöse Umgänglichkeit war genau, was Amerika wollte,<br />

speziell während des Krieges. Zusammen mit B<strong>ob</strong> Hope und<br />

Dorothy Lamour hatte Crosby schon die drei ersten "Road"-<br />

Komödien gedreht, und Umfragen in Film-Magazinen zufolge<br />

262


wurde er in den 40er-Jahren mehrfach zum populärsten Filmstar<br />

erkoren.<br />

Aber Crosbys Tugenden fanden in seinem realen Leben<br />

wenig Entsprechung; in Wirklichkeit war er für seine Söhne ein<br />

unerträglicher Tyrann mit einem sehr unterschiedlichen privaten<br />

Charakter. "Bing Crosby war eine der charmantesten, gelassensten<br />

Personen, mit welchen ich je gearbeitet habe", sagte<br />

<strong>Ingrid</strong> später, "aber ich lernte ihn nie richtig kennen – sowenig<br />

wie seine Frau oder Kinder." Dies entsprach den gleichlautenden<br />

Erfahrungen vieler anderer, die mit Crosby zusammengearbeitet<br />

hatten, mit Ausnahme einiger Leute, mit welchen<br />

er sich auf dem Golfplatz traf. Aber wie warmherzig und<br />

sogar spassig "The Bells of St-Mary’s" auch gewesen sein<br />

mag, der Film hatte keine romantischen Züge, sodass <strong>Ingrid</strong>s<br />

– rein gefühlsmässiger - Argwohn Crosby gegenüber ihr Spiel<br />

und die Bühnenchemie zwischen den beiden nur unterstützte.<br />

Die Geschichte war unkompliziert, sogar vorhersehbar,<br />

aber sie hatte einen Witz und Charme, wie man ihn in Filmen<br />

mit religiösem Hintergrund selten findet. Schwester Mary Benedict<br />

(<strong>Ingrid</strong>) heisst den neuen Priester Vater O'Malley (Crosby)<br />

in der Schule von St-Mary’s willkommen, die sich baulich in<br />

einem desolaten Zustand befindet und dringend erneuert werden<br />

sollte. Der Priester und die Nonne streiten sich freundschaftlich<br />

über alltägliche Erziehungsfragen, Kinder aus Pr<strong>ob</strong>lemfamilien<br />

werden zur Reife begleitet, und die Schule wird<br />

schliesslich durch die Wandlung eines reichen und zuletzt doch<br />

wohltätigen Miesepeters (Henry Travers) gerettet. Als Schwester<br />

Benedict schliesslich versetzt wird, glaubt sie den Grund<br />

dafür in Vater O'Malleys Ablehnung ihrer Erziehungsprinzipien<br />

zu sehen. Erst in letzter Minute eröffnet er ihr, dass sie weggeschickt<br />

wird, um ihre beginnende Lungen<strong>tu</strong>berkulose zu heilen.<br />

Erleichtert darüber, dass sie nur krank ist und nicht abgelehnt<br />

wurde, kann Schwester Benedict nun frohen Mutes und im Bewusstsein<br />

der von ihr erbrachten Leis<strong>tu</strong>ng abreisen, w<strong>ob</strong>ei Vater<br />

O'Malley sie daran erinnert, 'O' für O'Malley zu wählen, falls<br />

sie Hilfe benötige.<br />

263


Jahrzehnte später entstand über diesen Film ein etwas<br />

einfältiger Sn<strong>ob</strong>ismus, vielleicht weil anfangs der 1960er-Jahre<br />

alle insti<strong>tu</strong>tionell religiösen Männer und Frauen zu Figuren<br />

wurden, die nur noch <strong>als</strong> Konversations-Zielscheiben dienten.<br />

Ausserdem wurde die Nonnen-Garder<strong>ob</strong>e (ebenfalls in den<br />

60er-Jahren) der Arbeit in der modernen Welt angepasst, sodass<br />

Figuren aus früheren Filmen in ihren alten, traditionellen<br />

Ordensgewändern <strong>als</strong> komischer Anachronismus empfunden<br />

wurden.<br />

Hollywood tat sich mit der Keuschheit ebenso schwer,<br />

wie mit der Sünde: so entstand das Bild jener süss-dürren,<br />

geschlechtslosen Jungfern, die nur gelegentlich in den 40er<br />

und 50er-Jahren in Erscheinung traten. Aber die von McCarey<br />

und <strong>Bergman</strong> geschaffene Nonne – keine geschrumpfte Jungfer,<br />

sondern eine klarsichtige, Ruhe verströmende Schönheit<br />

voll innerer Weisheit und einem Geist der echten Selbstaufopferung<br />

– bleibt eine Ausnahme von alledem, speziell im Vergleich<br />

zu den vielen später entstandenen Film- und Fernseh-<br />

Clichés. Die Nonnen-Portraits, die auch nach <strong>Ingrid</strong>s ungewöhnlicher<br />

Schwester Benedict entstanden, waren in der grossen<br />

Mehrheit derart in Honig getaucht, dass sie zu hoffnungslos<br />

vergoldeten Karika<strong>tu</strong>ren reifer Frauen, zu einfältigen Beispielen<br />

von in einer anhaltenden Vorpubertät gefangenen Mädchen<br />

wurden.*)<br />

Demgegenüber sind die klerikalen und religiösen Figuren<br />

in "The Bells of St-Mary’s" mit wenigen Clichés belastet,<br />

und <strong>Ingrid</strong> war so urmenschlich, so natürlich in ihrer Rolle,<br />

*) Die wenigen Ausnahmen in der Filmgeschichte waren immerhin<br />

bemerkenswert: Deborah Kerr in "Black Narcissus" (1946)<br />

und "Heaven Knows, Mr. Allyson" (1957); Audrey Hepburn in<br />

"The Nuns Story" (1959) und Susan Sarandon in "Dead Man<br />

Walking" (1995). Vielleicht das haarsträubendste Beispiel der<br />

süssen kleinen Schwester war in der Fernsehserie "The Flying<br />

Nun" zu sehen, wo die geschmeidige junge Sally Field nichts<br />

anderes darstellte, <strong>als</strong> Gidget mit einem aerodynamisch bemerkenswerten<br />

Kopfschmuck.<br />

264


dass sich McCarey darüber ereiferte, wie wundervoll Dudley<br />

Nichols' Texte auf ihren Lippen klangen: "Wenn sie bei ihrem<br />

Auftritt in die Szene 'Hello' sagt, fragen die Leute, wer diesen<br />

wundervollen Dialog geschrieben habe?!"<br />

In der Tat schrieb sie einige Texte und brachte auch einige<br />

Szenen ein, die den Film verdichteten und aufwerteten.<br />

So war es ihre Idee, während des Boxtrainings mit dem scheuen<br />

Schuljungen, den sie in Selbstverteidigung unterwies, etwas<br />

mehr Dampf aufzusetzen und niedergeschlagen zu werden.<br />

Ihre lebhafte, fast tanzende Beinarbeit wirkte erheiternd, glitt<br />

aber nicht ins Burleske ab. Und sie wusste ihren Sopran einwandfrei<br />

einzusetzen, <strong>als</strong> sie ein altes schwedisches Volkslied<br />

für die Nonnen sang – w<strong>ob</strong>ei sie aus einem hohen Ton in ein<br />

verlegenes Kichern glitt, <strong>als</strong> Crosby herzutrat und fragte: "Was<br />

für ein Lied war das, Schwester?" - "Oh", antwortete sie mit<br />

dem weltlichen Leuchten einer Erinnerung im Gesicht, "es ist –<br />

äh – über – den Frühling!" Aber ihr kurzer Lacher lässt erahnen,<br />

dass die schwedischen Verse von vielleicht noch etwas<br />

mehr <strong>als</strong> nur den lieblichen Knospen im Mai erzählen – was<br />

sehr wohl so war: "Ströme ziehn vorbei, doch sie sind nicht so<br />

schnell wie mein Herz...", keine grosse Lyrik, aber dennoch<br />

wäre sie in unserer Sprache nicht damit weggekommen.<br />

Crosbys Reserviertheit zum Trotz war der Film für <strong>Ingrid</strong><br />

eine glückliche Erfahrung. Am letzten Drehtag Ende Mai<br />

befand sie sich in einer derartigen Hochstimmung, dass sie<br />

Crosby, McCarey und dem ganzen Produktionsteam gegenüber<br />

einen Streich wagte. Es war die Schlussszene, in welcher<br />

Schwester Benedict von ihrer Krankheit erfährt. Anstatt einfach<br />

"Danke, Vater O'Malley" zu sagen und lächelnd wegzugehen,<br />

sagte <strong>Ingrid</strong> "Danke, Vater - oh, ich danke Ihnen von ganzem<br />

Herzen!" Und damit schlang sie ihre Arme um Crosbys H<strong>als</strong><br />

und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Lippen. Crosby trat<br />

schockiert einen Schritt zurück, McCareys Augen weiteten sich<br />

<strong>als</strong> er "Schnitt! Schnitt!" rief, und ein Priester, der <strong>als</strong> technischer<br />

Berater für den Film zugezogen wurde, sprang herbei:<br />

"Aber, aber - Miss <strong>Bergman</strong> – das können Sie doch nicht –<br />

nein, so doch nicht!" Dann platzte <strong>Ingrid</strong> los mit ihrem<br />

265


ununterdrückbaren, ansteckenden Gelächter, nachdem alle im<br />

Set den Scherz erfasst hatten. Sie versetzte die ganze Gesellschaft<br />

damit in eine derartige Hochstimmung, dass es vier weitere<br />

Aufnahmen brauchte, bis die Szene im Kasten war: Wie<br />

sie bei den letzten kritischen Sekunden angelangt waren,<br />

schnarrte wieder jemand mit einem unterdrückten Lacher los,<br />

der nochm<strong>als</strong> alles ruinierte.<br />

Die Rolle einer warmherzigen, sensibeln Nonne brachte<br />

<strong>Ingrid</strong>s Repertoire von Frauen-Charakteren eine zusätzliche<br />

Erweiterung. Während den vergangenen sechs Jahren im amerikanischen<br />

Film hatte sie Frauen gespielt, die Lehrerinnen,<br />

Freundinnen, Ehefrauen waren ("Intermezzo", "Adam Had Four<br />

Sons", "Rage In Heaven"); eine gefolterte Barmaid ("Dr. Jekill<br />

and Mr. Hyde"); die verwirrte, aber idealistische Geliebte zweier<br />

Männer ("Casablanca"); das brutalisierte Mädchen, das seine<br />

Liebe mitten im politischen Terror findet ("For Whom The<br />

Bell Tolls"); eine unerbittliche Abenteurerin ("Saratoga<br />

Trunk"); das auserkorene Opfer eines mörderischen Diebes<br />

("Gaslight") und eine Psychiaterin, die ihren Geliebten von seinem<br />

Schuldkomplex befreit ("Spellbound"). Schwester Benedict<br />

fügte ihrer Krone einen weiteren unterschiedlichen Edelstein<br />

bei, und später im Jahr – im dritten in Folge – erhielt sie<br />

die Oscar-Nomination <strong>als</strong> beste Schauspielerin für diese Leis<strong>tu</strong>ng.<br />

"Überaus heiter ... von strahlender Schönheit ... leuchtend"<br />

– einmal mehr verliessen die Kritiker die ausgetretenen<br />

verbalen Pfade für <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>.<br />

Keine Freude hatte sie allerdings an den romantischen<br />

Fantasien, die – speziell nach dem Anlaufen der "Bells" - um<br />

ihre Person gesponnen wurden. Viele katholische Mütter, welchen<br />

sie begegnete, wollten, dass ihre Töchter wie Schwester<br />

Benedict würden; Nichtkatholiken waren – immer aufgrund der<br />

Umfragen desselben Film-Magazins – einfach hingerissen –<br />

<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> auf der Leinwand, gleich in welcher Rolle, war<br />

schlicht das Vorbild für amerikanische Weiblichkeit. (Haben die<br />

nie gehört, dass <strong>Ingrid</strong> resolut auf ihrem schwedischen Bürgerrecht<br />

bestand?) Das "LOOK"-Magazin brachte <strong>Ingrid</strong> auf der<br />

üppigen Farb-Titelseite seiner Ausgabe vom 18. September –<br />

266


allerdings <strong>als</strong> Nonne. So begann die Differenzierung zwischen<br />

Rolle und Mensch zunehmend zu verblassen. Das Publikum<br />

begann zu glauben, St. <strong>Ingrid</strong> sei die echte <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>.<br />

HÄTTE DIESES PUBLIKUM nach Vollendung der "Bells"<br />

von ihrem Privatleben gewusst, wäre <strong>Ingrid</strong> schnell von ihrem<br />

ungeliebten Denkm<strong>als</strong>ockel heruntergekommen. Aber selbst<br />

wenn Journalisten oder Gerüchtekolumnisten es 1945 mitbekommen<br />

hätten, ist es unwahrscheinlich, dass jemand darüber<br />

berichtet hätte, dass <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>, die der Welt in den<br />

Kriegsjahren so viel Freude gebracht hat, so nach Liebe ausgehungert<br />

war, dass sie sich nicht nur einen, sondern gleich zwei<br />

Liebhaber zugelegt hatte.<br />

"Auf der einen Seite bin ich sehr bohémienne", sagte sie<br />

später, "andererseits aber auch das Gegenteil." Ihr Bohémienne-Leben<br />

begann in Paris, wo <strong>Ingrid</strong> anfangs Juni 1945, einen<br />

Monat nach dem V-Day ankam. Aufgrund ihres Erfolgs in Alaska<br />

und auf den Werbetouren hatte die United Service Organisation<br />

(USO) Selznick angefragt, <strong>Ingrid</strong> für eine Unterhal<strong>tu</strong>ngstour<br />

zu den alliierten Truppen in Europa freizugeben. In Paris<br />

erwartete sie die Instruktionen für die Weiterreise nach<br />

Deutschland, wo sie mit dem Komiker Jack Benny, der Sängerin<br />

Martha Tilton und dem Musiker Larry Adler zusammentreffen<br />

sollte.<br />

<strong>Ingrid</strong> wurde ein Zimmer im Ritz zugewiesen, dam<strong>als</strong><br />

weniger ein Luxushotel <strong>als</strong> ein überfülltes Irrenhaus, das Generäle<br />

und Journalisten, Künstler, Entertainer und das internationale<br />

Pressecorps beherbergte. Innerhalb weniger Tage war<br />

<strong>Ingrid</strong> das Licht und das Leben des internationalen Sets in Paris<br />

und stellte sogar die Popularität der grossartigen Marlene<br />

Dietrich in den Schatten, die hinter der Front war und nun unerwünschte<br />

Konkurrenz witterte. "Ah, da bist du ja– jetzt, wo<br />

der Krieg vorbei ist!", sagte sie mit einem zweideutigen Lächeln<br />

auf den Lippen, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> eines Morgens ins Hotelfoyer<br />

kam.<br />

267


Ein herzlicheres Willkommen, ebenfalls im Ritz, kam<br />

vom Fotographen R<strong>ob</strong>ert Capa, der dam<strong>als</strong> bestens dafür bekannt<br />

war, dass er die meisten bedeutenden Episoden des<br />

Krieges furchtlos und brillant dokumentiert hatte, einschliesslich<br />

der Landung in Anzio, der Invasion der Normandie und der<br />

Befreiung von Paris; auch begleitete er Fallschirmtruppen auf<br />

einen Zug durch Deutschland. Er lud <strong>Ingrid</strong> zu einem einfachen<br />

Abendessen ein, sie spazierten der Seine entlang, er erzählte<br />

von der Kunst und dem Handwerk der Fotographie, machte<br />

einige Schnappschüsse von ihr – und schon stand sie in Flammen.<br />

Capa, in Ungarn geborener Andrej Friedman, war gerade<br />

zwei Jahre älter <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong>, aber für sein Leben, seine Arbeit<br />

und den Alkohol bezahlte er einen hohen Preis; er schien älter<br />

und auf traurige Art unglücklich zu sein. Zu Beginn des Krieges<br />

war er nach New York ausgewandert, wo er in verschiedenen<br />

Stellungen Fotojournalismus betrieb, bevor er sich <strong>als</strong> Nummer-eins-Dokumentarfotograph<br />

der alliierten Streitkräfte profilierte.<br />

Als dunkler, drahtiger Typ mit dickem, unbezähmbarem<br />

Haar und starken Augenbrauen, die ihm bisweilen etwas Finsteres<br />

verliehen, hatte Capa viele romantische Beziehungen,<br />

genoss täglich mehrere Gläser Whisky, verfügte über eine bittere<br />

Art von Witz und beeindruckte die Frauen <strong>als</strong> kontinentaler<br />

Kosmopolit. Er sprach fünf Sprachen und träumte aber in<br />

Bildern, die sich meistens um den Krieg drehten und ihn mit<br />

Abscheu erfüllten. Die Greuel des Krieges trafen ihn ganz persönlich,<br />

<strong>als</strong> Gerda Taro, seine Frau und Assistentin, im spanischen<br />

Bürgerkrieg von einem Panzer überrollt wurde und in<br />

seinen Armen starb.<br />

"Capa ist wundervoll und verrückt und er hat eine grosse<br />

Seele", sagte <strong>Ingrid</strong> Joe Steele später. Was sie verschwieg,<br />

war, dass er auch abgebrannt und depressiv war, nachdem er<br />

sein ganzes Geld am Spieltisch, in den Bars und für die Apartments<br />

seiner Maitressen verloren hatte. Mit seinen 32 Jahren<br />

steckte er nun auch in einer Lebenskrise, denn – <strong>ob</strong>schon auch<br />

er den Frieden so sehr begrüsste, wie jedermann sonst – er<br />

musste nun auch einen neuen J<strong>ob</strong> finden, und die reine Maga-<br />

268


zin-, Sozial- und Portrait-Fotographie reizten ihn überhaupt<br />

nicht.<br />

Zu ihnen beiden kam die Liebe unter schwierigen Umständen<br />

und zu einer Zeit von ganz spezieller Einsamkeit und<br />

innerer Leere. Sehr wahrscheinlich war er ihr erster Liebhaber<br />

seit Beginn ihrer Ehe, und sie empfand ihn <strong>als</strong> eine Chance,<br />

dieser zu entkommen. Für Capa war <strong>Ingrid</strong>s Humor, ihr fröhliches<br />

Lachen und ihre offene Sinnlichkeit B<strong>als</strong>am auf seine Melancholie.<br />

"Es war, es ist deine fröhliche Art, die ich liebe",<br />

schrieb er ihr später, "und es gibt sehr wenige so fröhliche<br />

Aufsteller im Leben eines Mannes." Offensichtlich beschäftigte<br />

diesen Sommer aber nicht nur ihre fröhliche Art seine heruntergekommene<br />

Seele, denn ihre heisse Affäre loderte hell und<br />

blieb vorderhand ohne Komplikationen. Schliesslich war sie<br />

weit entfernt von zuhause und von Hollywood, und Paris selbst<br />

– von Bombardierungen verschont und noch immer der Ort für<br />

Verliebte – erschien ihr voll von Versprechungen nach soviel<br />

Entsagung. Sie schlürften Champagner bei Fouquet, wo sie von<br />

einem verständnisvollen und Capa gewogenen amerikanischen<br />

Offizier verschiedentlich eingeladen waren, sie genossen späte<br />

Abendessen in ruhigen Bistros rund um Notre Dame; sie sassen<br />

in einer Ecke der Ritz-Bar, händchenhaltend, manchmal<br />

flüsternd, manchmal still versunken. Und während fast sechs<br />

Wochen teilten sie jede Nacht entweder sein oder ihr Zimmer.<br />

"Äusserlich erschien er charmanter und ausgelassener<br />

<strong>als</strong> je zuvor", schrieb Capas Biograph, Richard Whelan, "denn<br />

nur durch diesen gewissen Übermut konnte er etwas Befreiung<br />

von seiner quälenden Unzufriedenheit und dem Gefühl der Verlorenheit<br />

finden." Zyniker bis auf Blut, war Capa (nach seinem<br />

Freund Hal Boyle) "der liebreizendste Kerl des Pressecorps",<br />

und von ihrem ersten Treffen mit Capa an war <strong>Ingrid</strong> völlig auf<br />

seine Person fixiert. Einfallsreich und leidenschaftlich lebte er<br />

von Moment zu Moment, fest auf seine scharfe sexuelle Aura<br />

vertrauend und <strong>Ingrid</strong> Nacht für Nacht seiner Liebe versichernd;<br />

er war mit andern Worten die Art von Mann, die sie<br />

nur aus den Filmgeschichten kannte und der nun leibhaftig in<br />

ihr Leben trat. Während zweier Monate diesen Sommer und in<br />

269


unregelmässigen Abständen während der nächsten zwei Jahre<br />

erlebten <strong>Ingrid</strong> und Capa (den sie immer nur so nannte) ein<br />

diskretes aber intensives Abenteuer. Aber er kam jedem Gespräch<br />

über ernsthafte Absichten zuvor, und vorderhand stellte<br />

sie kein Ultima<strong>tu</strong>m. Sie war einfach zufrieden mit dem, was sie<br />

hatte.<br />

ABER MITTE JULI wurde <strong>Ingrid</strong> endlich nach Deutschland<br />

beordert, und Capa, der in Paris weiterhin auf Anweisungen<br />

wartete, versprach, sich mit ihr in Berlin zu treffen. Ihr<br />

erster Besuch im Heimatland ihrer Mutter, dem Land von Tante<br />

Mutti und dem Ort, wo sie ihren Vertrag mit der UFA zu erfüllen<br />

hatte, schien keine besonderen Emotionen in ihr hervorgerufen<br />

zu haben, oder jedenfalls keine, die sie dam<strong>als</strong> oder später<br />

Freunden gegenüber zum Ausdruck gebracht hätte. In einem<br />

Brief an Petters Familie, den sie im September nach ihrer<br />

Rückkehr nach Amerika geschrieben hatte, drückte sie lediglich<br />

Sympathie für die Zivilbevölkerung aus, die diesem Krieg zum<br />

Opfer gefallen war: "Arme Leute, muss man sagen, wenn man<br />

die zerstörten deutschen Städte sieht, auch wenn man selbst<br />

froh darüber ist, dass sie endlich ihre Strafe erhalten haben."<br />

Was ihre Familie anbetrifft, so war Tante Muttis Nazi-Liebhaber<br />

seit ihrem letzten Besuch verstorben und Tante Mutti selbst<br />

war es irgendwie gelungen, nach Kopenhagen zu entkommen,<br />

aber zwischen Tante und Nichte gab es keine Nachkriegs-<br />

Kontakte mehr.<br />

Den ersten Halt auf der Reise machte sie in Bayern, wo<br />

sie ihre Kollegen traf. <strong>Ingrid</strong> bewunderte Jack Benny enorm<br />

und schloss sich ihm für satirische Sketches für die Soldaten<br />

an; mit Martha Tilton sang sie fröhliche Duette, und in Larry<br />

Adler fand sie einen lustigen, begabten Verehrer. Der in Baltimore<br />

geborene Adler, verheiratet und ein Jahr älter <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong>,<br />

war ein schlankes, dunkelhaariges, helläugiges Genie, das<br />

zwar keine Musiknoten lesen, die Musik selbst aber umso<br />

grossartiger komponieren und spielen konnte. <strong>Ingrid</strong> fand Adler<br />

so "romantisch, so angenehm <strong>als</strong> Gesellschafter; und seine<br />

270


einfache aber wundervolle Musik wickelte dich in Wärme ein."<br />

Diese Musik begünstigte etwas Kompliziertes. Im Glauben,<br />

entweder Capa nie wieder zu sehen, oder dass er diskret versuchte,<br />

ihre Beziehung abzubrechen, sah <strong>Ingrid</strong> keinen Grund,<br />

sich dem aussergewöhnlichen Charme von Adler zu widersetzen.<br />

Die Entertainer waren in einem Privathaus ausserhalb<br />

Augsburgs (nordwestlich von München) untergebracht. Dort<br />

sass Adler an einem Klavier, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> hinzutrat und ihm das<br />

Kompliment für diese Lied-Improvisation aussprach. Als sie ihn<br />

bat, ihr das niederzuschreiben, gestand er ihr, dass er Noten<br />

weder schreiben noch lesen konnte.<br />

"Sie scheinen auf Ihre Ignoranz sehr stolz zu sein?"<br />

fragte sie ihn mit einem Lächeln und so direkt (nach Adler).<br />

"Es war Liebe auf den ersten Blick, <strong>ob</strong>schon ich zuerst nicht<br />

sicher war, <strong>ob</strong> sie wirklich <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> war. Schliesslich<br />

hatte ich ihre neuesten Filme nicht gesehen. Erst nach ein,<br />

zwei Minuten sagte mir ihre Stimme, dass sie es wirklich war."<br />

Adler erhielt bald Gelegenheit, sich mit ihrer Karriere<br />

vertraut zu machen: ein Special Service-Offizier brachte "Saratoga<br />

Trunk" auf die Leinwand, welcher Film vor einer amerikanischen<br />

Premiere immer noch seine Runden durch Europa<br />

drehte. "<strong>Ingrid</strong>", sagte Adler, <strong>als</strong> die Lichter erloschen, "du bist<br />

ein gesundes Schwedenmädchen – keine französische Kurtisane.<br />

Du warst hier eine Fehlbesetzung!" Sie protestierte, dies<br />

sei bis anhin ihr bester Film gewesen, und ging ihm während<br />

einiger Tage aus dem Weg. Aber die Distanz war schnell überbrückt,<br />

<strong>als</strong> Adlers Humor zu ihr durchdrang. Sie bestand auch<br />

darauf, dass er nach seiner Rückkehr in Amerika einen guten<br />

Lehrer suchen und die Notenschrift erlernen musste. Und das<br />

tat er auch: Adler s<strong>tu</strong>dierte bei keinem Geringeren <strong>als</strong> dem<br />

Komponisten und Musiker Ernst Toch und war <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong><br />

für den Rest seines Lebens dankbar für seine Karriere: "Wenn<br />

es nicht für sie gewesen wäre, hätte ich nie komponiert." Bestens<br />

bekannt <strong>als</strong> Harmonika-Vir<strong>tu</strong>ose, erh<strong>ob</strong> er dieses Instrument<br />

zur Konzertreife, schrieb die Musik zu sieben Filmen und<br />

271


war bei Sinfonieorchestern in aller Welt höchst gefragt.<br />

Von Mitte Juli bis Mitte August, und gelegentlich auch<br />

danach, florierte die Romanze, und so wurde <strong>Ingrid</strong> – nach so<br />

langer Zeit ohne herzliche männliche Zuwendung – innerhalb<br />

zweier Monate zum zweiten Mal eine bereitwillige Geliebte.<br />

Adler war da, Adler war aufmerksam, Adler war's im Moment.<br />

Und so, mehr Kindna<strong>tu</strong>r (wie Tante Mutti sie genannt hatte) <strong>als</strong><br />

je zuvor, gab sie sich der Lust der Liebe hin.<br />

MANCHE, DIE VON DIESEN SIMULTANEN AFFÄREN<br />

wussten (und später auch das Vorspiel zu ihrer zweiten Ehe),<br />

hielten diese während Jahren für den Lebensstil von <strong>Ingrid</strong><br />

<strong>Bergman</strong> – nämlich dass sie eine verantwor<strong>tu</strong>ngslose Frau sei,<br />

die ihre Familie leichtfertig verliess, die jeder fleischlichen Lust<br />

frönte und die jeden attraktiven Liebhaber annahm, der sich<br />

anbot. Mit der Zeit gingen diese Behaup<strong>tu</strong>ngen noch weiter:<br />

sie sei eine kaltherzige Männerausbeuterin, eine Frau, die anderer<br />

Leute Bewunderung und Verehrung dazu missbrauchte,<br />

ihre eigenen Unfähigkeiten – speziell die, allein zu sein – zu<br />

übertünchen. Dieses Portrait steht in groteskem Widerspruch<br />

zur Wirklichkeit ihres Charakters.<br />

Im Sommer 1945 wurde <strong>Ingrid</strong> dreissig, aber in ihrer<br />

Persönlichkeit gab es da immer noch diesen mädchenhaften<br />

und unreifen Wesenszug; in mancherlei Hinsicht war sie überhaupt<br />

nicht die Frau von Welt, für die sie vom Publikum gehalten<br />

wurde. Natürlich hat sich ihr frühes Leben auf einem emotionell<br />

instabilen Untergrund abgespielt, auf dem sich der Tod<br />

nach und nach jene holte, die ihr nahestanden. Danach stützte<br />

sie sich für alle praktischen Fragen des Lebens ausschliesslich<br />

auf ihren Ehemann, um für die Vervollkommnung ihrer Kunst<br />

frei zu sein. Völlig uninteressiert, wie sie ihr Leben lang an allen<br />

finanziellen Dingen war, überliess sie deren Management<br />

gerne jedwelchem Mann, dem sie vertraute. Allein auf ihr<br />

Handwerk ausgerichtet, konnte sie alles übrige leicht diesem<br />

unterordnen. Gleichzeitig gehörten einzig die in<strong>tu</strong>itiven Kräfte<br />

in ihr und das Talent, das sie befähigte, brillante Leis<strong>tu</strong>ngen<br />

272


auf Bühne und Leinwand zu erbringen, ihr und nur ihr allein,<br />

und so zählte sie in ihrem Leben unbeirrbar auch nur auf diese<br />

Qualitäten.<br />

Ihre Karriere wurde dann ja erfolgreich gemanaged, ihre<br />

Ehe von ihrem Ehemann kontrolliert. Ihr Ruhm wurde ihr<br />

zur Last, aber sie ertrug seine Launen mit bemerkenswerter<br />

Leichtigkeit und Grazie, und ihre Weigerung, Ausflüchte zu<br />

finden oder Allüren zu entwickeln, machte sie bei ihren Kollegen<br />

so beliebt wie bei der Presse und beim Publikum. Wenn die<br />

Leute sie anbeteten, hatten sie diesen Kult selbst geschaffen –<br />

sie tat nichts dazu <strong>als</strong> durch gute Arbeit eine bewunderungswürdige<br />

Leis<strong>tu</strong>ng zu erbringen, und selbst ihre Schönheit wurde<br />

von ihren Bewunderern mehr geschätzt, <strong>als</strong> von ihr selbst.<br />

Von der Zeit von "A Woman's Face" bis zu ihrem Lebensende<br />

hatte <strong>Ingrid</strong> keine Hemmungen, so aufzutreten, wie sie war<br />

oder (noch schlimmer) wie sie der Rolle entsprach.<br />

Die Ehe brachte ihr zunächst viel Trost. Aber die Ehe<br />

kann, wie wundervoll sie von einem Paar auch gestaltet werden<br />

mag, nicht jedes menschliche Bedürfnis abdecken; diese<br />

Fiktion war, wie sie sehr bald merkte, der Stoff des amerikanischen<br />

Films. Im Falle der Lindströms könnte man sagen, dass<br />

ihre Verbindung so erfolgreich war, dass sie beide in starkem<br />

Masse voranbrachte. Jahre danach hätte man sie dafür bewundern<br />

können, dass sie ihre separaten Karrieren durchziehen<br />

konnten. Aber nichts in der damaligen Kul<strong>tu</strong>r oder im familiären<br />

Hintergrund der beiden befreite Petter oder <strong>Ingrid</strong> vom<br />

Glauben an die Oberhoheit des Ehemanns, und gewissermassen<br />

wusste sie das – daher auch ihre Flucht aus der erstickenden<br />

Langeweile der Inaktivität und dem engen Spielraum<br />

der Hausfrauenarbeit. Lebenslang jede Saison war <strong>Ingrid</strong><br />

<strong>Bergman</strong> wie eine junge Frau am Start zur Suche nach einer<br />

aufregenden neuen Karriere. Jede Rolle war ein neuer Aufbruch<br />

in ein unbekanntes Territorium, eine Neuentdeckung<br />

ihrer inneren Ressourcen.<br />

273


SPEZIELL IN DER LIEBE war <strong>Ingrid</strong> eine seltsame Kombination<br />

aus Romantikerin und Pragmatikerin. Einerseits sehnte<br />

sie sich nach einem Mann, der Verantwor<strong>tu</strong>ng übernahm<br />

und ihr die Sicherheit einer stabilen Verbindung bot, und sie<br />

kannte den Unterschied zwischen der leichten fleischlichen<br />

Verbindung und der Intimität, die Sex im besten Fall bedeuten<br />

konnte. Sie gab sich bestimmt niemandem leichtfertig hin, und<br />

ihr Leben war auch nicht von sexuellen Impulsen gesteuert.<br />

Die Realistin in ihr verhinderte jede unbedachte Interpretation<br />

zwischen einer grossen Leidenschaft und einer kleinen Lust.<br />

Sie hätte vielleicht jeden Mann ihrer Wahl verführen können,<br />

und sie waren ihr Leben lang Legion, die Bewunderer, die ihr<br />

gerne vorübergehende oder beständige Liebe angeboten hätten.<br />

Aber das interessierte sie nicht. Selbst ihre Fantasie-<br />

Romanzen wurden von ihrem gesunden Menschenverstand<br />

beherrscht.<br />

Ihre Beziehungen zu Capa und Adler sind denn auch im<br />

Kontext einer jungen Frau zu sehen, die über ausserordentliche<br />

innere Ressourcen verfügt und die Liebe in der Kunst darstellt,<br />

sich im Leben aber davon ausgeschlossen fühlt. Es war<br />

nicht die Gelegenheit für Sex, die sie zu den beiden führte,<br />

sondern einmal mehr – wie immer in ihrem Leben – die schöpferischen<br />

Begabungen, die sie faszinierten. Capa, mit seinem<br />

scharfen Auge und seinen philosophischen Neigungen, spülte<br />

sie mit seiner reinen Lebenslust förmlich hinweg. "Du bist zu<br />

einer Industrie geworden", sagte er zu ihr, "dein Mann steuert<br />

dich, die Filmgesellschaften steuern dich, jedermann kann dich<br />

steuern." Er wollte nicht den Filmstar, sondern die Frau. Aber<br />

er wollte sie nicht <strong>als</strong> Ehefrau, was ihrer Beziehung denn auch<br />

das Genick brach.<br />

Adler sah sie <strong>als</strong> einen herrlichen Kameraden und einen<br />

Mann, dessen Musik sie tröstete und aufrichtete. Die Frage<br />

nach einer Ehe blieb unangesprochen, aber sie beide wussten,<br />

dass ihre gegenseitige Zuneigung früher oder später in eine<br />

Freundschaft ausmünden würde, was dann auch bis an <strong>Ingrid</strong>s<br />

Lebensende der Fall war. Nach Adlers Meinung war <strong>Ingrid</strong> die<br />

unaffektierteste Schauspielerin, die er je getroffen hat, und die<br />

274


grosszügigste, die zur Unterhal<strong>tu</strong>ng der Truppen herbeikam –<br />

aber er fand auch, dass sie zu diesem Zweck nicht die optimale<br />

Wahl war. "Die Jungs wollten Comicheft-Humor, Burlesken,<br />

gr<strong>ob</strong>en Stoff – und da kam <strong>Ingrid</strong> und las meistens aus Prosa<br />

und Lyrik."<br />

Eine Nacht war besonders peinlich. Sie hatte ihre kleine<br />

Vorstellung beendet und kam in Tränen von der Bühne, weil<br />

die Soldaten anzüglich muhten und dann in rüdes Gejohle<br />

übergingen und Kondome durch die Luft schwenkten. ("Zu<br />

schade, dass ihr Kerle nichts Besseres damit anzufangen<br />

wisst," sagte Adler, <strong>als</strong> er sie einige Minuten danach dafür ausschalt.)<br />

Obschon sie stets eingeladen war, mit dem militärischen<br />

Gold zu dinieren, machte sie nie davon Gebrauch. "Sie ging<br />

immer aus und ass mit den Leuten der Truppe, notierte deren<br />

Namen und kontaktierte deren Familien, <strong>als</strong> sie zurück in Amerika<br />

war", erinnerte sich Adler. "Ich sah das mit eigenen Augen."<br />

Ebensowenig nutzte sie ihren Ruhm aus, um Generäle<br />

kennenzulernen. Als sie von Eisenhower zum Lunch eingeladen<br />

wurde, erklärte sie: "Ich wüsste nicht, worüber ich mit ihm<br />

reden sollte," und das war's. Ihre praktische Veranlagung<br />

stand immer im Widerstreit mit ihrer romantischen Seite, was<br />

einmal mehr offenkundig wurde, <strong>als</strong> sie und Adler in Deutschland<br />

in einem Cabriolet über Land fuhren. Der Fahrer übersah<br />

den Haltbefehl einer Strassensperre, worauf ein Schuss knallte<br />

und Adler einen Schmerz im Rücken verspürte. Aus Angst, eine<br />

tödliche Verletzung erlitten zu haben, liess er sich zu Boden<br />

gehen und bat <strong>Ingrid</strong>, seinen Lieben zuhause auszurichten,<br />

dass er sie in alle Ewigkeit liebhatte. Sie aber sah weder Blut<br />

noch Wunde und sagte nur: "Larry, hör auf mit diesem Unsinn."<br />

Einen Augenblick später fischte sie ein Projektil aus dem<br />

Rücksitzpolster des Wagens, wo es eine Stahlfeder der Polsterung<br />

durchtrennt hatte, die dann Larry hart in den Rücken<br />

stiess.<br />

275


WIE ADLER BALD ERFAHREN MUSSTE, ging ihr Urteilsvermögen<br />

diese Saison noch viel weiter – denn tatsächlich war<br />

sich <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> der innersten Winkel ihrer Seele voll bewusst.<br />

Diese Facette der Selbsterkenntnis kam deutlich zum<br />

Ausdruck, <strong>als</strong> sie Larry Adler die Kopie einer Novelle zu lesen<br />

gab, deren Titelfigur ihre eigene Persönlichkeit am treffendsten<br />

portraitierte, wie sie sagte – quasi vom Scheitel bis zur Sohle –<br />

und dass sie hoffte, diese Rolle in einer künftigen Filmversion<br />

einmal spielen zu können.<br />

276<br />

Das Buch trug den Titel "Von Lena Geyer", ein langer<br />

und tief berührender, 1936 publizierter Roman von<br />

Marcia Davenport. Die Geschichte spielt in Europa und<br />

Amerika von 1870 bis 1930 und erzählt von einem Bohémienne-Mädchen,<br />

das von Europa nach Amerika auswanderte<br />

und durch sein Talent und seine Ambitionen<br />

zur weltweit bekanntesten Opern-Primadonna wurde.<br />

Sie weiss auch, dass intime Beziehungen weit schwieriger<br />

zu bewältigen sind, <strong>als</strong> die vertrackteste Kadenz<br />

oder der kniffligste Vertrag. In jedem Kapitel dieser farbenfrohen,<br />

dramatischen und pointierten Geschichte erkennt<br />

<strong>Ingrid</strong> Passagen, in welchen sie sich persönlich<br />

beschrieben fühlt:<br />

Lena konnte nicht einmal Wasser kochen...sie klagte,<br />

nicht zu wissen, wie man ein Ei aufbricht ... aber sie<br />

war von konsequenter Aufrichtigkeit über ihre Arbeit<br />

und verfügte über eiserne Selbstdisziplin...Physisch war<br />

sie ein grosses, breithüftiges, gelenkiges Tier, stark, mit<br />

prachtvoll entwickelter Muskula<strong>tu</strong>r und Knochen, so<br />

stark, wie die eines Mannes ... "Die Arbeit bringt mich<br />

nicht um", sagte sie oft.<br />

Sie hatte überhaupt keine Beziehung zum Arbeitsmass,<br />

das sie leistete. Während ihres ganzen Lebens verfügte<br />

sie über gewaltige Energie. Sie konnte während des<br />

ganzen Tages pr<strong>ob</strong>en und abends das Konzert bestreiten...sie<br />

war voll von Leben und Einfällen... und sie<br />

konnte sich über ihre Streiche, Witze und ihren Unsinn


kindisch freuen. Sie war wie eine grosse, fröhliche Brise.<br />

"Ich bin weitherum gereist und habe mich nie <strong>als</strong> Bürgerin<br />

eines besonderen Landes gefühlt. Kunst ist international<br />

und sein Geburtsort und seine Muttersprache<br />

sollten keinen Einfluss auf die Einstellung eines Künstlers<br />

haben."<br />

"Ich will versuchen, dir zu gehören und trotzdem für<br />

meine Kunst zu leben", sagte Lena, “aber ich muss aufrichtig<br />

sein zu dir. Wenn mir nicht beides gelingt, dann<br />

weißt du, welche Wahl ich werde zu treffen haben?“ Wie<br />

gross ihre psychische Abhängigkeit von der Kunst war,<br />

in der sie sich unübertroffen machte.<br />

Sie sagte, sie wisse nichts über Bankkonten, sie schaffe<br />

es gerade, ihr Taschengeld in Ordnung zu halten.<br />

"Wenn ich ihr Leben in Amerika in wenigen Worten zusammenfassen<br />

müsste, würde ich sagen, es galt zur Hauptsache<br />

ihrem Versuch, den riesigen Graben zu füllen zwischen<br />

dem, was sie zu lieben glaubte und dem, was sie wirklich liebte."<br />

"Das ist keine Frage von Karriere, Geld oder was immer“,<br />

sagte Lena. „Es ist mein Leben, die Kunst, dieses<br />

Eine, wofür ich alles Andere auf dieser Erde aufgegeben<br />

habe."<br />

"Of Lena Geyer", der bemerkenswerte Roman über eine<br />

bemerkenswerte Frau, verfolgte <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> für den Rest<br />

ihres Lebens; dass es ihr nicht gelang, in den späten Vierzigerjahren<br />

und den Fünfzigern jemanden für eine Filmbearbei<strong>tu</strong>ng<br />

dieser Geschichte zu interessieren, wurde zu einer ihrer bittersten<br />

Enttäuschungen.<br />

KOMPLIKATIONEN ENTSTANDEN, <strong>als</strong> R<strong>ob</strong>ert Capa zur<br />

selben Zeit in Berlin eintraf, wie Benny, Tilton, Adler und<br />

<strong>Bergman</strong>. "Natürlich war es unangenehm für uns alle und es<br />

277


gab auch die eine oder andere Schwierigkeit", nach Adler, "weil<br />

Capa und ich begriffen, wie uns <strong>Ingrid</strong> herumjonglierte. Ich<br />

denke, wir versuchten beide, gute Miene zum bösen Spiel zu<br />

machen. Und ich konnte ihr auch keinen Vorwurf machen; sie<br />

hatte Capa vor mir kennengelernt und er war ein sehr attraktiver<br />

Kerl, und er war ledig während ich verheiratet war." Gnädigerweise<br />

dauerte die unerfreuliche Si<strong>tu</strong>ation (nicht die Beziehungen)<br />

nicht länger <strong>als</strong> zehn Tage, wonach sie nach Paris<br />

weiterreisten. Von dort flogen Martha Tilton und Jack Benny<br />

nach Amerika zurück, und auch Adler sah sich bald zur Rückkehr<br />

gezwungen.<br />

Capa hatte <strong>Ingrid</strong> nun ganz für sich alleine, w<strong>ob</strong>ei er<br />

sich offensichtlich <strong>als</strong> derart überzeugender Liebhaber erwies,<br />

dass <strong>Ingrid</strong> ernsthaft in Erwägung zog, sich für ihn von ihrem<br />

Mann zu trennen. Das war unausweichlich für ihn das Signal,<br />

das Thema zu wechseln, was sie traurig stimmte und deprimierte.<br />

<strong>Ingrid</strong> mag die Untreue auf der Leinwand genossen<br />

haben, im Leben aber tat sie sich schwer damit. In ihrer Welt<br />

heiratete man den Geliebten; sie hatte Petter einmal geliebt,<br />

jetzt aber fürchtete sie ihn nur noch; im wirklichen Leben fand<br />

sich niemand, der ihr den benötigten Fluchtweg gezeigt hätte;<br />

und nun hatte sie hier den ungebundenen, verfügbaren und<br />

verführerischen Capa. Sie sah keinen Grund, weshalb sie nicht<br />

für immer zusammen sein sollten.<br />

Capas Benehmen ihr gegenüber hatte etwas Unbekümmertes.<br />

Er posaunte es jedem in die Ohren, der es hören wollte,<br />

dass <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> seine Mätresse sei, um dann schnell<br />

beizufügen, dass dies <strong>als</strong> Geheimnis zu behandeln sei. Übrigens,<br />

meinte er, führe die Beziehung nirgendwo hin, hauptsächlich<br />

weil seine Zukunft so ungewiss sei. <strong>Ingrid</strong> müsste<br />

nach Kalifornien zurückkehren, aber wer kümmerte sich um<br />

Capa? Sie hatte ihn aufgefordert, nach Hollywood zu kommen,<br />

weil sie überzeugt war, dass er dort eine gute Position <strong>als</strong> Still-<br />

Fotograph zur Dokumentation von in Produktion befindlichen<br />

Filmen für Magazine und S<strong>tu</strong>diowerbung finden würde. Als sie<br />

Paris in Rich<strong>tu</strong>ng Los Angeles verliess, hatte er versprochen,<br />

diese Option im Auge zu behalten.<br />

278


Anfangs September war <strong>Ingrid</strong> zurück in Beverly Hills,<br />

wo sie Pia für das neue Schuljahr vorbereitete und einen Anruf<br />

von Selznick über den neuen Hitchcock-Film erwartete, den er<br />

ihr für diesen Herbst versprochen hatte. Capa und Adler wurden<br />

nicht erwähnt, und weil Hollywoods Gerüchteküchen noch<br />

keine Meldungen über irgendwelches verdächtige Verhalten<br />

vorlagen (die im Falle Igrids auch nicht gesucht worden wären),<br />

nahm das Leben in 1220 Benedict Canyon wieder seinen<br />

alten, langweiligen und ereignislosen Verlauf. Sie und Petter<br />

sähen sich beim Frühstück zu einer schnellen Tasse Kaffee,<br />

schrieb sie seinen Verwandten. Weil viele Ärzte im Kriegsdienst<br />

standen, arbeitete er länger <strong>als</strong> je zuvor, sodass die drei<br />

Lindströms nur selten zum Abendessen zusammenkamen. Was<br />

sie nicht schrieb, dass sie und Petter ein höfliches, unausgesprochenes<br />

Arrangement getroffen hatten: sie gingen zur Arbeit;<br />

gelegentlich unterhielten sie ein paar Freunde; sie begutachteten<br />

die Pläne für den Bau des neuen Swimming Pools, um<br />

den das Anwesen diesen Winter erweitert wurde; und sie sorgten<br />

für ihre Tochter – und all das ohne eine Silbe über ihr gegenseitiges<br />

Verhältnis zueinander.<br />

Während die Welt glaubte, dass <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s erfolgreiche<br />

Karriere mit einem perfekten Familienleben einhergehe,<br />

war sie entsetzlich alleine, und es könnte wohl ein ärgerliches<br />

Lächeln über ihr Antlitz gehuscht sein, <strong>als</strong> sie das Ergebnis<br />

eines diesjährigen Interviews las: "Miss <strong>Bergman</strong> kann einfach<br />

nicht anders, <strong>als</strong> auf der Leinwand ein gutes Mädchen zu sein,<br />

weil sie eben so ist." Das war schlimm genug, doch es kam<br />

noch besser: "Sie trinkt nicht, sie raucht nicht und führt kein<br />

Nachtleben" – alles Dinge, die sie sehr wohl tat und führte.<br />

Vorderhand setzte die Presse ihre <strong>Bergman</strong>-Kantate fort und<br />

die Rhapsodien über sie steigerten sich ins Unermessliche.<br />

Hitchcock, der die Tage bis zu ihrer Rückkehr zählte,<br />

bat Selznick, sie zu einer Story-Konferenz mit ihm und Ben<br />

Hecht beizuziehen, welch Letzterer wieder das Script lieferte.<br />

Sie sei glücklich, wieder zuhause zu sein, sagte sie ihnen, und<br />

begierig darauf, den neuen Film zu beginnen. Hitchcock glaubte<br />

ihr die zweite Feststellung, nicht aber die erste, denn ihm<br />

279


fiel der etwas zerstreute Blick in ihrem Antlitz auf und er vermisste<br />

auch ihren gewohnten sprudelnden Humor. Hitchcock<br />

schrieb ihre auffällige Zerfahrenheit richtigerweise einem emotionalen<br />

Aufruhr zu, ohne allerdings dessen Hintergründe zu<br />

kennen, bis ihn <strong>Ingrid</strong> einige Tage später, <strong>als</strong> sie im Anschluss<br />

an eine Script-S<strong>tu</strong>die alleine noch etwas becherten, ins Vertrauen<br />

zog.<br />

Sie sei in R<strong>ob</strong>ert Capa verliebt, sagte sie, <strong>als</strong> Hitchcock<br />

die Gläser kräftig nachfüllte, und <strong>ob</strong>wohl sie Capa diesen<br />

Herbst noch in Hollywood erwartete, sah sie keine Hoffnung für<br />

die Erfüllung dieser Liebe. Sie fühlte sich <strong>als</strong> Gefangene ihrer<br />

Ehe, ihres Rufs, ja sogar ihres Pflichtgefühls und Anstands;<br />

und sie fühlte sich verlassen, weil sich Capa ihr gegenüber<br />

nicht zu verpflichten vermochte. Hitchcock, plötzlich ihr sympathischer<br />

Freund und mehr denn je zuvor ihr Fantasie-<br />

Liebhaber, unterdrückte seine eigenen Gefühle natürlich. Und<br />

wie üblich übertrug er sie auf den kommenden Film. Während<br />

der folgenden drei Tage bat er Hecht ihm bei der Fokussierung<br />

von <strong>Ingrid</strong>s Charakter behilflich zu sein, einer Frau, die durch<br />

die Pflicht in eine lieblose Ehe gezwungen wird. Hitchcock bestand<br />

darauf, dass die ersten und die letzten Szenen dieses<br />

Films ausschliesslich auf das Bedürfnis dieser Frau, Liebesgeständnisse<br />

zu erhalten, auszurichten seien, um sie zuletzt sowohl<br />

durch ein Bekenntnis, wie auch durch eine Liebesverpflich<strong>tu</strong>ng<br />

zu erlösen.<br />

Aber Hitchcocks vordringliches Anliegen an diesem<br />

warmen September-Nachmittag war es, <strong>Ingrid</strong> an die Schlussszene<br />

in "Spellbound" zwischen ihr und Michael Chekhov, der<br />

ihren Mentor spielte, zu erinnern. "Es ist sehr traurig, jemanden<br />

zu lieben und zu verlieren", rezitierte Hitchcock den Dialog<br />

von Dr. Brulov, <strong>als</strong> er die weinende Dr. Petersen umarmte, die<br />

fürchtet, ihren Liebsten für immer zu verlieren. "Aber du wirst<br />

bald vergessen und du wirst die Fäden deines Lebens dort wieder<br />

aufnehmen, wo sie dir vor kurzem entglitten. Und du wirst<br />

hart arbeiten. In harter Arbeit steckt so viel Glück – vielleicht<br />

am meisten überhaupt." Das Rezitat hatte nun einen veränderten<br />

Sinn.<br />

280


<strong>Ingrid</strong> erfasste plötzlich, was er sagen wollte, und ihre<br />

Augen füllten sich mit Tränen. Hitchcock tröstete sie mit denselben<br />

Worten, die er für sich selbst sprach: welchen anderen<br />

Trost konnten diese beiden Liebenden denn finden, <strong>als</strong> die Arbeit,<br />

die vor ihnen lag. Vielleicht musste sie auf Capa verzichten,<br />

aber sie hatte ihre Arbeit, und die band sie an ihn. Nur zu<br />

gut wusste Hitchcock allerdings, ja, dass sie bei der Arbeit<br />

zwar bei ihm sein würde, nicht aber ihr Herz - oder höchstens<br />

vielleicht das Herz einer Tochter oder Freundin. Beide waren<br />

sie eine Art verlorene Seelen. An diesem ruhigen Nachmittag<br />

sassen sie – <strong>als</strong> Verbündete in der Verzweiflung – Gin Martinis<br />

schlürfend, viel zu viel rauchend und in ihren unausgesprochenen<br />

Sympathien füreinander den Mut suchend, der in der tiefsten<br />

Art von Liebe zu finden ist, der Zuneigung jenseits des<br />

Sex-Dschungels in der Klarheit einer echten Freundschaft.<br />

An den Vorproduktions-Sitzungen dieser Woche nahmen<br />

Hitchcock, Hecht, Selznick, <strong>Bergman</strong> und ihr Hauptdarsteller,<br />

Cary Grant teil. Die Sitzungen verliefen freundlich, effizient<br />

und geschäftlich: noch selten begannen die Arbeiten zu einem<br />

Selznick-Film so einvernehmlich. Aber dann, nachdem alle<br />

wichtigen Beteiligten am Film verpflichtet waren, verkaufte<br />

Selznick ihn <strong>als</strong> Paket an ein anderes S<strong>tu</strong>dio und kassierte dabei<br />

den grössten Profit seiner Karriere.*) Am 25. Okt<strong>ob</strong>er kam<br />

der neue Hitchcock-Hecht-<strong>Bergman</strong>-Film bei den RKO-S<strong>tu</strong>dios<br />

vor die Kameras.<br />

Gleichentags schrieb Petter einem Anwalt, er trete bezüglich<br />

des bevorstehenden Auslaufs von <strong>Ingrid</strong>s Veträgen mit<br />

Selznick <strong>als</strong> Mittelsmann auf. Grund für Petters Brief war der<br />

beim Beginn des Hitchcock-Films eingetretene Verzug und die<br />

daraus in New York entstandenen Unannehmlichkeiten, wo<br />

derAutor Maxwell Anderson inzwischen das Script für "Joan of<br />

Lorraine" weitgehend fertiggestellt hatte. Wie er <strong>Ingrid</strong> 1940<br />

anlässlich ihres Treffens bei Burgess Meredith zuhause ver<br />

*) RKO bezahlte Selznick $ 25'000 die Woche für Hitchcock und $ 20'000<br />

für <strong>Ingrid</strong>; sie beide erhielten ihr normales Salär von Selznick, etwas<br />

mehr <strong>als</strong> 10 % dieser Beträge.<br />

281


sprach, hatte er tatsächlich ein Stück über die Heilige Jungfrau<br />

von Orléans für sie geschrieben. Nun wollten Anderson und<br />

seine Kollegen bei der Playwright Company wissen, wie <strong>Ingrid</strong><br />

für den Broadway verfügbar wäre.<br />

"Es hat uns grosse Unannehmlichkeiten eingetragen,<br />

dass wir über Miss <strong>Bergman</strong>s Verfügbarkeit am Broadway keine<br />

verbindlichen Zusagen machen konnten" schrieb Petter,<br />

und fügte bei, dass Selznick bis anhin nichts darüber habe verlauten<br />

lassen, <strong>ob</strong> es nach diesem einen zweiten Hitchcock-Film<br />

gebe (zu dem er berechtigt gewesen wäre), falls der jetzige<br />

vor Jahresende fertiggestellt wäre. "Wir haben nie etwas gegen<br />

zwei Filme in dieser Optionsperiode einzuwenden gehabt, aber<br />

wir haben Miss <strong>Bergman</strong>s Einkommen für den Fall ausgerechnet,<br />

dass nur ein Film produziert würde. Wenn ich mich richtig<br />

erinnere sind wir auf einen Betrag von mindestens $ 130'000<br />

und auf ein Maximum von $ 180'000 gekommen. Ich schlug<br />

vor, dass dieses Salär auf $ 100'000 plus 3 % bei einem Neuabschluss<br />

geändert werde." Den Auslauf von <strong>Ingrid</strong>s Vertrag<br />

wollte Petter bestätigt haben, bevor eine völlig neue finanzielle<br />

Vereinbarung getroffen werden konnte, weil "Miss <strong>Bergman</strong><br />

weit unter ihrem Marktwert entlöhnt werde" und weil Selznick<br />

"Miss <strong>Bergman</strong> während über sechs Jahren in keiner seiner<br />

Produktionen eingesetzt habe" (was natürlich überhaupt nicht<br />

stimmte).<br />

Dann schlug er einen neuen Ton an, der dem Leser<br />

wohl ein Lächeln abgerungen haben mag: "Die Salärfrage ist<br />

uns nicht von vordringlicher Wichtigkeit. Wir wollen arbeiten<br />

und unter angenehmen Umständen arbeiten und nicht einfach<br />

Geld machen" – w<strong>ob</strong>ei unter "WIR" wahrscheinlich Dr.<br />

Lindström <strong>als</strong> Anwalt und <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> <strong>als</strong> seine Klientin zu<br />

verstehen waren. Schliesslich sprach Petter noch die Angelegenheit<br />

Dr. Feldman an, der nun durch Petters Engagement<br />

überflüssig geworden war. "Bitte, klären Sie ab, was Selznicks<br />

Leute für deren Verpflich<strong>tu</strong>ngen Feldman gegenüber zu zahlen<br />

bereit sind. Auch welche Ansprüche Feldman glaubt geltend<br />

machen zu können. Für die Differenz wird vermutlich Miss<br />

<strong>Bergman</strong> aufkommen" – womit er hoffte, Feldman los zu sein,<br />

282


sodass <strong>Ingrid</strong>s Management ausschliesslich auf Lindström<br />

übertragen werden konnte.<br />

Der Anwalt, John O'Melveny, sandte eine Kopie von Petters<br />

Schreiben an Selznick, der – wie zu erwarten – postwendend<br />

eine ausführliche und ungeschminkte Antwort zurückfeuerte.<br />

"Seit langem ist mir Dr. Lindströms Gewohnheit bekannt,<br />

dass er wohlmeinende und freundliche Gesten ihm gegenüber<br />

verdreht interpretiert oder einfach refüsiert." Jetzt, fuhr er fort,<br />

sei Selznick klar, dass Lindström darauf tendiere, dass <strong>Ingrid</strong><br />

ihren Vertrag mit Selznick nicht erneuere, ohne dass eine vollkommen<br />

neue finanzielle Vereinbarung damit verbunden sei.<br />

Selznicks Wut entbannte über zwei Ursachen. Erstens<br />

war da Petters Unterstellung, <strong>Ingrid</strong> sei eine vertraglich gebundene<br />

Sklavin. "Sie hat alles getan, was sie wollte im Bereich<br />

von Auftritten, Touren, Filmen, Bühnenstücken und was<br />

immer", betonte Selznick. "Zweitens: Dr. Lindström hatte die<br />

ungenierte und einmalige Frechheit, Zahlungen für einen Film<br />

einzufordern, für den Miss <strong>Bergman</strong> ihre Absage erteilt hatte<br />

("The Scarlet Lily", der in England und Palästina hätte gedreht<br />

werden sollen)." Selznick hätte nicht so nachgiebig sein sollen,<br />

fügte er bei, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> zwei andere Rollen ablehnte.*) Er hatte<br />

das Recht auf ihre Dienste für einen letzten Film und er war<br />

auch willens, einen neuen Vertrag mit ihr auf der Basis des<br />

"zwei- bis dreifachen bisherigen Salärs" abzuschliessen.<br />

Lindström hatte die Verhandlungen über diese Punkte eingefroren,<br />

und jetzt – mit Andersons Bühnenstück <strong>als</strong> Vorwand –<br />

behauptete er, dass Selznick hinsichtlich eines neuen Vertrags<br />

sein Wort gebrochen habe.<br />

"Ich habe unter den grossen Stars und jenen, die in ihrem<br />

Kielwasser fahren, manche irrationale und unvernünftige<br />

Leute erlebt", schloss Selznick, "aber Dr. Lindströms Benehmen<br />

und Vorgehen stellt alles in den Schatten...Bitte wün<br />

*) Es handelte sich um Rollen in "The Spiral Staircase" und "The Farmers<br />

Daughter", die schliesslich von Dorothy McGuire und Loretta<br />

Young gespielt wurden.<br />

283


schen Sie Miss <strong>Bergman</strong> in meinem Namen viel Glück mit ihren<br />

neuen Verbindungen, wie immer die sein mögen, und drücken<br />

Sie ihr bitte meine Hoffnung aus, dass ihre Karriere sich blendend<br />

weiterentwickle."<br />

Insofern kam es einem glücklichen Zufall gleich, dass<br />

Selznick sich aus dem neuen Hitchcock-Film zurückgezogen<br />

hatte: tägliche Kontakte mit <strong>Ingrid</strong> wären ihnen beiden zu dieser<br />

Zeit nahezu unerträglich gewesen. Nach Vertragsablauf<br />

gingen sie auf die unvermeidliche Distanz zueinander. Aber<br />

weil sich <strong>Ingrid</strong> stets l<strong>ob</strong>end und enthusiastisch über Selznick<br />

äusserte, konnten sie trotz allem eine solide Freundschaft beibehalten,<br />

und Selznick kam ihr in einer kritischen Si<strong>tu</strong>ation<br />

sogar zu Hilfe, <strong>als</strong> sie <strong>als</strong> unfähige Mutter gebrandmarkt wurde.<br />

NOCH VOR FERTIGSTELLUNG VON "SPELLBOUND", ein<br />

Jahr zuvor, hatte Hitchcock mit Hecht über das Konzept für<br />

einen Film diskutiert, den er gerne drehen würde und in dem<br />

<strong>Ingrid</strong> eine Frauenfigur ähnlich derjenigen der Mata Hari portraitieren<br />

sollte, die für eine komplexe Spionageaufgabe sorgfältig<br />

trainiert wird. Ihr Charakter würde sogar so weit gehen,<br />

einen ungeliebten Mann zu heiraten – während der von ihr<br />

geliebte Mann, ihr Spionage-Partner, sie emotional zurückzuweisen<br />

schien, <strong>ob</strong>schon er beruflich auf sie angewiesen war.<br />

Die Umsetzung des Themas in eine dramatische Geschichte<br />

benötigte ein volles Jahr, und trotzdem einige Inspiration aus<br />

einer 1921 in der Sunday Evening Post erschienenen Kurzgeschichte,<br />

die Selznick dam<strong>als</strong> entdeckt hatte, in die Geschichte<br />

einfloss, war sie am Ende purer Hitchcock. Aber sie konnte<br />

nicht abgeschlossen werden, bevor <strong>Ingrid</strong> im Spätsommer zurückgekehrt<br />

war: Hitchcock hatte die Lösungen für seine härtesten<br />

Pr<strong>ob</strong>leme bereit, <strong>als</strong> er von der Capa-Affäre hörte. Dies<br />

hatte aber keine Auswirkungen auf die Struk<strong>tu</strong>r des<br />

Screenplays, das er mit Hecht zusammen herausgehämmert<br />

hatte; im Gegenteil, das Vorhandene wurde dadurch noch intensiviert.<br />

284


Wenn immer möglich, benutzte Hitchcock für seine Filme<br />

einen Ein-Wort-Titel, und diesmal hatte er ihn vom ersten<br />

Tag an: "Notorious". *) Der vollendete Film bleibt eines von<br />

Hitchcocks reinsten Meisterwerken; gleichzeitig stellt er ein<br />

Testament an <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Genius <strong>als</strong> Schauspielerin dar,<br />

denn trotzdem sie in manchen anspruchsvolleren Rollen bekannt<br />

wurde, betrachten viele ihrer Bewunderer "Notorious"<br />

<strong>als</strong> ihre tiefstempfundene Filmleis<strong>tu</strong>ng. Die Geschichte einer<br />

liebeskranken Frau und eines verängstigten Manns – und von<br />

einem weiteren Mann, betrogen sowohl durch seine Zuneigung<br />

wie auch durch die politische Ausrich<strong>tu</strong>ng des Paares – ist "Notorious"<br />

eine Exkursion in die Tiefen der menschlichen Konfusionen.<br />

Die Geschichte läuft geradlinig, doch weist ein kurzer<br />

Handlungsüberblick auch auf tiefere Zusammenhänge unter<br />

der Oberfläche hin. Alicia Huberman (<strong>Ingrid</strong>), eine an harte<br />

Drinks gewöhnte Frau und nicht sehr <strong>tu</strong>gendhafte Tochter eines<br />

deutschen Spions wird in den Dienst um die amerikanischen<br />

Bemühungen gepresst, eine Nazi-Spionagegruppe in<br />

Brasilien auszuheben. Trotzdem sie den amerikanischen Agenten<br />

T.R. Devlin (Cary Grant) liebt, der sie für diese patriotische<br />

Aufgabe rekrutiert hat, willigt sie ein, Alexander Sebastian<br />

(Claude Rains) zu heiraten, einen alten Bekannten, der sie<br />

immer noch liebt und nun den deutschen Spionagering in Brasilien<br />

leitet, der an das zur Entwicklung der Atombombe benötigte<br />

Uran kommen soll. Als Sebastian Alicias wahre Absichten<br />

entdeckt, beginnen er und seine tyrannische Mutter Alicia langsam<br />

zu vergiften, aber auf der Schwelle zum Tod wird sie von<br />

Devlin gerettet, der nun zugibt, sie während der ganzen Zeit<br />

geliebt zu haben.<br />

Der Grundgedanke von "Notorious" ist eine zweifache<br />

Erlösung (und damit etwas sehr übliches in Hitchcocks 53 Filmen):<br />

das Bedürfnis einer Frau, Vertrauen und Liebe zu ge-<br />

*) Weitere im Hitchcock-Katalog: Downhill, Champagne, Blackmail,<br />

Murder!, Sabotage, Suspicion, Saboteur, Lifeboat, Spellbound, Rope,<br />

Vertigo und Frenzy. (Rebecca, Psycho, Marnie und Topas waren die<br />

Originaltitel der Romane, auf welchen seine Filmversionen basierten.)<br />

285


winnen, was ihr ermöglicht, ein von Zuneigung jeder Art entblösstes<br />

und von Schuld beladenes Leben zu führen; und das<br />

Bedürfnis eines Mannes, sich der Liebe zu öffnen, um ein Leben<br />

unter schwerer emotionaler Unterdrückung zu überwinden.<br />

Im Falle von "Notorious" sind hinter dem Mann Alfred Hitchcock<br />

und R<strong>ob</strong>ert Capa zu sehen, hinter der Frau <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong><br />

selbst.<br />

Hitchcock und Hecht haben diese Romanze um Vertrauen<br />

treffend in einen Spionage-Thriller verpackt, denn Spione<br />

werden logischerweise durch Ausbeu<strong>tu</strong>ng und Missbrauch von<br />

Vertrauen charakterisiert. Im Weitern ist das Thema treffend<br />

und ironisch im Trinker-Milieu verankert. Ohne jeden Anklang<br />

von Geselligkeit, ohne jeden Gedanken an oder Toast auf Gesundheit<br />

oder Wohlergehen, ist die ganze Trinkerei in "Notorious"<br />

entweder gesellschaftlich leer (<strong>als</strong> Flucht vor Schuld und<br />

Kummer) oder geradezu giftig – wie die Whisky-durchtränkte<br />

Eröffnungs-Party; Alicias Art, ihre emotionale Zurückweisung<br />

durch das Eingiessen eines Whiskys zu verarbeiten; die Zutaten<br />

zur Bombe in einer Weinflasche verborgen; und der mit<br />

Arsen versetzte Kaffe, der Alicia täglich serviert wird und sie<br />

langsam umbringen soll. Die von Hitchcock und Hecht von Beginn<br />

an laufend vedichtete Struk<strong>tu</strong>r des Films wurde bis zum<br />

Ende peinlichst genau herausgearbeitet.<br />

Es sind aber nicht die rigorose Struk<strong>tu</strong>r des Films und<br />

seine sorgfältig platzierten Motive, die "Notorious" diese besondere<br />

Wirkung verleihen. Diese ist der Einfachheit der Dialoge<br />

und der subtilen Einfühlsamkeit von <strong>Ingrid</strong>s Spiel zuzuschreiben<br />

– und dahinter standen Hitchcocks eigene Gefühle<br />

und <strong>Ingrid</strong>s Gefühle für Capa.<br />

So wurde "Notorious" schon während der Produktion zur<br />

künstlerischen Umsetzung zweier gequälter Innenleben, und<br />

seine Geschichte von Sehnsucht versus Pflicht, von Leidenschaft<br />

versus Heuchelei zum Spiegelbild zweier privater Leben<br />

- und vieler öffentlicher Schicksale dazu. Die grosse Leis<strong>tu</strong>ng<br />

des Films mag darin begründet sein, dass er so tief in die Ab-<br />

286


gründe des Kummers von Alfred Hitchcock und <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong><br />

vorstösst und dadurch einen seltenen Tiefgang erhält. Seine<br />

Meditation über die Na<strong>tu</strong>r der echten, vertrauenden Liebe geht<br />

über die gewohnten romantischen Clichés hinaus, weil sie von<br />

einer entsprechenden wahren Lebenssi<strong>tu</strong>ation inspiriert ist – so<br />

aufrichtig, dass sich nur wenige Zuschauer der bewegenden<br />

Wirkung dieses Geschehens entziehen können.<br />

Es mag auch erstaunen, dass dieser Film überhaupt<br />

produziert (und auf Anhieb zu einem derartigen Erfolg) wurde,<br />

nachdem er derart unverblümte Dialoge über regierungsgesponserte<br />

Prosti<strong>tu</strong>tion enthält: Die sexuelle Erpressung ist<br />

die Erfindung amerikanischer Agenten, die eine Frau rücksichtslos<br />

ausbeuten (und notfalls sterben lassen) um zu ihrem<br />

Ziel zu gelangen. Die Darstellung der moralischen Abgründe<br />

amerikanischer Beamter war in Hollywood bis anhin absolut<br />

unerreicht – speziell 1945, <strong>als</strong> der Sieg der Alliierten in eine<br />

Ära von zwar verständlichem aber höchst gefährlichem Chauvinismus<br />

im amerikanischen Alltag ausmündete.<br />

UM "NOTORIOUS" DEN STEMPEL der ultimativen Authentizität<br />

aufzudrücken, tat Hitchcock etwas Beispielloses in<br />

seiner Karriere: er machte <strong>Ingrid</strong> zu seiner engsten Mitarbeiterin<br />

in diesem Film. "Der Blick des Mädchens stimmt nicht",<br />

sagte <strong>Ingrid</strong> zu Hitchcock, <strong>als</strong> nach mehreren Aufnahmen der<br />

Dinner-Szene jedermann wusste, dass da etwas daneben war.<br />

"Du lässt sie zu schnell reagieren (Überraschung), Hitch. Ich<br />

denke, sie sollte es so machen." Und damit führte <strong>Ingrid</strong> vor,<br />

wie.<br />

Im Set hätte man eine Nadel fallen hören, denn Hitchcock<br />

konnte Einsprachen von Schauspielerseite nicht leiden: er<br />

wusste von allem Anfang an genau, was er wollte. Lange vor<br />

Beginn der Dreharbeiten war jede Even<strong>tu</strong>alität jeder Szene<br />

geplant – jeder Kamerawinkel, jede Einstellung, jedes Kostüm,<br />

jede Requisite, sogar die Geräuschkulissen waren vorgegeben<br />

und im Drehbuch festgehalten. Aber im vorliegenden Fall hatte<br />

eine Schauspielerin eine gute Idee, und er sagte: "Ich denke,<br />

287


du hast Recht, <strong>Ingrid</strong>." Es war ja schliesslich auch ihr Film.<br />

Und so ging's durchs Band weg. Am Anfang, zum Beispiel,<br />

erfährt Alicia vom Selbstmord ihres verräterischen Vaters<br />

durch die Giftkapsel. Hitchcock lässt die Kamera fixiert auf der<br />

erinnerungsleeren Wüste von <strong>Ingrid</strong>s bleichem Antlitz während<br />

sie spricht, w<strong>ob</strong>ei ihr Gesicht zunächst Traurigkeit ausdrückt,<br />

dann das Bedauern über eine verlorene, glücklichere Vergangenheit<br />

und schliesslich einen seltsamen Schimmer der Erleichterung:<br />

288<br />

"Ich sehe nicht ein, warum ich mich so schlecht fühlen<br />

sollte. Als er mir vor einigen Jahren eröffnete, wer er<br />

war, ging alles kaputt - mir war völlig gleichgültig,<br />

was aus mir wurde. Jetzt aber erinnere ich mich daran,<br />

wie nett er einst war – wie nett wir beide waren – sehr<br />

nett. Es ist ein sehr komisches Gefühl – <strong>als</strong> <strong>ob</strong> mir etwas<br />

zugestossen wäre, und nicht ihm. Du siehst, ich<br />

muss ihn nicht mehr hassen – auch mich selbst nicht."<br />

Gesprochen, einige Momente nach den Szenen, in welchen<br />

<strong>Ingrid</strong> die s<strong>tu</strong>rzbetrunkene und danach schmerzlich verkaterte<br />

Frau spielte, bot ihr dieser Dialog trotz mehrerer Wochen,<br />

die zwischen der Verfilmung der einzelnen Szenen lagen,<br />

reichlich Gelegenheit, einen Komplex von lebensechten<br />

Erfahrungen und Emotionen zu bilden. Mit Geflüster, schwerer<br />

Zunge, trockenem Mund und all den Zeichen von geistiger<br />

Verwirrung liess sie einen wahrhaftigen Charakter entstehen –<br />

eine leichtlebige Alkoholikerin die tief sympathisch wirkt. So<br />

gesehen, kann man sich einfach nicht vorstellen, dass <strong>Ingrid</strong>s<br />

anfälliger emotionaler Zustand nicht tatsächlich ihre innersten<br />

Gefühle aufbrechen liess und damit zur Eindringlichkeit ihres<br />

Spiels beitrug.<br />

Sie wurde von Cary Grant sehr unterstützt, der in einer<br />

für ihn ungewöhnlich ruhigen und sehr ungewohnten Rolle<br />

agierte. Bis dahin war Grant vor allem aus komischen Liebesfilmen<br />

bekannt, und seine Karriere machte einen Sprung, <strong>als</strong><br />

Hitchcock ihn (vier Jahre nach "Suspicion") ein zweites Mal<br />

verpflichtete, um ihn einen Mann portraitieren zu lassen, der


vor Frauen eine schon fast pathologische Angst empfand, einen<br />

Mann, der zwar küssen aber nichts begehen konnte. Während<br />

dieser Zusammenarbeit entstand zwischen <strong>Bergman</strong> und<br />

Grant eine lebenslange Freundschaft. Ungeachtet gegenteiliger<br />

Gerüchte, gab es zwischen ihnen keine Romanze: er war eben<br />

der <strong>tu</strong>multösen Ehe mit der Erbin Barbara Hutton entkommen,<br />

und für die Intimität hielt er sich meist an Randolph Scott, mit<br />

dem er während mehr <strong>als</strong> einem Jahrzehnt in Santa Monica ein<br />

Weekendhaus teilte.<br />

Der Dialog der Strassencafé-Szene in Rio zum Beispiel<br />

wurde von <strong>Bergman</strong> und Grant derart perfekt wiedergegeben,<br />

dass Hitchcock dafür gerademal eine Pr<strong>ob</strong>e und zwei Aufnahmen<br />

brauchte. Grant mit zusammengepressten Lippen und<br />

steinernem Gesicht, spielte Devlin grossartig, mit eisiger Verach<strong>tu</strong>ng<br />

für die erste Frau, die in ihm ein Gefühl von Liebe erwecken<br />

konnte; <strong>Ingrid</strong> ihrerseits schwankte zwischen<br />

Verletztheit und Herausforderung, der Hoffnung auf ein neues<br />

Leben und der Angst, es nie leben zu dürfen. Und Hitchcock<br />

liess in letzter Minute zu, dass <strong>Ingrid</strong> einige eindeutig aut<strong>ob</strong>iographische<br />

Retouchen einbrachte, <strong>als</strong> <strong>ob</strong> sie Alicias Identität<br />

mit ihrer eigenen verschmelzen wollte – zum Beispiel ihre Abneigung<br />

gegen das Kochen.<br />

ALICIA (<strong>Bergman</strong>):<br />

DEVLIN (Grant):<br />

Ob mir wohl jemand bei der Botschaft ein Mäd<br />

chen vermitteln kann. Ich habe nichts gegen die<br />

Hausarbeit, aber ich hasse das Kochen.<br />

Ich werde mich erkundigen.<br />

ALICIA: Dann frage doch auch gleich, wann ich mit der<br />

Arbeit beginnen werde.<br />

DEVLIN: Ja, Madame.<br />

(Ein Kellner fragt, <strong>ob</strong> sie noch einen Cocktail haben möchten.)<br />

DEVLIN: Noch einen Drink?<br />

289


ALICIA: Nein danke – ich habe genug.<br />

(Er bestellt einen für sich selbst.)<br />

ALICIA: (legt ihren Kopf leicht zurück und lächelt mit fast<br />

kindlichem Stolz):<br />

290<br />

Hast du das gehört? Ich hab's praktisch ge<br />

schafft – welch eine Veränderung!<br />

DEVLIN: (sarkastisch) Für den Moment.<br />

ALICIA: (ihr Lächeln verblasst) Du glaubst nicht, dass<br />

sich eine Frau ändern kann?<br />

DEVLIN: (bitter) Sicher – Veränderungen machen Spass –<br />

für eine Weile.<br />

ALICIA: 'Für eine Weile' – Du bist eine Ratte, Dev.<br />

DEVLIN: Gut gut. Du warst während acht Tagen nüchtern<br />

und hast – soviel ich weiss - auch keine neuen<br />

Er<strong>ob</strong>erungen mehr gemacht.<br />

ALICIA: (versucht ihre Verletztheit zu verbergen) Also -<br />

das ist schon etwas.<br />

DEVLIN: (noch sarkastischer) Acht Tage! Praktisch sauber!<br />

ALICIA: (fast bittend, beginnt ihre Gefühle für ihn zu zeigen)<br />

Ich bin sehr glücklich hier. Warum lässt du<br />

mich nicht zufrieden?. . . Ich spiele das nette,<br />

unverdorbene Kind, dessen Herz voll von Blumen<br />

ist.<br />

DEVLIN: Hübscher Tagtraum. Und dann?<br />

ALICIA: (zieht kurz Luft ein, <strong>als</strong> hätte ein Schlag sie getroffen.<br />

Der Kellner kommt) Ich denke, ich brauche<br />

noch einen Drink – einen Doppelten bitte!<br />

DEVLIN: Dachte es mir doch!<br />

ALICIA: Warum glaubst du nicht an mich, Dev – nur ein<br />

kleines bisschen? (Sie will die Frage wiederholen,


doch die Worte bleiben ihr im H<strong>als</strong> stecken. Pause,<br />

sie senkt den Blick. Dann plötzlich wieder bittend<br />

zu ihm) Warum nicht?<br />

Die Tischszene beim Abendessen auf dem Balkon (<strong>als</strong><br />

Analogie im umgekehrten Sinne zur Kussszene von früher am<br />

Tag am selben Ort) enthüllt sehr deutlich den schrecklichen<br />

Zusammenprall dieser beiden Charaktere. Grant muss <strong>Bergman</strong><br />

in ihren Spionageauftrag einweihen, demzufolge sie mit<br />

Rains ins Bett gehen muss, um Informationen über die Naziaktivitäten<br />

in Rio zu erhalten. Obschon er es möchte, kann er<br />

sich nicht überwinden, sie vor diesem Schritt zu bewahren –<br />

was ihm ein Leichtes gewesen wäre durch die Liebeserklärung,<br />

auf die sie so sehnlichst wartet.<br />

ALICIA: Also, Hübscher, ich denke du sagst Mama besser<br />

was los ist, oder diese Geheimniskrämerei ruiniert<br />

noch mein ganzes Essen. Los, Herr D., was<br />

bedrückt dich?<br />

DEVLIN: Nach dem Essen.<br />

ALICIA: Nein, jetzt. (Keine Antwort) Hör, ich mache es<br />

dir leicht. Die Zeit ist gekommen, wo du mir sagen<br />

musst, dass du eine Frau und zwei niedliche<br />

Kinder hast und diese Verrücktheit zwischen uns<br />

nicht weitergehen kann.<br />

DEVLIN: Das hast du wahrscheinlich schon zu oft gehört.<br />

(Ein Hauch von Schmerz huscht über ihr Gesicht, ein kurzes<br />

Zucken der Unterlippe, dann:)<br />

ALICIA: Immer unter der Gürtellinie. Das ist nicht fair,<br />

Dev.<br />

DEVLIN: Vergiss es. Wir müssen anderes besprechen. Wir<br />

haben eine Aufgabe. . .Erinnerst du dich an einen<br />

Mann namens Sebastian?<br />

ALICIA: Ein Freund meines Vaters, ja.<br />

DEVLIN: Er hatte ein Auge auf dich.<br />

291


ALICIA: Ich habe nicht reagiert.<br />

DEVLIN: Wir müssen mit ihm in Kontakt kommen.<br />

(Sie begreift nun, dass sie zur sexuellen Sklaverei gezwungen<br />

wird.)<br />

ALICIA (sitzend):<br />

292<br />

Und – bring den Rest auch noch.<br />

DEVLIN: Wir werden ihn morgen treffen. Der Rest ist an<br />

dir. Du musst ihn bearbeiten und an Land ziehen.<br />

ALICIA (mit traurigem Grinsen):<br />

Mata Hari – sie liebt um Dokumente.<br />

DEVLIN: Es gibt keine Dokumente. Du ziehst ihn an Land.<br />

Finde heraus, was in seinem Haus vor sich geht,<br />

was die Gruppe um ihn vorhat – und berichte es<br />

uns.<br />

ALICIA: Ich nehme an, du hast diesen netten kleinen<br />

Auftrag für mich schon all die Zeit gekannt.<br />

DEVLIN: Nein, ich erfuhr eben erst davon.<br />

ALICIA: Sagtest du irgendetwas dazu – ich meine, dass<br />

ich womöglich nicht das Mädchen für solche Faxen<br />

wäre?<br />

DEVLIN (kalt): Ich dachte, das wäre deine Sache . .<br />

wenn du aussteigen möchtest . . .<br />

ALICIA (klagend): Kein Wort für die kleine liebeskranke<br />

Frau, die du vor einer S<strong>tu</strong>nde verlassen<br />

hast?<br />

DEVLIN: Ich sagte dir, das ist der Auftrag.<br />

ALICA (überspielt ihren Kummer mit Resignation):<br />

Nimm's nicht übel, Dev. Ich fische nur nach einem<br />

kleinen Vogelgezwitscher meines Traummanns<br />

– eine kleine Bemerkung, wie zum Bei-


spiel, "Wie können Sie es wagen, meine Herren,<br />

vorzuschlagen, dass Alicia Huberman – die neue<br />

Miss Huberman – einem derart hässlichen<br />

Schicksal ausgesetzt werde?"<br />

DEVLIN: Das ist nicht lustig.<br />

ALICIA: Willst du, dass ich den Auftrag annehme?<br />

DEVLIN: Es ist an dir.<br />

ALICIA: Ich frage DICH.<br />

DEVLIN: Es ist an DIR.<br />

(Stille, dann mit vor Angst und Sehnsucht trockener Stimme:)<br />

ALICIA: Nicht einen Piepser, he? – Oh, Liebling, sag mir,<br />

was du ihnen nicht sagtest – dass du glaubst, ich<br />

sei nett, dass ich dich liebe und dass ich nicht<br />

rückfällig werde.<br />

DEVLIN (eisig):<br />

Ich warte auf deine Antwort.<br />

ALICIA (enttäuscht, von ihm abrückend):<br />

Was bist du ein kleiner Kumpel. Kein Glaube an<br />

mich – kein Wort des Vertrauens, nur – die Gosse<br />

hinunter mit Alicia. (Sie wendet sich ab, verletzt<br />

durch die Zurückweisung, entkorkt eine<br />

Whiskyflasche und nimmt einen kräftigen<br />

Schluck.)<br />

<strong>Ingrid</strong>s Spiel war packend, und Hitchcock, der sie selten<br />

unterbrach, war sehr beeindruckt von ihr und hielt sie am Ende<br />

jedes Arbeitstags noch etwas zurück. Nicht, dass er sie übermässig<br />

l<strong>ob</strong>te, er offerierte ihr einfach einen Drink, zuckte mit<br />

den Schultern, lächelte und sagte: "Es war heute sehr gut,<br />

<strong>Ingrid</strong>. Sehr gut." Tatsächlich war jeder Tag gut, was sie beide<br />

wussten: am Tag, <strong>als</strong> sie die Szene filmten, in der sie Grants<br />

Schal zurückgibt, ein Relikt an den Beginn ihrer Romanze; <strong>als</strong><br />

sie im ersten Stadium der Vergif<strong>tu</strong>ng einen Kater vortäuscht,<br />

293


um den Mann, den sie liebt, nicht gegen seinen Willen an ihre<br />

Seite zu zwingen; die Szenen, in welchen <strong>Ingrid</strong> mit ihren langen<br />

traurigen Blicken verweigerte Liebe beklagt, wo sie diese<br />

am dringendsten benötigt hätte; nur ein abges<strong>tu</strong>mpfter Zyniker<br />

kann in ihrem Spiel übersehen, dass sie einige der erinnerungswürdigsten<br />

Momente in der Geschichte des Filmschauspiels<br />

schuf. "<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Leis<strong>tu</strong>ng hier ist das Beste, was<br />

ich je gesehen habe", schrieb James Agee, ein nicht leicht zufriedenzustellender<br />

Kritiker, und das Film Bulletin fasste die<br />

Pressereaktionen in dem Sinne zusammen, dass "<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s<br />

brillantes Portrait sie wieder zur Anwärterin für einen<br />

Academy Award macht" (für den sie erstaunlicherweise nicht<br />

einmal nominiert wurde).<br />

"Im Grunde genommen weiss ich nicht viel über die<br />

Schauspielerei, und ich habe nie darüber gelesen", sagte <strong>Ingrid</strong><br />

später. "In meinem einzigen Lehrjahr habe ich bestimmt gelernt,<br />

meine Stimme einzusetzen, die Körpersprache richtig zu<br />

nutzen und andern Leuten zuzuhören. Es ist aber der Instinkt,<br />

auf den ich mich verlasse. Es gibt nur eines: Einfachheit und<br />

Aufrichtigkeit im Ausdruck, alles andere erreicht das Publikum<br />

nicht. Ist vergebene Liebesmüh'." Die Rolle von Alicia betreffend:<br />

"Ich liebe es, Charaktere darzustellen, deren Leben nicht<br />

nach den gewohnten Regeln verlief oder manchmal sogar etwas<br />

abnormal – Menschen, die mit ausserordentlichen Lebensumständen<br />

zu kämpfen hatten oder in aussergewöhnlichen<br />

Verhältnissen aufgewachsen sind."<br />

"Notorious" handelt vor allem davon, wie Menschen ihre<br />

Gefühle verheimlichen - wie sie wegsehen, den Blick senken,<br />

Emotionen verbergen. In dieser Hinsicht ist der Dialog oft<br />

mit ironischen Bildern verbunden. Vor der grossen Party, zum<br />

Beispiel, entschuldigt sich Sebastian für sein Misstrauen Alicia<br />

gegenüber, bevor er reuig ihre Hände küsst. Aber sie ist nicht<br />

vertrauenswürdig – schliesslich verrät sie die Zuneigung ihres<br />

Ehemannes und hat nun eben seinen Schlüssel gestohlen, um<br />

ihn weiter verraten zu können. Um den Schlüssel zu verbergen,<br />

legt sie ihre Arme um seinen H<strong>als</strong> und wechselt ihn so in<br />

die andere Hand, nutzt diese zärtliche Geste <strong>als</strong> List. Kurz da-<br />

294


nach setzt sich Devlin vor dem Weinkeller in Szene, um Alex<br />

davon zu überzeugen, dass er (Devlin) in Alicia verliebt sei –<br />

was er natürlich ist. Auch hier wird das Verhalten von Verliebten<br />

(diesmal echt) <strong>als</strong> List benutzt. Niem<strong>als</strong> waren Gesten derart<br />

befrachtet von Komplexität oder Zeichen von Verbindlichkeit<br />

so überlagert von wahren und f<strong>als</strong>chen Bedeu<strong>tu</strong>ngen.<br />

Der entscheidende kinematographische Effekt, der diese<br />

beiden spannenden Momente verbindet, ist der berühmte Kameraschwenker<br />

der den Blick des Zuschauers ohne Schnitt<br />

vom weiten Überblick über die Party im grossen Foyer des<br />

Mansions direkt zur Nahaufnahme des fest in <strong>Bergman</strong>s Hand<br />

gehaltenen Schlüssels führt. Dieser ausserordentliche Moment<br />

war nicht einfach technische Vir<strong>tu</strong>osität von Seiten Hitchcocks;<br />

im Gegenteil, es war wichtig für ihn, in ein und demselben Bild<br />

zwei verschiedene Realitätsebenen zu zeigen. Der Schlüssel<br />

(wörtlich) zu etwas Gefährlichem liegt in dieser beeindruckenden<br />

und faszinierenden Einstellung; ein räumlicher Einblick,<br />

mit anderen Worten, offenbart eine doppelte Realität – so wie<br />

die Pauillac-Flaschen Uranium Erz enthalten, so wie eine einzelne<br />

Zärtlichkeit verschiedenen Realitäten dient.<br />

"Notorious" ist vom ersten bis zum letzten Bild ein Film<br />

von erschreckender Ironie und beklemmenden Kontrasten.<br />

Laster und sexuelle Ausbeu<strong>tu</strong>ng kontrastieren mit der Sehnsucht<br />

nach wahrer Liebe. Trunkener Schwindel kontrastiert mit<br />

Arsenvergif<strong>tu</strong>ng. Soziale Eleganz und Sauberkeit verbergen<br />

mörderische Barbarei. Kichernder Small Talk (zwischen <strong>Bergman</strong><br />

und Grant beim Champagner und Informationsaustausch<br />

an der Party) verbirgt geheime Absprache. Eine etikettierte<br />

Flasche wird von ihrem feinen Wein entleert und mit dem Erz<br />

für die Herstellung einer tödlichen Bombe gefüllt.<br />

Die letzten Momente des Films sind typisch für Hitchcocks<br />

Fähigkeit, allein mit der Kameraführung und Bildgestal<strong>tu</strong>ng<br />

packende Wirkung zu erzeugen. Noch selten in der Filmgeschichte<br />

wurde eine Schauspielerin derart subtil und<br />

schwärmerisch fotographiert wie <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> in der<br />

Schlussszene im Schlafzimmer. Als todkranke Frau wurde sie<br />

295


296<br />

1945 - Hitchcocks Kamera<strong>tu</strong>rm im "Notorious"-Set


in Schatten und Halblicht aufgenommen, w<strong>ob</strong>ei Hitchcock die<br />

Szene so arrangierte, dass <strong>Ingrid</strong> von einer strahlenden Zärtlichkeit<br />

umspielt war, fast wie von einem Heiligenschein der<br />

Sehnsucht umfangen. Hitchcock bestand darauf, dass keinerlei<br />

Musik diese Szene begleiten dürfe, so überzeugt war er von<br />

ihrer optischen Wirkung. Endlich, gerade noch in sprichwörtlich<br />

letzter Minute vor ihrem Tod, gesteht ihr Grant seine Liebe.<br />

"Oh, du liebst mich!" flüstert <strong>Ingrid</strong>. "Warum sagtest du mir<br />

das nicht früher?" Als die Kamera um sie herumkreist antwortet<br />

er: "Ich war ein dickköpfiger Kerl, voll von Kummer. Es<br />

zerfrass mich, dich nicht zu bekommen."<br />

Es ist einfach, in einem Film ästhetische Distanz, das<br />

Zelebrieren der Schönheit eines Darstellers von tiefem emotionalem<br />

Engagement zu unterscheiden. Die erste Verhaltensweise,<br />

zum Beispiel, charakterisierte den respektvollen Abbruch<br />

von D.W. Griffiths Annäherung an Lillian Gish und genau so im<br />

Fall von F.W. Murnau und Janet Gaynor. Dagegen war die sentimentale<br />

Beziehung offenkundig in Josef von Sternbergs Darstellung<br />

von Marlene Dietrich und Hitchcocks Aufnahmen von<br />

<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>.<br />

Alle Motive des Films fanden ihre Auflösung in der<br />

Schlussszene, in der Hitchcock vielleicht die zärtlichste und<br />

tiefgründigste Liebesszene seiner ganzen Filmographie schuf.<br />

Wie geradewegs aus einer Seite des Märchenbuchs (der Prinz<br />

rettet Dornröschen) bewahrt sie die letzte romantische Fantasie,<br />

die Geliebte der Umklammerung durch den Tod zu entreissen.<br />

Ihre Eindrücklichkeit verdankt sie dem Talent und dem<br />

Gefühl des Regisseurs, seines Drehbuchautors – und wohl in<br />

allererster Linie ihrer "kleinen liebeskranken Dame", welche die<br />

engste Schauspielerin-Assistentin des Regisseurs in dessen 6<br />

Jahrzehnte dauernder Karriere wurde. "Er behandelte mich<br />

wirklich sehr exklusiv während der ganzen Produktion", sagte<br />

<strong>Ingrid</strong> Jahre danach. "Er verkehrte nicht mit den Leuten. Aber<br />

wir waren gute Freunde und arbeiteten in 'Notorious' eng zusammen.<br />

Er war sehr konzentriert – er wusste dass er es sein<br />

musste und dass auch ich es sein musste. Wir beide erlebten<br />

die fürchterlichsten Dinge, aber er behielt immer die Kontrolle<br />

297


über sich. Ich hörte ihn nie die Stimme erheben, herumschreien<br />

oder die Leute beschimpfen - nie."<br />

1945 ENDETE MIT EINER FEIER auf dem Set von "Notorious",<br />

und zwar nicht mit einem einfachen Abschiedstoast vor<br />

den Ferien, sondern mit einem Bankett, das Hitchcock zu Ehren<br />

seiner Hauptdarstellerin arrangiert hatte. Er hatte gute<br />

Gründe für diese Extravaganz: zwischen dem 2. November und<br />

7. Dezember kamen gleich drei Filme mit <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> in<br />

die Kinos: "Spellbound", "Saratoga Trunk" und "The Bells of St.<br />

Marys", welch letzterer in der Radio City Music Hall alle Rekorde<br />

brach. Ein Witzbold brachte zur Weihnachtszeit das Gerücht<br />

in Umlauf, jemand habe in New York City einen Film gesehen,<br />

in dem <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> nicht mitgespielt habe. Bis zum Jahresende<br />

bezifferten sich die Bruttoeinnahmen aus diesem Trio<br />

auf $ 21 Mio. und <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> erhielt über 25'000 Fanbriefe<br />

pro Woche. Niemand war überrascht, <strong>als</strong> das BOX OFFICE-<br />

Magazin aufgrund seiner Umfragen bei Kritikern, Theatern,<br />

Radio-Kommentatoren, Vertreterinnen von Frauenklubs, Film-<br />

Fachleuten und Erziehungs-Organisationen erklärte – übrigens<br />

hier zum ersten Mal in zwei aufeinanderfolgenden Jahren –<br />

dass <strong>Ingrid</strong> Amerikas profitabelste Schauspielerin für ihre Arbeitgeber<br />

war. Auf der Stelle folgten populäre Publikationen<br />

(wie das LOOK-Magazin u.a.) mit der Vergabe verschiedenster<br />

Awards für ihre Leis<strong>tu</strong>ngen.<br />

Einladungen häuften sich, darunter auch solche, die <strong>Ingrid</strong><br />

baten, Auszeichnungen an Kriegshelden zu übergeben und<br />

sich auf diese Weise selbst zu ehren. Eine gefiel ihr dabei ganz<br />

besonders, diejenige der American Youth for Democracy. Am<br />

16. Dezember präsentierte <strong>Ingrid</strong> Leutnant Edwina Todd, einer<br />

heldenhaften amerikanischen Krankenschwester, die auf den<br />

Philippinen diente, eine Medaille. Kaliforniens Attorney General<br />

war ebenfalls anwesend, wie auch Bill Mauldin, Dore Schary,<br />

Barney Ross, Artie Shaw, Dorothy Parker und Frank Sinatra.<br />

Der Anlass war ein Riesenerfolg, und Leutnant Todd, die schon<br />

von der Regierung geehrt wurde, war fasziniert, <strong>Ingrid</strong> zu tref-<br />

298


fen.<br />

Aber die Feiertage waren keine ungetrübte Freude.<br />

Seit Okt<strong>ob</strong>er arrangierte <strong>Ingrid</strong> gelegentliche Rendezvous<br />

mit Larry Adler, w<strong>ob</strong>ei sie eines Tages ein paar gemeinsame<br />

Urlaubstage vorschlug, <strong>als</strong> Petter allein zu seinem Skiurlaub<br />

wegfuhr. "Ich war dam<strong>als</strong> in psychoanalytischer Behandlung",<br />

erklärte Adler später, "und mein Psychiater sagte mir,<br />

dass dies für mich zur Katastrophe führen, das Ende meiner<br />

Ehe bedeuten würde." Aber er hatte einen andern Grund für<br />

seine Absage. "Wenn ich die Möglichkeit einer Ehe mit <strong>Ingrid</strong> in<br />

Erwägung zog, war mir sofort klar, dass ich mein Leben niem<strong>als</strong><br />

vier Schritte hinter <strong>Ingrid</strong> gehend leben konnte. Ein Filmstar<br />

ist viel wichtiger <strong>als</strong> irgendein Medaillenträger, und mein<br />

Ego war zu stark ausgeprägt um fortan Herr <strong>Bergman</strong> zu sein."<br />

Damit endete die kurze Romanze, die danach zu einer dauerhaften<br />

Freundschaft wurde.<br />

Und danach, wie in der Schlange stehend, meldete sich<br />

R<strong>ob</strong>ert Capa zurück. Er kam vor Weihnacht in Hollywood an,<br />

mietete sich in einem Hotel ein und war – mit etwas Nachhilfe<br />

durch <strong>Ingrid</strong> – sofort <strong>als</strong> Werbefotograph im Set von "Notorious"<br />

engagiert. Adler lebte in Los Angeles und war dort gut<br />

bekannt, aber die Ankunft des berühmten Fotographen wurde<br />

in der Filmgemeinde laut herausposaunt. So war er zu jeder<br />

Feiertagsparty eingeladen und von den Regisseuren und Stars,<br />

die von seiner Vir<strong>tu</strong>osität hinter der Kamera wussten, umschwärmt,<br />

sodass ihm für <strong>Ingrid</strong> zunächst wenig Zeit blieb.<br />

Bei RKO war Hitchcock äusserst bemüht, keinen unerwünschten<br />

Verdacht in die andere Rich<strong>tu</strong>ng aufkommen zu<br />

lassen, weshalb er sie Capa vorstellte, <strong>als</strong> wären sich die beiden<br />

fremd. Aber dann, während der letzten Dezemberwoche,<br />

wurde <strong>Ingrid</strong> im Set nicht benötigt, wovon Petter nichts wusste.<br />

An beiden Morgen steuerte sie ihren Oldsm<strong>ob</strong>ile in aller<br />

Frühe den Benedict Canyon hinunter, um dann statt ostwärts<br />

den S<strong>tu</strong>dios entgegenzufahren, scharf nach rechts abzubiegen<br />

und dann den Kurven und Windungen des Sunset Boulevards<br />

entlang bis zu dessen Ende an der Pazifikküste hinunterzufah-<br />

299


en. Dann ging’s nordwärts auf dem Pacific Coast Highway bis<br />

Malibu, wo sie sich irgendwo alleine an den Strand setzte und<br />

Bücher oder Scripts las und die Seeluft und das Rauschen des<br />

Meeres genoss. An den Nachmittagen traf sie Capa an der Malibu<br />

Road 18 – im Strandhaus seines Freundes, des Schriftstellers<br />

Irwin Shaw, der sie dann bis zum Abend alleinliess.<br />

300


Wer ist der sterbende Soldat?<br />

Rätselhaft. Dies ist das berühmte Bild "Republikanischer Soldat<br />

im Moment des Todes", 1936 von US-Fotograf R<strong>ob</strong>ert Capa im<br />

Spanischen Bürgerkrieg aufgenommen. Angeblich zeigt es den<br />

Kämpfer Federico Borrell Garcia, wie ihn die Kugel trifft. Ein<br />

spanisches Filmteam vermeldet nun: Es kann nicht Garcia sein.<br />

Unter anderem habe ein Kampfgefährte und Augenzeuge erklärt,<br />

Borrell Garcia sei keineswegs auf freiem Gelände gestorben,<br />

wie es das Bild nahelegt. Das nährt die (alten) Gerüchte,<br />

das Foto sei gestellt worden. Auch wird erneut gestreut, nicht<br />

Capa, sondern seine Lebensgefährtin Gerda Taro habe den Auslöser<br />

betätigt. Gleichwohl, das Bild ist und bleibt eine Ikone der<br />

Kriegsfotografie. Und hat es, wie man am Betrachter sieht, aufs<br />

T-Shirt geschafft.<br />

js Foto Keystone<br />

(Bericht der Basler Zei<strong>tu</strong>ng vom 17.12.2008)<br />

301


302<br />

1946 - R<strong>ob</strong>ert Capa und Alfred Hitchcock dominieren <strong>Ingrid</strong>s<br />

Gefühls- und Berufswelt


1945 - Schwester Benedict in „The Bells of St-Mary's“<br />

303


1945 - Schwester Benedict in „The Bells of St-Mary's“<br />

304


". . . Endlich spielte ich Jeanne. Ich verlor mich in dieser Rolle<br />

vollständig und vergass meine innere Einsamkeit, denn während<br />

mein Berufsleben erfüllt und aufregend verlief, war mein<br />

Leben zuhause zurückgezogen und leer . . . ."<br />

(<strong>Ingrid</strong> über ihr Leben in New York)<br />

". . . Ich möchte mich lieber an einen einzigen derart kunstvollen<br />

Film wie diesen erinnern, <strong>als</strong> an alle meine kassenfüllenden<br />

Hits. Warum kann R<strong>ob</strong>erto Rossellini nicht nach Hollywood<br />

kommen und einen solchen Film mit jemandem wie mir<br />

machen?. . . . . . ."<br />

1946 - 1947<br />

(<strong>Ingrid</strong> in New York über "Open City")<br />

AM 16. JANUAR 1946 ERHIELT INGRID ein seltsames<br />

Telegramm von Gerald L.K. Smith, einem Rechtsaussen-<br />

Hitzkopf und vergifteten Antisemiten, dem Wortführer der Meinung,<br />

wonach Hollywood die kommunistische Unterwanderung<br />

Amerikas fördere. Als ehemaliger Nazi-Sympathisant gehörte<br />

Smith auch zu jenen, welche während den folgenden Jahren<br />

die wahnsinnige Behaup<strong>tu</strong>ng verbreiteten, dass alle Kunstschaffenden<br />

(die er verdächtigte, linksextreme Aufwiegler zu<br />

sein) zu überwachen seien, bis ihre Unschuld bezüglich Verhetzung,<br />

Verrats oder wenigstens gefährlichem Antiamerikanismus<br />

erwiesen sei.<br />

"Bekanntlich," lautete Smiths Telegramm,<br />

haben Sie am 16. Dezember an einem Anlass der American<br />

Youth for Democracy im Ambassador-Hotel in Los<br />

Angeles teilgenommen, an dem auch Frank Sinatra und<br />

andere anwesend waren. Etwa zur gleichen Zeit sprach<br />

Edgar J. Hoover vor der Catholic Youth Organization of<br />

New York City und stellte fest, dass American Youth for<br />

305


306<br />

Democracy <strong>als</strong> Nachfolge-Organisation der Young<br />

Communist League eine Kampagne zur Unterminierung<br />

der amerikanischen Regierung organisiere. Nahmen Sie<br />

an diesem Bankett im vollen Bewusstsein dieser Zusammenhänge<br />

teil oder waren Sie unschuldiges Opfer<br />

eines schlüpfrigen Organisations-Kommittees?"<br />

<strong>Ingrid</strong> zerriss das Telegramm ohne eine Antwort zu geben.<br />

Aber zwei Wochen später stand Smith vor dem Un-American<br />

Activities Committee und verlangte eine Untersuchung von<br />

Leben und Aktivitäten von Walter Winchell, Eddie Cantor,<br />

Frank Sinatra, Orson Welles, <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> und Dutzenden<br />

andern. Seine Forderungen fanden jedoch keine Beach<strong>tu</strong>ng<br />

und verblassten bald in der Vergessenheit. Aber einige Leute in<br />

Hollywood begannen sich dennoch Gedanken über die Integrität<br />

berühmter Ausländer in Amerika zu machen, wie <strong>Ingrid</strong> –<br />

Berühmtheiten, die viel Geld verdienten und sich keinen Deut<br />

um das amerikanische Bürgerrecht kümmerten. <strong>Ingrid</strong>, die<br />

immer auf ihre schwedische Herkunft stolz war, hatte nie die<br />

Absicht, Amerikanerin zu werden; von Anbeginn ihrer Hollywood-Karriere<br />

an war sie überzeugt davon, dass sie irgendwann<br />

wieder nach Europa zurückkehren würde.<br />

NACHDEM DIE SELZNICK-JAHRE nun hinter ihr lagen,<br />

war sie frei, andere Angebote anzunehmen. Als "Notorious"<br />

Ende Februar 1946 vollendet war traf sie den Produzenten David<br />

Lewis bei Enterprise Pic<strong>tu</strong>res, einer neuen und unabhängigen<br />

Filmgesellschaft, die sich die Rechte an Erich Maria Remarques<br />

populärer Novelle "Arc de Triomphe" gesichert hatte.<br />

Regisseur Lewis Milestone, Oscarträger für die Filmversion von<br />

Remarques "Nichts Neues im Westen", hatte zugesagt, "Arc"<br />

zu schreiben und Regie zu führen; <strong>als</strong> Schauspieler waren u.a.<br />

bereits Charles Boyer und Charles Laughton verpflichtet. Niemand<br />

zweifelte daran, dass der Erfolg des Films mit ihrer Beteiligung<br />

so gut wie sicher war, weshalb <strong>Ingrid</strong> den Vertrag<br />

unterzeichnete. Petter handelte für sie die erstaunliche Gage<br />

von $ 175'000 plus 25 % der Nettoeinnahmen des Films aus.


Milestone, Harry Brown und Capas Freund Irwin Shaw (<strong>als</strong> Aktionär<br />

der Enterprise Pic<strong>tu</strong>res) machten sich an die Arbeit mit<br />

dem Script, da die Produktion spätestens im Juni beginnen<br />

sollte, weil <strong>Ingrid</strong> im Okt<strong>ob</strong>er zu den Pr<strong>ob</strong>en für "Joan of Lorraine"<br />

in New York erwartet wurde.<br />

Inzwischen fand – solange die Mannschaft noch beisammen<br />

war - die traditionelle Schlussfeier für "Notorious"<br />

statt, an der Cary Grant <strong>Ingrid</strong> mit seinen Abschiedsworten tief<br />

bewegte. Er hatte es so sehr genossen, mit ihr zusammenzuarbeiten,<br />

was er ihr auch privat schon sagte, und er schätzte<br />

ihre Freundschaft über alles. Er hatte auch das Gefühl, dass<br />

die Erfahrung dieser Zusammenarbeit mit ihr und Hitchcock<br />

seiner Karriere neue Türen öffnen würde, weshalb er eine angemessene<br />

Erinnerung klaute, ein Requisit aus der Produktion<br />

– den Weinkellerschlüssel, der im Film aus ihrer Hand in die<br />

seine und dann wieder zurück in die ihre wechselte. Dieser<br />

Schlüssel, sagte er <strong>Ingrid</strong>, werde für ihn allezeit ein wertvolles<br />

Souvenir bleiben; Jahre danach sollte dieser Schlüssel in den<br />

Leben von Cary, <strong>Ingrid</strong> und Hitch noch zweimal zu einem wichtigen<br />

Talisman werden.<br />

INGRID HOLTE SICH JOE STEELE, der sich um ihre Publizität<br />

für "Arch of Triumph" kümmern und auch die Funktion<br />

ihres Pressesprechers übernehmen sollte. Anfangs April – nach<br />

Rückkehr von <strong>Ingrid</strong>, Petter und Pia von einem Familienskiurlaub<br />

in Nevada – flogen sie und Joe nach New York, wo sie ihre<br />

Zimmer im Hotel Saint Moritz bezogen. Hauptgrund für die<br />

Reise war das Zusammentreffen mit Maxwell Anderson und<br />

den Produzenten von "Joan". "Hollywood wurde mir zu eng",<br />

sagte sie später.<br />

Es war wirklich ein fürchterlicher Tratsch und Klatsch-<br />

Ort. Alles, worüber die Leute sprachen, waren die Kinokassen<br />

und das Geld; es wurde zermürbend. Natürlich<br />

hatte ich sehr gute Rollen bekommen. Ich hatte die<br />

besten Hauptdarsteller <strong>als</strong> Partner. Ich erhielt die besten<br />

Regisseure. Ich konnte mich wirklich nicht bekla-<br />

307


308<br />

gen. Aber wie ein Film im Kasten war, rauschte ich ab<br />

nach New York, weil ich mich dort unter wirklichen<br />

Menschen fühlte (womit sie Theaterleute meinte). Es<br />

war ein anderes Leben. In Hollywood waren es nur Filme,<br />

Filme, Filme. Ich meine, ich mag ja die Filme, aber<br />

du solltest auch mal Zeit haben, über etwas anderes zu<br />

reden – und auch andere Menschen zu treffen. So kam<br />

ich eben nach New York und arbeitete am Theater.<br />

Aber da gab es noch einen andern Grund für die Reise<br />

ostwärts in diesem kalten Winter: B<strong>ob</strong> Capa, Hollywood überdrüssig,<br />

war nach Manhattan zurückgekehrt.<br />

Joe amtete <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong>s Beschützer, aber wo es um Capa<br />

ging, konnte er nicht intervenieren, und so war er oft extrem<br />

in Sorge darüber, dass die Presse von <strong>Ingrid</strong>s ständigen Abwesenheiten<br />

vom Hotel Wind bekommen würde, da sie diesen<br />

Winter und Frühling mehrere Nächte pro Woche mit ihrem<br />

Liebhaber verbrachte. <strong>Ingrid</strong> und B<strong>ob</strong> sassen in den dunkeln<br />

Winkeln der Greenwich Village Bars, schlürften Drinks und hörten<br />

Jazz; sie kuschelten auf den Balkonen der West Side Kinos<br />

herum und schlenderten um vier Uhr morgens die Fifth Avenue<br />

hinauf.<br />

Irgendwie gelang es ihnen, dem Boulevard zu entkommen,<br />

und <strong>Ingrid</strong> betrachtete das <strong>als</strong> offenkundiges Zeichen der<br />

Zustimmung des Himmels. Sie erlebte die romantischste Episode<br />

ihres Lebens, die aber grösstenteils das Produkt ihrer<br />

Fantasie war, <strong>als</strong> durchlebte sie eine unwiderstehliche Rolle im<br />

bisher besten Film ihres Lebens. Obwohl Capa sie mochte, zog<br />

er seine Freiheit vor und beharrte darauf, keinerlei Ehetauglichkeit<br />

zu besitzen: er sehnte sich danach, <strong>als</strong> freischaffender<br />

Fotograph auf der Suche nach Geschichten die Welt zu durchstreifen.<br />

Eines nachts, nachdem der Whisky reichlich geflossen<br />

war, riet er <strong>Ingrid</strong>, sich lieber um ihr eigenes Leben zu kümmern.<br />

Sie tat das dann auch, doch bis weit gegen Ende 1946<br />

kappte keiner von beiden die Affäre.<br />

Nach Monaten vertraute <strong>Ingrid</strong> dieses unglückselige Gespräch<br />

ihrem Freund Hitch an. Sieben Jahre danach, <strong>als</strong> sie


von Hitch und Hollywood längst getrennt war, machte dieser<br />

die Capa-<strong>Bergman</strong>-Affäre zur Grundlage einer Beziehung zwischen<br />

Charakteren, die von James Stewart <strong>als</strong> einem weltweit<br />

agierenden Pressefotographen, und Grace Kelly <strong>als</strong> einer hübschen<br />

Dame der Gesellschaft in "Rear Window" gespielt wurden.<br />

(Cornell Woolrichs Kurzgeschichte, an welcher Hitchcock<br />

die Rechte gekauft hatte, kannte keine derartige Liebesbeziehung.)<br />

AN IHREN BESPRECHUNGEN mit Maxwell Anderson beschrieb<br />

der Schriftsteller die faszinierende Struk<strong>tu</strong>r seines<br />

"Spiels-im-Spiel". Joans Geschichte sollte so inszeniert werden,<br />

<strong>als</strong> würde sie von einer Theatergruppe gepr<strong>ob</strong>t, w<strong>ob</strong>ei die Rolle<br />

der Jungfrau von einer Schauspielerin namens "Mary Grey"<br />

gespielt wurde, die interaktiv zwischen historischen Figuren<br />

und ihren Theaterkollegen agierte. Dieses interessante Konzept<br />

bot Anderson die Möglichkeit, die moralische Substanz explizit<br />

herauszuarbeiten und die Frage der Kompromisse zu analysieren<br />

– in der im 15. Jahrhundert von Jeanne geführten Schlacht<br />

und im aesthetischen Kampf der Schauspieler im 20. Jahrhundert.<br />

Der tiefere Sinn von "Joan of Lorraine" wird abschliessend<br />

geklärt, indem Mary Grey durch ihr Spiel <strong>als</strong> Joan erkennt,<br />

dass Kompromisse in nebensächlichen weltlichen Dingen (und<br />

unter Mitwirkung von nicht sehr liebenswerten Menschen) gemacht<br />

werden müssen, wenn am Ende Glaube und Helden<strong>tu</strong>m<br />

im Reich des Geistes triumphieren sollen.<br />

<strong>Ingrid</strong> verbrachte dieses Frühjahr auch einige Zeit mit<br />

Kay Brown, deren Agen<strong>tu</strong>r inzwischen zu einer der bekanntesten<br />

und respektiertesten in New York und Hollywood geworden<br />

war. Ihr Kundenregister war beeindruckend mit Positionen wie<br />

Montgomery Clift, Lillian Hellman, Frederic March, Arthur<br />

Miller, Samuel Taylor, nebst den amerikanischen Verpflich<strong>tu</strong>ngen<br />

von (u.a.) Alec Guinness, John Gielgud, Rex Harrison, Laurence<br />

Olivier und Ralph Richardson. Ohne eine Rückfrage bei<br />

Petter zu machen schloss sie sich Kays Kundenregister an, <strong>ob</strong>schon<br />

die Bedeu<strong>tu</strong>ng dieser geschäftlichen Beziehung erst viele<br />

309


Jahre später zum Tragen kam. Aber die Freundschaft war auf<br />

immer erneuert, und <strong>Ingrid</strong> war ein häufiger Gast in Kays Familie.<br />

Eines schönen Tages bot sie sich zur Mithilfe beim traditionellen<br />

Frühjahrs-Reinemachen an, was Kays Ehemann zu<br />

erstaunten Frage veranlasste: "Was geht denn hier vor? Die<br />

hübscheste Frau auf Erden reinigt unsere Treppe?"<br />

Aber während dieser ganzen Saison blieb Capa <strong>Ingrid</strong>s<br />

ständiger Begleiter und Mentor. Sie las die Bücher, die er ihr<br />

empfohlen hatte, sah sich die Stücke an, die er ihr empfohlen<br />

hatte, besuchte mit ihm die Konzerte, die er ausgewählt hatte<br />

und begann erstm<strong>als</strong> in ihrem Leben, am allgemeinen Weltgeschehen<br />

Interesse zu zeigen. Gewissermassen spielte Capa<br />

ihren Ferien-Ehemann, was sie sehr vage mit einem gewissen<br />

Missbehagen realisierte. Zu dieser Zeit war sie, wie Capa Joe<br />

Steele gegenüber bemerkte, "in tausend Knoten verstrickt. Für<br />

eine erwachsene Frau ist sie so naiv, dass es schmerzt. Sie<br />

kann nicht loslassen. Sie hat nicht die leiseste Ahnung davon,<br />

was in der Welt vor sich geht." Und das Schlimmste von allem<br />

sei, schloss Capa, dass sie nichts von Filmen verstehe, ausser<br />

all dem Zeug, was in den letzten sieben Jahren von Hollywood<br />

kam. Er habe sein ganzes Leben lang europäische Filme gesehen<br />

und werde das auch weiterhin <strong>tu</strong>n, sogar in den sogenannten<br />

"art houses" in Manhattan. Wenn Steele <strong>Ingrid</strong> einen Gefallen<br />

erweisen wolle, solle er mit ihr den Film "Roma – città<br />

aperta" (Open City) ansehen, einen starken italienischen Film,<br />

den Capa <strong>als</strong> Meisterwerk bezeichnete.<br />

Am nächsten Nachmittag besorgten sich Joe und <strong>Ingrid</strong><br />

Tickets zu diesem Film im World Theater an der West Fortyninth<br />

Street. Beim Verlassen des Kinos war <strong>Ingrid</strong> zu bewegt<br />

zum Sprechen. Die Handlung des Films war einfach und ihre<br />

Umsetzung liess jeden Glanz und jede Künstlichkeit vermissen,<br />

aber seine Wirkung war enorm. Ein führender Untergrundkämpfer<br />

namens Manfredi (gespielt von Marcello Pagliero) versteckt<br />

sich im Haus von Pina (Anna Magnani). Als sie von den<br />

Deutschen umgebracht wird, findet Manfredi bei seiner Mätresse<br />

(Maria Michi) Unterschlupf. Aber sie verrät ihn, sodass er<br />

zusammen mit einem Priester – ebenfalls ein Untergrundheld –<br />

310


verhaftet wird. Beide Männer sterben ohne etwas verraten zu<br />

haben, was andern hätte Schaden zufügen können.<br />

Im Geheimen geplant und hergestellt unter dem Vorwand,<br />

einen dokumentarischen S<strong>tu</strong>mmfilm zu machen (die<br />

Tonspur wurde später hinzugefügt), wurde "Open City" zu<br />

einem Tribut an den Mut des italienischen Widerstands gegen<br />

den Faschismus während des Krieges. Nach Mussolinis Tod<br />

verfilmt, stellte dieser Film ein realistisches Portrait des Elends<br />

dar, das <strong>als</strong> Folge der deutschen Besetzung in Rom herrschte.<br />

"Open City" markierte auch den Beginn der Renaissance des<br />

italienischen Films.<br />

An diesem Abend bat sie Capa, ihr etwas über den Regisseur<br />

des Films, R<strong>ob</strong>erto Rossellini zu erzählen. Er sei das<br />

Genie des modernen italienischen Films, meinte Capa. Nein, er<br />

filme nicht ausserhalb Italiens – warum sie das frage? "Weil",<br />

antwortete <strong>Ingrid</strong>, "dieser Film wie echtes Leben wirkt. Ich<br />

möchte mich lieber an einen einzigen derart kunstvollen Film<br />

wie diesen erinnern, <strong>als</strong> an alle meine kassenfüllenden Hits.<br />

Warum kann R<strong>ob</strong>erto Rossellini nicht nach Hollywood kommen<br />

und einen solchen Film mit jemandem wie mir machen?" Nun,<br />

versuchte Capa zu erklären, das sei eine komplizierte Sache:<br />

was sie denn auf die Idee bringe, das amerikanische Publikum<br />

sei an ergreifendem Neorealismus interessiert?<br />

Dieser Rossellini, fuhr <strong>Ingrid</strong> fort, müsse ein ausserordentlich<br />

wundervolles menschliches Wesen sein. Nun, könne ja<br />

sein, antwortete Capa, aber ein Mann und seine Arbeit seien<br />

zwei verschiedene Dinge. In diesem Falle könne das nicht sein,<br />

sagte <strong>Ingrid</strong>: der Film sei viel zu grossartig dafür. Und von da<br />

an verwechselte und vermischte <strong>Ingrid</strong> Mann und Werk: "Ich<br />

verliebte mich in R<strong>ob</strong>erto Rossellini bevor ich ihn persönlich<br />

kannte. Ich verliebte mich durch seinen Film." Und so geschah<br />

ihr das, was Millionen von Menschen geschah, die <strong>Ingrid</strong> nicht<br />

kannten und sich doch in sie verliebten.<br />

311


Vier Tage lang verfolgte "Open City" <strong>Ingrid</strong>, und wer es<br />

hören wollte, erfuhr von ihr von den einfachen Bildern und<br />

dem packenden Drama, das (mit einigen wenigen Ausnahmen)<br />

von Darstellern gespielt wurde, die Rossellini auf den Strassen<br />

Roms gefunden habe. Wie sie später erfuhr, hatte dieser Umstand<br />

mehr ökonomische <strong>als</strong> künstlerische Hintergründe, aber<br />

seine Vorliebe für Amateure passte perfekt zu Rossellinis Auffassung,<br />

dass eine "Schau" um jeden Preis zu vermeiden sei,<br />

denn der Film sein ein Medium zur Darstellung von Tatsachen<br />

und nicht von Fiktionen. Geschichten zogen ihn nicht halb so<br />

stark an, wie eindrückliche Bilder aus dem Leben der Menschen,<br />

das Drama beschäftigte ihn nur soweit, <strong>als</strong> es einen<br />

Winkel der Seele ausleuchtete; und Schauspieler interessierten<br />

ihn überhaupt nicht. Aber für seine besten Filme (und "Open<br />

City" gilt wahrscheinlich <strong>als</strong> der beste von allen) benötigte er<br />

einen guten Autor: im vorliegenden Fall hatte er Sergio Amidei<br />

und den jungen Federico Fellini, der vor seiner eigenen bemerkenswerten<br />

Karriere <strong>als</strong> Regisseur <strong>als</strong> Screenwriter arbeitete.<br />

Obschon sie genau genommen keine Dokumentarfilme<br />

waren, lagen Rossellinis Filme visuell sehr nahe beim Dokumentar-Genre.<br />

Roms Fussgänger, seine Avenuen und engen<br />

Gassen, seine Monumente und das Rattern der modernen Laster<br />

durch die alte Stadt – sie alle waren die Schauspieler in<br />

diesem Stück. Rossellinis Ziel war es sicher nie, leichte Unterhal<strong>tu</strong>ng<br />

für die Massen zu produzieren, und die Handlung in<br />

"Open City" diente ihm vorwiegend <strong>als</strong> Vorwand, die Gesichter<br />

der leidenden Menschen einzufangen. Gerade diese, auf der<br />

Leinwand so eindrücklich vorgeführt, konnte <strong>Ingrid</strong> nicht mehr<br />

vergessen. Wie oft schon hatte sie ihre eigene Schauspielkul<strong>tu</strong>r<br />

<strong>als</strong> "einfach und ehrlich" bezeichnet, und genau das bekam sie<br />

nun in "Open City" zu sehen.<br />

Ende Mai kehrte sie nach Los Angeles zurück, um mit<br />

den Arbeiten zu "Arch of Triumph" zu beginnen. Diesmal erfolgte<br />

ihre Rückreise mit Howard Hughes, der sie in seinem<br />

Privatflugzeug nachhause flog und über dem Grand Canon<br />

noch ein paar tiefe Schlaufen flog, um sie zu beeindrucken.<br />

Aber <strong>Ingrid</strong> döste vor sich hin (ihre Methode, Hughes' ständige<br />

312


Einladungen zu einem romantischen Abend zu ignorieren) und<br />

überliess die prächtigen Ansichten der Begeisterung der übrigen<br />

Passagiere – Joe Steele, Alfred Hitchcock und Cary Grant.<br />

"Als wir mit den Dreharbeiten begannen, brachte sie<br />

zwanzig Pfund zuviel auf die Waage", erinnerte sich der Produzent<br />

David Lewis. "Ich musste ihren Ehemann bitten, den<br />

Kühlschrank zuhause abzuschliessen", da <strong>Ingrid</strong> offen zugab,<br />

dass sie bei der Arbeit zum Lunch zwar Hüttenkäse ass, dann<br />

aber zuhause den Speiseschrank in Angriff nahm.<br />

Ihre Unsicherheit und ihr Kummer, die einmal mehr der<br />

Grund für ihre zwangshafte Esssucht waren, verschärften sich<br />

ironischerweise noch <strong>als</strong> ihr Capa nach Hollywood folgte;<br />

knapp bei Kasse wie immer bat er sie, ihm den J<strong>ob</strong> des Still-<br />

Fotographen im "Arch"-Set zu verschaffen, was sie kurzerhand<br />

tat. Fast jeden Abend nach den Aufnahmen gesellte sich Capa<br />

für ein paar Cocktails zu <strong>Ingrid</strong>, Charles Boyer, Lews Milestone<br />

und einigen Leuten der Crew – w<strong>ob</strong>ei er regelmässig zuviel<br />

trank.<br />

Diesen Sommer, während der Film gedieh, begann <strong>Ingrid</strong><br />

der übeln Launen – um nicht zu sagen: Katerstimmungen<br />

- ihres Liebhabers überdrüssig zu werden. Wie oft und wo sie<br />

sich privat getroffen haben, ist nicht bekannt; sicher ist, dass<br />

ihr Arbeitspensum (in den S<strong>tu</strong>dios, die Enterprise in Culver City<br />

gemietet hatte) so befrachtet war, dass regelmässige Abstecher<br />

zu Irwin Shaws Strandhaus in Malibu nicht möglich waren;<br />

ausserdem vermied <strong>Ingrid</strong>, <strong>als</strong> häufiger Gast in Capas<br />

Hotel gesehen zu werden.*) Hotelpagen und Empfangsangestellte<br />

wurden regelmässig bestochen, damit sie den Klatschkolumnisten<br />

Material lieferten, weshalb sie in dieser Beziehung<br />

keine Konsequenzen riskieren wollte.<br />

*) Kommt hinzu, dass Shaw mit dem, was aus "Arch of Triumph" wurde,<br />

überhaupt nicht einverstanden war und sich daher sowohl aus<br />

dem Filmprojekt wie auch aus der Partnerschaft an Enterprise Productions<br />

zurückzog.<br />

313


314<br />

1948 - <strong>als</strong> Joan Madou in "Arch of Triumph"


Petter wusste, dass seine Ehe irreparabel beschädigt<br />

war. "Er tat die verfluchtesten Dinge", nach David Lewis.<br />

"Wenn <strong>Ingrid</strong> um acht nachhause kam, setzte er das Abendessen<br />

mit Pia um halb acht an. Kam <strong>Ingrid</strong> um sechs Uhr nachhause,<br />

gabs Abendessen mit Pia um halb sechs. Ich weiss nicht<br />

– vielleicht versuchte er das Kind emotional an sich zu binden,<br />

einfach für den Fall, dass etwas passieren sollte. Aber im<br />

Grunde gibt es in dieser Geschichte keinen Schurken. Ihre Leben<br />

haben sich derart extrem auseindander entwickelt, dass<br />

sich kein Weg fand, sie wieder zusammenzubringen."<br />

Wie so oft schon, war die Arbeit wieder ihr Refugium,<br />

und in "Arch of Triumph" liess sie diesen Sommer ihre emotionale<br />

Aufruhr einfliessen. Sie gab einem dunkeln, klaustroph<strong>ob</strong>ischen<br />

Film damit eine Intensität, die stellenweise erschreckend<br />

wirkte.<br />

Die Handlung folgt sehr dicht Erich Maria Remarques<br />

Roman, der am Rande des zweiten Weltkriegs angesiedelt ist.<br />

Die Erzählung, nur unwesentlich cachierte Reminiszenz an Remarques<br />

qualvolle Romanze mit Marlene Dietrich, erzählt von<br />

einem geflohenen österreichischen Chirurgen namens Ravic<br />

(Charles Boyer) und dessen kummervoller Beziehung zu einer<br />

rumänisch-italienischen Kabaretsängerin namens Joan Madou<br />

(<strong>Ingrid</strong>). Der süsse Wein ihrer Liebe wird sauer, <strong>als</strong> er sich<br />

weigert, sie zu heiraten (R<strong>ob</strong>ert Capa und <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> lassen<br />

grüssen); Ravic ist immerhin ein Mann ohne Papiere, der<br />

eine illegale medizinische Praxis betreibt und schon mehrfach<br />

deportiert wurde. Während einer seiner Abwesenheiten beginnt<br />

sie eine Beziehung zu einem undurchsichtigen neuen Liebhaber,<br />

der sie in einem Wutanfall niederschiesst. Ravic, der sich<br />

inzwischen längst gegen seine eigene wilde Leidenschaft für sie<br />

auflehnt, wird an ihr Krankenbett gerufen. Aber seine ärztliche<br />

Kunst kann sie nicht retten, und er muss zusehen, wie sie<br />

stirbt, während sie sich gegenseitig ihre Liebe gel<strong>ob</strong>en. Er wird<br />

einmal mehr deportiert und kann sein Schicksal diesmal aber<br />

akzeptieren.<br />

315


Wie der Roman hat auch der Film eine dichte, gleissende<br />

Stimmung (alle Szenen der ersten Hälfte wurden bei Nacht<br />

und stürmischem Regen gefilmt), aber auch eine gewisse melancholische<br />

Wirkung, seinem trägen Fortgang zum Trotz. In<br />

finsterer Leidenschaft spielte Boyer Ravic mit perfekter Ironie;<br />

er ist wechselweise besitzergreifend, liebevoll, bitter, selbstgefällig<br />

und reuig. <strong>Ingrid</strong> ihrerseits ist seine personifizierte Verhinderung<br />

– wirr und verletzlich, fast krankhaft in ihrem Bedürfnis,<br />

geliebt zu werden und auch erfinderisch und manipulierbar<br />

in ihrem Bemühen, Boyer an sich zu binden. Ihre Sterbeszene<br />

ist einmalig eindrücklich: ohne jedes romantische<br />

Filmklischee beschränkt sie sich darstellerisch auf unregelmässige<br />

Atmung und das Erlöschen ihres Blicks, <strong>als</strong> <strong>ob</strong> sie die<br />

Grenzen eines fernen Landes erblickte. "Ich liebe dich – ich<br />

liebe dich – ich liebe dich", flüstert sie zu Boyer und bittet ihn<br />

um einen letzten Kuss; der Moment ihres Todes ist kaum<br />

wahrnehmbar.<br />

Als der Film schliesslich nach fast zweijährigem<br />

editorialem Hickhack in die Kinos kam, erwies sich "Arch of<br />

Triumph" <strong>als</strong> ein gewaltiges Fiasko. Wie üblich wurde <strong>Ingrid</strong><br />

für die einfühlsame Porträtierung einer verzweifelten Frau gel<strong>ob</strong>t,<br />

aber der Film wurde durch die Kritiken geprügelt, das<br />

Publikum langweilte sich und sehr bald war Enterprise Pic<strong>tu</strong>res<br />

(die ihre gesamte 4 Mio $-Investition verloren hatte) nicht<br />

mehr mehr <strong>als</strong> eine Fussnote in der Geschichte Hollywoods.<br />

"Unter Lindströms Management machte <strong>Ingrid</strong> einige schlechte<br />

Filme", sagte Milestone, "und einer davon geht auf mein Konto."<br />

Boyer formulierte es sehr prägnant, <strong>als</strong> er einem Freund<br />

erklärte, dass der Film anfänglich für vier S<strong>tu</strong>nden schrecklich<br />

gewesen sei, dann aber dank sorgfältiger Edition für nur zwei<br />

S<strong>tu</strong>nden grauenvoll geworden sei.<br />

Nun schien es offenkundig, dass das Nachkriegspublikum<br />

keinen Rückblick in die Kriegszeit wünschte; es war auch<br />

vom doppelt tragischen Ausgang der Geschichte enttäuscht<br />

(ihr Tod, seine Deportation); und es konnte keine neurotische<br />

Liebesbeziehung <strong>als</strong> Symbol für eine Welt am Rande einer Feuersbrunst<br />

akzeptieren. Milestones unverbrüchliche Treue zu<br />

316


Remarques verdammten Liebenden – nebst der übermässigen<br />

Länge des Films – war letzten Endes genau das, was dem Film<br />

den Erfolg versagte. Nichts, wie <strong>Ingrid</strong> später immer wieder<br />

betonte, hätte einen grösseren Kontrast zu "Open City" bieten<br />

können.<br />

FÜR DIE DREHARBEITEN waren zehn Wochen eingeplant,<br />

doch war "Arch of Triumph" nach sechzehn Wochen immer<br />

noch vor den Kameras, <strong>als</strong> so etwas wie eine genervte<br />

Hetze einsetzte, alle Szenen mit <strong>Ingrid</strong> noch zu filmen, bevor<br />

sie Ende September nach New York wechselte, um dort mit<br />

den Pr<strong>ob</strong>en zu einer andern Joan zu beginnen. Zur selben Zeit<br />

machte sich Petter auf, seine Verwandten in Schweden zu besuchen.<br />

Enterprise lud noch zu einer Abschiedsparty für <strong>Ingrid</strong>,<br />

bei welcher Lewis Milestone die zwischen den Lindströms herrschende<br />

Spannung auffiel.<br />

Milestone bewunderte Petters Hingabe an seine medizinischen<br />

S<strong>tu</strong>dien. "Aber Lindström hatte einige veraltete europäische<br />

Ideen. Wie er es sah, hatte er seinen Namen einem<br />

armen Waisenmädchen geschenkt (das diesen, wie Milestone<br />

hätte hinzufügen können, nie benutzte), und das ihm nun für<br />

den Rest seines Lebens zu Dank verpflichtet war. Er machte<br />

dauernd Anspielungen – er war der solide Bürger, der ein armes<br />

verlassenes Kind rettete. Er liess sie dies nie vergessen.<br />

Aber wie lange kannst du von der Dankbarkeit leben?" Nicht<br />

viel länger, wie es schien: einige Tage vor ihren Abreisen verlangte<br />

<strong>Ingrid</strong> nochm<strong>als</strong> die Scheidung von Petter, und wieder<br />

wischte er die Sache vom Tisch. Vielleicht weil die Capa-Affäre<br />

so mühsam und aussichtslos war – und weil, woran Petter sie<br />

immer erinnerte, sie die Kapazität nicht hatte, ihre geschäftlichen<br />

Angelegenheiten selbst zu verwalten – gab sie nach.<br />

AM 1. OKTOBER BEZOG INGRID SUITE 2606 im<br />

Hampshire House, Central Park South, und vier Tage später<br />

spazierte sie glücklich zur ersten Pr<strong>ob</strong>e für "Joan of Lorraine"<br />

317


im Alvin Theater an der West Fifty-second Street. "Endlich<br />

spielte ich Jeanne. Ich verlor mich in dieser Rolle vollständig<br />

und vergass meine innere Einsamkeit, denn während mein<br />

Berufsleben erfüllt und aufregend verlief, war mein Leben zuhause<br />

zurückgezogen und leer."<br />

Vom siebten Lebensjahr an war die Jungfrau von Orléans<br />

ihre historische Lieblingsfigur, und zur Vorberei<strong>tu</strong>ng auf<br />

die Rolle, nach der sie sich so lange gesehnt hatte, las <strong>Ingrid</strong><br />

alles, was sie zum Thema finden konnte. Dabei vertiefte sich<br />

ihre Identifikation mit dem Mädchen, das mit 19 Jahren sterben<br />

musste, zusehends. "Sie war eine einfache Bäuerin", erzählte<br />

<strong>Ingrid</strong> einem Autor Jahre später, "und sie begriff nicht<br />

sehr viel von dem, was mit ihr geschah. Aber sie blieb ihren<br />

Stimmen treu, treu dem geheimnisvollen Rufen in ihr. Wie sie<br />

mit all diesen gelehrten Männern umging! Und ihr Mut bis in<br />

den Tod! Sie hatte viel gesunden Menschenverstand!" Das waren<br />

natürlich genau die Qualitäten, die <strong>Ingrid</strong> in sich selbst<br />

stärken wollte: Einfachheit in der Kunst und im Leben, Treue<br />

zu ihrer Berufung, der Wille, tapfer zu sein.<br />

Allerdings hatte <strong>Ingrid</strong> weder Aspirationen auf Heiligkeit,<br />

noch wäre sie an einer ordentlichen Definition derselben<br />

interessiert gewesen. Stattdessen kniete sie auf Max Anderson<br />

herum (genau wie der Charakter von Mary Grey, die sie in den<br />

Zwischenakten spielen würde), er möchte sich an den wahren<br />

Lebenslauf von Jeanne halten und sie nicht zur Botschafterin<br />

seiner persönlichen politischen Auffassungen machen. Anderson<br />

hörte ihr zu, änderte nach ihren besonderen Wünschen<br />

und blieb hart, wo es ihm nötig erschien.<br />

Eine Woche nach <strong>Ingrid</strong>s Ankunft tauchte B<strong>ob</strong> Capa in<br />

New York auf, und bis Petter Ende Okt<strong>ob</strong>er von seinem Urlaub<br />

aus Schweden zurück war versuchten Capa und <strong>Ingrid</strong>, eine<br />

sterbende Glut zu schüren. Diesmal entschied <strong>Ingrid</strong>, die beste<br />

Art, sich vor unerwünschter Publizität zu schützen, sei es, sich<br />

ganz offiziell mit B<strong>ob</strong> in der Öffentlichkeit zu zeigen. Ihr Instinkt<br />

traf den Nagel auf den Kopf: nachdem sie sich an einem<br />

gut sichtbaren, zentral gelegenen Tisch im trendigen Nachtcafé<br />

318


Society am Sheridan Square zeigten, gingen die Reporter davon<br />

aus, dass die Schauspielerin und der Fotograph befreundet<br />

seien, und nichts weiter; so umschiffte das Paar die Klatschspalten.<br />

Übrigens war die überwiegende Mehrheit der Amerikaner<br />

sowieso der Meinung, <strong>Ingrid</strong> sei über jeden Verdacht<br />

erhaben – war sie doch eben dabei, sich eher wie eine Heilige<br />

am Broadway zu reinkarnieren.<br />

"Joan of Lorraine" war für eine sehr einfache Bühneninszenierung<br />

geschrieben, mit einem Minimum an Requisiten und<br />

keinen ausgeklügelten Arrangements, so dass das Spiel leicht<br />

von der Pr<strong>ob</strong>ebühne zur Aufführungsplattform wechseln konnte.<br />

Aber so wirtschaftlich das Konzept auch war, waren die<br />

Leis<strong>tu</strong>ngen von Margo Jones – einer Dame mit einer einzigen<br />

Regieerfahrung auf ihrem Konto – für den Autor und seine<br />

Produzenten inakzeptabel, sodass sie noch vor der Premiere<br />

durch Cast-Mitglied Sam Wanamaker und Max' Sohn Alan Anderson<br />

ersetzt wurde. Obschon sich die Si<strong>tu</strong>ation schnell verbesserte,<br />

war <strong>Ingrid</strong> entsetzt darüber, wie Jones Knall auf Fall<br />

entlassen wurde.<br />

Ein viel ernsteres Pr<strong>ob</strong>lem verschaffte ihr weniger Ärger,<br />

<strong>als</strong> die Gesellschaft Ende Okt<strong>ob</strong>er in Washington D.C. zu<br />

einer Vor-Broadway-Aufführung im Lisner-Auditorium der<br />

George Washington-Universität eintraf. Während den Tagen<br />

vor der Premiere demonstrierten vor dem Theater Vertreter<br />

der Southern Conference of Human Welfare und des American<br />

Veterans Committee gegen die gängige Politik in Washington,<br />

wonach Eintrittskarten nur an Weisse abgegeben wurden. Petter,<br />

der seine Frau von New York hierher begleitete, erkundigte<br />

sich bei Joe Steele über die geltende Praxis und erfuhr dabei,<br />

dass die farbige Bevölkerung tatsächlich von diesem Theater<br />

ausgeschlossen sei. "So läuft das seit Jahren", sagte Max Anderson<br />

am Nachmittag, "und es gibt nichts, was wir dagegen<br />

<strong>tu</strong>n könnten." <strong>Ingrid</strong> stellte sich auf den Standpunkt: "Ich bin<br />

hier um Jeanne zu spielen und habe mit Theaterregeln nichts<br />

zu schaffen."<br />

319


Um jeder möglichen kontraproduktiven Publizität für <strong>Ingrid</strong><br />

und das Stück zuvorzukommen, veranlasste Steele sie,<br />

sich öffentlich gegen die herrschende Diskriminierungspraxis<br />

auszusprechen. Steeles Plan funktionierte und der redaktionelle<br />

Bericht summte durch die Drähte:<br />

320<br />

<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> erklärte heute Abend, dass sie nicht<br />

zur Dienstags-Premiere von "Joan" erschienen wäre,<br />

hätte sie gewusst, dass Schwarze von der Vorstellung<br />

ausgeschlossen sind.<br />

Sie sagte, sie hätte erst vor zehn Tagen erfahren, dass<br />

die George Washington-Universität ihre bisherige Politik<br />

der Nichtzulassung von Schwarzen bestätigt habe...<strong>als</strong><br />

es bereits zu spät war, die bereits erteilten Zusagen für<br />

den Auftritt zurückzunehmen.<br />

"Ich bedaure Rassendiskrimination in jeder Form", betonte<br />

sie an einer Pressekonferenz, "und zu denken,<br />

dies ausgerechnet in unserer Hauptstadt!"<br />

"Ich hätte nie geglaubt, dass es in den Vereinigten<br />

Staaten Orte gibt – Unterhal<strong>tu</strong>ngsstätten, die für alle<br />

Leute da sind – zu welchen nicht jedermann Zutritt<br />

hat."<br />

Es sollte noch fast zwanzig Jahre dauern, bevor die<br />

Vereinigten Staaten die Gleichberechtigung einführten, aber<br />

Steele war gewitzt genug, seiner Klientin klarzumachen, dass<br />

ihre ursprüngliche Gleichgültigkeit in dieser Frage ihrem<br />

Image Schaden zufügen könnte. Eher dieser Aspekt, <strong>als</strong> der<br />

moralische überzeugte sie. Larry Adler erinnerte sich an eine<br />

ähnliche Si<strong>tu</strong>ation beim Streik einer Gewerkschaft in Hollywood<br />

während der Produktion von "Notorious": <strong>Ingrid</strong> durchbrach<br />

eine Pikettlinie und demoralisierte so ein Kontingent der<br />

belagerten Arbeiter. "Larry, ich bin Schauspielerin, ich habe<br />

mit diesem Streik nichts zu <strong>tu</strong>n", entgegnete sie auf seine<br />

Vorhal<strong>tu</strong>ngen, "meine Pflicht ist es, einen Film zu machen."<br />

Später waren sich Adler und Lindström in ihrem Erstaunen<br />

darüber einig, dass sie sozialen Pr<strong>ob</strong>lemen gegenüber, die


über die reine Politik hinausgingen, ihr Leben lang derart indifferent<br />

sein konnte.<br />

Capa, der auf dem Weg zu seinem Auftragsziel in der<br />

Türkei war, sandte <strong>Ingrid</strong> zur Premiere in Washington eine<br />

einzelne weisse Rose. "Meine weisse Rose habe ich nahe bei<br />

mir", kabelte sie zurück. Aber emotional war er ihr weit weniger<br />

nah. Wie viele Liebhaber, die fürchten, ihr sukzessiver<br />

Rückzug werde nicht durch einen verzweifelten Kampf beantwortet,<br />

begann er sich Gedanken zu machen. "London ist so<br />

ruhig und leer", schrieb er <strong>Ingrid</strong> eine Woche danach, "aber<br />

Europa ist so viel realer und erfrischender nach den Staaten.<br />

Wann immer ich eine Bar besuche, ein Theater oder einen<br />

Spaziergang durch die vernebelten Strassen mache, will ich<br />

dich neben mir sehen." Aber seine Unfähigkeit, aus ihr etwas<br />

mehr <strong>als</strong> eine Mätresse zu machen, und ihre Weigerung, ihre<br />

Karriere aufzugeben um mit ihm um die Welt zu tingeln, haben<br />

ihren Tribut verlangt; die Beziehung sollte nicht mehr lange<br />

dauern, doch konnte <strong>Ingrid</strong> die Umstände noch nicht erahnen,<br />

unter welchen sie zu Ende ginge.<br />

AM 18. NOVEMBER HATTE "JOAN OF LORRAINE" im<br />

Alvin in New York Premiere und fügte sich damit in eine bemerkenswerte<br />

Broadway-Saison ein, die insgesamt neunundsiebzig<br />

neue Programme umfasste (u.a. "State of the Union",<br />

"Born Yesterday" und "The Iceman Cometh"), dreizehn Music<strong>als</strong><br />

(u.a. "Call Me Mister" und "Annie Get Your Gun"), zwei<br />

Revuen, sieben Einmann-Shows oder Bühnen-Lesungen und<br />

elf Klassik-Reprisen.<br />

Die New Yorker Kritiker lagen mit ihren Kritiken buchstäblich<br />

auf den Knien vor <strong>Ingrid</strong>: "Sie gehört zu den wenigen<br />

ganz Grossen im Reich des 'Make Believe'", war einer der typischen<br />

Tribute, die <strong>Ingrid</strong> gezollt wurden. "Der Glanz von Miss<br />

<strong>Bergman</strong>s Spiel ist über jeden Zweifel erhaben" schrieb Brooks<br />

Atkinson. "Ihre Gaben haben sich vervielfältigt und entfaltet<br />

seit 'Liliom' und Miss <strong>Bergman</strong> hat eine seltene Reinheit des<br />

Geistes und eine unvergleichliche Grösse ins Theater gebracht.<br />

321


. .. Sie ist eine hinreissend attraktive Jungfrau mit Stolz, Grazie<br />

und einem einmalig leuchtenden Lächeln . . . Ihre Erscheinung<br />

ist ein theatralisches Ereignis von grösster Bedeu<strong>tu</strong>ng . "<br />

- und so delirierte Atkinson in zwei überlangen Beiträgen in<br />

der Times, indem er ihr einen festen Platz in der Liga von Katharine<br />

Cornell und Helen Hayes einräumte. Sogar 'The New<br />

Yorker' überbot sich: "Sie gestaltete ein Spiel, das in der heutigen<br />

Theaterwelt seinesgleichen sucht."<br />

Bei der Beurteilung ihrer Leis<strong>tu</strong>ngen in dieser Saison<br />

dürfen wir nicht vergessen, dass sie ein enormes Risiko einging<br />

– vor allem weil das gebildete New Yorker-Publikum, sosehr<br />

es ihr <strong>als</strong> Filmstar gewogen sein mochte, notorisch nörglerisch<br />

war bezüglich der "Echtheit" des wirklichen (sprich:<br />

Theater-) Schauspiels. An die kleinen Szenenstückchen mit<br />

den wenigen Textzeilen gewohnt, die sie vor der Kamera spielte,<br />

musste sie nun die komplette Rolle einschliesslich aller<br />

Längen und komplexen Texte auswendig beherrschen – dazu<br />

noch in einer Sprache, die nicht die ihre war. Achtmal wöchentlich<br />

(und ohne die Wohltat des Körpermikrophons, das<br />

erst Jahrzehnte später in Gebrauch kam) musste <strong>Ingrid</strong><br />

Andersons poetische Prosa rezitieren und die richtigen Farben<br />

in ihrer Stimme finden.<br />

Aber das war mehr <strong>als</strong> nur ein J<strong>ob</strong> für sie: es war die<br />

Erfüllung einer langersehnten Hoffnung. "Ich wollte schon immer<br />

Jeanne spielen", verkündete sie jeden Abend mit der<br />

Stimme von Mary Grey – ein Text, der von Anderson erst in<br />

seinen letzten Revisionen eingefügt wurde, <strong>als</strong> ihm klar war,<br />

dass Mary und <strong>Ingrid</strong> wirklich ein und dieselbe Person seien.<br />

"Ich habe sie s<strong>tu</strong>diert und mein Leben lang über sie gelesen.<br />

Sie hat für mich eine Bedeu<strong>tu</strong>ng. Sie bedeutet, dass alles Wesentliche<br />

im Leben durch den Glauben zustandekommt – dass<br />

alle die massgeblichen Köpfe dieser Welt Träumer sind, die<br />

ihre Visionen haben. Die Realisten und Leute mit gesundem<br />

Menschenverstand sind machtlos." Während sie in klingenden<br />

Kadenzen ihren Schlussmonolog sprach, verhielt sich das Publikum<br />

im Alvin ausnahmslos still wie in der Kirche:<br />

322


"Ich glaube, meine Visionen seien gut", erklärte sie,<br />

und <strong>Ingrid</strong> hätte dabei ohne weiteres an ihre eigenen Gaben<br />

denken mögen. "Ich weiss, sie sind gut, aber ich weiss nicht,<br />

wie sie zu verteidigen. Wenn ich vor Gericht gestellt werde<br />

und beweisen muss, was ich glaube, wie soll ich beweisen,<br />

dass sie gut und nicht schlecht sind? Ja, und ich frage mich<br />

selbst, <strong>ob</strong> ich immer ehrlich war, denn wenn ich bei den Menschen<br />

war, spielte ich eine Rolle . . . Wenn ich mit meiner eigenen<br />

Stimme sprach, hörte niemand zu, hörte mich niemand<br />

. . . War es denn ehrlich, Wege zu beschreiten, die nicht die<br />

meinen waren? Ich weiss, darauf gibt es keine Antwort."<br />

Jeanne d'Arcs Dilemma hatte eine moderne Resonanz<br />

in <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Dilemma, deren Leben sich grundlegend<br />

veränderte, während sie die Monotonie von 199 Vorstellungen<br />

zwischen November 1946 und Mai 1947 durchstand. An der<br />

Premieren-Party im Astor Hotel musste sich <strong>Ingrid</strong> mehrfach<br />

aus der Menge von Gästen und Bewunderern zurückziehen.<br />

Kay und Ruth folgten ihr jedesmal und berichteten Petter und<br />

Joe, es gehe ihr gut und sie werde bald zurück sein. Was sie<br />

verschwiegen, war, dass sie sie im Ladies Room in einen Sessel<br />

gekrümmt weinend vorfanden.<br />

"JOAN OF LORRAINE" WURDE SCHNELL ZU EINEM HIT<br />

der Broadway-Saison und seine sechsmonatige Laufzeit hätte<br />

ohne weiteres verlängert werden können. Mag diese Erfahrung<br />

für <strong>Ingrid</strong> auch wundervoll gewesen sein, so war sie dennoch<br />

nicht ungetrübt: die physischen und psychischen Anforderungen<br />

von acht Vorstellungen die Woche, die Komplikationen bei<br />

Krankheit oder Liebeskummer, die Ungewissheit ihrer Zukunft<br />

in Hollywood und die ihrer Ehe – all das führte zu einer nervlichen<br />

Belas<strong>tu</strong>ng, mit der sie während des ganzen Jahres zu<br />

kämpfen hatte. Wie sich Ruth, Joe und Kay erinnerten, schien<br />

<strong>Ingrid</strong> dam<strong>als</strong> unfähig, einen Moment still zu sitzen.<br />

Aber wenigstens für kurze Zeit war sie dazu gezwungen.<br />

Der Winter 1947 ging <strong>als</strong> einer der schlimmsten in die<br />

Wetterstatistik des Landes ein, und eine schlimme Grippe-<br />

323


Epidemie erfasste Millionen von Menschen, die sich abmühten,<br />

mit endlosen Folgen von Stürmen und Frostperioden fertig zu<br />

werden. <strong>Ingrid</strong> war stark, aber nicht immun; verschiedene<br />

Vorstellungen im Januar mussten abgesagt werden, <strong>als</strong> aus<br />

einem leichten Husten eine fiebrige Erkäl<strong>tu</strong>ng und schliesslich<br />

eine ernsthafte Laryngitis wurde. Mit Schüttelfrost nahm sie<br />

anfangs Januar im Bett einen Anruf des schwedischen Konsuls<br />

entgegen: in Stockholm hatte ihr der König Schwedens höchste<br />

Auszeichnung verliehen – die Goldmedaille "Litteris et<br />

Artibus" für ihr herausragendes Schauspiel und die ehrenvolle<br />

Art und Weise, wie sie schwedische Kunst in den Vereinigten<br />

Staaten verkörperte."<br />

Weitere Auszeichnungen folgten dieses Jahr in schneller<br />

Folge: der Drama League und der Antoinette Perry (Tony)<br />

Award für die beste Schauspielerin des Jahres; der grosse<br />

Preis des Film-Festiv<strong>als</strong> Venedig <strong>als</strong> beste Darstellerin (in<br />

"Spellbound" , welcher Film nach dem Krieg zu einer verspäteten<br />

Europäischen Erstaufführung kam); und zahlreiche Preise<br />

von Magazinen, Zei<strong>tu</strong>ngen, zivilen und kirchlichen Organisationen.<br />

Es ist keine Übertreibung, wenn man feststellt, dass<br />

<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> dam<strong>als</strong> die am wenigsten polarisierende,<br />

weitaus beliebteste Berühmtheit Amerikas war; ja, die ganze<br />

westliche Welt befleissigte sich, ihren Namen auf die Liste der<br />

grössten Idole und verehrtesten Persönlichkeiten zu setzen.<br />

IN DEN VEREINIGTEN STAATEN BEGANN NUN <strong>als</strong> Folge<br />

der nach dem zweiten Weltkrieg unvermittelt aufgetretenen<br />

unseligen Zeit des religiösen Eifers eine schreckliche moralische<br />

Selbstgefälligkeit mit der entsetzlichen Grippewelle des<br />

Jahres um die höchste Zahl der Infizierten zu kämpfen. Überall<br />

waren die Wachhunde der öffentlichen Moral – Geistliche, die<br />

oft den Bezug zur Bedeu<strong>tu</strong>ng des Glaubens verloren hatten<br />

und Politiker ohne jedes staatsmännische Talent – auf dem<br />

Posten um auszulegen, anzuzeigen, zu verurteilen, zu zerstören.<br />

Anschuldigungen auf Verhetzung und Verrat wurden verbreitet<br />

wie Handzettel an die Passanten, und Schreie der Ent-<br />

324


üs<strong>tu</strong>ng wurden in Presse und Radio vernommen, wann immer<br />

eine Berühmtheit sich scheiden liess, beschwipst in einem Lokal<br />

gesehen wurde oder ihre Meinung zu etwas Ernsterem <strong>als</strong><br />

der Mode der Saison äusserte. Der puritanische Geist, der im<br />

amerikanischen Leben nie weit unter der Oberfläche lauert,<br />

war selbstsicher im Angriff, w<strong>ob</strong>ei die Reichen und Berühmten<br />

immer eine willkommene Zielscheibe boten. Wäre 1947 etwas<br />

von <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Privatleben an die Öffntlichkeit gedrungen,<br />

wäre ihr Stern schnell verblasst und sie wäre womöglich<br />

noch ausser Landes verjagt worden.<br />

Aber auch Puritaner brauchen rechtschaffene Leute <strong>als</strong><br />

Vorbilder (eine spätere Generation nannte sie 'role models'),<br />

und vorderhand schien <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> dieser Aufgabe zu genügen.<br />

Unter verschiedenen erstaunlichen Anfragen, die dieses<br />

Jahr an sie herangetragen wurden, ist eine <strong>als</strong> typisch zu<br />

bezeichnen.<br />

Ein Geistlicher aus Philadelphia erschien in New York,<br />

machte Joe Steele ausfindig und fragte, <strong>ob</strong> es nicht zu arrangieren<br />

wäre, dass <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> für eine Büste der Heiligen<br />

Jeanne d'Arc posieren würde, die vor seiner Gemeindekirche<br />

aufgestellt werden sollte. Ohne Rücksprache mit seiner Kundin<br />

antwortete Joe respektvoll, sie sei immerhin eine Schauspielerin;<br />

die Anfrage scheine ihm daher - nun, vielleicht nicht hundertprozentig<br />

angemessen. Als Joe <strong>Ingrid</strong> davon erzählte, war<br />

sie eher entsetzt <strong>als</strong> belustigt: angenommen, sie würde einmal<br />

öffentlich denunziert oder ein Hauch von einem Skandal bekannt!<br />

Allein der Gedanke daran, dass die Büste der Jeanne<br />

d'Arc in Philadelphia von ihrem Sockel gestürzt und in Stücke<br />

zerschmettert würde, wäre für sie unerträglich.<br />

Die gelegentliche Anwesenheit von R<strong>ob</strong>ert Capa im Dezember<br />

und anfangs Januar im Leben von Amerikas<br />

unkanonisierter Heiligen hätte dem Feind genügend Munition<br />

zu <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Zerstörung geliefert. Mehrfach begleitete<br />

er <strong>Ingrid</strong> von der Bühne bis zu ihrer Hotelsuite, aus welcher er<br />

dann S<strong>tu</strong>nden später – knapp vor Morgengrauen – unbehelligt<br />

entkommen konnte. Aber nicht alle ihre Rendez-vous waren<br />

325


ekstatisch. "Er weiss, wir schliessen das Kapitel ab", schrieb<br />

<strong>Ingrid</strong> an Ruth. "Wir trinken unsere letzten Flaschen Champagner.<br />

Ich reisse ein mir sehr liebes Stück aus meinem Leben,<br />

aber wir lernen beide und machen eine saubere Operation,<br />

damit beide Patienten für alle Zeiten danach glücklich leben<br />

können."<br />

Allerdings, soweit es den echten Chirurgen in ihrem Leben<br />

betraf, war die Prozedur nicht so pr<strong>ob</strong>lemlos. Nicht lange<br />

nach Capas letzter Liebesnacht mit <strong>Ingrid</strong> rannte er Petter in<br />

die Arme. Die Berichte darüber divergieren je nach Autor etwas;<br />

Ehemann, Frau und Liebhaber bringen es zusammen auf<br />

mindestens acht Versionen über Zeit und Ort, wo sich die beiden<br />

Männer begegneten. Das wahrscheinlichste Szenario war<br />

die zufällige Begegnung später in jenem Winter in Sun Valley,<br />

wo Capa und Lindström ein paar Urlaubstage verbrachten. Eines<br />

Tages erteilte Capa Lindström auf der Piste einen guten<br />

Rat bezüglich seines Fahrstils, den er aber ablehnte, worauf<br />

Capa hinzufügte, dass auch <strong>Ingrid</strong> Ferien nötig hätte – sie sei<br />

ihm in New York so blass und müde vorgekommen.<br />

Mit diesem Ausrutscher Capas wusste Petter natürlich<br />

Bescheid über alles, und <strong>als</strong> er <strong>Ingrid</strong> spät an diesem Abend<br />

noch anrief, gestand sie ihm alles freimütig. Nun war es an<br />

Petter, die Scheidung zu verlangen, was sie aber sofort ablehnte<br />

und ihrem Mann auch das erzählte, worüber Capa geschwiegen<br />

hatte: dass die Affäre Geschichte war. <strong>Ingrid</strong> war<br />

auch nicht Willens, Mann und Liebhaber zu verlieren und mit<br />

ihnen das letzte Stück emotionaler Sicherheit – ganz zu<br />

schweigen von den Risiken für ihre Karriere (da Petter bestimmt<br />

auf Ehebruch klagen würde).<br />

Wenige Tage nach ihrem Gespräch mit Petter, während<br />

welchem er ihr auch ein Treueversprechen abgerungen hatte,<br />

öffnete <strong>Ingrid</strong> die Tür zu ihrer Theatergarder<strong>ob</strong>e und stand vor<br />

Victor Fleming. Seit der Beendigung von "Dr. Jekyll und Mr.<br />

Hide" vor sechs Jahren hatte sie ihn nur gelegentlich gesehen,<br />

bei Parties oder Filmanlässen. Ihre Vernarrtheit war inzwischen<br />

natürlich abgekühlt – nicht aber ihre Erinnerung an sein Talent<br />

und seine dominante Art.<br />

326


Nun hatte sich das Blatt gewendet. Fleming, der ihre<br />

Vorstellung an diesem Abend besucht hatte, empfing <strong>Ingrid</strong><br />

mit einer festen Umarmung. Sie sei brilliant gewesen, meinte<br />

er, ohne seinen Griff an ihr zu lockern; sie sei wunderschön,<br />

strahlend, leuchtend, duftend – seine Worte sprudelten daher<br />

wie Auszüge aus einer Revue. Sie sei Jeanne, fuhr er fort, und<br />

er wolle sie <strong>als</strong> Jeanne unsterblich machen durch die Regie<br />

eines entsprechenden Films mit ihrer Mitwirkung. Das sei zu<br />

schön zu glauben, zweifelte <strong>Ingrid</strong>. Ob er das wirklich<br />

zustandebrächte?<br />

Sie müssten es zustandebringen - und zwar bald, meinte<br />

Fleming, indem er ihren alten Übernamen 'Engel' wieder<br />

aufnahm, nur jetzt in leidenschaftlichem Tonfall. Unter andern<br />

murmelte auch David Selznick, dass er endlich noch ein St.<br />

Joan-Epos produzieren werde; Fleming und <strong>Bergman</strong> mussten<br />

daher <strong>als</strong> Erste am Startpunkt sein. Beim Abendessen eröffnete<br />

Fleming ihr seine Pläne und <strong>Ingrid</strong> fühlte, wie ihre alten Gefühle<br />

für Victor Fleming wieder erwachten. Ihr Wiedersehen<br />

erinnerte sie an nichts so sehr, wie an Jekyll/Hydes Ouvertüren<br />

zu Ivy im Palace of Frivolities – eine Szene voll von Champagner<br />

und Versprechungen, von Aufregung und Gefahr. Im Bewusstsein,<br />

wie leicht Hollywood die Geschichte einer Heiligentrotz-ihrer-selbst<br />

sabotieren konnte, sehnte sich <strong>Ingrid</strong> danach,<br />

Jeanne auch im Film zu portraitieren; <strong>ob</strong>wohl auf der Hut<br />

vor Flemings leidenschaftlicher Entschlossenheit, war sie auch<br />

verletzlich und sehr einsam.<br />

*) Mit Blick auf den Fiskus gründete <strong>Ingrid</strong> separat eine eigene Gesellschaft,<br />

die sie 'EN Productions' nannte ("en" = Schwedisch "eins"),<br />

ihre Idee, weil sie persönlich praktisch <strong>als</strong> einziges Aktivum den inneren<br />

Wert der Gesellschaft repräsentierte. Walter Wanger übernahm<br />

offiziell das Präsidium, <strong>Ingrid</strong> war die Vizepräsidentin, Petter der Sekretär<br />

und selbstredend der Schatzmeister; und <strong>Ingrid</strong>s pro forma-<br />

Anwalt ein Direktor.<br />

327


Selbstverständlich konsultierte <strong>Ingrid</strong> zuerst ihren Ehemann<br />

– der einen herzlichen Brief an Fleming abfeuerte mit<br />

der Bitte, schnell zu handeln, weil Petter bereits ein Angebot<br />

der Paramount S<strong>tu</strong>dios abgelehnt hatte und nun mit Regisseur<br />

William Wyler wegen eines Films über Jeanne im Gespräch<br />

war. Dies verfehlte den gewünschten Effekt nicht. Zunächst<br />

machte Fleming ein Angebot, das Petter nicht zurückweisen<br />

konnte: mit dem unabhängigen Produzenten Walter Wanger<br />

würden Victor Fleming und <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> unter dem Namen<br />

einer eigenen Produktionsgesellschaft des Trios (sie könnte<br />

Sierra Films heissen) arbeiten, und zusätzlich zum Salär von $<br />

175'000 würden die Lindströms – die Lindströms! nicht <strong>Ingrid</strong><br />

<strong>Bergman</strong> – den Hauptanteil am Reingewinn des Films erhalten.*)<br />

"Er musste vorab einmal $ 9 Mio einbringen, bevor ich<br />

einen Penny hätte erhalten können", sagte <strong>Ingrid</strong> später, <strong>als</strong><br />

sie ihre Verluste zu beziffern versuchte. "Nun, es sah ja ganz<br />

gut aus auf dem Papier und es hätte mir sicher eine schöne<br />

Beerdigung finanziert!" Schliesslich erklärte Fleming, er richte<br />

ein Büro ein in einer Suite, die er im Hampshire House gemietet<br />

habe, sodass er die Vorarbeiten mit <strong>Ingrid</strong> unverzüglich<br />

aufnehmen konnte. Petter bot an, für ein Wochenende nach<br />

New York zu fliegen, um die Vertragseinzelheiten mit Fleming<br />

zu besprechen.<br />

Und dann, mit der ganzen Hast eines ungestümen jungen<br />

Liebhabers, veröffentlichte Fleming ein Presse-Communiqué.<br />

Noch bevor die Verträge unterzeichnet waren kündigte<br />

er einen neuen Film über "Joan of Lorraine" mit <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong><br />

an; tatsächlich hatte er noch nicht einmal die Rechte an<br />

Andersons Stück erworben. Auch Flemings überstürztes Communiqué<br />

hatte aber den erwünschten Effekt: in Anbetracht von<br />

<strong>Ingrid</strong>s Broadway-Erfolg und der damit verbundenen nationalen<br />

Publizität stoppten die Hollywood-Konkurrenten unverzüglich<br />

alle weiteren Pläne für einen rivalisierenden Film zum gleichen<br />

Thema.<br />

328


FLEMINGS MIT LEIB UND SEELE betriebene Aktivitäten<br />

fanden plötzlich eine Erweiterung, indem <strong>Ingrid</strong> bald jede<br />

Nacht mit Victor verbrachte, der nun nicht mehr Fantasie-<br />

Liebhaber war, sondern das echte Ding. Er war vierundsechzig,<br />

sie einunddreissig, aber er umgab sie mit einer Art besitzergreifendem<br />

Eifer und überzeugte sie davon, dass nur er – der<br />

sie zu einer derart brillianten Darstellung der Ivy brachte – sie<br />

in der Rolle ihrer geliebten Jeanne unsterblich machen konnte.<br />

Fleming bestand darauf, dass nur er <strong>Ingrid</strong>s Beziehung zur<br />

Jungfrau verstand, die sich – ihren inneren Stimmen folgend –<br />

von ihrer Umwelt isolieren musste, um ihren Auftrag zu erfüllen.<br />

Indem er sie wie ein Vater belehrte, verfuhr Fleming mit<br />

ihr wie mit der ersten Liebe.<br />

Tagsüber traf sich Fleming mit Forschern, Regisseuren<br />

und Grafikern; gelegentlich sah <strong>Ingrid</strong> rasch vorbei, aber oft<br />

streifte sie durch die Stadt, besuchte Gallerien und Museen,<br />

gab ihr Taschengeld von zuhause für eine gelegentliche Erweiterung<br />

ihrer Garder<strong>ob</strong>e aus und pr<strong>ob</strong>te für einige Sonntagabend-Radiodramen,<br />

an welchen sie diese Saison teilnahm.<br />

Nach ihren Vorstellungen kehrte sie zu Suite 2606 zurück, wo<br />

sich Victor – acht Stockwerke über ihr - auf der Stelle am Telefon<br />

meldete; Momente später waren sie am einen oder andern<br />

Ort beisammen, wo sie zunächst ein kaltes Abendessen mit<br />

Champagner teilten und dann das Bett.<br />

Kay Brown, die ihre Freundin sehr oft sah, sagte von<br />

ihr: "<strong>Ingrid</strong> verändert sich – verändert sich rasch. Sie ist nicht<br />

mehr, was sie einst war. Und sie weiss das auch, wie sie selbst<br />

sagte." Wie Kay feststellte, erwartete <strong>Ingrid</strong> nun viel mehr von<br />

ihrem Leben <strong>als</strong> das Haus im Benedict Canyon und einen oder<br />

zwei Filme pro Jahr; "Joan of Lorraine" stellte eine Zäsur in<br />

ihrem Leben dar, aber es gab keine Garantie für weitere Arbeit<br />

an der Bühne.<br />

Sie wusste nicht, womit sie das Theater und Hollywood<br />

nach "Joan" ersetzen sollte. Sollte sie vielleicht wieder in Europa<br />

arbeiten? Nein, die Nachkriegsverhältnisse waren entsetzlich;<br />

wo und wie sollte sie im Ausland leben? Wie alle Men-<br />

329


schen, die sich in einem raschen Wandel befinden, bestand sie<br />

nur noch aus Widersprüchen: hatte sie die Trossen, die sie nun<br />

wärend einer Dekade mit dem komfortabeln Leben verbunden<br />

hatten, gekappt, war auch kein anderes sicheres Land in Sicht.<br />

Bei all ihrer Sehnsucht nach Freiheit war sie auf die Sicherheit<br />

und Führung angewiesen, die ihr ein starker Mann bieten<br />

konnte – wie jetzt eben Victor Fleming.<br />

Aber diese jüngste Intimität war anders, was auch Kay<br />

bemerkt haben mag. Ohne Kälte oder Berechnung begann <strong>Ingrid</strong><br />

ein anderes Verhältnis zu ihren Liebhabern zu entwickeln.<br />

Die Distanz von zuhause und Hollywood gab ihr Perspektiven,<br />

und ihre Erfahrungen mit drei Männern in weniger <strong>als</strong> zwei<br />

Jahren gaben ihr ein Selbstvertrauen, wie sie es nie zuvor<br />

kannte. Capa, Adler und Fleming führten sie <strong>als</strong> Mentoren zu<br />

neuen Aspekten des kreativen Lebens. Jeder brachte einen<br />

frischen Wind in ihr Leben von der Art, wie er nur von einem<br />

Mann mit Ideen kommen kann – von da an schätzte sie diese<br />

Qualität an Ehemännern, Kollegen und Freunden am meisten.<br />

Ihr Vater war natürlich der erste Mann dieser Art für<br />

sie, und sein Tod raubte ihr die einzige solide, stabile Beziehung<br />

ihres Lebens vor Petter. Der Verlust ihrer Eltern, von<br />

Tante Ellen, Onkel Otto, der seltsame Charakter von Tante<br />

Mutti, von der sie durch den Kriegsausbruch gewaltsam getrennt<br />

wurde – all das bestärkte sie im Glauben, dass keine<br />

menschliche Verbindung von Dauer sein konnte, man sich auf<br />

keine verlassen konnte. Scheu und unbeholfen fand sie ihren<br />

Halt in der öffentlichen Akzeptanz ihrer aussergewöhnlichen<br />

Leis<strong>tu</strong>ngen. Ihre Herzensbindungen waren wie Szenen im Film<br />

ihres Lebens – wertvoll im Moment, aber es war kein Verlass<br />

auf ihre Dauerhaftigkeit. Vielleicht würde die ultimative Analyse<br />

ergeben, dass die Art ihrer Romanzen nicht ihrem Berufsprimat<br />

zuzuschreiben war, sondern vielmehr umgekehrt, dass<br />

sie ihrem Beruf die Priorität einräumte, weil ihr ihre menschlichen<br />

Beziehungen im entscheidenden Moment ihrer Jugend<br />

f<strong>als</strong>ch mitgespielt hatten. Schlussendlich wurde sie auch von<br />

Petter vom ersten Moment ihrer Beziehung an in der prioritären<br />

Bedeu<strong>tu</strong>ng der Pflichterfüllung bestätigt.<br />

330


IN IHREN INTIMEN BEZIEHUNGEN zu den Männern war<br />

<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> weder puritanisch noch freizügig. Aber wie es<br />

den Anschein macht, war es nicht die Sehnsucht nach Sex, die<br />

sie motivierte oder anzog, es war das Bedürfnis nach einer<br />

tiefergehenden Beziehung. Während ihres ganzen Lebens bewahrte<br />

sie sich etwas Abhängiges, Mädchenhaftes, Frisches; da<br />

war immer dieses Gefühl von Neugier auf den nächsten Tag,<br />

den nächsten Film, das nächste Stück, die nächste Reise ("Wir<br />

müssen nicht versuchen zu wiederholen, wiederherzustellen",<br />

sagt Lena Geyer im Roman von Marcia Davenport. "Alles muss<br />

vorwärtsgehen, jede Erfahrung muss eine neue sein, ein Neubeginn.").<br />

Manchmal erschien sie zurückgezogen und distanziert,<br />

aber das war die natürliche Reaktion von jemandem, der<br />

die <strong>ob</strong>erflächlichen Schmeicheleien der glotzenden Fans hasste,<br />

die keinen Hochschein davon hatten, wer sie wirklich war.<br />

<strong>Ingrid</strong> war nie humorlos oder abweisend, und während<br />

ihres ganzen Lebens fühlte sie sich erstaunlich selten verbittert.<br />

Aber ihre spannungsgeladene Na<strong>tu</strong>r, ihre ständige Suche<br />

nach allem, was ihre Fantasie und damit auch ihre Talente fördern<br />

konnte, trennte sie bisweilen von jenen Menschen, die sie<br />

liebte.<br />

Ihr Verhalten lässt vermuten, dass Sex für sie angenehm<br />

war, soweit er sich anbot, aber er konnte nie ausreichen<br />

zum Aufbau einer dauerhaften intimen Beziehung. Mit andern<br />

Worten: es wäre ihr durchaus möglich gewesen, zuviel Sex zu<br />

haben – der zur Belas<strong>tu</strong>ng jenseits jeder Vernunft hätte führen<br />

können. Sehr früh schon hatte sie erkannt, dass ihre Schönheit<br />

und strahlende Erscheinung die Männer in Massen anzog und<br />

dass sie mit ihrem Verhalten praktisch jedes Ziel hätte erreichen<br />

können. Aber das lag nicht in ihrer Na<strong>tu</strong>r. Wirklich angesprochen<br />

fühlte sie sich von Intelligenz und Witz; Angeber und<br />

sexgeile Abenteurer hatten bei ihr kurze Beine. Aber sie war<br />

auch eine Frau, die behütet, liebkost sein wollte, und wenn sie<br />

einen hellen, gefühl- und energievollen Mann fand, der auch<br />

einfühlsam trösten konnte – der war's dann. Dennoch, von<br />

1947 an veränderte sich wirklich etwas. Fortan bedeutete ihr<br />

Leidenschaft mehr <strong>als</strong> Sex: sie stand für die Freiheit, zu lernen<br />

331


und sich uneingeschränkt seiner Aufgabe widmen zu können.<br />

Wenige Liebhaber waren bereit, ihr diesen Spielraum zu gewähren.<br />

Es wäre daher ein Leichtes, ihre Beziehungen zu Capa,<br />

Adler und Fleming <strong>als</strong> leichtfertig oder isolierte Hommages an<br />

die Fleischeslust zu betrachten. Ganz im Gegenteil, ihre romantischen<br />

Verhältnisse kamen ausschliesslich in jenen Lebensabschnitten<br />

zustande, in welchen sie sich extrem einsam<br />

fühlte, und ihnen gab sie sich dann bedingungslos hin.<br />

So war es in der Saison der Fleming-Affäre 1947 – bis<br />

Petter eines Abends spät ohne Vorwarnung im Hampshire House<br />

auftauchte. Nachdem er auf sein Klopfen an ihre Tür keine<br />

Antwort erhielt, rief er instinktiv von der L<strong>ob</strong>by aus Flemings<br />

Suite an: "Hier ist Petter – kann ich <strong>Ingrid</strong> sprechen?" Er konnte.<br />

Sie verliess Flemings Raum auf der Stelle. Von ihren Erklärungen<br />

ihrem Mann gegenüber und ihrem Wiedersehen mit<br />

ihm ist nichts bekannt. Nach der geschäftlichen Besprechung<br />

mit Fleming vom darauffolgenden Nachmittag kehrte Petter<br />

nach Los Angeles zurück – wie auch sein Rivale, der in Kalifornien<br />

eine Produktionsgesellschaft zu gründen hatte.<br />

332<br />

An Bord der Santa Fe Chief schrieb Victor an <strong>Ingrid</strong>:<br />

Like a lover I love you – (I) cry accross the miles and<br />

hours of darkness that I love you – that you flood<br />

across my mind like waves across the sand. If you care<br />

– or if you don't, these things to you with love I say. I<br />

am devotedly – your foolish – ME.<br />

Und von Hollywood:<br />

Angel – Angel – why didn't I get a chain three thousand<br />

miles long with a good winding device on the end. Better<br />

quit now before I start telling you I love you – telling<br />

you Angel I love you – yes – yes – yes – it's ME.<br />

Sie war in der Tat sein Engel, und manchmal nannte er<br />

sie aus Spass auch "die Hexe", wie Jeanne von ihren Feinden<br />

genannt wurde. Für Fleming stimmte der Übername perfekt,<br />

denn sie hatte ihn betört, ihn bezaubert – er war für immer ihr


Sklave.<br />

Nachdem sie ihm telefoniert hatte, schrieb er ihr wieder:<br />

"Wie schön, deine Stimme zu hören, wie s<strong>tu</strong>mm und<br />

dumm ich werde. Wie traurig für dich. Wenn du den Hörer<br />

auflegst, tönt der Klick in meinen Ohren wie ein Schuss." Er<br />

kam noch zweimal während "Joan" lief nach New York zurück.<br />

Für <strong>Ingrid</strong> waren die letzten Wochen der Vorstellungen ermüdend,<br />

und sie spürte, wie die Energie sie verliess. "Ich bin sehr<br />

müde", schrieb sie Ruth, "zu viele Leute, zu viel Essen und<br />

Trinken in letzter Zeit. Vielleicht ist es das, was das Gefühl<br />

abtötet. Ich habe nur noch drei weitere Wochen, dann kehre<br />

ich zurück in den Käfig, sitze in der Sonne, gehorche Petter,<br />

bin nüchtern und sehe wie 18 aus."<br />

Das Stück, das gut und gerne noch um ein Jahr hätte<br />

verlängert werden könnnen, hatte am 10. Mai 1947 seine letzte<br />

Vorstellung, denn <strong>Ingrid</strong>s Vertrag lautete auf eine limitierte<br />

Laufzeit von sechs Monaten, und nun – erschöpft, wie sie war,<br />

an chronischen H<strong>als</strong>pr<strong>ob</strong>lemen vom Bühnenstaub und ihrer<br />

neuen Gewohnheit des exzessiven Rauchens leidend – war sie<br />

froh, die letzte von 199 Vorstellungen <strong>als</strong> Jeanne vor sich zu<br />

haben. Einmal mehr hatte Petter ausgezeichnete Bedingungen<br />

für sie herausgeholt ($ 1'000 pro Woche und 15 % der Bruttoeinnahmen),<br />

und seit Okt<strong>ob</strong>er hatte sie gesamthaft $ 129'082<br />

verdient. In einem Jahr, in welchem $ 5'000 für einen Amerikaner<br />

ein respektables Jahressalär darstellten, hatte sie Mühe,<br />

das zu verstehen.<br />

Zwischen der Matinée und der Abendvorstellung dieses<br />

letzten Tages versammelte sich wieder wie üblich eine Menge<br />

von vielleicht 300 Fans; während Monaten hatte die "Alvin<br />

Gang", wie sich ihre Bewunderer selbst nannten, jeden Mittwoch<br />

und Samstag einen Fanaufmarsch organisiert. Sie wollten<br />

ihr für ihre Auftritte in New York danken, immer in der<br />

Hoffnung, eine kurze Berührung, ein Autogramm oder ein Lächeln<br />

zu ergattern. Diesmal sandte sie Joe auf die Strasse, um<br />

die Leute ins Theater einzuladen, wo sie – ungekämmt, in einem<br />

kastanienbraunen Hausmantel – auf der Bühne sass und<br />

333


der schweigenden Menge dankte und dann ihre Fragen beantwortete.<br />

Als sie sich schliesslich erh<strong>ob</strong> und sagte, sie müsste<br />

jetzt gehen und in der Garder<strong>ob</strong>e vor ihrer letzten Vorstellung<br />

noch etwas zu sich nehmen, erlebte sie eine donnernde Standing<br />

Ovation.<br />

Spät am Abend organisierte <strong>Ingrid</strong> im Hampshire House<br />

für den ganzen "Joan of Lorraine"-Set eine Abschiedsparty. Sie<br />

und die Playwrights Company teilten sich in die Kosten von<br />

$ 100 für jeden Kollegen, und ihren beiden Hauptdarstellern<br />

(Sam Wanamaker und Romney Brent) überreichte sie ein graviertes<br />

Silber-Cigarettene<strong>tu</strong>i. Niemand in dieser Gesellschaft<br />

konnte sich an einen ähnlich warmherzigen und erinnerungswürdigen<br />

Abschied von einer Broadway-Produktion erinnern.<br />

TAGS DARAUF FLOG SIE ZURÜCK nach Beverly Hills, wo<br />

ihr Petter eröffnete, dass die Verhandlungen für ein Projekt<br />

nach "Joan of Arc" auf gutem Wege seien und auch gute Perspektiven<br />

für die Zeit danach offen liessen.<br />

Schon 1944 hatten David Selznicks Leute Hand auf einen<br />

Roman von Helen Simpson mit dem Titel "Under<br />

Capricorn" gelegt, der ihnen von <strong>Ingrid</strong> empfohlen wurde und<br />

der eine für sie hervorragend geeignete dramatische Rolle enthielt.<br />

Anfangs 1947 hatte Hitchcock (nun ebenfalls frei von<br />

seinen Verpflich<strong>tu</strong>ngen Selznick gegenüber) die Rechte am<br />

Roman (und an einem noch unveröffentlichten Stück, das darauf<br />

basierte) von Selznick gekauft um es zur ersten Produktion<br />

seiner eigenen Produktions-Gesellschaft – Tansatlantic Pic<strong>tu</strong>res<br />

zu machen, die er mit seinem alten Freund, dem englischen<br />

Produzenten und Medienmogul Sidney Bernstein gegründet<br />

hatte. "Under Capricorn" habe ich für <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong><br />

gemacht, die mit mir befreundet war", behauptete Hitchcock.<br />

"Ich suchte ein Objekt, das eher ihr <strong>als</strong> mir gefallen würde."<br />

Seine Verehrung für sie, wie immer sie verändert oder unterdrückt<br />

sein mochte, war um nichts geschmälert.<br />

334


Dann erwies sich aber, dass der J<strong>ob</strong> der Umformung<br />

des Romans in ein Filmscript viel aufwändiger war, <strong>als</strong> irgendwer<br />

voraussehen konnte, weshalb Hitchcock beschloss, zuerst<br />

einen Film basierend auf Patrick Hamiltons Stück "Rope" zu<br />

drehen. "Under Capricorn" sollte 1948 folgen und in England<br />

gedreht werden, weil gemäss Hitchcocks Vereinbarung mit<br />

Bernstein Transatlantic-Films zuerst in England produzieren<br />

würde und erst anschliessend aus steuerlichen Gründen abwechselnd<br />

in Amerika und im United Kingdom.<br />

Petter hatte sich sowohl um seine eigenen wie auch um<br />

<strong>Ingrid</strong>s Interessen gekümmert. Am 27. Mai unterzeichneten sie<br />

einen Vertrag den er mit Hitchcocks junger Produktions-<br />

Gesellschaft ausgehandelt hatte: er und <strong>Ingrid</strong> würden zusammen<br />

$ 200'000 und 41% vom Gewinn des Films erhalten.<br />

Zudem wurde Petter separat verpflichtet, die Werbung und<br />

Public Relations für den Film zu betreuen, s<strong>ob</strong>ald er in skandinavische<br />

oder andere europäische Kinos käme. Für seine Bemühungen<br />

sollte er einen Viertel der schwedischen Einnahmen<br />

erhalten – wie natürlich auch ein Reisebudget.<br />

Das war eine faszinierende Entwicklung, weil Petter<br />

selbstverständlich keinerlei Absicht hatte, seine medizinische<br />

Karriere aufzugeben oder in die Werbewirtschaft zu wechseln;<br />

erstm<strong>als</strong> seit er in Amerika war, hatte er ein Einkommen. Zusätzlich<br />

zu seinem Anteil an einer Gemeinschaftspraxis trat<br />

Petter dam<strong>als</strong> der neurologischen Klinik des Los Angeles County<br />

General Hospital, Cedars of Lebanon und Harbor General<br />

bei. Aber wie er später Pia schrieb, "stammte unser Einkommen<br />

bis 1949 zur Hauptsache aus den Gagen deiner Mutter" –<br />

kurz: das ganze Familieneinkommen stammte aus <strong>Ingrid</strong>s Salär,<br />

mit Ausnahme der kleinen Beträge, die den Praktikanten<br />

dam<strong>als</strong> bezahlt wurden (rund $ 65 die Woche). Der Grund,<br />

warum er auf einem "Werbe-Vertrag" bestand (dem sich Hitchcock<br />

unterziehen musste, wollte er seine geliebte <strong>Ingrid</strong> in seinem<br />

Film haben), war einfach. Hichcock würde auf diese Weise<br />

für Peters Reisespesen aufkommen, wenn er im kommenden<br />

Sommer <strong>Ingrid</strong> bei der Produktion in England und anschliessend<br />

seine Familie in Schweden besuchen würde. (Ausserdem<br />

335


sah er vor, im Sommer 1948 verschiedene neurologische Abteilungen<br />

in England und Skandinavien zu besuchen.)<br />

Es ergab sich dann, dass "Joan of Arc" bis im September<br />

nicht bereit war für die Produktion, sodass die ruhige Routine<br />

im Benedict Canyon für <strong>Ingrid</strong> schwer erträglich wurde.<br />

Ihre Rastlosigkei wurde für sie beide zur Belas<strong>tu</strong>ng. "Ich hatte<br />

eine süsse Tochter und einen netten Ehemann", sagte <strong>Ingrid</strong>.<br />

336<br />

"Petter und ich liebten uns nicht mehr, aber viele Ehen<br />

sind so und überleben. Ich hatte ein schönes Haus und<br />

einen Swimming Pool. Ich erinnere mich, wie ich eines<br />

Tages am Pool sass und mir plötzlich die Tränen über<br />

die Wangen liefen. Warum war ich so unglücklich? Ich<br />

hatte Erfolg, lebte in Sicherheit. Aber das war nicht genug,<br />

ich explodierte innerlich."<br />

Nach und nach wurden die Gründe für ihre Unzufriedenheit<br />

klar. "Ich langweilte mich. Ich sah mich am Ende jeder<br />

Entwicklung. Ich war auf der Suche nach etwas und wusste<br />

nicht, wonach." Auf ihren Reisen nach Alaska und Europa und<br />

nach ihrem Erfolg in New York realisierte <strong>Ingrid</strong>, dass "ich nirgends<br />

so hilflos war, wie in meinem eigenen Heim – dass ich<br />

mich frei ausdrücken konnte und die Leute mir zuhörten." Sie<br />

wolle, sagte sie Petter diesen Sommer, eine Weltreise unternehmen<br />

und in verschiedenen Ländern arbeiten um ihre Fähigkeiten<br />

und Erfahrungen weiterzuentwickeln. Gut, sagte er:<br />

gab je ein Mann seiner Frau grössere Freiheiten <strong>als</strong> er? Ja, das<br />

stimme, wie sie sagte, aber Freiheit erlebte sie nur weg von<br />

zuhause. Diese Saison hatte sie nichts weiter zu <strong>tu</strong>n, <strong>als</strong> auf<br />

den Beginn von "Joan of Arc" zu warten.<br />

Die Dreharbeiten begannen endlich am 16. September<br />

in den alten Hal Roach-S<strong>tu</strong>dios in Culver City, sehr nahe bei<br />

Selznick. Für einen <strong>als</strong> geistiges Testament geplanten Film,<br />

war "Joan" inzwischen zu einem opulenten Epos angewachsen,<br />

dessen Kosten die von "Gone With The Wind" bereits um $ 1<br />

Mio. übertrafen.


Zunächst einmal musste das theatralische Rahmenwerk,<br />

das die Ideologie des Bühnenstücks stützte, abgespeckt<br />

werden. Danach blieb noch ein rein historisches Gerüst erhalten,<br />

sodass das von Maxwell Anderson gestaltete und von Andrew<br />

Solt vervollständigte Script so etwas wie ein mittelalterlicher<br />

Western wurde, mit der Jungfrau von Orléans <strong>als</strong> frommer<br />

Calamity Jane, die gegen die Engländer statt gegen die Indianer<br />

kämpfte. Die Produktion ging drunter und drüber bis sie <strong>als</strong><br />

auf Andersons strengem Stück basiertes Werk nicht mehr zu<br />

erkennen war. Und <strong>Ingrid</strong>, die zu finster geschminkt war, um<br />

ihre schwedische Schönheit abzutönen, glich eher einer aus<br />

"For Whom The Bell Tolls" transferierten Maria. In den S<strong>tu</strong>dios<br />

um sie herum lagerten 71 Kanonen, 500 Armbrüste, 110 Pferde<br />

und 150 Rüs<strong>tu</strong>ngen, doch all dieser historischen Nachahmung<br />

zum Trotz sah <strong>Ingrid</strong> diesen Aufwand mit wachsender<br />

Sorge. "Das war sehr schön", sagte sie nachdem sie anfangs<br />

1948 die letzten Szenen gesehen hatte. "Aber laßt uns doch<br />

den Rest des Films von vorne neu aufnehmen." Indes war niemand<br />

willens, nochm<strong>als</strong> $ 4,6 Mio. aufzubringen.<br />

Sie brauchte die Beendigung des Films nicht abzuwarten,<br />

um zu wissen, dass sie alle in echten Schwierigkeiten waren.<br />

RKO-Direktoren, die für die Ausgabe des Films zuständig<br />

waren, hatten das Recht "Vorschläge" zu machen, was sie<br />

auch taten, zusätzlich zu jenen, die im Film bereits berücksichtigt<br />

waren. Jedem Zuschauer mit kritischem Auge war klar,<br />

dass "Joan of Arc" zu einem grossen und sehr teuren Langweiler<br />

wurde.<br />

Aber wie üblich gestaltete <strong>Ingrid</strong> ihre Rolle brilliant. "Sie<br />

ist kugelsicher", sagte Fleming <strong>als</strong> Fazit der Meinungen seiner<br />

drei Fotographen. "Es stand noch keine Figur wie sie vor der<br />

Kamera. Du kannst sie aus jedem Winkel nehmen, in jeder<br />

Stellung. Ohne Unterschied – du brauchst sie nicht (vor unvorteilhaften<br />

Bildern) zu schützen. Du kannst dich um die andern<br />

Schauspieler kümmern, aber <strong>Ingrid</strong> ist wie ein Notre Dame<br />

Quarterback. Der Zuschauer kann seine Augen nicht von ihr<br />

nehmen!"<br />

337


Auch das Publikum konnte es nicht, das in grosser Zahl<br />

aufmarschierte um <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> Jeanne zu sehen und vom Film<br />

auch nicht enttäuscht war. Es wäre ihr leicht gefallen, die üblichen<br />

frommen Blicke zu werfen, die Schauspieler oft <strong>als</strong> Ersatz<br />

für innere Überzeugung einsetzen; statt dessen hatte ihre Darstellung<br />

die Qualität von äusserster Transparenz – das Licht<br />

schien eher durch sie hindurch zu scheinen, <strong>als</strong> sie zu beleuchten,<br />

und das war der tiefen Menschlichkeit zu verdanken, die<br />

sie der Jungfrau gab. Sie hat keine Gips-Heilige porträtiert,<br />

sondern eine echt menschliche, verwirrte Frau, die weiss, dass<br />

Gott manchmal Gerades in krummen Zeilen schreibt. Und es<br />

ist unwahrscheinlich, dass wer den Film gesehen hat je die<br />

letzte Szene auf dem Scheiterhaufen vergessen wird.<br />

<strong>Ingrid</strong> machte sich Sorgen um die gesamte Produktion,<br />

und das – zusammen mit ihrer seelischen Belas<strong>tu</strong>ng von zuhause<br />

– führte dazu, dass sie nach Arbeitsschluss mehr und<br />

mehr Zeit im S<strong>tu</strong>dio verbrachte. "Ich muss meine Hände überall<br />

drin haben", sagte sie einmal in jener Saison, "ich kann<br />

nicht anders." Nach Laurence Stallings (der mit Maxwell Anderson<br />

Co-Autor an "What Price Glory?" war und die Schlachtszenen<br />

von "Joan" schrieb), "ging sie mit äusserster Demut an<br />

das Werk heran, mit dem innigsten Wunsch, alles recht zu machen."<br />

Am Ende des Tages diskutierte sie die Szenen noch weiter,<br />

während sie sich einen Bourbon und Fleming und dessen<br />

Kollegen generöse Drinks eingoss.<br />

Beim Versuch, aus einer Schlacht und einem Prozess<br />

ein packendes Drama zu gestalten, arbeiteten alle Überzeit.<br />

Nach den Dreharbeiten am 31. Okt<strong>ob</strong>er beispielsweise gingen<br />

<strong>Ingrid</strong> und Fleming um ungefähr neun Uhr abends weg. Aber<br />

diesmal fuhr sie nicht nachhause. Stattdessen hastete sie zum<br />

Makeup-Department, wo sie sich eigenhändig ein warzenbesetztes,<br />

grünlichkrankes Gesicht verpasste, eine schreckliche<br />

schwarze Perücke aufsetzte und ein hastig zusammengestelltes<br />

Kostüm anzog. Eine halbe S<strong>tu</strong>nde danach brauste "die Hexe" in<br />

Flemings Heim in Beverly Hills, umkreiste ihn auf ihrem Besen<br />

mit schrillem, gackerndem Gelächter nachdem sie Flemings<br />

staunenden Töchtern Säcke voll Süssigkeiten in den Schoss<br />

338


geworfen hatte. Anderntags schrieb ihr Fleming ein paar Zeilen<br />

des Inhalts, sie sei ungeachtet ihres Aufzugs immer sein Engel.<br />

Aber die späten S<strong>tu</strong>nden waren in der Regel intimer,<br />

und einmal zu oft sagte sie Petter, sie bleibe über Nacht bei<br />

Ruth, um mit ihr die Texte für den nächsten Tag zu pr<strong>ob</strong>en.<br />

"Aber Ruth war sehr erstaunt, <strong>als</strong> ich bei ihr auftauchte", sagte<br />

Petter später, "Zunächst behauptete sie, <strong>Ingrid</strong> habe sich in<br />

einem Zimmer eingeschlossen, um zu arbeiten. So suchte ich<br />

die Wohnung ab, ohne <strong>Ingrid</strong> zu finden. Ruth musste dann<br />

zugeben, dass <strong>Ingrid</strong> mit einem Freund ausgegangen sei. Einige<br />

Tage danach kam Flemings Frau zu mir und sagte 'Sie müssen<br />

mir helfen, mein Mann muss mit dieser Beziehung aufhören!'"<br />

"Ich war nie perfekt und unsere Ehe war alles andere<br />

<strong>als</strong> ideal", gab Petter zu. "Einer meiner vielen Fehler war, dass<br />

ich mit der Scheidung, die ich 1947 (nach dem Treffen mit<br />

Flemings Frau) fest vorschlug, nicht voranmachte. <strong>Ingrid</strong> bat<br />

mich, davon abzusehen und versprach, sie wolle ihr Leben ändern"<br />

– und zum Zeichen dafür, dass sie es ernst damit meine,<br />

schlug sie vor, sie wollten ein zweites Kind haben, s<strong>ob</strong>ald ihr<br />

bevorstehender Film mit Hitchcock im kommenden Sommer<br />

fertig sei. Petter war – sogar zu ihrem Erstaunen – einverstanden.<br />

"Wir beschlossen, das Haus neu zu bauen", erinnerte sie<br />

sich, "um für ein neues Familienmitglied Platz zu schaffen. Ich<br />

wollte noch ein Kind, weil ich glaubte, dadurch meinem Leben<br />

Inhalt und Erfüllung zu geben. Ich dachte, dass dies vielleicht<br />

die Antwort auf meine Rastlosigkeit wäre. Aber jedesmal, wenn<br />

ein Handwerker auf dem Dach hämmerte, empfand ich das wie<br />

Nägel, die in meinen Kopf getrieben wurden." Gleichzeitig<br />

sehnte sich Pia nach mehr Zeit mit ihrer Mutter, und so gesehen<br />

war <strong>Ingrid</strong>s Wunsch nach einem zweiten Kind vielleicht<br />

wirklich absurdeste Fantasie.<br />

Obschon er aufgrund der von ihr anerkannten Gründe<br />

der Untreue leicht die Scheidung von ihr hätte verlangen können<br />

– warum <strong>als</strong>o tat Petter es nicht? Warum blieb er ein duldsamer<br />

Ehemann?<br />

339


Die Antwort darauf gab er selbst: "Ich lebte damit wegen<br />

ihres Einkommens."<br />

340


1946 - "Jeanne d'Arc"<br />

341


342<br />

1947 - "Jeanne d'Arc"


1945 - "Jeanne d'Arc"<br />

343


344<br />

1958 - <strong>als</strong> Anna Kalman in "Indiskret"


1948<br />

"Lieber Herr Rossellini,<br />

Von heute an müssen Sie keine Blumen mehr zerpflücken.<br />

Nun sage ich: gutes Script, schlechtes Script, gutes Script –<br />

spielt keine Rolle! Ich bin sehr glücklich.<br />

<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>"<br />

NICHT LANGE NACH NEUJAHR luden Alfred und Alma<br />

Hitchcock die Lindströms zu einer Party in ihr Heim in Bel Air,<br />

einer ruhigen, abgeschotteten Enklave zwischen Beverley Hills<br />

und dem Brentwood-Quartier von Los Angeles ein. Im Wissen<br />

um <strong>Ingrid</strong>s unglückliches Privatleben und ihre Enttäuschung<br />

über "Joan" zeigte Hitchcock Mitgefühl, umsomehr <strong>als</strong> er<br />

selbst auch Pr<strong>ob</strong>leme hatte. Er begann mit "Rope" und dem<br />

erstmaligen Experiment, ausschliesslich mit Zehnminuten-Sequenzen<br />

ununterbrochene Echtzeit-Darstellung zu erreichen –<br />

w<strong>ob</strong>ei die dabei auftretenden Schwierigkeiten die Crew nahe<br />

an einen bewaffneten Aufstand trieben. (Der normalerweise<br />

gelassene James Stewart beispielsweise beklagte, dass nicht<br />

für die Schauspieler sondern für die Kamera gepr<strong>ob</strong>t werde.)<br />

Weder Hitchcock noch <strong>Ingrid</strong> schien sehr glücklich an diesem<br />

Abend, aber ihm bot sich eine hervorragende Gelegenheit,<br />

festliche Stimmung zu markieren: mehr denn je in <strong>Ingrid</strong> verliebt,<br />

liess er seine Vernarrtheit in seine Pläne für die im kommenden<br />

Sommer bevorstehende Reise nach England einfliessen,<br />

wo sie "Under Capricorn" drehen wollten.<br />

Hitchcocks Selbstbeherrschung wirft ein noch<br />

berührenderes Licht auf die Erscheinung eines der beliebtesten<br />

Hollywood-Stars, der seinem beruflichen und privaten Unglück<br />

345


zum Trotz anmutige Fröhlichkeit mimt, und die dazu passende<br />

Erscheinung eines der bewundertsten Hollywood-Regisseure,<br />

der joviale Aufgeräumtheit vorgibt, während seine traurigen,<br />

hingerissenen Blicke an seiner unglücklichen Geliebten hängen.<br />

Wie andere Gäste be<strong>ob</strong>achteten, war Hitchcocks Verhalten an<br />

jenem Januarabend betont melancholisch, und wie üblich fanden<br />

seine tiefsten Gefühle wieder den Weg in seine im Gange<br />

befindliche Arbeit. "Ach ja, <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>!" liess er einen<br />

Schauspieler in einer Szene von "Rope".. sagen, die in der darauffolgenden<br />

Woche gedreht wurde. "Sie ist der Mädchentyp,<br />

sie ist doch einfach süss!"<br />

Wenige Tage danach lud Hitchcock <strong>Ingrid</strong> zum Lunch<br />

ein, w<strong>ob</strong>ei er ihr seine Ideen für "Unter Capricorn" umriss und<br />

ihr eine Kopie des Romans und der ersten Scriptfassung von<br />

Hume Cronin übergab. Während sie die Seiten durchblätterte<br />

wies er <strong>Ingrid</strong> darauf hin, dass sie grosse Unterschiede zwischen<br />

dem Roman und seinen Ideen für den Film erkennen<br />

werde.<br />

Die Erzählung, im Jahre 1831 in Australien angesiedelt,<br />

betrifft Charles Adare (im Film durch Michael Wilding dargestellt),<br />

Cousin des Gouverneurs von Australien, der 'Under<br />

Capricorn' besucht und dort einen verbitterten Ex-Sträfling<br />

namens Sam Flusky (Joseph Cotten) trifft. Wegen Mordes nach<br />

Australien (dam<strong>als</strong> Sträflingskolonie) verbannt, hatte Flusky<br />

vor langer Zeit die wohlhabende Lady Henrietta Considine (<strong>Ingrid</strong>)<br />

geheiratet, die aus unverständlichen Gründen eine<br />

krankhafte Trinkerin ist. Adare beginnt sich für den sonderbaren<br />

Haushalt der Fluskys zu interessieren, der von der schweinischen,<br />

eifersüchtigen Haushälterin Milly (Margaret Leighton)<br />

geführt wird, die in Sam verliebt ist.<br />

Um die Sache noch zusätzlich zu komplizieren, verliebt<br />

sich Adare in Henrietta beim Versuch, sie von ihrer Krankheit<br />

loszubekommen. Provoziert durch eine Intrige Millys, erschiesst<br />

Sam Adare (der aber überlebt), wodurch Henriettas<br />

neurotischer Schuldkomplex sie an den Abgrund führt. Sie gesteht<br />

Adare, das nicht Sam sondern sie für den Tod ihres Bru-<br />

346


ders verantwortlich war und Sam die Schuld dafür auf sich<br />

nahm und zu Unrecht sieben Jahre hinter Gittern dafür büsste.<br />

Bevor Adare auf seine grosse Liebe verzichtet und Henrietta<br />

wieder der Zuneigung von Sam überlässt (die diesem von seiner<br />

Frau nun wieder erwidert wird), erweist sich, dass Milly<br />

Henritta vergiftet hatte. Adare enttarnt die Haushälterin und<br />

verabschiedet sich dann von den Fluskys, die sich nun einem<br />

besseren gemeinsamen Leben zuwenden können.<br />

WÄHREND HITCHCOCK SEINE IDEEN BESCHRIEB, fielen<br />

<strong>Ingrid</strong> plötzlich die erstaunlichen Parallelen zwischen seiner<br />

Vision von "Unter Capricorn" und den beiden vorangehenden<br />

Filmen auf, die sie mit ihm gemacht hatte. Aus "Spellbound"<br />

stammte das Motiv des Geheimnisses und Schuldkomplexes<br />

aus der Jugendzeit, die das erwachsene Leben mit lähmender<br />

Neurose überziehen; aus "Notorious" das Thema der Alkoholsucht<br />

einer Frau und des Versuchs ihrer Vergif<strong>tu</strong>ng. Alle drei<br />

Geschichten enthielten eine intensive Romanze mit einem<br />

überlagernden Sinn für Reue, w<strong>ob</strong>ei das Bedürfnis nach Geständnis<br />

vor der Strafe einen schrecklichen Preis fordert. So<br />

melodramatisch sie war, war die Rolle der Henrietta Flusky<br />

doch geheimnisvoll und voller Emotionen, die <strong>Ingrid</strong> den Stoff<br />

zu einigen starken Szenen boten und ihr ausserdem erlaubten,<br />

einmal jemand völlig anderer zu sein, <strong>als</strong> Jeanne d'Arc.<br />

So nahm sie im März die 'Capricorn'-Unterlagen zum<br />

S<strong>tu</strong>dium auf ihre Reise nach Frankreich mit, wo sie sich den<br />

Fotographen in Reims, Rouen und an anderen historischen<br />

Stätten aus Jeannes Geschichte für Aufnahmen stellte, die später<br />

im Jahr für die Film-Werbung benötigt wurden. Nach ihrer<br />

Rückkehr nach Beverley Hills erreichte sie ein Geschenk ihres<br />

französischen Gastgebers, eines gelehrten Priesters, der sie <strong>als</strong><br />

ihr Führer und Pressesprecher begleitet hatte. Aber das Paket,<br />

das eine antike hölzerne Madonna-Sta<strong>tu</strong>e enthielt, wurde beim<br />

Transport beschädigt. Eine Notiz der Zollbehörden schaffte<br />

Klarheit: "Jungfrau in Hollywood angekommen – leicht beschädigt<br />

– Kopf verloren." Was <strong>Ingrid</strong> zu ihrer belustigten Reaktion<br />

347


veranlasste: "Nun, so sehen Sie Hollywood!"<br />

Zwischen Frankreich und Kalifornien hatte <strong>Ingrid</strong> zwei<br />

Zwischenhalte eingelegt. Ende März kam sie in New York an,<br />

wo sie einige Theaterstücke sah und Irene Selznick besuchte,<br />

die dam<strong>als</strong> <strong>als</strong> Produzentin von Tenessee Williams Stück "A<br />

Streetcar Named Desire" grossen Erfolg hatte. Als sie eines<br />

Abends auf dem Weg zum Theater den Broadway entlang eilte,<br />

fiel <strong>Ingrid</strong> auf einem Filmplakat ein bekannter Name auf. R<strong>ob</strong>erto<br />

Rossellinis "Paisà" war in die amerikanischen Kinos gekommen,<br />

und am folgenden Nachmittag stand <strong>Ingrid</strong> an der<br />

Kinokasse, um ein Ticket zu kaufen. Sie war einer von etwa<br />

einem halben Dutzend Zuschauern und war nach der Vorstellung<br />

entsetzt über die Indifferenz der Leute.<br />

Einmal mehr war <strong>Ingrid</strong> gefangen von Rossellinis ungekünstelter<br />

Kraft. 1946, gleich nach "Open City" produziert,<br />

erzählte "Paisà" sechs Geschichten vom Helden<strong>tu</strong>m und der<br />

Würde des einfachen Volks während und nach dem Krieg. Jede<br />

einzelne Szene stellte die Schönheit der Charaktere über jene<br />

der Erscheinung, den Idealismus über den Egoismus. Der Realismus<br />

und die Einfachheit von Rossellinis Geschichten war für<br />

<strong>Ingrid</strong> – erzogen in der Strenge schwedischer Produktionen<br />

und Hollywoods sorgfältiger Beach<strong>tu</strong>ng eines jeden sichtbaren<br />

Details – sowohl ein Tadel wie auch eine Herausforderung zur<br />

Veränderung.<br />

Als sie vor zwei Jahren "Open City" sah, war sie von einer<br />

Szene zu Tränen gerührt, in der Anna Magnani ihren Liebhaber<br />

dazu beschwört, seinen Idealen im Vertrauen auf ihre<br />

Liebe zu ihm treu zu bleiben. <strong>Ingrid</strong> schilderte Freunden auch<br />

die nachfolgende Szene in lebhaften Farben, in der Magnani<br />

bei der Verfolgung des Polizeiwagens, in dem er abgeführt<br />

wird, erschossen wird. Es war, wie sie sagte, das exakte Gegenteil<br />

des sterilen Endes von "For Whom The Bell Tolls" – genauso<br />

wie der Mut des Widerstandskämpfers und des Priesters<br />

in "Open City" , die Folter und Tod eher in Kauf nahmen, <strong>als</strong><br />

ihre Gefährten in Gefahr zu bringen, sich nur auf einer andern<br />

Ebene abspielten <strong>als</strong> das sentimentale Ende von "The Bells Of<br />

348


St. Mary's", wo <strong>Ingrid</strong> Bing Crosby gegenüberstand. Sie hatte<br />

nichts gegen McCarey: seine Story hielt sich an die Vorlage.<br />

Aber Rossellini hatte ihr erfassbare Menschen gezeigt, die mit<br />

gnadenlosen Dilemmen konfrontiert werden, die nicht im<br />

Handumdrehen oder mit einem Klischee zu lösen waren.<br />

Jetzt nach "Paisà" war <strong>Ingrid</strong> mehr denn je überzeugt<br />

davon, dass Rossellini, der seine Schauspieler immer dem<br />

Thema unterordnete und sich nie zum reinen Glanz herabliess,<br />

der Schlüssel zur Überwindung ihres Missbehagens wäre. Sie<br />

hatte mit Erfolg in drei verschiedenen nationalen Filmkul<strong>tu</strong>ren<br />

gearbeitet – warum nicht in einer vierten? Sie hatte Deutsch<br />

und Englisch gelernt – warum nicht auch Italienisch? An diesem<br />

Nachmittag ignorierte <strong>Ingrid</strong> den schlaffen Verlauf des<br />

Films und die laienhaftigkeit seiner hölzernen Darsteller (meist<br />

Leute, die der Regisseur in den Strassen von Rom aufgegabelt<br />

hatte): stattdessen sah sie geradewegs das Ziel, das Rossellini<br />

verfolgte – Ehre vor Nutzen. Die Person der Bäuerin Carmela,<br />

die irrtümlicherweise zur Märtyrerin wird, und von Harriett, der<br />

heroischen Krankenschwester, berührten eine Schauspielerin,<br />

die Jeanne d'Arc verehrt, tief; sie sah erstm<strong>als</strong> was ein Regisseur,<br />

der den Einschränkungen von Hollywoods leichter Unterhal<strong>tu</strong>ng<br />

nicht unterworfen ist, zustandebringen konnte.<br />

"Open City" war fraglos der bedeutendere Film, aber<br />

"Paisà" (der ebenfalls von Fellinis Mitarbeit profitierte) hatte<br />

Momente der Grösse, deren Kraft von der visuellen und emotionalen<br />

Intimität und der Komplexität herrührte, ambitionierte<br />

aber stets ehrliche Portraits von Menschen wie Francesca, ein<br />

unschuldiges Mädchen, das durch bittere Notwendigkeit zur<br />

Prosti<strong>tu</strong>tion gezwungen wurde. Sie trifft zufällig mit ihrem alten<br />

Jugendfreund zusammen, der sie nicht mehr erkennt und<br />

sie verlässt, ohne ihre wahre Identität erfahren zu haben. Eine<br />

Geschichte der verlorenen und später ersehnten Tugend ging<br />

<strong>Ingrid</strong>, der weder Affären noch Ehen wirkliche Sicherheit verschafft<br />

haben, stark unter die Haut. Sicherheit fand sie nur in<br />

ihrer Arbeit. Aber das zu erwartende Schicksal ihres Films über<br />

Jeanne d'Arc liess vermuten, dass sie selbst mit ihrer Arbeit<br />

auf dem f<strong>als</strong>chen Weg war.<br />

349


IHRE RETTUNG, ERZÄHLTE INGRID Irene Selznick jenen<br />

Abend am Dinner, könne nur in einem dramatischen Rich<strong>tu</strong>ngswechsel<br />

ihrer Karriere liegen. Sie habe immer in<strong>tu</strong>itiv<br />

gespielt, wie Rossellinis Laienspieler, und sie sei immer willens<br />

gewesen, in einer Rolle ungeschminkt aufzutreten. War sie<br />

nicht genau die Richtige für einen Rossellini-Film? Und könnte<br />

ihre Berühmtheit nicht auch ihm helfen, von einem erweiterten<br />

internationalen Publikum akzeptiert zu werden?<br />

Was <strong>Ingrid</strong> aber nicht erkennen konnte, war ein kritisches<br />

Element in Rossellinis Arbeitsweise, welches niemand<br />

klarer definieren konnte <strong>als</strong> der Regisseur selbst: "Um zu meinen<br />

Darstellern zu kommen, begann ich damit, mich mit meinem<br />

Kameramann im Zentrum jenes Raumes einzurichten, in<br />

dem die folgende Szene geschossen werden sollte. Passanten<br />

und Zuschauer begannen sich dann rund um uns herum anzusammeln,<br />

sodass ich meine Schauspieler aus der herumstehenden<br />

Menge auswählen konnte. Wir passten uns den jeweiligen<br />

Umständen an und den Schauspielern, die uns zur Verfügung<br />

standen." Und dann folgte der entscheidende Punkt: "Der<br />

Dialog und die Intonation wurden durch die Laiendarsteller<br />

bestimmt. Ich schloss mein Script nie ab, bevor wir am Drehort<br />

angekommen waren."<br />

Tatsache war, dass seine Geschichte und sein Script<br />

selbst nach den Dreharbeiten noch unvollständig blieben: Rossellini<br />

arbeitete in einer Art ispirierter Laune im Synchronisationsraum<br />

und am Montagetisch. So machte es auch sein Autor,<br />

Federico Fellini, aber in seinen späteren Meisterwerken, kann<br />

man sagen, arbeitete Fellini mit einem stärkeren, zielgerichteteren<br />

Genius <strong>als</strong> Rossellini, wie auch mit entschlossenerer Hingabe<br />

an die erzählerische Qualität und die Erkenntnis, dass die<br />

psychologische oder spiri<strong>tu</strong>elle Wahrheit oft geistige Höhenflüge<br />

erfordert, die das Publikum in die Bereiche jenseits des reinen<br />

Realismus entführen.<br />

Aber da war ein besonders wichtiger unter vielen anderen<br />

Widersprüchen in Rossellini, wie <strong>Ingrid</strong> an diesem Dinner<br />

von Irene erfuhr (deren Mann seine Verhandlungen mit ihm<br />

350


eben verlängert hatte). Obschon er auf Schauspieler eigentlich<br />

verzichten wollte, erkannte Rossellini zusehends, wie sehr er<br />

sie benötigte. In dieser Saison war er in Verhandlungen mit<br />

David Selznick über die Produktion eines Films, weshalb er<br />

dessen Vertrags-Schauspielerin und Mätresse, Jennifer Jones,<br />

ein Telegramm sandte: "Gra<strong>tu</strong>lation zu ihrer wundervollen<br />

Leis<strong>tu</strong>ng in "Duel in The Sun". Hoffe, bald mit Ihnen arbeiten<br />

zu können." Tatsächlich hatte Rossellini "Duel" überhaupt nicht<br />

gesehen, und da er an Hollywood-Schauspielerinnen nie interessiert<br />

war, hatte er auch keine Ahnung, wer Jennifer Jones<br />

war. Aber er hatte findige Berater, wie z.B. seinen Anwalt, einen<br />

kultivierten Herrn mit dem stattlichen Namen Ercole<br />

Graziadei (Herkules Gottseidank) und eine Agentin mit der<br />

ebenso bunten Unterschrift Arabella Le Maître. Während ihre<br />

Namen an die Oper des neunzehnten Jahrhunderts erinnerten,<br />

waren deren Interessen klar modern.<br />

Die Idee, die Selznick und Rossellini diskutierten, war<br />

eine neorealistische Version von "Jeanne d'Arc" mit Jennifer<br />

Jones in der Titelrolle, die eben den Oscar für ihre Darstellung<br />

der Heiligen Bernadette gewonnen hatte und im echten Leben<br />

bald die Rolle der zweiten Mrs. Selznick übernehmen sollte.<br />

Aber im Hinblick auf <strong>Ingrid</strong>s Film wurde "Joan" über Bord geworfen.<br />

Dennoch liessen Produzent und Regisseur die Tür für<br />

weitere Projekte offen. Noch während des Dinners erklärte<br />

<strong>Ingrid</strong> Irene, dass sie Rossellini einen einfachen Brief schreiben<br />

werde, s<strong>ob</strong>ald sie seine Adresse ausfindig gemacht habe.<br />

Irene hatte die Adresse und sandte sie <strong>Ingrid</strong> ein paar<br />

Tage später nach Washington. Dort verlieh am 5. April Präsident<br />

Truman <strong>Ingrid</strong> den Women's National Press Club Award<br />

für überragendes Bühnen-Schauspiel. Nach einigen Dankesworten<br />

erklärte <strong>Ingrid</strong> – eindeutig inspiriert von Rossellini –<br />

unverblümt, dass die Produktion ehrlicher Filme in Amerika<br />

durch die Zensur behindert werde (seit "Intermezzo" gab es<br />

von Motion Pic<strong>tu</strong>re Code schreckliche Einsprachen zu allem und<br />

jedem), wie auch durch Einsprachen von Regierungsseite (J.<br />

Edgar Hoover und sein Umfeld hatten Hitchcock schwer zugesetzt<br />

wegen dem Bombenmotiv und den schockierend unmora-<br />

351


lischen amerikanischen Agenten in "Notorious") und die Nachfrage<br />

nach hohler, <strong>ob</strong>erflächlicher Unterhal<strong>tu</strong>ng im Nachkriegs-<br />

Amerika. Das sei kein Klima für seriöse Arbeit, schloss sie nach<br />

höflich-verhaltenem Applaus.<br />

Ebenfalls im April kam endlich auch "Arch of Triumph"<br />

in die Kinos. Eine typische Kritik lautete in etwa: "Miss <strong>Bergman</strong><br />

und Mr. Boyer sehen blendend aus, aber sie sind nur Figuren<br />

in einem langsamen, teuren und viel zu langweiligen<br />

Film." Umsomehr war für <strong>Ingrid</strong> durch den Misserfolg des Films<br />

in Kritik und Finanzen klar, wo ihre künstlerische Zukunft lag.<br />

So zeigte sie Petter den Brief, den sie Rossellini schicken wollte:<br />

352<br />

"Sehr geehrter Herr Rossellini,<br />

Ich sah Ihre Filme "Open City" und "Paisà", die mir<br />

sehr gefallen haben. Wenn Sie eine schwedische<br />

Schauspielerin brauchen können, die sehr gut Englisch<br />

spricht, ihr Deutsch nicht vergessen hat, deren Französisch<br />

nicht gut verstanden wird und deren Italienisch<br />

sich auf 'ti amo' (ihre letzten Worte in "Arch of Triumph")<br />

beschränkt, bin ich bereit, zu kommen und einen<br />

Film mit Ihnen zu machen.<br />

Beste Grüsse<br />

<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>"<br />

Das gefiel Petter, der beifügte, dass es ihnen gemeinsam<br />

vielleicht gelingen könnte, Rossellini nach Amerika zu<br />

holen und die ersten zu sein, die ihn in Hollywood hätten und<br />

dass Petter sicher – vielleicht sogar mit David Selznick – ein<br />

Arrangement für einen Rossellini-<strong>Bergman</strong>-Film mit ihm treffen<br />

könnte. Er drängte sie, den Brief sofort abzusenden, was<br />

sie am 30. April auch tat. Damit initiierte Petter Lindström<br />

unabsichtlich eine Si<strong>tu</strong>ation, die zu einem internationalen<br />

Skandal führte und seine Ehe in Schutt und Asche sinken liess.<br />

Rossellini erhielt den schicks<strong>als</strong>haften Brief am 8. Mai –<br />

seinem 42. Geburtstag, erkannte sofort ein ausserordentlich<br />

interessantes Zusammentreffen von glücklichen Zufällen und


kabelte unverzüglich seine Antwort an <strong>Ingrid</strong>. Obschon er nie<br />

daran gedacht hätte, mit ihr zusammenzuarbeiten (und auch<br />

über ihre Fähigkeiten nur ganz vage informiert war), akzeptierte<br />

er die Ratschläge seiner Berater, die ihn davon überzeugten,<br />

dass der beste Weg zu amerikanischem Finanzsupport<br />

über einen populären amerikanischen Star führte:<br />

"Sehr geehrte Frau <strong>Bergman</strong>,<br />

Zu meiner grossen Freude erhielt ich eben Ihren Brief<br />

– das schönste Geschenk zu meinem heutigen Geburtstag.<br />

Tatsächlich habe ich davon geträumt, mit Ihnen<br />

einen Film zu machen, und nun werde ich alles<br />

daransetzen, dies so schnell wie möglich zu verwirklichen.<br />

Ich werde Ihnen einen langen Brief schreiben,<br />

um Ihnen meine Ideen darzulegen. Mit dem Ausdruck<br />

meiner Bewunderung, genehmigen Sie bitte. . . etc.<br />

etc.<br />

R<strong>ob</strong>erto Rossellini"<br />

Die Ironie des Schicks<strong>als</strong>, die solchen Dingen oft anhaftet,<br />

wollte es, dass Rossellini <strong>Ingrid</strong>s Schmeichelei sofort zu<br />

einem Versuch benutzte, einen Handel mit Selznick abzuschliessen,<br />

der <strong>Ingrid</strong> gerne selbst nochm<strong>als</strong> unter Vertrag<br />

genommen hätte, aber über die vagen Informationen, die<br />

Rossellini über seine Vertreter nach Hollywood fliessen liess,<br />

verunsichert war. Fünf Tage nach dem Erhalt von <strong>Ingrid</strong>s Brief<br />

traf Rossellini in Mailand Jenia Reissar. Weil er kein Englisch<br />

und sie kein Italienisch sprach, unterhielten sie sich in französischer<br />

Sprache.<br />

"Rossellini sagte, er sei äussert interessiert daran,<br />

<strong>Bergman</strong> zu haben", schrieb Reissar ihrem Boss,<br />

"und das natürlich unter dem Selznick-Vertrag. Ich<br />

sagte ihm, dass wir mit <strong>Bergman</strong> Schwierigkeiten<br />

hatten und dass sie vielleicht nicht mit uns arbeiten<br />

möchte. Seine Antwort war, er werde ihr sagen, er<br />

wolle sie für einen Film, hätte eine Story für sie und<br />

353


354<br />

dass er Partner hätte, die mit ihm in Italien zusammenarbeiteten<br />

– kein Wort von Selznick! Es gehe sie<br />

nichts an, wer sie seien. Wenn sie die Story ablehne<br />

oder zuviel Geld fordere – dann sei das eben das Ende!<br />

. . . Er wollte wissen, wie <strong>Bergman</strong> entlöhnt wurde.<br />

Ich sagte ihm, ich wisse das nicht, sie sei aber<br />

sehr teuer. Er sagte, sie müsse wissen, dass er ihr<br />

keine Hollywood-Gagen bezahlen könne und dass,<br />

wenn sie eine unmögliche Summe fordere, es keinen<br />

Film gebe."<br />

Rossellini hoffte auf eine von drei Möglichkeiten: (a)<br />

dass Selznick das ganze Projekt finanzierte; (b) dass Selznick<br />

den fertigen Film nur in Amerika vertreiben würde und die<br />

Finanzen in Europa aufzubringen wären; oder (c) dass Selznick<br />

ihm Vertrags-Schauspieler ausleihen würde. Was immer<br />

daraus würde, er hätte keine Absicht, allein für die Schauspieler<br />

Riesensummen aufzubringen. "Ich werde alles unterschreiben,<br />

was Sie wollen", sagte Rossellini zu Reissar beim Abschied.<br />

Diese Zusage fiel ihm sehr leicht, wie alle Beteiligten<br />

bald erkennen konnten, denn Rossellini hielt sich grundsätzlich<br />

an keinen Vertrag. "Er ist ein temperamentvoller und verantwor<strong>tu</strong>ngsloser<br />

Mensch", schrieb Reissar an Selznick. Was <strong>Ingrid</strong><br />

betrifft, so hatte er seinen "Traum", einen Film mit ihr zu<br />

machen, bei der Abfassung des Telegramms.<br />

Von allem Anfang an war es dann Rossellinis Ziel, mit<br />

amerikanischem Geld einen Film zu machen – welches Projekt<br />

oder mit welchen Darstellern: er wusste es noch nicht. Aber<br />

welche Mittel es auch erforderte, er würde sie nehmen. Und er<br />

würde sich freuen, seinen ersten Film zum Vehikel für<br />

Selznicks Geliebte, Jennifer Jones zu machen. Rossellini stellte<br />

nur eine Bedingung: er musste die Mitwirkung seiner Mätresse,<br />

Anna Magnani, in einem der auszuhandelnden Filme sicherstellen.<br />

Sie sei, wie er beifügte, rasend eifersüchtig, dass er einen<br />

Selznick-Vertrag ohne ihre Gegenwart auch nur diskutiere.<br />

"Aber er sagte, sie sei eine verrückte Frau", berichtete Reissar,<br />

"die erst spät in ihrem Leben zum Erfolg kam (sie war vierzig!)<br />

und vom Geschäft nichts verstehe." <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Fanbrief


war eine Trumpfkarte, die er nicht erwartet hatte.<br />

Am 15. Mai erhielt <strong>Ingrid</strong> einen langen Brief, in dem ihr<br />

Rossellini (wieder mit Hilfe eines Übersetzers) seine Ideen für<br />

eine Filmgeschichte umriss. Im Glauben, ein Sript sei zu einengend,<br />

benutzte er auch keines. Hier hätte <strong>Ingrid</strong> die erste<br />

Warnlampe aufleuchten müssen, doch sie las fasziniert weiter.<br />

Kürzlich kam Rossellini ausserhalb Roms an einem<br />

Flüchtlingslager für Frauen aus ganz Zentral- und Osteuropa<br />

vorbei. Es gelang ihm, mit einer zu sprechen, einer verfolgten<br />

und einsamen Lettin. Daraus entstand die Idee zu einem Film.<br />

Sein Konzept war die Geschichte von eben solch einer<br />

Frau, die er Karin nannte, zu erzählen, die aus Verzweiflung<br />

einen Fischer von den Lipari Inseln heiratet und mit ihm nach<br />

Stromboli zieht, jener von einem Vulkan beherrschten Insel.<br />

Auf dieser kahlen Insel von Feuer, Asche und verbrannter Erde<br />

ist die fremde Frau einsamer <strong>als</strong> irgendwo . Aber Karin hoffte,<br />

in diesem Fremden wenigstens ihren Retter gefunden zu haben<br />

und beschliesst, zu bleiben. Bald begreifen sie, dass sie überhaupt<br />

keine Gemeinsamkeiten haben. "Der Mann lebt neben<br />

ihr her und liebt sie mit wilder Heftigkeit", fuhr Rossellini fort.<br />

"Aber selbst der Gott, dem die Insulaner huldigen, ist verschieden<br />

von dem Ihren. Wie konnte der strenge Lutherische<br />

Gott, zu dem sie zu beten pflegte, dem Vergleich mit all den<br />

vielen Heiligen in allen Farben standhalten?"<br />

Karin, die inzwischen schwanger ist, versucht sich gegen<br />

ihr trockenes, einsames Leben aufzulehnen, aber es gibt<br />

kein Entrinnen. In der Absicht, sich in den glühenden Krater zu<br />

stürzen, erklimmt sie den Vulkan, bricht aber - Gott um Hilfe<br />

anflehend - zusammen. Und damit ist sie gerettet: das erhoffte<br />

Wunder geschieht im plötzlichen Frieden, der in ihre Seele einkehrt.<br />

In ihrer Selbstaufgabe wendet sie sich endlich ihrem<br />

neuen, einfachen Leben zu und dem neuen, das sie bald hervorbringen<br />

wird; sie kehrt zum Dorf zurück und akzeptiert ihr<br />

neues Leben im Terra di Dio – im Land Gottes. Das war Rossellinis<br />

Arbeitstitel.<br />

355


"Mit Ihnen in meiner Nähe", schloss Rossellini, "könnte<br />

ich einem menschlichen Geschöpf Leben geben, das nach harten,<br />

bitteren Erfahrungen schliesslich den Frieden und die Befreiung<br />

von aller Selbstsucht findet. Könnten Sie vielleicht nach<br />

Europa kommen? Ich könnte Sie nach Italien einladen, wo wir<br />

alles in Ruhe besprechen könnten . . . ich wäre begeistert." Er<br />

unterzeichnete mit "Ihr R<strong>ob</strong>erto Rossellini", und gewissermassen<br />

war er das von da an auch.<br />

<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> las ihre eigene Geschichte aus Karins<br />

Kampf. Sie antwortete sofort, dass sie im Laufe des Sommers<br />

nach London gehe und sie und ihr Mann ihn bei dieser Gelegenheit<br />

gut treffen könnten. Ob sie sich auf halbem Weg, vielleicht<br />

in Paris gegen Ende August treffen könnten? Das passte<br />

Rossellini sehr: er hatte diesen Sommer noch einen andern<br />

Film an der Amalfiküste fertigzustellen und könnte ihr danach<br />

in einem seiner Rennwagen entgegenkommen. Und mit dieser<br />

überstürzt romantischen Vorstellung im Kopf kam <strong>Ingrid</strong> am<br />

21. Juni in London an, um mit den Aufnahmen zu "Under<br />

Capricorn" zu beginnen.<br />

WEGEN STREIKS UND PROBLEMEN sowohl mit dem<br />

Script, wie auch mit den technischen Auflagen, mit welchen<br />

Hitchcock sein Team konfrontierte, verzögerte sich der Beginn<br />

der Dreharbeiten um einen weiteren Monat. Die Untätigkeit<br />

forderte ihren Tribut. "Ich bekomme Schwierigkeiten", schrieb<br />

<strong>Ingrid</strong> Ruth R<strong>ob</strong>erts. "Ich rauche unaufhörlich. Ich trinke mehr<br />

<strong>als</strong> je zuvor. Ich habe mir mindestens zehn Pfunde zugelegt."<br />

Das Gewicht konnte sie wie üblich leicht wieder loswerden,<br />

denn <strong>Ingrid</strong> schaltete vor dem Filmen jeweils strikt auf Regime.<br />

Ausserdem eigneten sich die 19.-Jahrhundert-Kostüme<br />

dieses Films bestens dazu, selbst grosse unerwünschte Pölsterchen<br />

gnädigst zu verbergen.<br />

Aber mit den Cigaretten und dem Alkohol war es seit<br />

1946 doch etwas anderes – in zunehmendem Masse tolerierte<br />

Gewohnheiten, die irgendwann zu schweren Gesundheitsschäden<br />

führen konnten. Erstaunlicherweise war ihre Stimme aber<br />

356


nie davon betroffen: <strong>Ingrid</strong> hatte nie diese allgemein bekannte<br />

"Whisky-Stimme", die so oft die Säufer und schweren Raucher<br />

verrät. Vielleicht konnte sie dank ihrer äusserst r<strong>ob</strong>usten Konsti<strong>tu</strong>tion<br />

wirklich stattliche Mengen Alkohol konsumieren, ohne<br />

sich das im Geringsten anmerken zu lassen; sie verpasste auch<br />

keine einzige Arbeitss<strong>tu</strong>nde wegen eines Katzenjammers.<br />

<strong>Ingrid</strong> war nie eine Alkoholikerin: sie trank nie aus<br />

Sucht oder Zwang, nie vor Arbeitsschluss und sicher litt ihre<br />

Arbeit nie unter ihren Trinkgewohnheiten. Aber ebenso sicher<br />

genoss sie das Cocktail-Ri<strong>tu</strong>al am Nachmittag, für welches sie<br />

eine erstaunliche Kapazität hatte, die allerdings zu ihrer Lebenslust<br />

passte. In diesem Zusammenhang ist auch nicht zu<br />

vergessen, dass die Langzeitschäden von Alkohol und Nikotin<br />

in Amerika erst etliche Jahre später erkannt und öffentlich bekanntgemacht<br />

wurden. 1949 waren dies Sta<strong>tu</strong>ssymbole, die<br />

buchstäblich weltweit von den jungen Erwachsenen eifrig gepflegt<br />

wurden. Sie waren die Requisiten der arrivierten Gesellschaft.<br />

Nach den Kostüm-Anpr<strong>ob</strong>en und Makeuptests war <strong>Ingrid</strong><br />

frei, konnte ihre Besorgungen machen, ins Theater gehen,<br />

mit ihren Produzenten (Hitchcock, Bernstein und deren Frauen)<br />

zusammenkommen oder ihre neue Freundin, die englische<br />

Schauspielerin Ann Todd treffen und besser kennenlernen. Ann<br />

hatte auch für Selznick und Hitchcock gearbeitet ("The<br />

Paradine Case", 1947 in Hollywood entstanden) und war nun<br />

die Frau von Regisseur David Lean. Diesen Sommer unternahmen<br />

die beiden Frauen öfters Exkursionen um Gross-<br />

London herum – in die Parks und Museen, Kew Gardens und<br />

zum Greenwich Observatory.<br />

VOR EINIGEN JAHREN hatte der Produzent und Regisseur<br />

Gabriel Pascal, dem George Bernard Shaw die Verfilmung<br />

von "Pygmalion" und "Mayor Barbara" übertragen hatte, <strong>Ingrid</strong><br />

angeboten, in Shaws Film "Candida" die Hauptrolle zu<br />

übernehmen. Leider musste das Projekt dam<strong>als</strong> infolge von<br />

Terminschwierigkeiten fallengelassen werden. Jetzt aber erfuhr<br />

357


der Autor aus der Tagespresse von <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Einkaufs-<br />

Expeditionen und Sozialleben, weshalb er sie treffen wollte. An<br />

einem sehr warmen Julinachmittag begleitete Pascal <strong>Ingrid</strong> zu<br />

Shaws Landhaus in Ayot St. Lawrence.<br />

Mit seinen 93 Jahren war Shaw noch so lebhaft, mürrisch<br />

und für weibliche Schönheit empfänglich wie eh' und je.<br />

Eine imposante Figur, die er war, mit vollem weissem Haar und<br />

einem langen, wehenden Bart, begrüsste er <strong>Ingrid</strong> am Tor, wo<br />

er sie sofort fragte, warum sie in New York nicht seine "Joan"<br />

gespielt habe. "Weil ich sie nicht mag", antwortete sie mit einem<br />

Lächeln.<br />

"Was soll das heissen, sie mögen sie nicht? Sie ist ein<br />

Meisterwerk!"<br />

"Ja, aber Sie gaben uns Shaws "Joan" und nicht die historische<br />

Jeanne", erklärte <strong>Ingrid</strong>, <strong>als</strong> sie den Weg hinauf zum<br />

Haus gingen w<strong>ob</strong>ei ihm <strong>Ingrid</strong> gleich noch eine kleine Vorlesung<br />

zum Thema anbot. "Sehen Sie", sagte sie ohne jeden<br />

Hochmut, "zufälligerweise weiss ich viel mehr über Joan <strong>als</strong><br />

Sie."<br />

Shaw war durch <strong>Ingrid</strong>s Offenheit vollständig entwaffnet<br />

und von ihrer Weigerung, sich von ihm einschüchtern zu lassen,<br />

hingerissen. "Niemand hat je gewagt, mir zu sagen, er<br />

möge mein Werk nicht", sagte er und wollte gleich wissen<br />

"welche meiner Werke haben Sie denn schon aufgeführt?"<br />

358<br />

"Nun, Mr. Shaw, ich habe keines Ihrer Stücke gespielt."<br />

Als die Haushälterin den Tee servierte, seufzte Shaw<br />

mit einem leidenden Blick auf <strong>Ingrid</strong>. "Nun, mein liebes Mädchen,<br />

Sie haben ja eben erst begonnen." Jahre nach Shaws<br />

Tod 1950 "begann" sie.<br />

NACH ZAHLLOSEN VERZÖGERUNGEN kam "Under<br />

Capricorn" endlich vor die Kameras. Bis zu diesem Morgen<br />

wurde heftig über die sprachlichen Akzente in diesem Film diskutiert:<br />

können alle den 'Irish brogue' dieser entwurzelten


Charaktere nachahmen? Was <strong>tu</strong>n mit <strong>Ingrid</strong>s trällerndem<br />

schwedischen Tonfall, was mit Joseph Cottens leicht schleppendem<br />

'Virginian drawl', Michael Wildings sauberem englischen<br />

Rhythmus? Wie könnten sie alle irisch klingen?<br />

<strong>Ingrid</strong>s erster Auftritt, 25 Minuten nach Filmbeginn,<br />

wurde an diesem ersten Tag aufgenommen. Sie bot ihrem Regisseur<br />

eine brillante, druckreife Vorstellung, eine ununterbrochene<br />

Vier-Minuten-Szene in der Lady Henrietta, bleich und<br />

nervig, barfuss und unsicheren Ganges in den Dining Room<br />

kommt und die Gäste ihres Mannes begrüsst – ungekämmt,<br />

unordentlich gekleidet, mit einem vom Alkohol umflorten Blick.<br />

In ihrem Dialog mit Wilding über ihre Begegnungen <strong>als</strong> Kinder<br />

in Irland gelang <strong>Ingrid</strong> ein durchaus akzeptables irisches Trällern,<br />

nur ganz leicht lallend – passend zur Dame, die ihre<br />

Trunkenheit zu überspielen versucht. Als Hitchcock "Schnitt"<br />

rief, gab es einen lauten Szenenapplaus im Set.<br />

Aber danach wurde der irische Dialekt nur noch selten<br />

gehört. Cotten wurde seinen Virginian-Gentleman-Ton nicht<br />

los, <strong>Ingrid</strong>s Irischtrainerin wurde krank, und der Rest des Films<br />

zeigte eine internationale Besetzung, von der jeder mit Stolz<br />

seinen eigenen Sprachakzent einbrachte. Aber <strong>als</strong> "Under<br />

Capricorn" veröffentlicht wurde, störte sich niemand mehr daran,<br />

denn da dominierten weit ernstere Pr<strong>ob</strong>leme.<br />

Am Abend dieses ersten Arbeitstages schrieb <strong>Ingrid</strong> Petter<br />

einen Brief in dem sie ihn drängte, Pia auf dem Seeweg<br />

nach England zu bringen, damit ihre Tochter einmal das Vergnügen<br />

einer solchen Reise erlebe und die Distanz zwischen<br />

Amerika und Europa kennenlerne. Sie wollte, dass Pia die Freiheits-Sta<strong>tu</strong>e<br />

verschwinden und die weissen Felsen von Dover<br />

aus dem Nebel auftauchen sehe, wie sie sagte. Die Reise würde<br />

auch Petter eine Gelegenheit zu etwas Erholung bieten.<br />

Auch bat sie ihn, Seifenflocken, Lebensmittelkonserven, Nylonstrümpfe,<br />

Tissues mitzubringen – und Büchsenfleisch, da<br />

buchstäblich nichts davon zu haben war: im Nachkriegs-<br />

England fehlte es bitter an allen Hauptnahrungsmitteln, auch<br />

für Filmstars.<br />

359


Der Einsatz der Technicolor-Prozesse in den Elstree<br />

S<strong>tu</strong>dios ausserhalb Londons war ein grosser Erfolg. Aber die<br />

Zehnminuten-Aufnahmen, von welchen Hitchcock dieses Jahr<br />

so besessen war, mussten weitgehend aufgegeben werden,<br />

<strong>ob</strong>schon es zu einigen komplizierten Shots von sechs, acht<br />

oder sogar neun Minuten kam.<br />

Diese Technik belastete die Hitchcock-<strong>Bergman</strong>-Freundschaft<br />

vorübergehend. "Er hatte so viel Freude an diesen Kameratricks",<br />

erzählte sie später einem Autor,<br />

360<br />

"aber natürlich wirkten sich die langen Shots und die<br />

fahrenden Kameras auf uns alle sehr belastend aus.<br />

Wir pr<strong>ob</strong>ten während Tagen, und schliesslich legten<br />

wir dann das Makeup auf für einen sauberen Durchgang.<br />

Das ging vielleicht für sechs Minuten gut und<br />

dann passierte irgend ein kleiner Fehler, und wir konnten<br />

das Ganze von Neuem beginnen. Hitch bestand<br />

einfach darauf.<br />

Dann mussten die Bühnenarbeiter das M<strong>ob</strong>iliar verschieben<br />

während die Kamera sich vorwärts und rückwärts,<br />

von dahin nach dorthin bewegte – oder die<br />

Wände wurden hochgezogen, während wir vorbeigingen,<br />

damit die grosse Technicolor-Kamera uns folgen<br />

konnte. Es trieb uns alle in den Wahnsinn! Ein Tisch<br />

oder ein S<strong>tu</strong>hl für einen Darsteller erschien knapp vor<br />

der Klappe zum Aufnahmebeginn. Der Boden war bedeckt<br />

mit Nummern und jedermann und jedes Möbelstück<br />

musste im richtigen Moment bei der richtigen<br />

Nummer stehen.<br />

Es war ein Albtraum! Es war das einzige Mal, dass ich<br />

im Set zusammenbrach und heulte. Ich denke, Hitch<br />

musste sich mit all dem selbst beweisen, dass er es<br />

konnte. Er hatte eine Herausforderung gegen sich<br />

selbst angenommen um der Filmindustrie zu beweisen,<br />

dass er etwas so Kompliziertes erfinden und auch<br />

durchziehen konnte."


Jahre danach musste <strong>Ingrid</strong> zugeben, dass Hitchcocks<br />

qualvolle Methode manchmal auch brillant funktionierte. "Die<br />

eine grossartige Szene in diesem Film ist mein Geständnis im<br />

Dining-Room, wo mir die Kamera folgte – <strong>als</strong> ich mich vom<br />

S<strong>tu</strong>hl erh<strong>ob</strong>, durch den Raum ging, mich über den Tisch beugte,<br />

mich wieder hinsetzte." Aber während der Pr<strong>ob</strong>e war <strong>Ingrid</strong><br />

nicht so gelassen.<br />

"Sie geriet in eine schreckliche Verfassung an jenem<br />

Tag", erinnerte sich Hitchcock, "sie schimpfte nur noch mit<br />

mir." Zunächst versuchte er es mit einer alten Methode, die in<br />

der Regel bald beruhigte und einem verärgerten Schauspieler<br />

ein Lächeln abnötigte: "<strong>Ingrid</strong>, es ist nur ein Film", sagte er ihr<br />

ruhig – im Wissen darum, dass sie sich beide darin einig waren,<br />

dass es sich im grossen Spektrum von Leben und Tod<br />

wirklich "nur" um einen Film handelte, w<strong>ob</strong>ei sie allerdings<br />

auch wussten, dass es ein Film war, der ihnen beiden in mehrfacher<br />

Hinsicht sehr viel bedeutete. Aber diesmal liess sich<br />

<strong>Ingrid</strong> mit dieser scherzhaften Ironie nicht beschwichtigen,<br />

sondern fuhr fort ihm klarzumachen, dass das, was er von ihr<br />

wollte, unmöglich sei. "Und dann", sagte Hitchcock, tat ich<br />

das, was ich immer mache, wenn es Streit gibt. Ich drehte<br />

mich um und ging nachhause. Tags darauf sagte <strong>Ingrid</strong>:<br />

"Okay, Hitch - wir machen es nach deiner Art." Ich entgegnete:<br />

"Es ist nicht meine Art, <strong>Ingrid</strong> – es ist die richtige Art."<br />

In diesem Fall war es wirklich so. Am Tag nach der<br />

Pr<strong>ob</strong>e legte <strong>Ingrid</strong> ihren neunminütigen Geständnismonolog<br />

hin wie eine Strauss-Arie. Sie begann ruhig, lächelnd bei der<br />

Schilderung von Henriettas glücklichen Jugenderinnerungen.<br />

Dann wurde sie resolut bei der Erinnerung an ihre Hochzeit<br />

mit dem Stallburschen Sam Flusky gegen den Willen ihrer<br />

aristokratischen Familie. Von da an das Crescendo zum Höhepunkt<br />

bei der dramatischen Schilderung, wie sie ihren Bruder<br />

erschoss. Dann sackte sie ab zur tränenreichen und dankbaren<br />

Loyalitätserklärung an ihren Ehemann für dessen Leiden und<br />

Treue während all den Jahren. Trotzdem der Film selbst von<br />

Hitchcock-Fans nicht besonders hoch einges<strong>tu</strong>ft wurde, wurde<br />

<strong>Ingrid</strong>s Szene nach Jahren zum S<strong>tu</strong>dien<strong>ob</strong>jekt für S<strong>tu</strong>denten<br />

361


und arrivierte Filmautoren.<br />

PETTER UND PIA WAREN Mitte August London-Touristen,<br />

während sich <strong>Ingrid</strong> an Wochenenden zu Ausflügen zu<br />

ihnen gesellte; für den Moment schien im Interesse des Kindes<br />

ein trügerischer Waffenstillstand zu herrschen. Was das geplante<br />

Treffen mit Rossellini anbelangt, so hing dies von Hitchcocks<br />

Terminplänen für die Dreharbeiten ab. <strong>Ingrid</strong> sagte<br />

Hitchcock nur, dass ihr Mann zur Feier ihres Geburtstages mit<br />

ihr nach Paris fahren wolle, und dafür stellte er seine ganzen<br />

Pläne bereitwillig um. So war das Rossellini-<strong>Bergman</strong>-<br />

Lindström-Treffen zum Lunch im Hotel George V in Paris auf<br />

Samstag, 28. August geplant – ein gutes Vorzeichen, sagte<br />

<strong>Ingrid</strong>, denn tags darauf feierte sie ihren 33. Geburtstag.<br />

Aber Petter hatte schlechte Nachrichten: er erzählte ihr,<br />

dass er während des Sommers von Selznicks Leuten erfahren<br />

habe, dass es Schwierigkeiten gebe, mit Rossellini, der mit<br />

unnachgiebiger Härte verhandle, zu einem Vertragsabschluss<br />

zu kommen. Für <strong>Ingrid</strong> war das typisches Hollywood-Palaver.<br />

Sie wollte mit dem grossen Regisseur einen Film machen, basta.<br />

Wenn nicht mit Selznick, dann vielleicht eben mit Samuel<br />

Goldwyn oder Howard Hughes oder sonst einem Mogul. "Meine<br />

Mutter war manchmal wie ein Zug, der eine Strecke<br />

hinunterrast", sagte Pia Jahre später. "Nichts und niemand<br />

konnte sie stoppen, wenn sie etwas im Kopf hatte. Sie hatte<br />

eine Entschlossenheit aus Stahl." Der Sommer 1948 war eine<br />

solche Zeit, <strong>als</strong> dieser Wille mit nichts zu bremsen war, nicht<br />

einmal von Petter.<br />

Das Treffen fand dann im George V endlich statt – nicht<br />

über Mittag, sondern während einem ausgedehnten Dinner in<br />

der Suite von Filmverleiher Ilya Lopert, der netterweise bereits<br />

für einen Uebersetzer gesorgt hatte. Rossellini selbst hatte sich<br />

für diesen Anlass sorgfältiger vorbereitet, <strong>als</strong> er je einen Laienschauspieler<br />

geführt hatte. Seine Erscheinung war nicht sonderlich<br />

bemerkenswert: er trug einen zerknitterten dunkeln<br />

Anzug, mindestens zwei Nummern zu gross, was er <strong>Ingrid</strong> da-<br />

362


mit erklärte, dass er sich in einer permanenten Diätkur befinde.<br />

Sie verstehe das, sagte sie lachend. Dann, <strong>als</strong> herzhaft<br />

diniert wurde, verblasste Rossellinis Zurückhal<strong>tu</strong>ng zusehends:<br />

er erzählte neuerdings die Geschichte von "Terra di Dio", w<strong>ob</strong>ei<br />

seine dramatischen Gesten und Beschriebe mit tiefgründig philosophischen<br />

Exkursen wechselten.<br />

"Machen wir den Film – ja oder nein?" fragte er, mit einem<br />

plötzlichen Anflug von Schüchterheit, <strong>als</strong> er geendet hatte.<br />

Dann zog er eine Rose aus dem Tischarrangement und begann<br />

sie zu entblättern: "Wir machen es – wir machen es nicht<br />

– wir machen es – wir machen es nicht . . ."<br />

"Es wird mir eine Ehre sein, meinen Teil dazu beizutragen",<br />

antwortete <strong>Ingrid</strong> indem sie einen scharfen Blick von<br />

Petter ignorierte, der eben begann, mit Lopert einige finanzielle<br />

Fragen zu diskutieren. Weil diese Fragen Rossellini und <strong>Ingrid</strong><br />

überhaupt nicht interessierten, setzten sie ihre Unterhal<strong>tu</strong>ng<br />

über Kulinarisches und Weine, über Hitchcock und Jean<br />

Renoir, Musik, Kunst und Geschichte fort – alles was in<br />

Rosselinis geräumigen und freizügigen Geist einfloss.<br />

Sie wiederholte ihre Bewunderung für seine zwei Filme,<br />

die sie gesehen hatte, und er erzählte leidenschaftlich mit<br />

schwingenden Armen, unter welchen Umständen sie zustande<br />

gekommen seien – unter sehr bescheidenen und einfachen<br />

Umständen. Er sprach authoritär, von allem und jedem hatte<br />

er klare Vorstellungen. Und sein Leben machte Filme, eine<br />

neue Art von Filmen, wie er sagte, eine Sprache der visuellen<br />

Wahrheit. Obschon <strong>Ingrid</strong> sagte, sie habe sich schon früher "in<br />

ihn verliebt", <strong>als</strong> sie seine Filme in New York sah, war dieser<br />

Abend nun wirklich der Moment der ersten Leidenschaft. Das<br />

Arbeitsessen dauerte bis Mitternacht, <strong>als</strong> Lopert zu <strong>Ingrid</strong>s Geburtstag<br />

eine Flasche Champagner entkorkte. R<strong>ob</strong>ertos intensiver,<br />

dunkler Blick verfolgte sie bis sich alle verabschiedeten;<br />

ihre Hand zitterte, <strong>als</strong> sie seine Glückwünsche entgegennahm<br />

und sein Glas das Ihre berührte.<br />

363


ES FIEL ROBERTO NICHT LEICHT, Amalfi zu verlassen,<br />

wo er "La Macchina ammazzacattivi" filmte. Magnani besuchte<br />

ihn an den Wochenenden, w<strong>ob</strong>ei es ihm etwelche Mühe bereitete,<br />

ihr zu entkommen. Als die Arrangements für Paris<br />

schliesslich vorlagen, sagte er dem Hotelportier: "Ich erwarte<br />

ein Telegramm, aber geben Sie es mir nicht, bevor ich Sie darum<br />

bitte – verstehen Sie?" Verstanden. Als R<strong>ob</strong>erto jenen<br />

Abend mit Leuten seiner Crew dinierte, kam der Portier heran<br />

und erklärte mit klarer, pflichteifriger Stimme: "Herr Rossellini,<br />

wenn Sie das Telegramm möchten, das ich Ihnen nicht geben<br />

soll, bevor Sie mich darum bitten, kann ich es Ihnen jetzt geben."<br />

Glücklicherweise hielt sich Magnani etwas abseits vom<br />

Tisch auf, weil ansonsten die Teller und Gläser auf dem Tisch<br />

möglicherweise nicht überlebt hätten.<br />

Ungestüm und oft gewalttätig, wie sie war, hatte sie die<br />

fröhliche Gewohnheit, ihn mit einer Portion dampfender Pasta<br />

zu krönen, wenn sie vor Eifersucht überschäumte. R<strong>ob</strong>erto,<br />

seinerseits weitherum für seine Leidenschaft für Sportwagenrennen<br />

bekannt, verfuhr ebenfalls schnell und rücksichtslos mit<br />

Frauen. Diesen Sommer jonglierte er wenigstens deren fünf:<br />

Anna Magnani, seine Mätresse seit 1944; Marilyn Buferd (Miss<br />

America 1946, die in seinem ak<strong>tu</strong>ellen Fim spielte; Roswita<br />

Schmidt, eine deutsche Nachtclub-Tänzerin, nun vornehmlich<br />

Ex-Geliebte aber immer noch für gelegentlichen Zeitvertreib<br />

gefragt; eine ungarische Blondine namens Ava; und dann und<br />

wann seine von ihm getrennt lebende Frau Marcella de<br />

Marchis, zu der er eine auf eigenartige Weise wenigstens emotional<br />

treue Beziehung unterhielt. <strong>Ingrid</strong> wusste von diesem<br />

Harem nichts, <strong>als</strong> sie ihn kennenlernte.<br />

ROBERTO ROSSELLINI WAR neun Jahre älter <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong>.<br />

Am 8. Mai 1906 in Rom geboren, war er der älteste von vier<br />

Söhnen eines Architekten, der den Corso und die Barberini<br />

Theater in Rom gebaut hatte und seinen Sohn lehrte, mit<br />

technischen Gerätschaften herumzubasteln, worunter auch mit<br />

Kameras und Projektoren. In einem intellek<strong>tu</strong>ellen Umfeld auf-<br />

364


gewachsen, wurde R<strong>ob</strong>erto von seinem Vater sinnlos verwöhnt.<br />

Als er eines Abend nachhause zurückgekehrt war, verlangte<br />

er von seinem Vater das Geld für den Taxifahrer. "Natürlich",<br />

sagte Herr Rossellini, während er nach seiner Brieftasche<br />

griff; woher sein Sohn denn komme? "Neapel", antwortete<br />

R<strong>ob</strong>erto ohne mit der Wimper zu zucken. Papa lachte und<br />

gab ihm das Geld für die 150-Meilen-Fahrt.<br />

Der junge R<strong>ob</strong>erto kehrte irgendwann der Schule den<br />

Rücken und arbeitete dann in Gelegenheitsj<strong>ob</strong>s im Verlagswesen;<br />

jeden freien Moment verbrachte er im Kino. Von Flugzeugen<br />

und Rennwagen fasziniert, wurde er in Rom auch <strong>als</strong> so<br />

etwas wie ein moderner Casanova bekannt, wo ihm seine Umgangsformen<br />

und sein Charme Zutritt sowohl zur Prominenz<br />

wie auch zu zweifelhaften Kreisen verschafften. Unter seinen<br />

frühen Liebschaften war ein hübsches französisches Mädchen<br />

namens Titi Michelle, der er durch halb Europa folgte, bevor er<br />

ihre lautstarke Abfuhr akzeptierte. Nach Meinung gewisser<br />

Leute war dies das einzige Mal, dass er "nein" <strong>als</strong> Antwort verstand.<br />

Aber etwas Seltsames geschah, <strong>als</strong> R<strong>ob</strong>erto mit etwa<br />

zwanzig Jahren aus nie völlig geklärten Gründen von seinen<br />

Eltern in eine psychiatrische Klinik in der Umgebung von Neapel<br />

eingewiesen wurde. Das offizielle Dokument (das für einen<br />

erfolglosen Visa-Antrag, den Rossellini 1946 und 1948 für<br />

Amerika stellte, in die englische Sprache übersetzt wurde) hielt<br />

lediglich fest, dass "seine Eltern ihn von dem, was sie <strong>als</strong> eine<br />

jugendliche Leidenschaft bezeichneten, ablenken wollten, die<br />

sie zu jener Zeit <strong>als</strong> gefährlich und für ihn unvorteilhaft ansahen".<br />

Das war ein Meisterstück der Verschleierung, das auf<br />

unterschiedlichste Arten interpretiert wurde: Rossellini geriet in<br />

eine Bande von drogenabhängigen Jugendlichen; Rossellini<br />

trieb Exzesse mit seinem Sportwagenwahn; Rossellini verliebte<br />

sich in eine unerwünschte Frau. Erzwungene Asylierung wäre<br />

ein starkes Mittel gegen diese Tendenzen gewesen und nichts<br />

im Wesen seiner Eltern hätte darauf hingewiesen, dass sie es<br />

ihrem Jungen ohne zwingende Notwendigkeit zugemutet hätten.<br />

Im Gegenteil, es wurde festgestellt (u.a. von Jenia<br />

365


Reissar, die ihn während Jahren sehr gut kannte), dass R<strong>ob</strong>erto<br />

eine Art nervösen Zusammenbruchs erlitt und während seines<br />

ganzen Lebens gelegentlichen Anfällen von geistiger Verwirrung<br />

unterworfen war. Was auch immer geschah, er war<br />

innerhalb eines Jahres in Rom zurück, wo er seine verrückte<br />

Beziehung zu Liliana Castagnola, einer gutmütigen, zweitklassigen<br />

Variété-Sängerin, wieder aufnahm.<br />

Von allem Anfang an war Rossellinis Beziehung zum<br />

Film unausweichlich verbunden mit seinen amourösen Er<strong>ob</strong>erungen.<br />

1931, gleich nach dem Tod seines Vaters, traf er eine<br />

junge Schauspielerin namens Assia Noris, eine in Russland<br />

geborene Kommödiantin mit besten Aussichten auf eine entsprechende<br />

Karriere im italienischen Film. Aber Assia hatte<br />

altmodische Vorstellungen und vertrat u.a. auch die Meinung,<br />

dass vor dem Sex geheiratet werde. "Wir heiraten", erklärte<br />

er liebevoll, und im Handumdrehen war eine kirchliche Trauung<br />

mit einem Erzbischof, Priestern, einem Chor und Organisten<br />

arrangiert – nebst einem offiziellen Dinner danach, worauf<br />

die Rossellinis die Ehe vollzogen und ihr gemeinsames Heim<br />

bezogen. Noch vor Ablauf eines Jahres stellten beide fest,<br />

dass sie sich geirrt hatten: er war bereits auf Abwegen und<br />

sie hatte einen Mann getroffen, der viel besser zu ihrem Temperament<br />

und ihrem Wesen passte. Als sie ihm ihr Dilemma<br />

gestand, zuckte er bloss die Achseln und meinte: "Also heirate<br />

ihn!"<br />

366<br />

"Aber ich bin doch schon verheiratet", schrie sie.<br />

"Nein, meine Liebe, bist du nicht", antwortete Rossellini<br />

ruhig, "das war alles nur Theater. Nur Schauspieler und<br />

Requisiten, alles. Du bist frei." Später bezeichneten gewisse<br />

Leute das Ganze <strong>als</strong> reine jugendliche Angeberei, aber es signalisiert<br />

in jedem Fall eine eher kapriziöse (wenn nicht geschmacklos<br />

theatralische) Beziehung zum eigenen und zum<br />

Leben anderer.<br />

Nachdem nun Noris Geschichte war, gab es einen kurzen<br />

Rückfall in die Liliana Castagnola-Affäre: er überschüttete<br />

sie derart mit Schmuck, dass sich sein Erbe in nichts auflöste.


Und dann passierte etwas Schreckliches: Liliana wurde tot<br />

aufgefunden, verstorben an einer Überdosis Drogen. Somit<br />

vielleicht kein Wunder, <strong>als</strong>o, dass seine Filme mehr und mehr<br />

das ungeschminkte tägliche Leben und den Durchschnittsmenschen<br />

betrafen, was Rossellinis eigenes Leben so wenig<br />

betraf. Er selbst war buchstäblich fantastisch.<br />

1936 HEIRATETE ROSSELLINI Marchella de Marchis, die<br />

einer alten Aristokratenfamilie entstammte; sie gebar ihm zwei<br />

Söhne, Marco und Renzo. Nachdem er <strong>als</strong> Tontechniker, Verleger,<br />

Script Supervisor und Hilfsregisseur gearbeitet hatte, erhielt<br />

R<strong>ob</strong>erto schliesslich seine Chance <strong>als</strong> Regisseur. Vor 1941<br />

produzierte er ein halbes Dutzend Kurzfilme und arbeitete an<br />

einem Projekt mit, das von Vittorio Mussolini, einem Sohn des<br />

Duce, überwacht wurde. Noch vor der Befreiung Roms leitete<br />

er vier Produktionen während des faschistischen Regimes, <strong>ob</strong>schon<br />

er selbst der Christlich Demokratischen Partei angehörte<br />

– eine politische Gratwanderung, die dam<strong>als</strong> und später einige<br />

seiner Freunde und Gegner vereinte. Ueber seine humanistische<br />

und antifaschistische Einstellung gab es keinen Zweifel<br />

mehr, nachdem die Welt "Open City" gesehen hatte, mit dessen<br />

Aufnahmen im Geheimen im Januar 1945 begonnen wurde<br />

und der den Beginn jener Stilrich<strong>tu</strong>ng markierte, die später <strong>als</strong><br />

Neorealismus bezeichnet wurde. Seine Veröffentlichung 1946<br />

brachte R<strong>ob</strong>erto auf die Weltbühne.<br />

Sein Privatleben hätte unterdessen das Material zu einem<br />

erfolgreichen Trivialroman abgegeben. "Open City" wurde<br />

zum Teil durch seine Frau und Roswita Schmidt finanziert, die<br />

seinetwegen Schmuck veräusserte. Am 14. August 1946 starb<br />

sein Sohn Marco plötzlich an einer Bauchfellentzündung.<br />

Gleichzeitig erkrankte Anna Magnanis unehelicher Sohn an<br />

Kinderlähmung. R<strong>ob</strong>ertos stürmische Affäre mit ihr hatte 1939<br />

begonnen, und <strong>ob</strong>wohl er nicht dessen leiblicher Vater war,<br />

spielte R<strong>ob</strong>erto oft den Ersatzvater. Im Sommer 1948 hatte sie<br />

sich schliesslich fest <strong>als</strong> das Zentrum von R<strong>ob</strong>ertos Leben etabliert<br />

und durchgesetzt, dass Roswita auf der Insel Capri exiliert<br />

367


wurde, wo Rossellini sie während Jahren in einfachen Verhältnissen<br />

unterhalten hatte. Magnanis starke Leis<strong>tu</strong>ngen – in<br />

"Open City", "The Human Voice" und "The Miracle" – trugen<br />

wesentlich zum exaltierten Sta<strong>tu</strong>s bei, den Rossellini unter den<br />

Europäischen Filmemachern genoss. Bald danach versuchte<br />

Marcella zum zweiten Mal, ihre Ehe anullieren zu lassen<br />

(Scheidungen waren dam<strong>als</strong> in Italien ungesetzlich).<br />

DIE BEHAUPTUNG, R<strong>ob</strong>ertos Arbeitsmethoden seien unkonventionell<br />

gewesen, wäre eine krasse Untertreibung. An<br />

einem Aufnahmeort konnte alles zum Besten vorbereitet sein,<br />

aber wenn er Lust hatte zu fischen, dann verschwand er für<br />

S<strong>tu</strong>nden oder gar einen ganzen Tag. Nach seiner Rückkehr<br />

erwartete er von seiner treuen Crew, dass sie unermüdlich<br />

während 20 S<strong>tu</strong>nden oder länger arbeitete, um den erlittenen<br />

Zeitverlust wettzumachen. Konnte oder wollte einer der Laiendarsteller<br />

seine Anweisungen nicht genauestens befolgen, explodierte<br />

R<strong>ob</strong>erto oft heftig – eine Reaktion, die er dank seiner<br />

lebenslangen Sensibilität und Grosszügigkeit in den unterschiedlichsten<br />

Versionen beherrschte. Sein unstetes Temperament<br />

bereitete seiner Crew und seinen Schauspielern Sorge<br />

und nährte ausserdem das Gerücht, dass er neben seinem<br />

Charme und der offenkundigen Kreativität tatsächlich auch<br />

einen wankelmütigen Geist habe.<br />

R<strong>ob</strong>erto konnte grossartig arbeiten und ohne Unterlass<br />

Ideen entwickeln; er konnte aber auch während Monaten unglaublich<br />

träge sein und nur zur Arbeit zurückkehren, wenn er<br />

Geld brauchte – was in seinem Leben tatsächlich der einzige<br />

verlässliche Zustand war. R<strong>ob</strong>erto konnte unwiderstehlichen<br />

Charme verströmen und zweifelsohne hatte er auch in manchen<br />

Dingen einen guten Instinkt. Aber im Wesentlichen war er<br />

eine träge, chaotische Seele, und daraus erwuchsen ihm<br />

Schwierigkeiten.<br />

"Sie wissen, dass ich mit R<strong>ob</strong>erto gut befreundet bin",<br />

schrieb seine Agentin, Arabella le Maitre, im September an<br />

Jenia Reissar,<br />

368


"und ich hasse es, ihn belasten zu müssen. Ich habe<br />

mit Leuten gesprochen, die im letzten Film für ihn gearbeitet<br />

haben. Alle sind sie angewidert. Stellen Sie<br />

sich vor, er hat den Film nicht einmal selbst fertiggestellt<br />

– er verliess Majori und bat (den Scriptwriter<br />

Sergio) Amidei, den Film fertig zu machen! Alles war<br />

ein Drunter und Drüber; sie arbeiteten kaum je während<br />

des Tages, nur weil er fischen gehen musste!<br />

Leute, die ihn gut kennen, und sogar Verwandte behaupten,<br />

er werde sich nie ändern, und ich fürchte,<br />

dass wenn er mit Herrn Selznick einen Vertrag<br />

schliesst, dieser Pr<strong>ob</strong>leme bekommen wird. Er mag<br />

sich bessern und sein Leben neu organisieren, aber ich<br />

hielt es für meine Pflicht, Ihnen zu sagen, was ich<br />

weiss, und Sie zu warnen."<br />

Der Brief, geschrieben am 16. September, <strong>als</strong> Arabella<br />

einen Selznick-Rossellini-<strong>Bergman</strong>-Handel immer noch für<br />

möglich hielt, zeigt, wie ernst sie die derzeitige Si<strong>tu</strong>ation ihres<br />

(bald Ex-)Kunden beurteilte. Gleich unerbittlich wie ein Zeuge<br />

für die Pr<strong>ob</strong>leme mit Rossellini war sein Anwalt, Signor<br />

Graziadei, der Reissar (in einem Schreiben vom 21. September)<br />

ebenfalls vor seinem Klienten warnte. "Graziadei betrachtet<br />

R<strong>ob</strong>erto nicht <strong>als</strong> seriösen Geschäftsmann", schrieb Reissar<br />

noch gleichentags an Selznick. In Culver City unterwegs konnte<br />

Selznick – unter Anrufung des Namens des Anwalts – Gott<br />

auf den Knien für die Warnung danken. Das war dann auch<br />

das Ende dieses Selznick-Projekts.<br />

Als R<strong>ob</strong>erto im August <strong>Ingrid</strong> traf, war Marilyn Buferd<br />

die Frau des Moments. Ihre Affäre hatte im Juli begonnen,<br />

aber nach R<strong>ob</strong>ertos Besuch in Paris wurde Marilyn es überdrüssig,<br />

ständig von <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> und den Plänen zu hören,<br />

die er für sie hegte. Er sagte nur, sie habe sich zweifelsohne in<br />

seinen Charme verliebt, womit er verdammt recht hatte.<br />

"Schwedinnen lassen sich weltweit am leichtesten beeindrucken",<br />

sagte er Marilyn, "weil sie so kalte Männer haben. Die<br />

Liebe, die sie bekommen, ist ein Schmerzmittel anstelle eines<br />

Stärkungsmittels."<br />

369


IN NUR SCHLECHT UNTERDRÜCKTER Aufregung kehrte<br />

<strong>Ingrid</strong> am Montag Morgen, dem Tag nach ihrem 33. Geburtstag,<br />

nach London und zum Hitchcock-Set zurück. Der Regisseur<br />

erwartete sie geduldig im Kreise anderer Cast-Mitarbeiter.<br />

Wie ihr Weekend denn gewesen sei? wollten alle wissen. "Ich<br />

traf einen italienischen Regisseur, das ist alles", antwortete<br />

<strong>Ingrid</strong> errötend. Aber natürlich wussten alle, was wirklich los<br />

war, und niemand war besorgter <strong>als</strong> Alfred Hitchcock. "Als es<br />

schliesslich soweit war, nahm er ihr den Wegzug zu Rossellini<br />

übel", meinte Arthur Laurents (der "ROPE" geschrieben hatte<br />

und den Hitchcocks nach wie vor nahe stand). "Seine Verärgerung<br />

hatte ihren Grund nicht nur im Umstand, dass er <strong>Bergman</strong><br />

anbetete. Es war auch, weil sie ihn für einen andern Regisseur<br />

verliess."<br />

Gegen Ende September war "Under Capricorn" fertig,<br />

und die drei Lindströms verreisten zu einem Ferienaufenthalt<br />

in Schweden – <strong>Ingrid</strong>s Heimkehr nach neun Jahren Abwesenheit.<br />

Eine Horde von Fotographen umringte sie beim Verlassen<br />

des Flugzeugs und Autogrammjäger drängten heran. Gustav<br />

Molander, mit dem sie sechs ihrer schwedischen Filme drehte,<br />

war zugegen um sie zu begrüssen, zusammen mit Victor<br />

Sjöström und einem Komitee der Filmfreunde. Blumen wurden<br />

gereicht und aus jedem Bouquet zog sie eine Blume für<br />

Molander. Auf die Frage nach dem Gerücht, wonach sie einen<br />

Film mit R<strong>ob</strong>erto Rossellini mache, antwortete <strong>Ingrid</strong> diplomatisch:<br />

"Ich mag ihn. Ich habe ihm sogar geschrieben und meine<br />

Zusammenarbeit angeboten. Wir werden uns treffen und<br />

Projekte besprechen, aber er spricht kein Englisch und ich kein<br />

Italienisch!" Kein Wort über ihre Begegnung.<br />

Die Familie verbrachte eine Woche im Grand Hotel in<br />

Stockholm, spazierte dem Kanal entlang und besuchte ihre<br />

alten Lieblings-Restaurants und –Tearooms. Die Presse berichtete<br />

über jeden ihrer Ausgänge mit detaillierten Beschreibungen<br />

von <strong>Ingrid</strong>s Schuhfarbe, Haarlänge und wie lange dieser<br />

oder jener Spaziergang dauerte. Die Reporter der führenden<br />

Zei<strong>tu</strong>ngen berichteten über <strong>Ingrid</strong> und Petter sehr sachlich, wie<br />

über die Königin und den Prinzgemahl. Ruhiger wurde der Be-<br />

370


trieb, <strong>als</strong> sie sich am 12. Okt<strong>ob</strong>er zu Petters Familie nach<br />

Stöde begaben; dort unternahm <strong>Ingrid</strong> mit Pia lange Ausflüge<br />

über Land und alle genossen ihres Schwiegervaters preisgekrönte<br />

goldenen Pflaumen, eine seltene Sorte, für die dieser<br />

Gartenzauberer weitherum bekannt war.<br />

Noch vor Ende Okt<strong>ob</strong>er waren die Lindströms zurück in<br />

Beverly Hills. <strong>Ingrid</strong> erhielt einen Anruf von Walter Wanger, der<br />

wissen wollte, <strong>ob</strong> sie nach New York komme, wo Victor Fleming<br />

sie zur Premiere von "Joan of Arc" erwartete. Sie reiste sofort<br />

ab, und <strong>ob</strong>schon sie und Fleming eine Nacht privat verbrachten,<br />

war ihnen beiden klar, dass die Beziehung vorbei war. Sie<br />

freute sich auf eine lebenslange Freundschaft, während er feststellte,<br />

dass ihm solches nicht sehr liege.<br />

Unter grossem Halloo lief der Film am 11. November<br />

an, und weil <strong>Ingrid</strong> von der Presse sehr gerühmt wurde, standen<br />

die Leute während S<strong>tu</strong>nden in langen Schlangen an, <strong>ob</strong>schon<br />

der Herbst ungewöhnlich kalt war – und der Film im<br />

Grossen und Ganzen unvorteilhafte Kritiken erhielt. "Gegen<br />

ihre Aufrichtigkeit ist kein Kraut gewachsen", so in etwa lautete<br />

eine allgemeine L<strong>ob</strong>eshymne für <strong>Ingrid</strong>. "Sie hat die seltene<br />

Gabe, die Tugend interessant zu machen und dabei echt aufzuleuchten."<br />

Der Film aber wurde abgelehnt <strong>als</strong> "ein Meisterwerk<br />

von filmischer Archaik, weder echtes Drama noch historische<br />

Nachbildung und sein geistliches Thema bewegt sich auf Sonntagsschul-Niveau.<br />

Er hätte inspirativ sein sollen, ist aber prätentiös<br />

und hohl."<br />

<strong>Ingrid</strong> bedauerte, <strong>als</strong> Einzige eine gute Presse erhalten<br />

zu haben. "Es stimmt, dass Leute, die in der Kinokassenschlange<br />

stehen keine Kritiken lesen", sagte sie zu einem Kolumnisten,<br />

"aber für mich ist wichtig, was die schreiben." Sie<br />

hatte mehr Vorberei<strong>tu</strong>ngsarbeit, mehr Sorgfalt, Energie und<br />

Liebe in diese Rolle investiert, <strong>als</strong> in irgendeine andere ihrer<br />

ganzen Karriere. Niemand kannte die Produktionspr<strong>ob</strong>leme und<br />

Schwächen des Films besser <strong>als</strong> sie und niemand empfand seinen<br />

Durchfall bitterer. Der negativen Kritik zum Trotz spielte<br />

der Film seine Kosten mit einem satten Profit längstens ein,<br />

371


und anfangs 1949 erhielt "Joan of Arc" sieben Academy<br />

Award-Nominationen – darunter die vierte in <strong>Ingrid</strong>s Karriere<br />

für die beste weibliche Hauptrolle (nur die Kameraleute und<br />

Kostümdesigner des Films erhielten im kommenden Frühjahr<br />

die Sta<strong>tu</strong>e).<br />

Wie üblich vermochte <strong>Ingrid</strong>s persönlicher Erfolg ihr den<br />

Kopf nicht zu verdrehen; im Gegenteil, sie fürchtete mehr<br />

denn je zuvor, dass sie nach zehn Jahren und vierzehn Filmen<br />

in Amerika für Hollywood nicht mehr taugte und Hollywood<br />

andererseits auch ihr nicht mehr entsprach. Als sich 1948 dem<br />

Ende zu neigte, sah sie zurück auf "Arch of Triumph", "Joan of<br />

Arc" und "Under Capricorn" ; dem letzteren, wie auch den beiden<br />

andern, war kein Presseerfolg beschieden, aber er trug ihr<br />

persönlich hervorragende Kritiken ein, <strong>als</strong> er im September<br />

1949 anlief. Alle drei Filme waren für <strong>Ingrid</strong> persönliche Enttäuschungen,<br />

umsomehr <strong>als</strong> sie sich für alle sehr intensiv eingesetzt<br />

hatte. Ihre letzte, quälende Entäuschung lag aber im<br />

Umstand, dass es ihr nicht gelungen war, jemanden dafür zu<br />

interessieren, "Of Lena Geyer" auf die Leinwand zu bringen.<br />

"Ich starb fast vor Angst, Hollywood würde mich nicht<br />

mögen", sagte sie am Vorabend ihrer Abreise von Schweden<br />

vor nahezu einem Jahrzehnt. Leider sollte sie bald Recht bekommen<br />

– w<strong>ob</strong>ei die Ablehnung eher ihrem Privatleben galt,<br />

<strong>als</strong> ihrem Talent, was sie so nie erwartet hätte.<br />

Diesen Herbst fand <strong>Ingrid</strong> ihren einzigen Halt im Gedanken,<br />

dass sie wirklich nach Italien gehen würde um einen<br />

Film mit R<strong>ob</strong>erto zu machen; er sagte ja, dass er seine Produktion<br />

leicht innerhalb von zwei Monaten bewerkstelligen könne<br />

und dass sie darin jede beliebige Sprache benutzen könnte,<br />

weil so oder so alles synchronisiert werde. Auch sandte er <strong>Ingrid</strong><br />

seit ihrer Rückkehr nach Kalifornien Brief um Brief, um ihr<br />

seine Ideen für weitere Szenen zu "Terra di Dio" auseinanderzulegen,<br />

w<strong>ob</strong>ei er sich für seine ungezügelte Schreiberei entschuldigte<br />

und mit "Ihr ergebener R<strong>ob</strong>erto" unterschrieb.<br />

Am 20. November, beispielsweise, schrieb er ihr, er sei<br />

an der Arbeit, aber gewisse Scriptseiten seien gut, andere<br />

372


nicht, und tags darauf wieder gut. In Tat und Wahrheit gab es<br />

gar kein Script, weil er wie immer nur sehr <strong>ob</strong>erflächlich plante<br />

und nichts schriftlich festgehalten wurde. Am 4. Dezember<br />

antwortete ihm <strong>Ingrid</strong> unter Bezugnahme auf ihre Begegnung,<br />

wo er die Blume zerpflückte ("Machen wir den Film, machen<br />

wir ihn nicht, machen wir ihn..."):<br />

"Lieber Herr Rossellini,<br />

Von heute an müssen Sie keine Blumen mehr zerpflücken.<br />

Nun sage ich: gutes Script, schlechtes Script,<br />

gutes Script – spielt keine Rolle! Ich bin sehr glücklich.<br />

<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>n"<br />

Als Weihnacht nahte, stürzte sie sich in die Festtags-<br />

Vorberei<strong>tu</strong>ngen. Pia, jetzt zehnjährig, wünschte sich ein Fahrrad,<br />

und Petter hatte <strong>Ingrid</strong> das Geld gegeben, eines zu kaufen.<br />

Aber <strong>als</strong> Mutter und Tochter im Warenhaus waren, um die<br />

Dekorationen anzusehen und den Weihnachtsmann zu besuchen,<br />

entdeckte Pia eine grosse ausgestopfte Kuh mit einer<br />

Küchenschürze und einem mütterlichen Lächeln. Es war Elsie<br />

Borden, auf einem lebensgrossen Plakat der Milchgesellschaft,<br />

und Pia wollte nun plötzlich Elsie und nicht das Fahrrad. Unsinn,<br />

sagte Petter, <strong>als</strong> ihm <strong>Ingrid</strong> davon erzählte: eine ausgestopfte<br />

Kuh für $ 75? Nein, das gibt's nicht. Ein Fahrrad ist<br />

sinnvoller. So erhielt Pia ihr Fahrrad am Weihnachtsmorgen<br />

und musste weiterhin ohne Elsie <strong>als</strong> Zimmergenossin auskommen.<br />

Zuhause war es die trostloseste Weihnacht aller Zeiten.<br />

<strong>Ingrid</strong> wollte noch immer (wenn auch nicht mehr so enthusiastisch)<br />

ein zweites Kind haben – ein Junge, so hoffte sie, und<br />

vielleicht würden sie ihn Pelle nennen. Sie und Petter feierten<br />

die Vollendung der Hauserweiterung um das Kinderzimmer mit<br />

einem verschwenderischen Dinner bei Skandia, einem renommierten<br />

nordischen Restaurant am Sunset Boulevard.<br />

Aber dieser Abend hatte schreckliche Folgen, die sie <strong>als</strong><br />

Omen hätten ansehen müssen: einige S<strong>tu</strong>nden nach ihrer<br />

Heimkehr erkrankte Petter an einer heftigen Lebensmittelver-<br />

373


gif<strong>tu</strong>ng und litt während fast eines Jahres danach an (vielleicht<br />

durch Stress verstärkten) Magenschmerzen. "So wurden meine<br />

Ehepr<strong>ob</strong>leme noch durch körperliche Pr<strong>ob</strong>leme verschärft",<br />

reflektierte er Jahre danach.<br />

Aber <strong>Ingrid</strong>s Sorge um Petter wurde durch einen Telefonanruf<br />

überschattet, den sie einige Tage nach Neujahr erhielt.<br />

Kurz vor seinem 66. Geburtstag erlag Victor Fleming, der<br />

sich mit seiner Frau in Arizona in den Ferien befand, einer<br />

schweren Herzattacke. Fleming war ein Trinker und Kettenraucher<br />

mit einem cholerischen Temperament, der gesundheitliche<br />

Warnungen seit Jahren in den Wind schlug. Während Tagen<br />

war <strong>Ingrid</strong> untröstlich.<br />

Am Nachmittag der Beerdigung, wie auf Bestellung, traf<br />

ein Telegramm an 1220 Benedict Canyon Drive ein. Nach einigen<br />

vergeblichen Anläufen hatte R<strong>ob</strong>erto Rossellini nun endlich<br />

sein Visum erhalten und befand sich auf dem Weg nach New<br />

York zur Entgegennahme eines Awards. Ob er nicht zur Besprechung<br />

ihres Films nach Hollywood kommen könne?<br />

Petter hielt das für eine ausgezeichnete Idee und ging<br />

noch weiter, indem er <strong>Ingrid</strong> vorschlug, ihn <strong>als</strong> Gast in ihrem<br />

Hause aufzunehmen. Dieses Vorgehen würde sicher von andern<br />

Produzenten wie Samuel Goldwyn und Howard Hughes<br />

ach<strong>tu</strong>ngsvoll zur Kenntnis genommen. Ausserdem würde Rossellinis<br />

Besuch in ihrem Hause klar signalisieren, dass <strong>Ingrid</strong><br />

ihre Zukunft in die eigenen Hände nahm, indem sie mit den<br />

grössten Tieren unter den ausländischen Filmemachern ein<br />

Projekt verhandelte, das unter der Lei<strong>tu</strong>ng der Lindströms stehen<br />

würde. In Hollywood, fügte Petter bei, müsste man sich<br />

ein neues Bild von ihnen machen.<br />

374


1948 - mit Victor Fleming an der "Jeanne d'Arc"-Premiere<br />

375


376<br />

1948 - <strong>als</strong> Lady Henrietta in "Under Capricon"


1949<br />

"Ich kann nicht verstehen, warum die Leute immer meinen,<br />

ich sei nur rein und edel. Jeder Mensch hat doch seine<br />

schlechten und seine guten Seiten."<br />

(<strong>Ingrid</strong>s Kommentar zu ihrer masslosen öffentlichen<br />

Verehrung)<br />

"SEIT LANGER ZEIT – länger <strong>als</strong> ich mir selbst zugestehen<br />

mochte – war etwas in meinem Innern tot. Ich wusste nie,<br />

was es wirklich war. Etwas fehlte in meinem Berufsleben und<br />

in meinem Privatleben – effektiv in meinem ganzen Leben.<br />

Doch was immer nicht stimmte, es zwang mich nicht zu einer<br />

Veränderung. Bis zu R<strong>ob</strong>erto."<br />

Die Veränderung in ihrem Leben geschah unvermittelt,<br />

<strong>als</strong> er in einem "Hoppla-jetzt-komm-ich-Hollywood-Ge<strong>tu</strong>e" eintraf.<br />

Am Montag, 17. Januar, zehn Tage nach Victor Flemings<br />

Bestat<strong>tu</strong>ng, entstieg R<strong>ob</strong>erto in Los Angeles dem Zug – am<br />

Geburtstag seines neuen Lebens, wie er Journalisten gegenüber<br />

bedeu<strong>tu</strong>ngsvoll bemerkte, denn es war das Da<strong>tu</strong>m, an<br />

welchem er mit den Dreharbeiten zu "Open City" begann. Von<br />

dort war's ein Katzensprung zum Benedict Canyon und danach<br />

zu einer Party by Billy Wilder zuhause.<br />

<strong>Ingrid</strong> be<strong>ob</strong>achtete R<strong>ob</strong>erto aufmerksam an diesem<br />

Abend. Sie erkannte plötzlich sein Desinteresse an allem, was<br />

Hollywood repräsentierte, und das konnte ihre gemeinsamen<br />

Fund Raising-Anstrengungen in Hollywood schädigen. "Ich verlor<br />

die Nerven", erinnerte sich <strong>Ingrid</strong>, "ich konnte nicht reden.<br />

Ich versuchte, eine Cigarette anzuzünden, doch meine Hand<br />

zitterte so, dass die Flamme erlosch." Trotzdem ein Übersetzer<br />

zur Verfügung stand (und viele der Gäste mehrsprachig waren),<br />

beschränkte sich R<strong>ob</strong>erto auf's Nicken und Lächeln, über-<br />

377


sah geflissentlich die massgebenden Produzenten, machte den<br />

Stars keine Komplimente und verzichtete generell auf die<br />

komplexen Ri<strong>tu</strong>ale der Bewunderung, wie sie von der Li<strong>tu</strong>rgie<br />

des Gesellschaftslebens von Hollywood vorgeschrieben waren.<br />

"Ich brauche für meine Filme keine Stars", sagte er, "aber ich<br />

habe nichts gegen Miss <strong>Bergman</strong>, nur weil sie ein Star ist."<br />

Eine seltsame Ironie wollte es, dass Wilders Gäste an<br />

diesem Abend genau den erwünschten Eindruck gewannen:<br />

der scheue Rossellini war erschlagen von all der Aufmerksamkeit,<br />

die ihm zuteil wurde! "Die Wahrheit", nach einem der<br />

Rossellini-Kinder, "war, dass mein Vater schon immer einen<br />

ausgeprägten Hass gegen Hollywood empfand."<br />

Mit andern Worten: er brauchte Hollywood-Finanzen,<br />

aber er mochte die Leute nicht, die er auch nicht respektierte.<br />

In Übereinstimmung mit dem, was er eine Woche danach sagte,<br />

wonach er Hollywood nicht <strong>als</strong> wirklich schrecklich betrachte,<br />

wirkte dieser Kommentar nur 'mal nicht gerade sonderlich<br />

begeisternd: "Es ist ein grossartiger Ort – wie eine Wurstfabrik,<br />

die feine Würste produziert. Trotzdem, ich kehre nach Italien<br />

zurück, wo ich meine Freiheit habe."<br />

Die Lindströms behandelte R<strong>ob</strong>erto mit der Quintessenz<br />

seines lateinischen Charmes. "Er war so warmherzig und ausgelassen",<br />

erinnerte sich <strong>Ingrid</strong> an ihre ersten gemeinsamen<br />

Wochen, wenn er in stotterndem Englisch sprach. "In seiner<br />

Gesellschaft fühlte ich mich weder scheu noch unbeholfen oder<br />

einsam. Er war ein offener Gesprächspartner, dem man gerne<br />

zuhörte. Vor allem hatte er Leben, und er gab auch mir das<br />

Gefühl, lebendig zu sein."<br />

Und was fühlte R<strong>ob</strong>erto für <strong>Ingrid</strong>, ausser dass er ihr<br />

Talent brauchte und ihre Kraft zur Eintreibung Amerikanischer<br />

Finanzen und ihre Bedeu<strong>tu</strong>ng zur Erweiterung des Publikums<br />

für seinen nächsten Film? Sein Liebesleben brauchte niem<strong>als</strong><br />

Zeit zur Entfal<strong>tu</strong>ng, und so bekannte er schon nach einer Woche<br />

im Hause Lindström, dass er – auf seine Art – sehr in sie<br />

verliebt sei. "Was R<strong>ob</strong>erto wirklich wollte", sagte sein Freund<br />

und Kollege, Sergio Amidei, "war <strong>Ingrid</strong> nicht für einen Film zu<br />

378


gewinnen, sondern für die Liebe, weil er ihr vollkommen verfallen<br />

war, w<strong>ob</strong>ei auch etwas Eitelkeit im Spiel war." Zweifelsohne<br />

mehr, <strong>als</strong> nur etwas: "Die Schwedinnen sind weltweit die<br />

leichtesten Opfer", wie er sich einer seiner Mätressen gegenüber<br />

ausdrückte.<br />

Sicher wäre es ein hartes und nicht belegbares Urteil,<br />

wollte man Rossellini einfach <strong>als</strong> systematischen Verführer mit<br />

den niedrigsten Motiven bezeichnen; er hatte nicht die Kaltschnäuzigkeit<br />

dazu. Aber sein Liebesleben war mehr <strong>als</strong> eine<br />

Wirrnis – es war ein Netz von eher pathetischen Doppelbeziehungen.<br />

In dieser Hinsicht fällt es schwer, anzunehmen, dass<br />

Rossellinis Innenleben bei seinem Wechsel zu <strong>Ingrid</strong> nicht heftig<br />

durcheinandergeraten ist. Er brauchte Geld; er brauchte<br />

eine Bestätigung seines Prestiges; er sehnte sich nach einem<br />

neuen Nachkriegspublikum weltweit. <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> war zweifellos<br />

einer der zwei oder drei kassenfüllenden Stars des Moments,<br />

und er wäre ein Narr gewesen, nicht zu erkennen (was<br />

er dann auch tat), dass sie auch eine grosse Schauspielerin<br />

war.<br />

Dasselbe galt bestimmt auch für Anna Magnani. Aber<br />

R<strong>ob</strong>erto war Magnanis Gewohnheit überdrüssig geworden,<br />

Dramen aus dem Film ins Privatleben einzubringen: für sie<br />

hatte alles den Geschmack einer schlechten Seifenoper angenommen.<br />

Alles bestand aus Gewalt und Tränen, Verbrechen<br />

und Bedrohung, schlechten Liebesduetten und hysterischen<br />

Tränenausbrüchen. Und so hatte er sie, wie ein Charakter in<br />

einem vergessenen Musikdrama, beiläufig verlassen, <strong>als</strong> er<br />

sich zur Entgegennahme des New York Critics Awards und um<br />

<strong>Ingrid</strong> zu treffen nach Amerika begab. Er ging zu ihr nachhause,<br />

bot ihr an, zwei ihrer Hunde gassizuführen, aber er übergab<br />

sie dann dem Portier eines benachbarten Hotels mit dem<br />

Auftrag, sie der Eigentümerin zurückzubringen. Tags darauf<br />

verliess Rossellini Italien, ohne Anna wiederzusehen oder sie in<br />

seine Pläne einzuweihen.<br />

379


Sein Abgang war wohl seiner unwürdig, denn Rossellini<br />

hatte dieses Jahr noch Pläne für einen weiteren Film mit Magnani,<br />

der so ähnlich wie "Aria di Roma" heissen sollte. "Wir<br />

verbrachten Monate mit den Vorberei<strong>tu</strong>ngen für die Dreharbeiten<br />

des Films", sagte Magnani einem amerikanischen Journalisten,<br />

und ihre Aussagen werden durch zeitgenössische italienische<br />

Presseausschnitte bestätigt.<br />

380<br />

Die Geschichte lag vor, die Besetzung war bereit, der<br />

Vertrag mit dem Produzenten unterzeichnet. Dann,<br />

mitten im ganzen Projekt, verschwand Rossellini in die<br />

Vereinigten Staaten und zu <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>. Ich verurteile<br />

ihn nicht für meine Behandlung <strong>als</strong> Frau, aber ich<br />

nehme ihm meine Beleidigung <strong>als</strong> Künstlerin übel.<br />

Im Gegensatz zu Petter Lindström, auf den in jeder Si<strong>tu</strong>ation<br />

Verlass war, war R<strong>ob</strong>erto Rossellini eine Person mit<br />

vielen Gesichtern. Und sehr vieles in seinem Leben und in seiner<br />

Beziehung zu <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> wurde im Hinblick auf Rossellinis<br />

"Genius" zu wohlwollend dargestellt (wenn nicht gar<br />

entschuldigt). Darin liegt einiger Diskussionsstoff.<br />

In einem ganz speziellen Moment der italienischen Geschichte<br />

machte Rossellini aus einer brutalen Realität eine n<strong>ob</strong>le<br />

Tugend. Mit bescheidenstem Aufwand an traditioneller Filmtechnologie<br />

hatte er "Open City" und "Paisà" produziert und<br />

der Filmgeschichte damit ein neues Modewort geschenkt –<br />

Neorealismus, <strong>als</strong> wäre es eine von einem strengen Theoretiker<br />

brillant entwickelte Methode. (Der Fanfarenstoss und die<br />

grundlegende Theorie waren schon vom Schriftsteller Cesare<br />

Zavattini, dem grossen Mitarbeiter von Vittorio de Sicca, beschrieben<br />

worden.) Aber es ist festzuhalten, dass Federico Fellini<br />

die Story lieferte, den roten Faden für die Figuren des Films<br />

und die meisten Dialoge von "Open City". Rossellini, gesegnet<br />

mit Darstellern wie Magnani, Fellini und Co., wusste genau,<br />

was mit der Kamera zu <strong>tu</strong>n: er tat sehr wenig, wie er sagte.<br />

Die Kamera hatte nichts anderes <strong>als</strong> ein folgsamer Be<strong>ob</strong>achter<br />

zu sein.


Nach "Open City" gab's dann Pr<strong>ob</strong>leme. "Paisà" hatte<br />

Momente von echter Grösse und war bestimmt ein wertvoller<br />

Tribut an den Triumph des menschlichen Geistes. Aber wenn<br />

gute Absichten per se für gute Kunst stünden, wären alle Heiligen<br />

Aestheten, und "Paisà" litt an einem Übermass an Ideen<br />

und einem Mangel an dem, was man künstlerisches Masshalten<br />

nennen könnte. Und dann war "Germania anno zero"<br />

(Deutschland im Jahr Null) eine Kriegs-Horrorgeschichte, ein<br />

trockenes und gespanntes Abbild der Dekadenz in Berlin und<br />

des Kriegsendes, in dem der Glanz des Schreckens mit Tiefgang<br />

verwechselt wurde.<br />

Magnani war für ihn wieder stark in "Una voce humana"<br />

(Eine menschliche Stimme), aber das war eine Eins-zu-eins-<br />

Ausgabe des Cocteau-Stücks. Was "Il Miracolo" (Das Wunder)<br />

angeht, waren auch seine Qualitäten Magnani zu verdanken,<br />

wie auch Fellini (<strong>als</strong> Autor und Schauspieler) und Tullio Pinelli,<br />

der mit Fellini das Script bearbeitete. Für "La macchina<br />

ammazzacattivi" (Die Maschine, die die Bösen tötet) gilt: je<br />

weniger darüber sprechen, desto besser – wie auch Rossellini<br />

wusste, denn er gab den Film auf.<br />

Das war es, was die Wissenschafter dam<strong>als</strong> <strong>als</strong> R<strong>ob</strong>erto<br />

Rossellinis Werk bezeichneten, bis zum Zeitpunkt, <strong>als</strong> er <strong>Ingrid</strong><br />

traf. Es war bestimmt eine respektable Produktion, aber selbst<br />

unter Berücksichtigung seines beachtlichen Lebenswerks, ist<br />

die Feststellung wenigstens zulässig, dass Rossellini die herausragende<br />

Fantasie eines Fellini oder der lyrische Humanismus<br />

eines Vittorio de Sicca fehlte. Es ist etwas Schönes, der<br />

Welt ein oder zwei brillante Werke zu schenken, aber vielleicht<br />

rechtfertigt das nicht die überschäumende Bewunderung durch<br />

seine eifrigsten Jünger.*)<br />

*) Rossellinis Spätwerk im Dokumentar-Genre und für das Fernsehen<br />

bedarf einer gesonderten Beurteilung, und es ist festzustellen, dass<br />

es sich dabei um wertvolle Lehrmittel handelt. In den letzten Jahren<br />

seines Lebens erwies er sich <strong>als</strong> ein erstrangiger Fachlehrer.<br />

381


Das sind wichtige Aspekte im Zusammenhang mit Rossellinis<br />

überstürztem Auftritt in Hollywood und seiner sanften<br />

Umwerbung von <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>. Über zwei Monate lang verbrachten<br />

die beiden die meiste Zeit des Tages zusammen, ihr<br />

Englisch und Französisch auffrischend, während R<strong>ob</strong>erto <strong>Ingrid</strong><br />

elementare Italienischkenntnisse beibrachte, zum Lunch nach<br />

Malibu und zum gemeinsamen Abendessen – ganz öffentlich<br />

(warum auch nicht?) – auch wenn Petters Agenda seine Beteiligung<br />

verunmöglichte – um über "Terra di Dio" zu sprechen.<br />

MENSCHLICHE MOTIVATIONEN sind selten unverdünnt;<br />

R<strong>ob</strong>erto bot <strong>Ingrid</strong> sicher sowohl den Pass zur Freiheit wie<br />

auch das Versprechen auf ein neues kreatives Leben. Er war<br />

(wenigstens zu Beginn) auch ein anregender Mentor und er<br />

konnte ein warmherziger, besorgter Vater sein – für sie wie<br />

auch für seine Nachkommenschaft. Aber Menschen handeln<br />

selten nur aufgrund von desinteressierter Zuneigung. Hat man<br />

das einmal eingesehen – und, in andern Worten, erwartet man<br />

nicht, dass dieses Liebespaar aus rein heroischer, märchenhafter,<br />

urreiner Liebe zueinander handelte, ohne jeden Gedanken<br />

an persönliche Interessen – dann wird man auch verstehen<br />

können, mit welcher Heftigkeit sich <strong>Ingrid</strong> zu R<strong>ob</strong>erto hingezogen<br />

fühlte, sie sich mit ihren gegenseitigen Schwächen und<br />

Bedürfnissen anzufreunden begannen, und dennoch erkannten,<br />

dass sie auf einen Weg einschwenkten, der zum vornherein<br />

dazu verurteilt war, nach vielen Drehs und Kurven in einer<br />

Sackgasse zu enden.<br />

Da gab es ein alles überspannendes Pr<strong>ob</strong>lem von Anfang<br />

an. Sie wusste überhaupt nichts von seinen Stimmungen<br />

und Launen, dem extremen Tumult und dem Chaos, das er<br />

schuf, um nach seinem Gusto durch das Leben zu kommen.<br />

"Er brauchte Gewitterstimmung", sagte seine Freundin Liana<br />

Ferri. "Wenn kein Hurricane raste, er keine Barrikaden bauen<br />

und Schlachten schlagen konnte, langweilte er sich." R<strong>ob</strong>erto<br />

begann ein Projekt, eine Freundschaft, eine Idee, war verrückt<br />

vor Begeisterung – und vergass es alles am nächsten Tag.<br />

382


"Niemand konnte seine Persönlichkeit erfassen", fuhr Liana<br />

Ferri fort, "denn R<strong>ob</strong>erto konnte jemanden am Montag mit Liebenswürdigkeiten<br />

überschütten und ihn am Dienstag kaltblütig<br />

und desinteressiert ermorden." Von alledem hatte <strong>Ingrid</strong> keine<br />

Ahnung.<br />

Aber ein Freund, Leo McCarey, wusste vieles von Rossellini<br />

und lud <strong>Ingrid</strong> eines Tages zum Lunch ein, <strong>als</strong> Rossellini<br />

mit der italienischen Kul<strong>tu</strong>rgesellschaft ein Museum besuchte.<br />

"<strong>Ingrid</strong>", sagte er, "du erliegst ihm, nur weil er das Gegenteil<br />

von Lindström ist. Geh' nach Wien, dort findest du Männer mit<br />

Blumen und Handküssen für dich, die Rossellini zum Anfänger<br />

machen." Sie war taub für diesen Rat.<br />

Stets der verliebte Verehrer, war R<strong>ob</strong>erto oft brillant<br />

und zugänglich, manchmal aber auch listig und verantwor<strong>tu</strong>ngslos.<br />

Er war nie bösartig und immer masslos und er betrachtete<br />

sich <strong>als</strong> den besten Liebhaber der Welt, der leere<br />

Existenzen schon allein durch die schiere Kraft seiner Gegenwart<br />

erfüllte. So war <strong>Ingrid</strong> für ihn beides, Herausforderung<br />

und Preis. Sie war ernst und intelligent, lebhaft, in<strong>tu</strong>itiv und<br />

fröhlich. Und sie gehörte Petter, einem Mann, der das Ausmass<br />

ihrer Qualitäten gar nicht zu schätzen wusste – der in der Tat<br />

nur ihre Schwächen sah und höchst selten einmal einen<br />

Schimmer von Anerkennung für irgendeinen ihrer Erfolge übrig<br />

hatte.<br />

In über zweitausend Seiten von Briefen an <strong>Ingrid</strong>, Verwandte,<br />

Freunde und die Presse, von Betrach<strong>tu</strong>ngen, geschrieben<br />

für Publikationen und sein (nie realisiertes) Buchprojekt,<br />

von Notizen und persönlichen Dokumenten über sein Leben mit<br />

<strong>Ingrid</strong>, womit er versuchte, "seine Sicht" der Geschichte von<br />

1949 und 1950 darzulegen, findet sich aus der Feder von Petter<br />

Lindström kein einziges Wort der Anerkennung für die Feinfühligkeit<br />

und die Talente der Frau, die er hatte, und die er<br />

vermutlich aus guten Gründen vor einem Dutzend von Jahren<br />

zur Frau genommen hatte. "Nicht schlecht" war das höchste<br />

L<strong>ob</strong> für ihr Schaffen während all diesen Jahren. Als Rossellini<br />

ankam mit seiner Geschichte von geistiger Befreiung und be-<br />

383


hauptete, es brauche <strong>Ingrid</strong>, um ihr Leben einzuhauchen, was<br />

anderes <strong>als</strong>o konnte sie <strong>tu</strong>n, <strong>als</strong> die Chance zu packen? Was<br />

anderes sollte sie <strong>tu</strong>n, <strong>als</strong> ihr Schicksal mit dem seinen zu verknüpfen?<br />

Die Möglichkeit einer künftigen Enttäuschung konnte<br />

sie nicht sehen, sie gab sich dem Moment völlig hin.<br />

Was von ihr nun verlangt wurde, wie sie plötzlich gewahr<br />

wurde, war Loyalität und die Beach<strong>tu</strong>ng von Rossellinis<br />

Bedürfnissen – was im Moment bedeutete, einen grosszügigen<br />

Produzenten zu finden. Samuel Goldwyn war während langer<br />

Zeit sehr interessiert, mit <strong>Ingrid</strong> den Vertrag für einen Film<br />

abzuschliessen, weshalb sie ein Treffen in seinem Büro mit ihr<br />

und R<strong>ob</strong>erto arrangierte. Goldwyn versuchte, R<strong>ob</strong>ertos Erläuterungen<br />

zu "Terra di Dio" zu folgen und sagte dann, er sei bereit,<br />

das Projekt zu unterstützen, vorausgesetzt natürlich, Rossellini<br />

lege ihm das übliche Drehbuch und den Produktionsplan<br />

vor.<br />

"Oh, er wird kein Script haben, nicht einmal beim Drehbeginn",<br />

flötete <strong>Ingrid</strong> süss, um einer ernsteren Entgegnung<br />

Rossellinis zuvorzukommen. "Aber er weiss genau, was er <strong>tu</strong>n<br />

wird und welche Dialoge und Darsteller er einsetzen wird. Ich<br />

weiss das aus unseren Gesprächen." Ohne auf diesen Punkt<br />

weiter einzugehen wünschte Goldwyn einen von Rossellinis<br />

früheren Filmen zu sehen. Prima Idee, fand <strong>Ingrid</strong>, in der Annahme,<br />

dass ihn das überzeugen werde. Goldwyn arrangierte<br />

<strong>als</strong>o eine Filmparty in seinem Haus, und <strong>als</strong> die Lichter verlöschten<br />

war Rossellinis Wahl zu sehen: "Germania, anno zero",<br />

der endlos öde Film, den er nach "Paisà" in den Strassen<br />

von Berlin gedreht hatte. Am Ende des Abends waren Goldwyn<br />

und seine Gäste von Depressionen betäubt, worauf er die bereits<br />

angekündigte Unterstützung der neuen Produktion zurückzog.<br />

Als Howard Hughes, der neue Besitzer von RKO, vom<br />

Projekt erfuhr, erklärte er sich sofort zu einem Handel bereit.<br />

<strong>Ingrid</strong> und Petter sollten $ 175'000, R<strong>ob</strong>erto $ 150'000 und<br />

Hughes die amerikanischen Vertriebsrechte am Film neben<br />

einem Anteil an den Auslandeinnahmen erhalten. Er zeigte sich<br />

384


nicht sehr beeindruckt von der harten Geschichte, die <strong>Ingrid</strong><br />

ihm erzählte, aber er war noch immer scharf auf sie und stipulierte,<br />

dass <strong>Ingrid</strong> nach "Terra di Dio" nach Hollywood zurückkäme,<br />

um einen weiteren Film für RKO in einem gefälligeren<br />

Umfeld mit attraktiveren Kostümen zu drehen – ein Projekt,<br />

mit andern Worten, das zu seiner neuen Geschäftspartnerin<br />

<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> viel besser gepasst hätte.<br />

DIE INTERNATIONALE PRESSE erhielt Wind von der Sache,<br />

womit auch Anna Magnani davon erfuhr und sich mit der<br />

Ankündigung vernehmen liess, sie werde (vor allem andern)<br />

einen Film über eine Frau auf einer vulkanischen Insel produzieren<br />

und darin auch die Hauptrolle spielen; ohne "Terra di<br />

Dio" oder dessen Produzenten mit einem einzigen Wort zu erwähnen,<br />

erklärte sie, dass ihr "Volcano" noch vor Jahresende<br />

in den Kinos zu sehen sein werde. Was aber sehr für sie<br />

sprach, war der Umstand, dass die heissblütige Magnani – die<br />

jetzt verstand, dass sie von <strong>Ingrid</strong> permanent verdrängt worden<br />

war – kein einziges schlechtes Wort weder über ihren<br />

Liebhaber noch über ihre Rivalin verlauten liess. Ihr Verhalten<br />

in der Öffentlichkeit in diesem Zusammenhang, wie auch über<br />

die abrupte Art und Weise, wie sie von R<strong>ob</strong>erto im Stich gelassen<br />

wurde, war absolut mustergültig. Und allen Unkenrufen<br />

zum Trotz hatten <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> und Anna Magnani in all den<br />

Jahren, die sie in Rom verbrachten, keinen Kontakt.<br />

Zur Feier des RKO-Handels und um Petter für seine<br />

Gastfreundschaft zu danken, wollte R<strong>ob</strong>erto Geschenke für die<br />

Familie und auch seinen eigenen Sohn einkaufen – aber dazu<br />

musste er (wie üblich) Pump aufnehmen, diesmal bei seiner<br />

Gastgeberin, die ihm $ 300 gab. <strong>Ingrid</strong> und R<strong>ob</strong>erto machten<br />

sich auf den Einkauf; er kaufte Kravatten für Petter und eine<br />

Handtasche für <strong>Ingrid</strong>, bevor er entdeckte, was er für das ideale<br />

Geschenk für Pia hielt: ein riesiges ausgestopftes Spielzeug,<br />

eine Kuh mit einem breiten Grinsen und einer Schürze. Gott im<br />

Himmel, nein, rief <strong>Ingrid</strong> – aber wie gewohnt ging R<strong>ob</strong>erto seinen<br />

Weg. An diesem Abend konnte die entzückte Pia ihre Elsie<br />

385


<strong>als</strong> neue Zimmergefährtin in die Arme schliessen. Über Petters<br />

Reaktion ist nichts überliefert.<br />

AM 28. FEBRUAR TRAT ROBERTO die Heimreise nach<br />

Rom an, um "Terra di Dio" und <strong>Ingrid</strong>s Ankunft vorzubereiten.<br />

Sie und Petter machten dann einen kurzen Skiurlaub in Aspen,<br />

wo sie Pläne schmiedeten, wonach sie sich Ende Mai nach Vollendung<br />

des Films in Italien treffen würden.<br />

"Ich würde sagen, dass unser Verhältnis dam<strong>als</strong> von<br />

Zuneigung und ehelichem Glück bestimmt war", sagte er später<br />

bei den Scheidungsverhandlungen, womit er wohl erstauntes<br />

Aufhorchen bei all jenen erzeugte, die mit den Lindströms<br />

vertraut waren. Aber das glaubte die Presse und das amerikanische<br />

Publikum, die noch immer an <strong>Ingrid</strong>s Altar opferten:<br />

"Gesund wie eine Pfadfinderin, glückliche Ehefrau und Mutter,<br />

sie kann eine Heilige spielen. . . <strong>Bergman</strong>s Familienleben ist<br />

ein Musterbeispiel für eheliche Treue, denn nicht ein Hauch<br />

von einem Skandal hat die Lindströms erschüttert..." Worauf<br />

<strong>Ingrid</strong> – fast mit warnendem Unterton – antwortete: "Ich kann<br />

nicht verstehen, warum die Leute immer meinen, ich sei nur<br />

rein und edel. Jeder Mensch hat doch seine schlechten und<br />

seine guten Seiten."<br />

"Niemand hätte die Erwar<strong>tu</strong>ngen an dieses irreale Bild<br />

erfüllen können, das die Leute von mir geschaffen hatten",<br />

sagte <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> Jahre danach. Und im wahrsten Sinne<br />

nahm dieses unrealistische Bild bei Selznick seinen Anfang:<br />

"Ich wollte <strong>Ingrid</strong> in den Himmel heben", hatte er gesagt, "und<br />

ich bestehe darauf, sie weiterhin in den Himmel zu heben."<br />

Dem fügte <strong>Ingrid</strong> bei:<br />

386<br />

Und <strong>als</strong> die Leute bemerkten, dass ich diesem Image<br />

nicht perfekt entsprach, fühlten sie sich betrogen und<br />

die Hölle war los. Sie behaupteten, ich hätte die ganze<br />

Täuschung von langer Hand geplant, und <strong>als</strong> ich meinen<br />

Mann und meine Tochter verliess, hätte ich nicht die geringste<br />

Absicht gehabt, zurückzukommen – ich sei nach<br />

Italien gegangen um dort ein Star zu werden, und zum


Teufel mit allem andern. Aber warum sollte ich nach Italien<br />

und zu Rossellini gehen, um ein grosser Star zu<br />

werden? Das wäre das Schlimmste gewesen, was ich<br />

hätte <strong>tu</strong>n können! In Hollywood hat man mir 1949 die<br />

besten Scripts und die besten Regisseure geboten –<br />

Hitchcock, Huston, Wyler, Mankiewicz, sie alle wollten<br />

mir mit arbeiten. Aber ich wollte etwas anderes. Ich<br />

wollte meine Talente neu einsetzen.<br />

Am 11. März – zwei Wochen vor dem geplanten Termin<br />

– reiste <strong>Ingrid</strong> nach Rom ab, machte zunächst einen einwöchigen<br />

Halt in New York um Irene Selznick zu treffen, in deren<br />

Wohnung sie auf einem frischpolierten Boden ausglitt und den<br />

Kopf an der Kante eines Klimageräts aufschlug. "Es war wie<br />

symbolisch!" schrieb <strong>Ingrid</strong> später an Irene: "Der gefallene<br />

Star!" Als solchen wurde sie in Amerika kurz nach ihrer Ankunft<br />

in Rom am 20. März auch betrachtet.<br />

Die nun folgende öffentliche Aufregung entstand in der<br />

Annahme, dass <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> Beverly Hills verliess, sie ihren Mann<br />

und ihre zehnjährige Tochter unbekümmert in der Absicht verliess,<br />

nie wieder zurückzukehren, resp. erst dann wieder zurückzukehren,<br />

wenn die Umstände eine Scheidung unumgänglich<br />

gemacht hätten. Aber nichts in ihrem Gebaren hätte ein<br />

derart abenteuerliches Szenario bestätigt. Sie wollte einfach<br />

eine neue Erfahrung machen; einen Film mit einem Mann produzieren,<br />

den sie liebte und mit dem sie vielleicht auch eine<br />

Beziehung aufnehmen wollte (die möglicherweise ihren Anfang<br />

bereits in Beverly Hills genommen hatte).<br />

Würde das eine Sache von Dauer sein? Ihre zunehmende<br />

Vertrautheit mit R<strong>ob</strong>erto liess eher ein nein vermuten,<br />

aber ihr Blickwinkel war ohnehin nicht auf die Ewigkeit ausgerichtet.<br />

"Wie soll ich wissen, <strong>ob</strong> das nun meine Chance für das<br />

grosse Glück ist?", schrieb sie in einem Brief an eine von Petters<br />

Schwestern später im Jahr. "Ich betrachte es <strong>als</strong> ein grosses<br />

Abenteuer, doch wer weiss, wie es enden wird? Petter und<br />

ich haben uns auseinandergelebt. Er betrachtete mich <strong>als</strong> das<br />

kleine Mädchen und formte mich, brachte mir alles bei. Aber<br />

387


jetzt möchte ich erwachsen werden, und Petter will nicht den<br />

Weg gehen, den ich gehe.<br />

388<br />

Du siehst, ich bin ein Wandervogel", fuhr sie fort.<br />

Seit meiner Kleinmädchenzeit habe ich immer nach<br />

Neuem gesucht – ich sehnte mich nach grossen Abenteuern.<br />

Was immer ich hatte, sah und erlebte, war mir<br />

nicht genug. Ich habe immer versucht, die Trivialität<br />

der Suche nach dem Glück zu ignorieren, aber ich<br />

wusste nie, was mir Glück und Frieden geben würde.<br />

Ich suchte und suchte, wechselte und veränderte. Und<br />

so lief es auch mit meiner Arbeit. Ich wechselte die<br />

Rollen, wechselte meinen Typ und ging von S<strong>tu</strong>dio zu<br />

S<strong>tu</strong>dio, um neue Menschen zu finden, mit welchen ich<br />

arbeiten konnte, die mich weiterbringen und mir helfen<br />

konnten, mein Reifeziel zu erreichen. Und Petter wusste,<br />

wie rastlos ich war.<br />

Dann traf ich Rossellini, und in ihm fand ich einen andern<br />

Wandervogel. Er wuchs wie eine Wildkatze auf<br />

und ist mit nichts je zufrieden. Was man über seine<br />

Frauen sagt, ist ebenfalls nicht übertrieben. Aber jetzt<br />

hat er eine getroffen, von der er sagt, sie verstehe ihn.<br />

Und mit ihm habe ich nun die Welt, die ich sehen wollte.<br />

Über Fleming und "Joan" war in der Presse kein Wörtchen<br />

zu lesen. Aber Fleming lebte nicht mit ihr zusammen,<br />

dinierte nicht täglich mit ihr und verschlang sie inmitten der<br />

Hollywooder Gesellschaft mit seinen Blicken. Nun brachte Geschwätz<br />

in- und ausserhalb der Printmedien den Gerüchtekessel<br />

schon zum Brodeln. Sie sah zu jener Zeit noch nicht mehr<br />

<strong>als</strong> "das grosse Abenteuer" von Italien, Rossellini, "Terra di<br />

Dio", die Verbindung von Arbeit und Liebe, neue Erfahrungen<br />

neben einem neuen Vater-mit-einer-Kamera.<br />

"Sie hatte keine Ahnung, was geschehen würde", sagte<br />

ihr dritter Ehemann Lars Schmidt nach Jahrzehnten. "Natürlich<br />

wussten sie und Lindström, dass ihre Ehe vorbei war, aber<br />

darüber, wie sie damit umgehen wollten, bestand bei beiden


noch überhaupt keine Klarheit. Die Behaup<strong>tu</strong>ng, sie wollte ihre<br />

Tochter für immer verlassen, ist absurd. Schliesslich hatte sie<br />

eben einen Film in London gedreht, wo sie von Mann und<br />

Tochter besucht wurde – so hatte sie allen Grund zur Annahme,<br />

dies werde wieder geschehen." Und dann gab es solche<br />

Trennungen ja schon zuvor – vor allem 1939, <strong>als</strong> sie Petter<br />

und Pia verliess, um in Hollywood "Intermezzo" zu drehen,<br />

und 1946, <strong>als</strong> sie am Broadway war.<br />

Überdies kam <strong>Ingrid</strong> mit lächerlich wenig Geld und nur<br />

ganz bescheidener Garder<strong>ob</strong>e in Rom an; wegen des unbeständigen<br />

Wetters in Italien in jenem Frühjahr hatte sie klugerweise<br />

ihren Pelzmantel mitgenommen, den sie in Hollywood<br />

praktisch nie brauchte. "Sie kam nach Italien mit was sie<br />

gerade zu einem Kleiderwechsel benötigte", sagte der amerikanische<br />

Schriftsteller Art Cohn, der Rossellini begleitete, <strong>als</strong><br />

<strong>Ingrid</strong> in Rom ankam, und der mit ihm am Drehbuch für diesen<br />

Film arbeitete. "Sie mag ja Geld gemacht haben, aber sie<br />

sah nicht danach aus, <strong>als</strong> hätte sie welches – und ich will nicht<br />

darüber spekulieren, wer das Geld hatte, das sie hätte haben<br />

sollen." Selbst Lindström gab zu, dass <strong>Ingrid</strong>s Abreise auf ihre<br />

baldige Rückkehr schliessen liess: "Als Letztes wählte sie vor<br />

der Abreise noch die Tapete für das neue Kinderzimmer aus.<br />

Wir wünschten uns noch ein zweites Kind (Empfängnis irgendwann<br />

später im Jahr)." Mit andern Worten: sie glaubte,<br />

sie würde für höchstens drei oder vier Monate weg sein.<br />

<strong>Ingrid</strong>s Empfang in Italien war alles andere <strong>als</strong> feindselig:<br />

nach den schweren Entbehrungen der Kriegszeit, der anschliessenden<br />

Besetzung durch die Alliierten, dem verbreiteten<br />

Zerfall und der Korruption im Nachkriegs-Rom, brachte Rossellini<br />

den grössten Weltstar ins Land. Über Nacht war <strong>Ingrid</strong><br />

Roms grosse Trophäe, romantische Kriegsbeute. "Man hatte<br />

das Gefühl", sagte Federico Fellini, " sie sei wie eine Märchen-<br />

Patin, die eben nach Rom gekommen war. Man könne von ihr<br />

alles erwarten. Sie könne Wunder für uns wirken, wie eine<br />

Walt Disney-Figur. Das machte sie so faszinierend."<br />

389


So kam es, dass ein wilder Schwarm von Kameraleuten<br />

und Journalisten – aufgescheucht durch Howard Hughes, der<br />

hier eine gute Werbemöglichkeit für den Film sah – auf <strong>Ingrid</strong><br />

losstürmte, <strong>als</strong> sie am 20. März gegen Mitternacht in Rom das<br />

Flugzeug verliess. R<strong>ob</strong>erto puffte ihnen mit den Ellbogen den<br />

Weg frei, teilte einige Schläge an Fotographen aus und verfrachtete<br />

<strong>Ingrid</strong> schnell in seinen roten Cisitalia-Sportwagen.<br />

Eine S<strong>tu</strong>nde später wurde sie an einem Empfang im Excelsior-<br />

Hotel R<strong>ob</strong>ertos Freunden vorgestellt, und es war kurz vor<br />

Dämmerung, <strong>als</strong> sie endlich den Weg zu ihrer Suite fand, die<br />

gleich neben der seinen lag (und alles von RKO bezahlt).<br />

Vier Tage danach brausten R<strong>ob</strong>erto und <strong>Ingrid</strong> von Rom<br />

nach Süden. Sie legten einen Stop ein, damit <strong>Ingrid</strong> den anregenden<br />

Frascati kosten konnte; schweigend standen sie bei<br />

den zerbombten Ruinen der Abtei von Monte Cassino; sie fuhren<br />

durch die engen und übervölkerten Strassen von Neapel<br />

und liessen ihre Blicke über den blauen Golf schweifen. Dann<br />

gings weiter südwärts nach Amalfi, wo sie im Albergo Luna<br />

Convento, einem ehemaligen Kloster, Zimmer mieteten. Mit<br />

Blick auf's Meer, mit stillen Klostergärten und einem mittelalterlichen<br />

Turm, der in einen Speisesaal umgewandelt wurde,<br />

bot das Gasthaus dem Paar die einzigen frohen Momente in<br />

der nun während den kommenden Monaten anhaltenden hektischen<br />

und unangenehmen Betriebsamkeit. <strong>Ingrid</strong> war nicht die<br />

Erste, die dem Zauber des Hotels und R<strong>ob</strong>ertos Liebesgeflüster<br />

erlag.<br />

"Ich wusste, R<strong>ob</strong>erto war wieder verliebt", sagte Marilyn<br />

Buferd einige Wochen danach in Amalfi. "Er bot ihr den gleichen<br />

Traum, nur mit den Quasten und Girlanden des Liebestraums<br />

verziert. Verstehen Sie mich recht. Er selbst glaubte an<br />

jedes Wort, das über seine Lippen kam. Aber ich könnte Ihnen<br />

praktisch Wort für Wort wiederholen, was er zu <strong>Ingrid</strong> sagte.<br />

Und glauben Sie mir: es ist wundervoll. Es ist eine grosse Erfahrung,<br />

und selbst wenn eine Rossellini-Romanze nur eine<br />

Eintagsfliege ist, ist sie grossartig solange sie dauert. <strong>Ingrid</strong><br />

hätte aus Stein sein müssen, um nicht davon betäubt und<br />

weggetragen worden zu sein." So sollte <strong>Ingrid</strong> zur längsten<br />

390


Romanze seines Lebens werden – doch auch sie hatte am Ende<br />

kurze Beine.<br />

Marilyn war nicht die einzige Besucherin in Amalfi, der<br />

die neuen Turteltauben auffielen. Ein Fotograph erwischte sie<br />

in einem unbedachten Moment, <strong>als</strong> sie Hand in Hand (mit verschlungenen<br />

Fingern) dem Wall einer Schlossruine entlang<br />

spazierten – gerade die richtige Pose für eine Seite in der Ende-April-Ausgabe<br />

des LIFE-Magazins. <strong>Ingrid</strong> konnte nicht ahnen,<br />

dass ihr Privatleben die Hauptschlagzeilen des Tages bot,<br />

und zwar weltweit. Aber nun erinnerte der italienische Frühling<br />

von <strong>Ingrid</strong> und R<strong>ob</strong>erto an den europäischen Sommer Edwards<br />

VIII., des Königs von England, und der geschiedenen Amerikanerin<br />

Wallis Simpson: 1937 wurden sie während eines Ferienaufenthalts<br />

beim gemeinsamen Spazieren und Schwimmen<br />

be<strong>ob</strong>achtet. Kameras, Mikrofone, Aufzeichnungen und alles,<br />

was dem "öffentlichen Informationsrecht" zu dienen hatte,<br />

machten die Privatsphäre zur Farce.<br />

Dort im Albergo – und ausgerechnet in jenem Raum, in<br />

dem Ibsen "A Doll's House" geschrieben haben soll – griff <strong>Ingrid</strong><br />

am 3. April zur Feder. Auf Hotel-Papier schrieb sie ihrem<br />

Ehemann einen Brief, ebenbürtig dem von Ibsens Nora, die<br />

eine Tür ihres Lebens schloss, um eine andere zu öffnen.<br />

"Lieber Petter,<br />

Es wird dir sehr schwer fallen, diesen Brief zu lesen,<br />

wie es mir schwer fällt, ihn zu schreiben. Aber ich<br />

glaube, es ist der einzige Weg. Ich möchte alles von<br />

Anfang an erklären, aber du weißt genug, und ich<br />

möchte um Verzeihung bitten, doch das wäre lächerlich.<br />

Es ist nicht alles meine Schuld und wie kannst du<br />

verzeihen, dass ich bei R<strong>ob</strong>erto bleiben möchte. Ich<br />

weiss, er hat dir auch geschrieben und alles gesagt,<br />

was es dazu zu sagen gibt. Es war nicht meine Absicht,<br />

mich zu verlieben und nach Italien auszuwandern.<br />

Nach all unseren Plänen und Träumen weißt du,<br />

dass das so ist. Aber was soll ich <strong>tu</strong>n, was kann ich daran<br />

ändern? Du sahst in Hollywood meine wachsende<br />

Begeisterung für R<strong>ob</strong>erto und du weißt, wie sehr sich<br />

391


392<br />

unsere Wünsche nach der selben Arbeitsweise, unsere<br />

Lebensauffassungen gleichen. Ich dachte, meine Gefühle<br />

für ihn vielleicht besiegen zu können, wenn ich<br />

ihn in seinem eigenen Milieu erlebe, das von meinem<br />

ja so verschieden ist. Aber das genaue Gegenteil geschah.<br />

Land, Leben und Leute hier sind mir nicht<br />

fremd, ich habe das schon immer gesucht. Ich hatte<br />

den Mut nicht, zuhause mehr über ihn zu sprechen, <strong>als</strong><br />

was ich zu dir sagte, weil mir alles so unwahrscheinlich<br />

vorkam, wie ein Abenteuer, und dam<strong>als</strong> hatte ich keine<br />

Ahnung von der Tiefe seiner Gefühle. Mein Petter,<br />

ich weiss dieser Brief trifft unser Haus, unsere Pelle,<br />

unsere Zukunft und unsere Vergangenheit mit all den<br />

Opfern und der Hilfe von deiner Seite, wie eine Bombe.<br />

Und nun stehst du alleine in den Trümmern und ich<br />

kann dir nicht helfen. Armer, lieber Papa, aber auch<br />

arme liebe<br />

Mama"<br />

R<strong>ob</strong>erto hatte Petter tatsächlich geschrieben und betont,<br />

dass es nicht ihre Absicht war, seine Gefühle zu verletzen;<br />

er bat um eine einvernehmliche Scheidung.<br />

Während dem Rest seines langen und erspriesslichen<br />

Lebens erholte sich Petter nie von diesem Schlag, und sein<br />

Groll liess sich nicht besänftigen; leider entwickelte sich dieser<br />

zur Besessenheit. Wie sein Freund Åke Sandler fast ein halbes<br />

Jahrhundert danach sagte, fühlte er sich, <strong>als</strong> hätte er "vor der<br />

ganzen Welt den Laufpass erhalten". Die Ehe war seit langem<br />

zerstört, was sie beide wussten. Aber mit einer von Petter nie<br />

erwarteten Endgültigkeit hatte <strong>Ingrid</strong> die Gelegenheit gepackt<br />

und vielleicht erstm<strong>als</strong> in ihrem Leben konsequent gehandelt.<br />

Nun war ihm letztlich doch die Kontrolle über sie entglitten.<br />

Das Mass von Rossellinis Triumph war das Mass seiner eigenen<br />

Niederlage.<br />

AM 4. APRIL BELUDEN ROBERTO, <strong>Ingrid</strong> und eine Crew<br />

einen rachitischen Schoner mit Film-Ausrüs<strong>tu</strong>ngen und Le-


ensmitteln und stachen ins Tyrrenische Meer. Nach vier<br />

S<strong>tu</strong>nden tauchte der schwarze Kegel von Strombolis zweitausend<br />

Fuss hohem aktivem Vulkan aus seinem stinkenden<br />

Rauch auf, und bald konnten sie die kahlen Hänge und die<br />

gedrungenen, gekalkten Hütten der verarmten Bauern sehen,<br />

die ihre Familien mit ihrem erbärmlichen Fischerdasein durchs<br />

Leben brachten. Das Leben war primitiv, einsam und ohne<br />

jeden modernen Komfort wie sanitäre Einrich<strong>tu</strong>ngen, Elektrizität,<br />

Zei<strong>tu</strong>ngen oder Radio. "All das Gerede über Authentizität<br />

ist ja nett", meckerte Harold Lewis, Howard Hughes' Produktionschef,<br />

der <strong>als</strong> Troubleshooter herüberkam, "aber man kann<br />

alles übertreiben." In der Tat. Stromboli hätte zu einer Strafkolonie<br />

viel besser gepasst, <strong>als</strong> zu einer Filmcrew. Der Film<br />

konnte nur gedreht werden, weil R<strong>ob</strong>erto seinen eigenen Generator<br />

mitgebracht hatte. <strong>Ingrid</strong> kurz danach: "Am liebsten<br />

wäre ich geflohen wie die Filmheldin, nachdem sie das gesehen<br />

hatte."<br />

Die Geschichte, die Rossellini erzählen wollte, wurde<br />

während seiner spontanen Filmerei mehr und mehr zu seiner<br />

Interpretation von <strong>Ingrid</strong>s Beziehung zu ihm. Sie war Karin,<br />

ein Flüchtling, dessen einzige Hoffnung auf ein Entkommen<br />

aus dem Gefängnis ihrer Vergangenheit ihr von einem Mann<br />

geboten wurde, der sie nach Stromboli mitnahm, wo sie nach<br />

anfänglichem Glück feststellen muss, dass sie einen fatalen<br />

Fehler begangen hat und nun ausgegrenzter ist, <strong>als</strong> je zuvor.<br />

"Ich bin ein zivilisierter Mensch", schreit Karin ihren Mann an<br />

bevor sie in Tränen ausbricht. "Ich bin ein anderes Leben gewöhnt!"<br />

(die Rolle ihres Manns wurde von Mario Vitale, einem<br />

braungebrannten hübschen Fischer gespielt, den R<strong>ob</strong>erto auf<br />

dem Weg nach Stromboli von Salerno herübergebracht hatte).<br />

Erst durch ihren Fluchtversuch und die anschliessende geheimnisvolle<br />

Erleuch<strong>tu</strong>ng kann sie ihr Schicksal akzeptieren,<br />

auf der Insel bei dem Mann zu bleiben, der sie befreit hatte.<br />

INGRID WAR IN EINEM weissgetünchten Vierzimmer-<br />

Rustico untergebracht, der vom Dorflehrer gemietet wurde.<br />

393


Wenn sie baden wollte, rief sie einen Assistenten, der durch<br />

ein Deckenloch einen Eimer Meerwasser über sie<br />

runterschüttete. Die Nahrungsmittel – zur Hauptsache Konserven<br />

und Teigwaren - mussten vom Festland herübergebracht<br />

werden; sie wurden für Schauspieler und Crew von<br />

jenen Insulanerinnen zubereitet, die Rossellini nach bewährter<br />

Manier auf seinen Inselrundgängen da und dort aufgegriffen<br />

hatte ("Du stellst dich dahin und siehst nach dorthin....Du<br />

bringst dieses....Du trägst jenes nach dorthin..." und so fort).<br />

<strong>Ingrid</strong> fühlte sich einsam wie nie zuvor. Sie hatte sich<br />

nun vollkommen auf Rossellini eingestellt, weil sie etwas völlig<br />

anderes machen wollte, was sie nun auch tat. Sie war nach<br />

den Regeln der traditionellen Schauspiel- und Filmkunst ausgebildet<br />

worden und fand sich nun <strong>als</strong> Aussenseiterin wieder.<br />

Rossellini schleppte seine Amateure herbei, die er wie Profis<br />

behandelte, während <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> Profi wie ein Ersatz-Amateur<br />

behandelt wurde. "Ich pfeife auf deine realistischen Filme!"<br />

schrie sie Rossellini einige Wochen nach Drehbeginn an. "Zum<br />

Teufel damit! Diese Leute haben ja keine Ahnung von Dialog<br />

oder wohin sich zu stellen! Es interessiert sie überhaupt nicht,<br />

was sie <strong>tu</strong>n! Ich ertrage keinen weiteren Tag hier!" Rossellini<br />

nahm sie zur Seite, m<strong>ob</strong>ilisierte seinen überwältigenden<br />

Charme, und <strong>Ingrid</strong> kehrte zur Arbeit zurück, besänftigt und<br />

irgendwie wieder bemüht, es ihrem Herrn und Meister recht zu<br />

machen.<br />

"Er braucht keine Schauspieler für seine Filme", sagte<br />

sie später etwas ruhiger. "Er macht seine Filme natürlich – mit<br />

Leuten." Während der ganzen Produktion war sie gehalten,<br />

nicht zu spielen, alles abzudämpfen, alles anzuziehen, was ihr<br />

von der Grösse her passte und in irgend jemandes Haus gefunden<br />

wurde.<br />

"Ich glaubte einmal, wir hätten Schwierigkeiten gehabt<br />

in 'Arch', 'Joan' und 'Capricorn' ", schrieb <strong>Ingrid</strong> am 12. Mai an<br />

Joe Steele. "Aber diese Art realistischer Filmproduktion dreht<br />

dir realistisch den Kragen um. Und ausschliesslich mit Amateuren<br />

arbeiten zu müssen, wenn man so wenig Geduld hat, wie<br />

394


ich! Aber all diese Wiederwärtigkeiten und Mängel nehme ich<br />

gerne in Kauf, wenn ich mit jemand wirklich Aussergewöhnlichem<br />

arbeiten kann...Er schreibt den Dialog gerade vor der<br />

Szene. Die Darsteller wählt er ein paar S<strong>tu</strong>nden vor Drehbeginn<br />

aus. Er steckt voll von neuen Ideen. Seine Gewalttätigkeit,<br />

wenn etwas schief läuft, ist nur mit der des Vulkans im<br />

Hintergrund zu vergleichen. Seine Zärtlichkeit und sein Humor<br />

folgen dann auf dem Fuss. Ich verstehe gut, warum ihn die<br />

Leute <strong>als</strong> verrückt bezeichnen. Aber dies ist die Bezeichnung<br />

für alle Menschen, dies es wagen, anders zu sein, und das sind<br />

genau die Menschen, die ich immer mochte, ist es nicht so?"<br />

Sie traf dann eine Entscheidung und akzeptierte auch<br />

deren Konsequenzen – selbst auf die Gefahr hin, dass es den<br />

Film in Frage stellen könnte. Sie hatte kein S<strong>tu</strong>nt-Double, so<br />

musste sie im Wasser über scharfe Felsen gehen und die Vulkanflanke<br />

hochsteigen. Sie tat das alles spielerisch, <strong>ob</strong>wohl sie<br />

der schweflige Rauch in Augen und H<strong>als</strong> brannte, er ihr den<br />

Atem raubte und ihr während Tagen Uebelkeit verursachte.<br />

BIS ENDE APRIL hatten sich die Gerüchte um eine Liebesaffäre<br />

derart verdichtet, dass sich die Journalisten auf den<br />

Weg zur Insel machten. "Ich möchte nicht antworten", sagte<br />

R<strong>ob</strong>erto nüchtern, wenn ihn einer fragte, <strong>ob</strong> er <strong>Ingrid</strong> heiraten<br />

werde. "Weder bestätige ich, noch verneine ich, vorderhand<br />

habe ich nichts dazu zu sagen". Aber seine Verneinung kam<br />

einer lauten Bestätigung sehr nahe.<br />

Und dann ging alles sehr schnell.<br />

Am 29. April kam Petter Lindström auf dem Weg nach<br />

Messina, Sizilien, in Rom an, wo ihn <strong>Ingrid</strong> zwei Tage später<br />

treffen sollte. "Ich kam vor allem deshalb nach Italien, weil<br />

<strong>Ingrid</strong> mir die Schönheit dieses Landes wiederholt gerühmt<br />

hatte", erzählte er den Reportern, welchen das Lachen wohl<br />

zuvorderst stand. "Dann bin ich auch gekommen, um meine<br />

Frau zu sehen und zu umarmen, mit der ich durch untrennbare<br />

Bande der Liebe verbunden bin." Nun, ja – aber...<br />

395


<strong>Ingrid</strong> und Petter waren während des Nachmittags und<br />

Abends am 1. Mai und des Vormittags am 2. Mai zu einem Gespräch<br />

in einem düstern kleinen Gasthof zusammengekommen.<br />

Während der ganzen Zeit dieses Treffens trabte R<strong>ob</strong>erto<br />

rauchend durch den Essraum und die Korridore – und während<br />

einiger S<strong>tu</strong>nden lärmte er mit seinem Sportwagen, rasend vor<br />

Eifersucht, unter ihren Fenstern herum. Aus Angst, <strong>Ingrid</strong> liesse<br />

sich überreden, mit Petter nachhause zurückzukehren, liess<br />

er ihnen eine Notiz mit der Drohung zukommen, er werde seinen<br />

Wagen in einen Baum steuern und sich so das Leben<br />

nehmen, falls sie sich mit ihrem Ehemann versöhnte. Aber <strong>Ingrid</strong><br />

war zu diesem Zeitpunkt bereits an seine melodramatischen<br />

Auftritte gewöhnt und ignorierte ihn. Kay Brown, die im<br />

Auftrag ihres Chefs, Lew Wasserman von MCA, herüberkam,<br />

fand <strong>Ingrid</strong> "verloren, bleich und verstört" vor.<br />

"Es wird keine Scheidung geben" erklärte Petter den<br />

Journalisten am Bahnhof von Messina, <strong>als</strong> er sich auf den<br />

Rückweg nach Rom machte. "Es gibt keinen Grund für ein<br />

Zerwürfnis zwischen uns." Natürlich lag der Wahrheit nichts<br />

ferner <strong>als</strong> das, aber Petter glaubte, dass diese Affäre vorbeigehen<br />

werde, wie alle andern auch, und dass <strong>Ingrid</strong>, nach wie<br />

vor von ihm völlig abhängig, demütig dorthin zurückkehren<br />

werde, wo sie hingehörte.<br />

<strong>Ingrid</strong> wiederholte Petter, was sie beide schon seit Jahren<br />

wussten: dass ihre Ehe vorbei war. Jetzt wollte sie die<br />

Scheidung, weil sie R<strong>ob</strong>erto zu heiraten beabsichtigte; mit<br />

demselben Ziel hatte Rossellini inzwischen begonnen, auch<br />

seine Ehe dem Ende entgegen zu steuern. Sie verstand nicht,<br />

warum Petter sich dem widersetzte? Ihre Ehe war seit Jahren<br />

eine legale Formsache. Und hätte es da in der Tat etwas wie<br />

Liebe zwischen ihnen gegeben, warum <strong>als</strong>o wollte er sie beide<br />

und Pia dem unbarmherzigen Blick der aufdringlichen Oeffentlichkeit<br />

aussetzen? Sollten sie ihre Ehe nun nicht schnellstens,<br />

so ruhig und freundschaftlich wie möglich hinter sich lassen<br />

und sich ihrem neuen Leben zuwenden?<br />

396


Wäre das nicht in allererster Linie das Beste für Pia? Ihre<br />

Namen zierten schon täglich die Zei<strong>tu</strong>ngen und Magazine<br />

der ganzen Welt: liesse sich die Sache nun zügig regeln, würde<br />

die Presse bald das Interesse an ihnen verlieren und <strong>Ingrid</strong><br />

könnte nach einigen Wochen nach Beverly Hills zurückkehren,<br />

um Pia klar zu machen, dass sie ihre Mutter nicht verlieren<br />

würde. Schliesslich war Pia in Hollywood aufgewachsen und<br />

wusste Bescheid über Scheidungen. Das muss nicht bedeuten,<br />

dass Pia zwischen ihren Eltern Verbitterung mitbekommen hätte.<br />

Vielleicht erinnerte sich <strong>Ingrid</strong> auch an ihre eigene Kindheit<br />

und wollte ihrer Tochter dasselbe Schicksal ersparen: sie<br />

wuchs nur bei ihrem Vater auf. Ja, sie würde wohl mit R<strong>ob</strong>erto<br />

in Italien leben, aber Pia konnte ihre Sommerferien jeweils bei<br />

ihrer Mutter verbringen und sicher würde es während des ganzen<br />

Jahres genügend Gelegenheiten für Besuche hüben oder<br />

drüben geben. <strong>Ingrid</strong> bat Petter, Vernunft und Verstand anzunehmen.<br />

Klar, es gab keine ehelichen Bande mehr zwischen<br />

ihnen; ebenso klar war, dass Petter weder religiöse noch philosophische<br />

Skrupel vor der Auflösung der Ehe hatte.<br />

Aber sie konnte seinen bösartigen Widerstand nicht im<br />

vollen Ausmass erkennen. Einerseits wollte er sich nicht dem<br />

öffentlichen Brimborium aussetzen, <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> an einen<br />

andern Mann zu verlieren. Andererseits behauptete Petter<br />

gleichzeitig, wie sie später beschwor, "er liebte mich nicht und<br />

wollte mich auch nicht zurückhaben, selbst wenn ich es gewünscht<br />

hätte. Er sagte mir, es habe ihn entzückt, mich weinen<br />

und leiden zu sehen, was mich vielleicht verstehen liesse,<br />

wie sehr er gelitten habe." Natürlich gab er seine Einwilligung<br />

zur Scheidung dann irgendwann, aber er machte es ihr so<br />

schwer wie möglich. Während all den kommenden Jahren lastete<br />

auf <strong>Ingrid</strong> alleine die Schmach, die Ehe gebrochen und die<br />

Tochter verlassen und sie so dem Fluch der unerwünschten<br />

Prominenz ausgeliefert zu haben. Und weil <strong>Ingrid</strong> die Tochter<br />

verlassen hatte, hatte das Kind - verloren und verwirrt – keinerlei<br />

Anhaltspunkt für eine andere Wahrheit. Richtig besehen,<br />

war Pia am Ende das am schwersten getroffene Opfer. Der<br />

Erfolg ihres späteren Lebens bescheinigt ihr eine bemerkens-<br />

397


werte innere Stärke und Fähigkeit, zu vergeben und sich zu<br />

versöhnen, wenn Vergebung nötig war und Versöhnung auch<br />

ihr entgegengebracht wurde.<br />

SEHR WAHRSCHEINLICH hätte diese Bitterkeit weitgehend<br />

vermieden werden können, wenn Petter einer zügigen<br />

Lösung für eine Si<strong>tu</strong>ation zugestimmt hätte, die er so noch um<br />

ein weiteres Jahr verzögerte. Bevor sie sich trennten stimmte<br />

er noch einem Treffen mit <strong>Ingrid</strong> in einigen Wochen in London<br />

zu; inzwischen wollte er nach Schweden gehen, um die Scheidungsmodalitäten<br />

mit seinem Anwalt Cyril Holm zu erörtern.<br />

Vorderhand machte er keinerlei Konzessionen und liess nur<br />

verlauten, er möchte die Sache ausserhalb Italiens regeln. Und<br />

danach geschah allzulange gar nichts mehr. "Wenn Herr<br />

Lindström <strong>Ingrid</strong>s erstem Scheidungsantrag bereitwillig zugestimmt<br />

hätte", stellte R<strong>ob</strong>erto später im Jahr richtigerweise<br />

fest, "wäre uns bestimmt die ganze Kritik erspart geblieben,<br />

die über uns ausgeschüttet wurde."<br />

"Ich habe nichts anderes gesehen, <strong>als</strong> schlechte Presse<br />

aus der ganzen Welt", äusserte sich <strong>Ingrid</strong> in ihrem Brief an<br />

Joe Steele. "Hier wurden wir pausenlos gejagt. Die Fotographen<br />

waren überall. Es macht mich so schrecklich unglücklich,<br />

dass Petter und Pia für meine Sünden büssen müssen. Und<br />

auch, dass die an "Joan of Arc" beteiligten Leute möglicherweise<br />

darunter zu leiden haben. Ich denke, "Capricorn" ist nicht<br />

davon betroffen, weil ich dort ja keine Heilige bin."<br />

Mit Bezug auf Petter schrieb sie in einem Brief an Joe<br />

vom 30. Mai: "Ich kann nicht mit ihm nachhause fahren. Sag'<br />

mir, <strong>ob</strong> es stimmt (was Petter ihr erzählte), dass "Joan" (an<br />

den Kinokassen) wegen meines Skand<strong>als</strong> durchfällt. Es erscheint<br />

mir <strong>als</strong> eine solche Heuchelei, aus Geschäftsgründen<br />

wider sein besseres Wissen zu handeln. Letzten Endes würden<br />

mich die Leute noch mehr hassen, weil ich fürchtete, die<br />

Wahrheit könnte meiner Karriere schaden....Nun, ich mache<br />

mir keine Sorgen um mich, nur um Petters und Pias Zukunft<br />

und um RR's Arbeit. Das genügt, mir Angst zu machen." Um<br />

398


der Wahrheit vor der Welt die Ehre zu geben, sagte <strong>Ingrid</strong><br />

freimütig (naiv und tapfer) zu einem Journalisten, der sie ansprach:<br />

"Wir wollten es für uns behalten. Es wird zu gegebener<br />

Zeit ein Communiqué geben."<br />

Unnötig zu sagen, dass die Bemerkung innerhalb von<br />

S<strong>tu</strong>nden in Hollywood ankam, und Howard Hughes verkündete,<br />

dass er den Film auf schnellstem Wege fertigstellen wolle. Immer<br />

darauf aus, jeden möglichen Publicityerfolg einzustreichen,<br />

liess er verlauten, dass der Film unter dem Titel "Stromboli"<br />

veröffentlicht werde, und er entwarf eine Werbekampagne,<br />

die <strong>Ingrid</strong> vor dem Hintergrund des feuerspeienden Vulkans<br />

zeigte. Guter Geschmack war offensichtlich nicht seine<br />

starke Seite. Nun erschien sogar das TIME -Magazin mit einem<br />

Beitrag, "Fantasie auf der schwarzen Insel". Petter wurde mit<br />

der Bemerkung zitiert, Italien sei ein wunderschönes Land aber<br />

"zu voll von Fantasien", und der Artikel erinnerte den Leser<br />

daran, dass der Stromboli-Krater im Alter<strong>tu</strong>m <strong>als</strong> das Tor zum<br />

Hades betrachtet wurde.<br />

DANN GESCHAHEN ZWEI DINGE am selben Tag – das<br />

Zusammentreffen zweier Ereignisse, die sich kein Geschichtenschreiber<br />

getraut hätte, auch in den abgedroschensten Roman<br />

einzubringen.<br />

Am 6. Juni stellte <strong>Ingrid</strong> fest, dass sie – ja, dass sie<br />

eindeutig schwanger war; die Geburt stand für Ende Januar<br />

oder Anfang Februar zu erwarten.<br />

Und an diesem Abend brach der Stromboli mit einer<br />

Eruption aus, die Asche und Dampf in den Himmel hinauf und<br />

auf die Bewohner und Touristen tief unten spie. Glücklicherweise<br />

ergoss sich der Lavastrom nur über die nordwestlichen<br />

Hänge hinunter, sodass das Dorf verschont blieb.<br />

Der Ausbruch hinderte <strong>Ingrid</strong> an der Abreise nach London,<br />

wo sie – wie versprochen - Petter treffen wollte. Als er<br />

dann nach Kalifornien zurückkehrte, wusste er nur von den<br />

durch den Vulkan verursachten Unannehmlichkeiten; von der<br />

399


Schwangerschaft erfuhr während einer erstaunlich langen Zeit<br />

niemand etwas, <strong>ob</strong>schon einige die Ohren spitzten, <strong>als</strong> Art<br />

Cohn und Joe Steele die Neuigkeit flöteten, dass <strong>Ingrid</strong> von der<br />

Produktion derart erschöpft sei, dass sie danach wohl ein Jahr<br />

der Erholung brauche – wenn nicht deren zwei.<br />

Inzwischen sorgte Petter dafür, dass <strong>Ingrid</strong> über die<br />

Mühsal informiert war, die ihm ihr jetziges Leben verursachte.<br />

"Die Hyänen haben mich von Spital zu Spital verfolgt und über<br />

deine Liebesgeschichte ausgehöhlt", schrieb er von Los Angeles<br />

aus. Und dann schritt er zur indirekten Verurteilung <strong>Ingrid</strong>s<br />

indem er seinen Trumpf, Pia, ausspielte und <strong>Ingrid</strong>s alten<br />

Schuldkomplex wegen ihres Berufsprimats (à la Lena Geyer)<br />

neu anheizte.<br />

400<br />

"Ich denke, unser Mädchen erfasst die Lage nicht. Ich<br />

war ihr in meinem ganzen Leben nie näher <strong>als</strong> in den<br />

vergangenen zwei Wochen und ich bemühe mich, ihr<br />

den Ausgleich für die Zeit zu verschaffen, die ich für<br />

Unwichtigeres verschwendet habe. Sie ist jetzt in Minneapolis<br />

(für einen Sommerferien-Aufenthalt mit der<br />

Frau ihres Geschäftsleiters). Ich versuche mit allen<br />

Mitteln, ihr ein Gefühl der Geborgenheit vor dem drohenden<br />

S<strong>tu</strong>rm zu geben... Vor einiger Zeit sagtest du<br />

zu LIFE , du könntest nie mit einem Regisseur verheiratet<br />

sein. Welche Freiheiten und Unabhängigkeiten<br />

erwartest du jetzt?"<br />

Sein Kommentar traf ins Schwarze, und <strong>Ingrid</strong> rannte<br />

fast hysterisch vor Gewissensbissen zu R<strong>ob</strong>erto. Waren sie<br />

unverantwortlich in ihrer Handlungsweise und mit ihren Plänen?<br />

Würde sie nun ihre Tochter verlieren? Unsinn, sagte R<strong>ob</strong>erto,<br />

niemand verliert sein Kind, wenn es das nicht will. Zu<br />

gegebener Zeit werde Pia alles verstehen.<br />

Aber genau wegen der Art und Weise, wie die Dinge<br />

während der kommenden zwei Jahre gesteuert wurden, konnte<br />

Pia nichts verstehen – wie sollte sie auch? Zuerst wurde sie<br />

vernachlässigt, dann zuhause benutzt, dann in Briefen und<br />

vor Gericht benutzt: dieses einst reizende und fröhliche Kind


wurde (mit ihren eigenen Worten): "elend – es gibt kein anderes<br />

Wort dafür". Sie wurde zur ersten Nebendarstellerin auf<br />

den Seiten der regelmässig erscheinenden Serien der grossen<br />

Zei<strong>tu</strong>ngen und Magazine der Welt. Für den Rest ihres Lebens<br />

bedauerte <strong>Ingrid</strong> nur einen Aspekt ihrer Scheidung: ihre viel<br />

zu lange dauernde Entfremdung von ihrer Tochter, die 1949<br />

natürlich in dieser Form nicht vorhersehbar war. Wann immer<br />

<strong>Ingrid</strong> nach Amerika zurückkehren wollte, wurde das Vorhaben<br />

durch die Umstände verhindert; jedesmal, wenn sie Pia<br />

nach Europa holen wollte, gab es irgendwelche Hindernisse,<br />

die das undurchführbar machten. Sie wollte nie so lange vom<br />

Leben ihrer Tochter ausgeschlossen sein; aber sie war so lange<br />

vom Leben ihrer Tochter ausgeschlossen.<br />

"Ich dachte, sensible Menschen könnten scheiden und<br />

sich dennoch vernünftig zueinander verhalten", sagte <strong>Ingrid</strong><br />

später. "Es wollte nie in meinen Kopf gehen, dass ich auf soviel<br />

Bitterkeit stossen und Pia verlieren würde. Ich stellte mir vor,<br />

dass sie zeitweise bei mir und im übrigen bei ihrem Vater leben<br />

könnte. Ich dachte, er und ich könnten Freunde bleiben.<br />

War es denn so unmöglich, so zu denken? Verkehren nicht<br />

viele geschiedene Leute in Anstand miteinander?"<br />

Im Juni war praktisch alles ausser Kontrolle – der Film,<br />

ihr Leben und alle Beziehungen darin. Und sie war jetzt ebenso<br />

vollständig von R<strong>ob</strong>erto dominiert, wie zuvor von Petter.<br />

Aber sie vergass ihre Tochter nicht. "Unser Leben, liebste<br />

Pia, wird sich ändern", schrieb sie diesen Sommer.<br />

"Der Unterschied wird der sein, dass du mehr bei Papa<br />

leben wirst und Mama wie so oft zuvor woanders sein<br />

wird, nur wird sie diesmal für noch längere Zeit weg<br />

sein, was aber nicht heisst, dass wir uns nie sehen<br />

werden. Du wirst bei mir deine Ferien verbringen. Wir<br />

werden es lustig haben und Ausflüge machen. Du<br />

darfst nicht vergessen, dass ich Papa liebe und dass<br />

ich dich liebe, und daran kann sich nichts ändern. Aber<br />

manchmal möchte ein Mensch mit jemand anderem<br />

leben, der nicht zur eigenen Familie gehört. Das ist<br />

dann eine Trennung oder Scheidung. Ich weiss, wir<br />

401


402<br />

haben über manche deiner Freunde mit geschiedenen<br />

Eltern gesprochen. Es ist nichts Ungewöhnliches, einfach<br />

eher traurig... Schreib mir, und ich werde dir<br />

anworten, und die Zeit wird – so hoffe ich – schnell<br />

vergehen, bis wir uns wieder sehen."<br />

Obschon daraus in den folgenden Jahren viel Kummer<br />

resultierte, beruhte die Si<strong>tu</strong>ation nicht auf <strong>Ingrid</strong>s Gefühllosigkeit<br />

oder absichtlichem Im-Stich-lassen. Von allem Anfang an<br />

wollte sie für sich und ihre Tochter Besuche organisieren und<br />

hoffte, mehr von dem mit Pia zu verbringen, was man später<br />

<strong>als</strong> "intensiv genutzte Zeit" bezeichnete. Aber diese Erwar<strong>tu</strong>ngen<br />

erwiesen sich <strong>als</strong> schreckliche Fehlkalkulationen. Während<br />

Jahren danach gebaren auch andere Schauspielerinnen uneheliche<br />

Kinder. Aber Catherine Deneuve, Vanessa Redgrave, Susan<br />

Sarandon, Madonna und vielen andern wurde das alleinige<br />

Entscheidungsrecht über ihr Privatleben zuerkannt und sie hatten<br />

nicht unter der öffentlichen Diffamierung zu leiden – allerdings,<br />

ist zuzugeben, haben sie auch nicht ein Kind verlassen<br />

um andere Kinder zu bekommen. <strong>Ingrid</strong>s Si<strong>tu</strong>ation war 1949<br />

sehr schwierig; und leider sollte es 1950 noch schlimmer<br />

kommen.<br />

"Ich hätte die ganze Geschichte mit R<strong>ob</strong>erto Rossellini<br />

diskreter behandeln sollen", sagte sie Jahre später, indem sie<br />

die Verantwor<strong>tu</strong>ng für beide übernahm. "Aber ich war mir nicht<br />

bewusst, dass ich dem amerikanischen Volk gehörte und dass<br />

sich jedermann berechtigt glaubte, mir zu sagen was ich zu<br />

<strong>tu</strong>n und wie ich mein Privatleben zu gestalten hätte. Ein Filmstar<br />

ist ein lächerliches kommerzielles Produkt. Die Leute sagten<br />

einmal, ich sei das Vorzeigemodell einer Ehefrau und Mutter.<br />

Sie sahen mich <strong>als</strong> Jeanne d'Arc und glaubten, ich sei eine<br />

Heilige. Das bin ich nicht. Ich bin nur ein Mensch. Als Resultat<br />

davon fühlte ich mich schuldig – ein Leben lang." Dass ein Teil<br />

dieses Schuldgefühls berechtigt war, hat sie allerdings nie bestritten.<br />

Jeanne d'Arc wurde <strong>als</strong> Hexe verurteilt und in der Folge<br />

einer Justizfarce auf dem Scheiterhaufen verbrannt. <strong>Ingrid</strong> von


Hollywood wurde <strong>als</strong> Hure verurteilt und widerrechtlich im Feuer<br />

der öffentlichen Diffamierung verbrannt. Nur sie konnte das<br />

Ausmass einer gerechtfertigten Kritik ermessen und das neurotische<br />

Übermass erkennen. Aber der Gerichtshof der öffentlichen<br />

Meinung sprach das Urteil, und dieses war nahezu fatal.<br />

Die Verurteilung nahm ihren Anfang zu Beginn der<br />

"Stromboli"-Produktion, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> einen Brief von Joseph I.<br />

Breen, dem Direktor der Motion Pic<strong>tu</strong>re Production Code Administration<br />

– dem selbsternannten Wachhund über die moralische<br />

Reinheit Amerikas erhielt. "Kürzlich", begann er,<br />

"hat die amerikanische Presse einen ziemlich weitgestreuten<br />

Bericht veröffentlicht, wonach Sie sich von Ihrem<br />

Ehemann scheiden lassen, Ihr Kind im Stich lassen<br />

und R<strong>ob</strong>erto Rossellini heiraten.<br />

Unnötig zu sagen, dass diese Berichte bei weiten Teilen<br />

unseres Volkes grosse Bestürzung hervorrufen,<br />

werden Sie doch <strong>als</strong> unsere First Lady des Films betrachtet<br />

– sowohl <strong>als</strong> Mensch wie auch <strong>als</strong> Künstlerin.<br />

Von allen Seiten kommen mir nur Schreckensreaktionen<br />

auf ihre diesbezüglichen Pläne zu Ohren...<br />

Solche Berichte werden sich nicht nur negativ auf Ihr<br />

Renommé auswirken, sondern möglicherweise auch<br />

Ihre Karriere <strong>als</strong> Filmschauspielerin zerstören. Sie<br />

können die amerikanische Öffentlichkeit derart gegen<br />

Sie aufbringen, dass Ihre Filme ignoriert und Ihr<br />

Marktwert (an den Kinokassen) dadurch ruiniert werden."<br />

Sogar Walter Wanger sprang mit einem einmalig scharfen<br />

Telegramm auf den Moralistenzug auf. Aus Angst, dass der<br />

Erfolg von "Joan of Arc" durch ein Boykott durch Kirche und<br />

Erziehungs-Organisationen geschmälert werden könnte, beklagte<br />

er sich:<br />

"Ich habe eine Rieseninvestition gemacht, die meine<br />

Zukunft und die meiner Familie in Gefahr bringt, wenn<br />

du dich nicht benimmst... Wir beide tragen Verantwor-<br />

403


404<br />

<strong>tu</strong>ng für Victor Flemings Andenken (!!!) und für alle<br />

Menschen, die an uns glauben... Betrüge dich nicht<br />

selbst in der Meinung, dass was du <strong>tu</strong>st, von derart<br />

couragierter und künstlerischer Grösse sei, dass es<br />

sich selbst rechtfertigt."<br />

Später mag sich <strong>Ingrid</strong> über Wangers Hysterie grimmig<br />

belustigt haben. Er erwischte seine Frau im Bett mit ihrem<br />

Liebhaber und Agenten Jennings Lang – griff sich einen geladenen<br />

Revolver und schoss Lang in die Leisten. Das Trio realisierte<br />

dann, dass, sollte die Presse davon Wind bekommen,<br />

ihre Karrieren ebenfalls ernsthaften Schaden nehmen würden,<br />

weshalb Bennett und Wanger den blutenden Lang in ihren Wagen<br />

schleppten und mit ihm zu einem Parkplatz in Beverly Hills<br />

fuhren, wo Lang seinen eigenen Wagen parkiert hatte. Dort<br />

stellten die Drei eine filmreife Szene, die bei Eintreffen der<br />

alarmierten Polizei danach aussehen sollte, <strong>als</strong> <strong>ob</strong> Lang seinen<br />

eigenen Wagen mit dem Wangers verwechselt hätte und dabei<br />

von Wanger überrascht worden wäre – der verständlicherweise<br />

seinen Revolver zog, um sein Eigen<strong>tu</strong>m vor dem "Dieb" zu<br />

schützen. Lang erholte sich dann, und die Investition der Familie<br />

Wanger war für den Moment in Sicherheit. Hurra Hollywood!<br />

SCHMÄHBRIEFE GEGEN INGRID trudelten zu Tausenden<br />

und Zehntausenden ein. Sie war bekannt <strong>als</strong> treue Ehefrau<br />

und gute Mutter, die Leute weinten. Wie konnte sie auch<br />

im Entferntesten sowas in Betracht ziehen? "Wäre ich <strong>als</strong>o<br />

eine schlechte Frau und Mutter gewesen, wäre es dann in<br />

Ordnung gewesen?", fragte sie folgerichtig. "Werde ich <strong>als</strong>o<br />

dafür bestraft, dass ich eine gute Frau war?" Aber es war nicht<br />

der Moment für Logik, Selbstbeherrschung oder gar Anstand.<br />

Die Stellungen waren bezogen und es gab kein Pardon.<br />

Und dann geschah etwas, was Breen für ein Zeichen<br />

des Himmels gehalten hätte. Während den beiden letzten<br />

Drehtagen, am 1. und 2. August, liess R<strong>ob</strong>erto <strong>Ingrid</strong> die Flanke<br />

des Vulkans hochklettern. Aber sie war von den ausströmenden<br />

Gasen derart benommen, dass sie ausglitt und einige<br />

hundert Fuss tief hinunter schlitterte, sodass ihre Arme und


Beine schlimm aufgeschürft waren und bluteten. In der Tat<br />

hatte sie nur mit Glück keinen Abort erlitten. Immerhin erging<br />

es ihr besser <strong>als</strong> einem Produktions-Ingenieur namens Ludovico<br />

Muratori, der nach seiner Arbeit an der Vulkanflanke derart<br />

erschöpft war, dass er zusammenbrach und an einem Herzstillstand<br />

starb. "Stromboli" sei, wie Hitchcock von der fachlichen<br />

Seite her meinte, nicht bloss ein Film gewesen – sondern<br />

eine Folge von Unfällen und Katastrophen. Und wie oft sein<br />

Finale von RKO vor seiner Freigabe auch überarbeitet worden<br />

sein mag, der Film hat keinen Rhythmus, keinen Zug, weder<br />

emotionale Überzeugungskraft noch philosophische Klarheit.<br />

Rossellinis Methode, wie erfolgreich auch immer in<br />

"Open City", <strong>als</strong> er mit Fellinis Drehbuch arbeitete, hatte ihn<br />

nun fatal im Stich gelassen. "Stromboli" war nicht kontrovers,<br />

es war bloss monumental langweilig. Über des Regisseurs gute<br />

Absichten gibt es keinen Zweifel, aber edler Kampf – Mensch<br />

gegen Na<strong>tu</strong>r, Flüchtlinge auf der Suche nach einer Identität<br />

oder einsame Seelen, die zu Gott schreien – führt nicht zwingend<br />

zu einem überzeugenden Drama. Und weil Rossellini der<br />

uneingeschränkte Herr von "Stromboli" war, nachdem es so<br />

an jeder Zusammenarbeit fehlte, verlief sich auch die einzige<br />

Vision noch im Nichts.<br />

Nachdem der Film im August vollendet war, verbesserte<br />

sich die finanzielle Si<strong>tu</strong>ation nicht wesentlich, einfach weil<br />

sie von Stromboli nach Rom zurückkehrten. In Rossellinis geräumiger<br />

10-Zimmer-Wohnung an der Via Bruno Buozzi 49<br />

gab es zwar einigen zusätzlichen Komfort, aber nicht viel Geld<br />

für Luxus.<br />

Die ersten Tranchen von <strong>Ingrid</strong>s Salär für "Stromboli"<br />

wurden in Kalifornien an sie und Petter gemeinsam ausbezahlt,<br />

w<strong>ob</strong>ei sie auf ihren Anteil bereitwillig zugunsten von Pias<br />

Unterhalt verzichtete. Ausserdem legten die Steuerbehörden<br />

mit pfandrechtlichen Forderungen die Hand auf ihr Einkommen,<br />

nachdem noch namhafte Rechnungen aus den Jahren<br />

1946 und 1948 offen waren; <strong>als</strong> ihr Geschäftsführer, ein etwas<br />

sonderbarer Typ namens John Vernon, der Unterschlagung<br />

405


angeklagt wurde, wählte dieser die (für ihn) einfachste Lösung<br />

des Pr<strong>ob</strong>lems und beging Selbstmord. Von Seiten der Steuerbehörden<br />

hatten die Lindströms dafür keine Nachsicht zu erwarten.<br />

Die Verwendung von Rossellinis RKO-Salär war eine<br />

etwas geheimnisvolle Angelegenheit: er unterhielt, wie er geltend<br />

machte, seine Mutter, eine Schwester, eine Nichte, einen<br />

Sohn, verschiedene Tiere, eine unbestimmte Zahl von Ex-<br />

Mätressen und einen ganzen Zug von Automechanikern, die<br />

dauernd an seinen Sportwagen arbeiteten.<br />

Dennoch, nachdem der Film fertig war, fand <strong>Ingrid</strong><br />

wieder langsam zu ihren Kräften zurück – zweifelsohne mit<br />

Nachhilfe durch Rossellinis Hartnäckigkeit. Am 5. August brach<br />

sie das Schweigen und teilte der Presse (durch Joe Steele)<br />

mit, dass sie beschlossen habe, sich vom Film ins Privatleben<br />

zurückzuziehen und dass ihr Anwalt den Auftrag habe, die<br />

Scheidungsverhandlungen sofort einzuleiten. Am selben Tag<br />

brachte die Los Angeles Times eine armdicke Sensations-<br />

Headline zu<strong>ob</strong>erst auf der Titelseite: INGRID TRENNT SICH<br />

VON MANN, VERLÄSST FILM . Die Geschichte füllte viele Spalten<br />

darunter. Ausländische Zei<strong>tu</strong>ngen waren zurückhaltender,<br />

doch wurde die Neuigkeit nirgendwo unterdrückt. Die Kolumnistinnen<br />

Louella Parsons und Hedda Hopper in Hollywood waren<br />

höchst aufgebracht darüber, dass <strong>Ingrid</strong> ihnen nicht den<br />

exklusiven Vorabdruck gewährt hatte.<br />

R<strong>ob</strong>ertos Frau Marcella zeigte sich kooperativ und unterstützte<br />

seine Bemühungen, eine brauchbare Basis für die<br />

Trennung zu finden. "<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> ist die ideale Frau für ihn<br />

– hübsch, ruhig, ein Charmebündel. Miss <strong>Bergman</strong> und R<strong>ob</strong>erto<br />

werden baldmöglichst heiraten." Tatsächlich schien Marcella<br />

ganz zufrieden zu sein, die Formalität ihrer längst gestorbenen<br />

Ehe beenden zu können. Sie stimmte fröhlich zu, ein Dokument<br />

zu unterschreiben, in dem sie im Zeitpunkt der Eheschliessung<br />

mit R<strong>ob</strong>erto <strong>als</strong> unzurechnungsfähig bezeichnet<br />

wurde, was genügte, um vor einem Geschworenengericht in<br />

Österreich die Anullierung der Ehe zu erwirken; dank einigen<br />

persönlichen Beziehungen wurde dieses Urteil dann auch in<br />

Italien anerkannt. Ihr elfjähriger Sohn wurde ihr zugespro-<br />

406


chen.<br />

So feierte <strong>Ingrid</strong> am 29. August, ihrem 34. Geburtstag,<br />

die Beseitigung eines weiteren Hindernisses für ihre Heirat mit<br />

R<strong>ob</strong>erto. Sie genossen ein Auswärtsdinner in Rom und waren<br />

spontan umringt von einer begeisterten Menge von Gra<strong>tu</strong>lanten.<br />

Die Römer schienen die Liebenden zu verehren, und ein<br />

ganzer Zug begleitete sie auf ihrem Rückweg applaudierend,<br />

alte italienische Liebeslieder singend und auf jede andere<br />

mögliche Weise ihre Sympathie bekundend, ausser dass sie<br />

keine Münzen in den Brunnen warfen.<br />

DIESEN HERBST BEGANN INGRID mit dem langen Prozess,<br />

eine Fernscheidung zu erwirken.<br />

Zunächst wählten sie und R<strong>ob</strong>erto Monroe McDonald,<br />

einen amerikanischen Anwalt in Rom, der ihnen von Freunden<br />

wärmstens empfohlen worden war; er hatte den Auftrag, einen<br />

kalifornischen Anwalt zu suchen, mit dem er zusammenarbeiten<br />

würde. Ende September begab sich McDonald – ein unansehnlicher,<br />

schweigsamer und scheinbar publizitässcheuer<br />

Mann – nach Los Angeles mit einer umfassenden Erklärung,<br />

die ihm <strong>Ingrid</strong> diktiert und die sie unterzeichnet hatte, in der<br />

sie ihre Lebensgeschichte und die Gründe für die fortschreitende<br />

Zerrüt<strong>tu</strong>ng ihrer Ehe darlegte. Bestrebt, Petters Verhalten<br />

weder beleidigend noch verfälscht darzustellen, stellte sie doch<br />

klar, dass er ihr Leben und ihre Karriere zu dominant kontrolliert<br />

hatte und sie nur getrennt von ihm in Alaska, Europa und<br />

New York ihre eigenen Stärken kennenlernen konnte und dabei<br />

auch erkennen musste, wie weit sie sich inzwischen von einander<br />

entfernt hatten. Ohne Verbitterung und frei von Schuldzuweisungen<br />

stellte <strong>Ingrid</strong> immerhin fest, dass ihr kreatives und<br />

emotionales Leben nun wieder in Europa stattfinden werde.<br />

So gerüstet begab sich McDonald nach Los Angeles.<br />

Unterwegs hatte er einen Aufenthalt in New York, wo er etwas<br />

völlig Unvorstellbares und Ungeheuerliches tat. Im f<strong>als</strong>chen<br />

Glauben, es sei für <strong>Ingrid</strong> von Vorteil, die amerikanische Presse<br />

auf ihrer Seite zu haben, händigte er ihren vertraulichen<br />

Bericht dem Syndikats-Kolumnisten "Cholly Knickerbocker"<br />

407


(Übername des Salonlöwen Igor Cassini) aus, der unter der<br />

Hauptschlagzeile INGRID'S ANWALT IN U.S. ZUM KONTAKT<br />

MIT LINDSTROM eine Riesengeschichte veröffentlichte, die am<br />

21. September die Seiten von Hunderten von amerikanischen<br />

Zei<strong>tu</strong>ngen zierte. Zitat McDonald: "Ihr erstes und letztes Wort<br />

zu mir, bevor ich Rom verliess, war: 'Tun Sie nichts, was Petter<br />

verletzen könnte.'" - der verständlicherweise ausser sich<br />

war, nicht nur wegen der von McDonald in der Öffentlichkeit<br />

erfolgten Anklagen, sondern auch wegen dieser inakzeptabeln<br />

Art und Weise, eine private Scheidungsklage in die Öffentlichkeit<br />

zu tragen.<br />

Die Si<strong>tu</strong>ation verschärfte sich noch, <strong>als</strong> McDonald, der<br />

nun sein wahres Gesicht zeigte und offensichtlich den Ruhm<br />

seiner Beziehung genoss, die Publizität suchte und mit<br />

Klatschreporterin Louella Parsons ins Gespräch kam. Ihre Titelzeile<br />

gipfelte in der absurden Bestätigung "INGRID BIETET<br />

VERMÖGEN GEGEN FREIHEIT" und der anschliessende Artikel<br />

zitierte McDonalds verrückte Berichte über Einzelheiten privater<br />

Gespräche und Korrespondenzen zwischen <strong>Ingrid</strong> und Petter.<br />

Bis hierher hatte McDonald seine Kompetenzen schon<br />

derart überschritten, dass er offen über <strong>Ingrid</strong>s Vergangenheit,<br />

ihre psychologische Geschichte, Lindströms emotionale<br />

Befindlichkeit und beider Zukunftsaussichten zu theoretisieren<br />

begann.<br />

Mit diesem offensiven, extravaganten und durch und<br />

durch unprofessionellen Verhalten torpedierte McDonald tatsächlich<br />

jedes subtilere Vorgehen: Lindström, zu Recht erzürnt,<br />

stellte die Verhandlungen praktisch ein, je mehr der<br />

bunten Berichte er las, wie er seine Frau durch seine Dominanz<br />

ruiniert habe. Einige Märchen – zur Schönung der Leserquoten<br />

- liessen vage Anspielungen in Rich<strong>tu</strong>ng von Gewalt<br />

durchblicken, wofür es de facto natürlich keine Grundlagen<br />

gab. So begann die Raserei der amerikanischen Medien, die es<br />

von Herbst 1949 bis Ende 1950 schafften, gesamthaft mehr<br />

<strong>als</strong> 38'000 Zei<strong>tu</strong>ngs- und Magazinartikel, Editori<strong>als</strong>, Essays<br />

und Predigten über den <strong>Bergman</strong>-Lindström-Rossellini-Fall<br />

hervorzubringen.<br />

408


ALS INGRID VON MCDONALDS ungeheuerlichem Vorgehen<br />

erfuhr, war sie verzweifelt. Inzwischen hatte McDonald<br />

mit dem Hollywood-Anwalt Gregson Bautzer, einem grossen,<br />

braungebrannten, athletischen Salonlöwen Kontakt aufgenommen,<br />

zu dessen Klientschaft u.a. Howard Hughes und<br />

Louella Parsons zählten und der Stars wie Joan Crawford, Lana<br />

Turner und Ginger Rogers vertrat. Bautzer war beauftragt,<br />

McDonald zu entlassen, der laut protestierend nachhause<br />

hinkte, er habe doch nur im besten Interesse seiner Klientin<br />

gehandelt.<br />

Inzwischen hatte sich Petter einen Vorteil ergattert, indem<br />

er am 28. Okt<strong>ob</strong>er ganz einfach die amerikanische<br />

Staatsbürgerschaft annahm. <strong>Ingrid</strong> war nun eine im Ausland<br />

domizilierte Ausländerin, die gegen ihren amerikanischen<br />

Ehemann nebst Tochter klagte. Er begann nun über seine eigenen<br />

Anwälte zu verhandeln, die verlangten, dass a) <strong>Ingrid</strong><br />

ihre Tochter nur in den Vereinigten Staaten besuchen dürfe;<br />

b) dass Linström zu 50 % an den Gehaltszahlungen und Gewinnbeteiligungen<br />

aus "Stromboli" beteiligt werde; und c)<br />

dass <strong>Ingrid</strong> bei der materiellen Auseinandersetzung am Benedict<br />

Canyon Anwesen und den gemeinsamen Aktiven nur zu<br />

einem Drittel beteiligt werde – welchen Anteil Petter auf<br />

$ 50'000 bezifferte.<br />

Als diese Botschaft in Rom eintraf reagierte Rossellini<br />

zuerst und zwar mit einem seiner bühnenreifen Wutanfälle.<br />

Wie üblich stak er tief in den Schulden; <strong>Ingrid</strong> hatte kein Geld<br />

und auch keine Aussicht auf welches; ihre Lebenskosten und<br />

Berufsauslagen waren enorm; und in drei Monaten war ein<br />

Säugling fällig – von dem die Welt noch keine Ahnung hatte.<br />

Jede Erwähnung der bevorstehenden Geburt hätte den Kassenerfolg<br />

des Films torpediert, hätte wie eine Einladung zum<br />

massiven Boykott gewirkt. Das war die Macht der Sittenwächter<br />

im Nachkriegs-Amerika.<br />

DIE GERÜCHTE UM INGRIDS Schwangerschaft begannen<br />

schliesslich unweigerlich zu kursieren, und Ende Novem-<br />

409


er musste sie noch jemanden ins Vertrauen ziehen. Sie<br />

wandte sich natürlich an Joe Steele, der jetzt wieder in Hollywood<br />

und so loyal wie eh und je war. Gewisse Leute hatten ihr<br />

zur Abtreibung geraten, wie sie Joe im November schrieb,<br />

doch sie hatte das sofort <strong>als</strong> "billigen und armseligen Ausweg"<br />

aus ihrem Dilemma abgelehnt. Tatsächlich hatten einige Geistliche<br />

aus Rossellinis sozialem Umfeld <strong>Ingrid</strong> Freundschaft und<br />

Sympathie bekundet. "Ich lege alles in Gottes Hände, wie sie<br />

mir rieten", sagte sie Joe. "Kein S<strong>tu</strong>rm wird stark genug sein,<br />

um uns wegzufegen."<br />

Sie war indessen ständig Stürmen ausgesetzt – keiner<br />

schrecklicher <strong>als</strong> der von Petter entfesselte, der offensichtlich<br />

durch seine Tochter handelte. Pia schrieb <strong>Ingrid</strong> in einem<br />

Brief, sie könne in der Schule keine Landkarten ansehen, weil<br />

sie nichts von Italien sehen wolle. Dann wollte sie wissen, warum<br />

<strong>Ingrid</strong> das Dubbing des Dialogs in Italien und nicht in Hollywood<br />

mache: "Kein Film hat je so lange gedauert. Es muss<br />

sehr lustig sein dort drüben!" Natürlich erfasste <strong>Ingrid</strong> den<br />

Hintergrund der Sache sofort; ein Kind konnte nicht selbständig<br />

auf diese Ideen kommen.<br />

Ihre Freunde bewunderten stets <strong>Ingrid</strong>s Mut in diesem<br />

unnötigen Kampf um die Loyalität des Kindes; auch ihr Humor<br />

war ihr dabei eine Stütze. "R<strong>ob</strong>erto will einen neuen Film über<br />

San Francesco machen", schrieb sie Joe am 5. Dezember,<br />

"und der Vatikan hat sich sehr hilfsbereit erklärt und ist davon<br />

begeistert. Alle diese heiligen Männer scheinen R<strong>ob</strong>erto <strong>als</strong><br />

ihren Vorzugs-Sünder zu betrachten. Priester gehen bei uns<br />

ein und aus und leisten uns beim Abendessen Gesellschaft.<br />

Mein Ruf <strong>als</strong> Lutheranerin wurde in der Luft zerfetzt!" Und betreffend<br />

"Cholly Knickerbocker", der seine Liebe und Bewunderung<br />

gekabelt hatte – und dann um exklusive Details und ein<br />

Telefoninterview bat ! – sagte <strong>Ingrid</strong>, sie werde ihn bitten,<br />

"zur Hölle zu fahren".<br />

Als die Weihnachtszeit nahte, war <strong>Ingrid</strong> - nun im siebten<br />

Monat – in der Öffentlichkeit immer seltener zu sehen.<br />

Nachdem ihre Gagen von "Stromboli" in Hollywood blockiert<br />

410


waren, benötigten sie und R<strong>ob</strong>erto verzweifelt Geld, weshalb<br />

Steele direkt Howard Hughes anpeilte. Mit der Bitte um Verschwiegenheit<br />

erzählte er ihm von <strong>Ingrid</strong>s Schwangerschaft<br />

und drängte Hughes, den Film raschestens und noch vor der<br />

Geburt des Kindes freizugeben ("bevor ihn ein Bannstrahl<br />

trifft"). Hughes nickte.<br />

Am nächsten Morgen, 12. Dezember, informierte ein<br />

Buchhändler aus Beverly Hills Joe Steele telefonisch, dass der<br />

Los Angeles Examiner mit einer armdicken Schlagzeile die<br />

bevorstehende Geburt von <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s unehelichem Kind<br />

verkünde. Howard Hughes glaubte, ein Skandal könne der<br />

Publizität von "Stromboli" nur nützen und rief sofort Louella<br />

Parsons an, die die Geschichte ins Rollen brachte und damit<br />

eine lebenslange symbiotische Beziehung mit Hughes besiegelte.<br />

Und so geschah es, dass zur Zeit, da die Kaufleute im<br />

harten Weihnachtsgeschäft die Kassen klingeln liessen, eine<br />

ausgestossene Frau mit Kind von Küste zu Küste verleumdet<br />

wurde. R<strong>ob</strong>erto rauchte und fluchte, aber <strong>Ingrid</strong> war bemerkenswert<br />

ruhig. "Ich habe keine Angst", schrieb sie Joe am 13.<br />

Dezember, "es freut mich, wenn all die andern Frauen in grossen<br />

und kleinen Städten dieser Welt, die wegen ihrer 'Sünden'<br />

zu leiden haben, durch mich etwas Mut schöpfen können." Sie<br />

konnte sich sogar über Parsons lustig machen, die behauptete,<br />

sie habe über ihrer Schreibmaschine geweint, <strong>als</strong> sie die Meldung<br />

über die Schwangerschaft verfassen musste. "Es waren<br />

sicher Freudentränen", meinte <strong>Ingrid</strong>.<br />

Dann gab es einige vereinzelte Stimmen von liebenswürdiger<br />

Unterstützung.<br />

"Warum reden die von Skandal", fragte ein älterer italienischer<br />

Priester, "wenn doch Gott ihre Gemeinschaft mit einem<br />

Kind gesegnet hat?"<br />

"Liebste <strong>Ingrid</strong>", schrieb Cary Grant, "es ist nicht möglich,<br />

dir in einem einzigen Telegramm all die Freunde hier zu<br />

nennen, die dir ihre Liebe und Zuneigung senden."<br />

411


Und Alfred Hitchcock sandte herzliche Feriengrüsse und<br />

beschwor <strong>Ingrid</strong>, immer alles in den richtigen Proportionen zu<br />

sehen: "Schliesslich dauert nichts ewig, und die Menschen<br />

vergessen schnell."<br />

412<br />

Aber die Menschen vergassen gar nicht schnell.<br />

"Wurde ich einst so geliebt, war ich nun zutiefst verhasst,"<br />

schilderte <strong>Ingrid</strong> diese Zeit. Während des vergangenen<br />

Jahrzehnts steigerte sich ihr öffentliches Ansehen schrittweise<br />

bis hin zur totalen Identifikation mit Schwester Benedict und<br />

der Heiligen Jeanne. Aber der Heiligenschein wurde zur<br />

Schlinge, und nun – oh Schreck – ist sie gefallen aus Liebe zu<br />

einem Mann, der nicht der Ihre war und von dem sie nun ein<br />

Kind erwartete. Und dies sei – wie es hiess - nicht nur ihre<br />

Privatsache. Massen von sogenannten Durchschnittsamerikanern<br />

hatten sich in sie verliebt, in ein Symbol für moralische<br />

Stärke, und fühlten sich nun betrogen und verunsichert über<br />

sich selbst und ihre Zukunft.<br />

1939 wurde <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> <strong>als</strong> frischgesichtiges Mädchen<br />

gefeiert, "edel, graziös, unprätentiös und geistvoll", das<br />

alles repräsentierte, was Amerika liebte und brauchte. Sie war<br />

dam<strong>als</strong> verheiratet und Mutter, aber am häufigsten wurde sie<br />

mit dem Wort "unschuldig" beschrieben, womit in einem magischen<br />

Sinne so etwas wie "jungfräulich" gemeint war.<br />

Aber 1949 machte sie klar, dass sie überhaupt keine<br />

Nonne war und keineswegs beabsichtigte, für den Film-Mythos<br />

zur Märtyrerin zu werden. Und so wurde sie zur übelsten aller<br />

Sünderinnen erkoren, einer Abtrünnigen, deren "mächtiger<br />

Einfluss auf das Böse" bald nicht nur in Kirchen und Schulen,<br />

sondern auch im Amerikanischen Senat verdammt würde.


1949 - mit R<strong>ob</strong>erto Rossellini am Stromboli<br />

(Courtesy MOVIE ICONS-Verlag)<br />

413


414<br />

1951 - "Das Schlimmste..." ("Europa 51" mit Ettore Giannini),<br />

<strong>ob</strong>en: Pia Lindström


1950<br />

"Das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass ich meiner<br />

Tochter weh<strong>tu</strong>n musste. Ihr das an<strong>tu</strong>n zu müssen, wo sie<br />

doch keinerlei Schuld an allem hatte – das machte mich<br />

krank. Nichts anderes, was immer in meinem Leben sonst<br />

noch passierte, machte mich so kaputt."<br />

(<strong>Ingrid</strong> zur Verunmöglichung ihres Kontakts zu Pia)<br />

AB NOVEMBER 1949 war <strong>Ingrid</strong> praktisch eine Gefangene<br />

in ihrem Heim, denn die Via Bruno Buozzi war Tag und<br />

Nacht schwarz von italienischen Reportern und Fotographen,<br />

die nach einem Wort oder Bild gierten, das sich weltweit verkaufen<br />

liesse. Nach dem 12. Dezember, <strong>als</strong> Louella Parsons<br />

<strong>Ingrid</strong>s Schwangerschaft publik machte, wurden sie noch<br />

durch ihre internationalen Kollegen verstärkt. Am<br />

Dreiundzwanzigsten entwischte sie nach Mitternacht rasch zu<br />

einer Last-Minute-Dialogaufnahme für "Stromboli" in einem<br />

nahegelegenen Tons<strong>tu</strong>dio. Aber am 22. Januar, ihrem dritten<br />

Ausgang innerhalb von drei Monaten, missriet ihr der Versuch,<br />

mit R<strong>ob</strong>erto zu einer Ausfahrt rasch ein Auto zu besteigen, <strong>als</strong><br />

ein Fotograph hervorpreschte und einen Schnappschuss landete,<br />

der binnen S<strong>tu</strong>nden um die Welt ging. "Ist sie es, oder ist<br />

sie es nicht?" schrien die Schlagzeilen in Amerika, rhetorisch<br />

die Lesermeinungen herausfordernd, was wohl <strong>Ingrid</strong>s voluminöser<br />

dunkler Mantel zu bedeuten habe.<br />

Es war einem glücklichen Zufall zuzuschreiben, dass<br />

am Dienstag Nachmittag, 2. Februar, gerade keine Fotographen<br />

zur Stelle – vielleicht mit einem verlängerten Lunch beschäftigt<br />

- waren. Seit Tagen wurde <strong>Ingrid</strong> nicht einmal an<br />

einem Fenster gesehen, weshalb es Spekulationen gab, sie<br />

415


könnte Rom verlassen haben – vielleicht in Rich<strong>tu</strong>ng Amerika,<br />

weil die Lindström-Scheidung immer dornenvoller wurde und<br />

ein Aufschub dem andern folgte.<br />

Um drei Uhr an diesem Nachmittag setzten die Wehen<br />

ein und um vier Uhr wurde sie von ihrem Arzt, Dr. Pier Luigi<br />

Guidotti in ein Auto gepackt und zur Villa Margherita-Klinik<br />

gebracht, ein Block hinter Mussolinis ehemaligem Heim im<br />

nordöstlichen Teil Roms; kaum zu glauben, dass die Fahrt unbemerkt<br />

blieb. R<strong>ob</strong>erto gesellte sich in der Klinik zu ihnen, und<br />

um sieben Uhr, im Beisein von Dr. Guidotti und Dr. Giuseppe<br />

Sannicandro, gebar <strong>Ingrid</strong> einen gesunden Jungen, den sie<br />

Renato R<strong>ob</strong>erto Giusto Giuseppe – in der Jugend mit Rufnamen<br />

R<strong>ob</strong>ertino und später R<strong>ob</strong>in – nannten. *) Die Römer Presse<br />

verschlief die Ak<strong>tu</strong>alität noch während einer vollen S<strong>tu</strong>nde,<br />

weil die meisten Reporter bei der Fiamma Cinema zur Premiere<br />

von William Dieterles "Volcano" – Anna Magnanis Antwort<br />

auf "Stromboli" - versammelt waren.<br />

Der Abend geriet dann zu so etwas wie einer Farce –<br />

oder besser gesagt: einer Fantasie-Sequenz aus einem Fellini-<br />

Film. Zunächst erhellten die Fotographen – um ein Bild der<br />

Magnani balgend – die Nacht mit ihrem Blitzgewitter, das sie<br />

auf jede schwarzhaarige Frau losliessen, die beim Theater ankam:<br />

der Star war hier – nein, dort! – nein, sie entstieg eben<br />

einem Auto dort drüben! Aber die Magnani, die von <strong>Ingrid</strong>s<br />

Gang zur Klinik irgendwie Wind bekommen hatte, blieb ihrer<br />

eigenen Premiere tatsächlich fern und verfluchte Rossellini<br />

dafür, dass er so weit ging, ihr auf diese Weise noch die Show<br />

zu stehlen. Die Vorführung von "Volcano" , die etwa zeitgleich<br />

mit R<strong>ob</strong>ertinos erstem Schrei begonnen hatte, wurde plötzlich<br />

unterbrochen – wie auf Befehl, hätte Magnani wohl gesagt –<br />

<strong>als</strong> eine Projektorlampe verlosch. Ein Bote musste ausgesandt<br />

werden, um einen Ersatz aufzutreiben.<br />

*)<br />

416<br />

Das italienische Gesetz untersagt die Benutzung des ersten<br />

Vornamens eines lebenden Elternteils, sodass Renato<br />

nach einem von R<strong>ob</strong>ertos Lieblingscousins gewählt wurde,<br />

Giusto ist die italienische Form von Jus<strong>tu</strong>s, <strong>Ingrid</strong>s<br />

Vater, und Giuseppe hiess R<strong>ob</strong>ertos Vater.


So trat ein Mann namens Renzo Avanzo, der das Basis-<br />

Script zu "Volcano" geschrieben hatte (und vor allem ein<br />

Cousin Rossellinis war) auf die Bühne und begann das<br />

Fiamma-Publikum während dieses peinlichen Unterbruchs mit<br />

einer Steptanz-Einlage zu unterhalten. Aber die Presseleute<br />

langweilten sich, und einige von ihnen entschlossen sich,<br />

rasch in einen andern Stadtteil hinüberzuwechseln, wo eine<br />

private Vor-Premiere von "Stromboli" zu sehen war. Vielleicht<br />

konnten sie einige Kommentare von weggehenden Zuschauern<br />

einfangen, w<strong>ob</strong>ei sich das Publikum aus einem Dutzend Bischöfen<br />

und etwa vierhundert Priestern zusammensetzte, die<br />

sich davon überzeugen konnten, dass der Film in ein erbaulich<br />

religiöses Finale mündete (Karins Schrei, Wandlung und<br />

Schlussgebet).<br />

Doch der Zirkus hatte erst begonnen. Um neun Uhr<br />

wurde die Geburt von der italienischen Nachrichten-Agen<strong>tu</strong>r<br />

ANSA bekanntgegeben, worauf die Hölle losbrach. Während<br />

den beiden folgenden Wochen hatten die Weltnachrichten<br />

(einschliesslich jener über die Entwicklung der Wasserstoffbombe)<br />

nachrangige Bedeu<strong>tu</strong>ng nach all dem, was sich vor<br />

der Villa Margherita abspielte, und Rom machte eher den Eindruck<br />

eines Hollywood-Sets. Gelegentlich drang der Wahnsinn<br />

auch in die Klinik ein – nicht zuletzt in Form der wenigstens<br />

200 Briefe, die täglich auf <strong>Ingrid</strong>s Bett landeten. Etwa die<br />

Hälfte davon stammten von Filmfans rund um die Welt, die ihr<br />

sagten, wie mutig sie doch gewesen sei. Die andere Hälfte<br />

setzte sich aus Obszönitäten, Drohungen und Beschuldigungen<br />

zusammen. Es war aber nichts im Vergleich zu den 40'000<br />

Zuschriften, die sie seit ihrer Abreise von Amerika erhalten<br />

hatte.<br />

Das eiserne Gartentor der Klinik blieb für die Journalisten<br />

fortan geschlossen und wurde von einer Nonne bewacht,<br />

die von einem Mitglied der Associated Press unverblümt gefragt<br />

wurde, <strong>ob</strong> sie auf die Bibel schwören würde, dass die<br />

telefonisch von der Klinik erhaltene Auskunft, wonach keine<br />

Patientin namens Miss <strong>Bergman</strong> im Hause registriert sei, auf<br />

der Wahrheit beruhe. Die kleine Schwester, die entweder sehr<br />

417


naiv oder dann sehr clever war (und beschloss, die Frage<br />

wörtlich zu nehmen), antwortete, nein, es sei keine Signorina<br />

<strong>Bergman</strong> da. Da war eine Borghese, die Pricipessa Borghese,<br />

die etwas früher am Tag Zwillinge geboren hatte, aber nein,<br />

eine Miss <strong>Bergman</strong> gebe es hier nicht – was ja auch der<br />

Wahrheit entsprach, denn <strong>Ingrid</strong> wurde in der Klinik unter einem<br />

Pseudonym eingetragen.<br />

So blieben die Neuigkeiten während mehrerer S<strong>tu</strong>nden<br />

unbestätigt von der Klinikverwal<strong>tu</strong>ng, von den Rossellinis, von<br />

deren Freunden, den verschwiegenen Nonnen – e <strong>tu</strong>tti quanti.<br />

Auf gut Glück flunkerte die amerikanische Presse Geschichten<br />

über <strong>Ingrid</strong>s Freudentränen oder ihr entzücktes Lachen, <strong>als</strong><br />

man ihr das Baby brachte. In Tat und Wahrheit war sie von<br />

der Anaesthesie noch so benommen, dass sie sich beim ersten<br />

Schrei des Kindes nur zur Frage aufringen konnte: "Was ist<br />

los? Wieviel Uhr ist es?", um sofort in erschöpften Tiefschlaf zu<br />

fallen.<br />

Um Mitternacht begannen Journalisten und Fotographen<br />

über das Tor und die steinerne Klinikumfriedung zu klettern.<br />

Einsatz-Polizei wurde aufgeboten, um diese Invasion zu stoppen,<br />

aber die Presse wich um kein Yota aus dem Klinikgarten<br />

zurück. Am folgenden Morgen trat der Klinikverwalter heraus,<br />

der die Klinik kürzlich neu eröffnet hatte und nun etwas gute<br />

Presse dringend gebrauchen konnte, um (mit R<strong>ob</strong>ertos Erlaubnis)<br />

die Geburtszeit, das Geschlecht und das Gewicht des Neugeborenen<br />

bekanntzugeben. Und das sollte es dann gewesen<br />

sein.<br />

ABER DER KLINIKVERWALTER beschloss dann, einer<br />

Handvoll Reporter zu gestatten – bitte OHNE Kameras! – einige<br />

Aufenthaltsräume und die Kapelle der Klinik zu besichtigen.<br />

Aber Kameras wurden in den weiten Wintermänteln leicht hereingeschmuggelt,<br />

und dann eskalierte die Si<strong>tu</strong>ation plötzlich<br />

ins Chaotische. Wütendes Personal und entsetzte Nonnen<br />

rannten hinter den Fotographen her, die wie wild durch die<br />

Korridore hetzten, ihre Nasen in Privaträume streckten und ein<br />

418


Feuerwerk von Blitzlichtern veranstalteten. Doch niemand erhielt<br />

Zugang zur Suite 34, wo Polizeiwachen für die Sicherheit<br />

der berühmten Mutter und ihres Kindes sorgten.<br />

Bis zur Mittagszeit hatte sich die Szene wieder etwas<br />

beruhigt, doch das Spiel war noch nicht zu Ende. Journalisten<br />

wurden von ihren Auftraggebern ermächtigt, in einem Hotel<br />

der Klinik gegenüber Zimmer zu mieten, von wo aus sie ihre<br />

Objektive auf den Eingang der Klinik fokussieren und die Fassade<br />

nach einem Fenster absuchen konnten, durch welches<br />

eine grosse nordische Patientin even<strong>tu</strong>ell einen Blick ins Freie<br />

werfen würde. Aber <strong>Ingrid</strong>s Gefangenschaft dauerte an, gesichert<br />

durch die metallenen Rolläden ihres Zimmers, die während<br />

ihres ganzen Klinik-Aufenthalts unten blieben.<br />

Inzwischen wurden alle möglichen faulen Tricks versucht.<br />

Den hierfür immunen Nonnen wurden Bestechungsgelder<br />

für ein Bild angeboten. Ein Journalist brachte seine<br />

schwangere Frau zur Klinik, doch wurden beide hinausgeworfen,<br />

<strong>als</strong> sich herausgestellt hatte, dass die Frau noch mindestens<br />

sieben Wochen vor dem Geburtstermin war. Ein Fotograph<br />

kletterte vorsichtig am Wasserrohr zum Balkon von <strong>Ingrid</strong>s<br />

Zimmer hoch. Wieder ein anderer veranlasste eine Hebamme,<br />

irgend ein Neugeborenes zu wägen, und dieses Bild<br />

ging dann um die Welt mit der Legende: "Ist das <strong>Ingrid</strong>s kleiner<br />

R<strong>ob</strong>erto?" Gleich daneben war ein Bild aus der "Stromboli"-Werbung<br />

abgedruckt, das <strong>Ingrid</strong> mit traurigem Gesicht im<br />

schäbigen, gestreiften Kleid zeigt, das sie in einer Szene trug:<br />

"In der Villa Margherita hat <strong>Ingrid</strong> jetzt nichts zu lachen!"<br />

Einige Zei<strong>tu</strong>ngen gruben Fotos von "Notorious" aus, die<br />

<strong>Ingrid</strong> krank von der Vergif<strong>tu</strong>ng im Bett liegend zeigen ("<strong>Ingrid</strong><br />

erholt sich von ihren Qualen"). Wieder andere griffen in<br />

ihre ak<strong>tu</strong>elleren Dossiers und benutzten Bilder, die <strong>Ingrid</strong> vor<br />

einem Jahr bei der Ankunft auf dem Römer Flughafen zeigten,<br />

angesichts der sie erwartenden Presse mit vor Schreck weit<br />

geöffneten Augen und mit neuem Titel: "Verängstigte Ìngrid<br />

auf dem Weg ins Spital". Die einzigen Bilder mit echtem Bezug<br />

zum Anlass zeigten R<strong>ob</strong>erto, der einen Kameramann ins Ge-<br />

419


sicht schlug und seinen älteren Sohn, der Obszönitäten in die<br />

Kameras maulte.<br />

Die schwedische Presse begnügte sich mit<br />

unbebilderten Berichten, war aber nichtsdestoweniger begierig<br />

auf alles, was sich bot. Nachdem sie sich in den vergangenen<br />

zehn Jahren mit L<strong>ob</strong> für <strong>Ingrid</strong> sehr zurückgehalten hatte,<br />

rühmte sie sie jetzt <strong>als</strong> grosse, grosse Schauspielerin, die von<br />

einem wahnsinnigen Italiener ruiniert worden sei. Eine Stockholmer<br />

Zei<strong>tu</strong>ng ging andererseits so weit, sie <strong>als</strong> "einen Fleck<br />

auf der schwedischen Flagge" zu bezeichnen. Starke Reaktionen<br />

kamen aber von der einflussreichen Stockholmer Zei<strong>tu</strong>ng<br />

EXPRESSEN , die sich entschieden gegen die Formen der Heuchelei<br />

in dieser Sache wandte: "Hier in Schweden sehen wir es<br />

allgemein so, dass <strong>Ingrid</strong> ehrlich die Konsequenzen aus ihrer<br />

emotionalen Si<strong>tu</strong>ation zog. Das ist den Reaktionen der Puritaner<br />

vorzuziehen, die in Übereinstimmung mit einem heuchlerischen<br />

Moralcode öffentliche Untadeligkeit verlangen." Und so<br />

ging's, tagein tagaus, während <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> versuchte, zu<br />

ihrem sogenannten Privatleben zurückzufinden.<br />

Die letzte komische Demütigung geschah Mitte Februar,<br />

<strong>als</strong> R<strong>ob</strong>erto die Geburt des Kindes anmeldete und dessen<br />

Taufe durch seinen Freund, den Mönch, der in seinem Film<br />

Franz von Assisi spielte, vorbereitete. Das Kind wurde registriert<br />

<strong>als</strong> Sohn von R<strong>ob</strong>erto Rossellini – "Mutter zur Zeit unbekannt".<br />

Diese beispiellose Zumu<strong>tu</strong>ng entsprach einem italienischen<br />

Gesetz, wonach jedes Kind einer verheirateten Frau <strong>als</strong><br />

Kind ihres Ehemannes betrachtet wird; da die Lindströms noch<br />

immer nicht geschieden waren, wäre Petter <strong>als</strong> dessen Vater<br />

zu betrachten, und technisch könnte sich <strong>als</strong>o durchaus die<br />

Frage nach der Vaterschaft stellen. "Ist es nicht lustig", brachte<br />

es <strong>Ingrid</strong> mit Ironie auf den Punkt, "verrufen wie ich war,<br />

bin ich jetzt plötzlich unbekannt! Nein – zur Zeit unbekannt.<br />

Ich denke, das bedeutet wohl, dass wir ihnen – einmal verheiratet<br />

– dann sagen können, wer die Mutter wirklich war!"<br />

420


Sie behielt nur eine glückliche Erinnerung an den ganzen<br />

Klinikaufenthalt: "Ich werde nie vergessen, wie wundervoll<br />

die Nonnen und die Priester zur Zeit von R<strong>ob</strong>ertinos Geburt in<br />

der Villa Margherita zu mir waren. Sie beschützten mich und<br />

halfen mir. Es war ein wunderbarer Trost für mich, zu wissen,<br />

dass mir die wirklich religiösen Menschen Verständnis und<br />

Sympathie entgegenbrachten, <strong>als</strong> mir der S<strong>tu</strong>rm der öffentlichen<br />

Meinung kalt ins Gesicht blies." Tatsächlich fühlte sie sich<br />

weder von einer Nonne noch einem Priester in der Villa Margherita<br />

je verurteilt oder zurückgestossen, sie wurde von allen<br />

mit Zuneigung und Respekt behandelt – w<strong>ob</strong>ei einige von ihnen<br />

für die Betreuung der körperlichen Bedürfnisse der Sünderin<br />

öffentlich angeprangert wurden. In Amerika hätte die Reaktion<br />

des religiösen Establishments nicht unterschiedlicher<br />

sein können.<br />

MITTEN IN DIESEM PALAVER kam "Stromboli" in Amerika<br />

in die Kinos – aber nicht überall. Auf Betreiben von Senator<br />

Frank Lunsford von Georgia wurde im Senat dieses Staats<br />

eine Resolution gutgeheissen, die die öffentliche Vorführung<br />

aller Filme von Rossellini oder mit <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> untersagte,<br />

weil dieses Paar die freie Liebe glorifizierte und für die amerikanische<br />

Gesellschaft somit eine Gefahr darstellte. Soviel zu<br />

Senator Lunsfords Glaube an die Kraft des moralischen Rückgrats<br />

der Amerikaner.<br />

"<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Verhalten ist ein Gestank in den Nüstern<br />

anständiger Leute und eine Schande für die feinern weiblichen<br />

Sensibilitäten" (sic), donnerte ein Minister von Los Angeles<br />

in einer Explosion, die des Volcano würdig gewesen wäre.<br />

Ein anderer, in Philadelphia, geisselte <strong>Ingrid</strong> dafür, dass sie<br />

"den Dreck und Schlamm ihres unmoralischen Lebens" zurückgelassen<br />

habe. Und Dr. Norman Vincent Peale, der <strong>als</strong> die<br />

Seele der genialen, amerikanischen Hingabe an die Versöhnlichkeit<br />

von vielen verehrt wurde, donnerte, "<strong>Ingrid</strong> habe sich<br />

beruflich selbst disqualifiziert und gehöre von der Leinwand<br />

gefegt".<br />

421


Und so gings weiter. In Indiana, wo der Film nie gezeigt<br />

wurde, meinte ein einflussreicher Kirchenmann, "<strong>Ingrid</strong>s<br />

Verhalten sei ein Zeichen des moralischen Zerfalls". Der Federal<br />

Council of Churches mit Hauptsitz in Cleveland verdammte<br />

die Rossellini-<strong>Bergman</strong>-Affäre <strong>als</strong> "jene Art von sexuellem Exhibitionismus,<br />

die für den moralischen Niedergang des Westens<br />

Symbolcharakter hat", was nicht nur die Na<strong>tu</strong>r dieser<br />

Beziehung völlig verkannte, sondern ihr auch eine universelle<br />

Wirkung beimass, die weit jenseits ihrer Bedeu<strong>tu</strong>ng lag. Und<br />

die Heilsarmee, die in diesem Zusammenhang den Bezug zum<br />

Sinn ihres Namens völlig verlor, vernichtete alle Aufzeichnungen,<br />

die <strong>Ingrid</strong> anfangs 1949 zugunsten ihres jährlichen Spendenaufrufs<br />

gemacht hatte.<br />

Leider stammte 1950 einer der beiden schlimmsten<br />

Angriffe auf <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> von der Römisch-Katholischen<br />

Kirche Amerikas. Im Gegensatz zum europäischen katholischen<br />

Klerus, der das <strong>als</strong> private Gewissensfrage eins<strong>tu</strong>fte –<br />

und der noch viel intensiver unter den Kriegsfolgen zu leiden<br />

hatte – erwies sich der amerikanische Flügel der Kirche <strong>als</strong> der<br />

verbissenste Feind. "Der Teufel persönlich ist hier im Spiel"<br />

proklamierte der Boston Pilot , das offizielle Organ jener Diözese<br />

in einem für zahllose Beiträge in der katholischen Presse<br />

typischen Leitartikel. "Gewisse Kreise versuchen, aus einer<br />

billigen, miesen, unmoralischen Affäre eine 'Romanze' zu machen."<br />

<strong>Ingrid</strong> habe "öffentlich und schamlos die Gesetze Gottes<br />

missachtet", und "anständige, moralische Amerikaner sollten<br />

sich von diesem moralischen Abschaum fernhalten". Der<br />

Beitrag endete mit einem flammenden Beifall für die öffentlichen<br />

Aktionen in Georgia, Washington und anderswo, die<br />

"Stromboli" mit dem Bann belegten.<br />

Noch etwas anderes wird in diesem Zusammenhang<br />

deutlich: bis ans Ende ihres Lebens hat <strong>Ingrid</strong> nie gegen ihre<br />

Kritiker zurückgeschlagen – noch viel weniger hätte sie antikatholische<br />

oder antireligiöse Gefühle in sich aufkommen lassen.<br />

Man muss sich hier wirklich fragen, wer den christlichen Geist<br />

besser lebte. Es scheint, dass dam<strong>als</strong> nur sehr wenige Menschen<br />

realisierten, dass die Äch<strong>tu</strong>ng an sich tief unanständig<br />

422


ist – und in Wirklichkeit ein viel ungeheuerlicheres Symptom<br />

für Amerikas verkommene Religiosität darstellte. Die <strong>ob</strong>ern<br />

Zehntausend hielten sich in der Regel still, denn im amerikanischen<br />

Leben fand sich keine Zeit, die unkonventionellen Opfer<br />

des moralischen Sumpfs zu verteidigen. *)<br />

Gleichzeitig beantragte der Kirchenrat in Bellingham,<br />

Washington, und in Memphis, Tennessee, den beiden Stadtparlamenten<br />

mit Erfolg, "Stromboli" von diesen Städten zu<br />

verbannen. In Chicago liess Bundesrichter Michael L. Igoe ein<br />

früheres Gesetz wiederaufleben, das die Laufzeit erfolgreicher<br />

Filme im Stadtzentrum auf zwei Wochen beschränkte, wonach<br />

sie in den Vorstädten gezeigt werden konnten. Er tat dies gezielt<br />

im Hinblick auf "Stromboli" , w<strong>ob</strong>ei er gleichzeitig Walt<br />

Disneys "Aschenputtel" von dieser Verordnung ausklammerte,<br />

welcher Film, wie er sagte, so lange laufen dürfe, <strong>als</strong> er Publikum<br />

finde. Alles in allem 5,5 Millionen amerikanische Clubfrauen<br />

verlangten den Boykott von <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Filmen.<br />

Und im eiligen Bestreben, sich Amerika gefällig zu zeigen,<br />

wurde der Frauenclub von Manila durch die Regierung genötigt,<br />

die Äch<strong>tu</strong>ng aller Filme <strong>Ingrid</strong>s auf den Philippinen zu<br />

verkünden.<br />

Bemerkenswert aber ist, dass in Rom Il Popolo – die<br />

Zei<strong>tu</strong>ng der katholischen Partei – die Amerikanischen Verurteilungen<br />

<strong>als</strong> "einen von langer Hand vorbereiteten, kannibalischen<br />

Angriff gegen Miss <strong>Bergman</strong>" betrachtete, und sich die<br />

Vatikan-Zei<strong>tu</strong>ng jeder kritischen Bemerkung gegen "Stromboli"<br />

enthielt. Dennoch, ein alter, zäher Kirchenmann namens<br />

Monsignore Dino Staffa fuhr fort, auf R<strong>ob</strong>ertos und <strong>Ingrid</strong>s<br />

unmoralischen Lebenswandel einzuhämmern, w<strong>ob</strong>ei seine<br />

Meinung fälschlicherweise <strong>als</strong> die offizielle Stellungnahme der<br />

kirchlichen Insti<strong>tu</strong>tionen weltweit aufgefasst wurde. Tatsache<br />

ist, dass in Europa – aber nicht in Amerika – der Klerus sich<br />

um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte. Und sogar in<br />

*) Marion Davies, selbst Opfer von Moralzensur <strong>als</strong> sie die Geliebte von<br />

William Randolph Hearst war, sandte <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> Erste ein Zeichen der<br />

Sympathie und Solidarität.<br />

423


Amerika liess sich die von katholischer Seite finanzierte National<br />

Legion of Decency, deren Macht den finanziellen Erfolg<br />

eines mit dem Bann belegten Films ohne weiteres ruinieren<br />

konnte, erstaunlicherweise wie folgt vernehmen: "Es ist unsere<br />

Politik, einen Film inhaltlich zu beurteilen, und nicht die<br />

darin auftretenden Schauspieler." Und damit – oh Wunder –<br />

wurde "Stromboli" zur öffentlichen Vorführung zugelassen.<br />

AM 15. FEBRUAR BRACHTE RKO den Film heraus. Trotz<br />

einer Werbekampagne, die aus dem angeblichen Dolce vita<br />

von Regisseur und Star Kapital zu schlagen versuchte, wurde<br />

er vernichtend abgeschmettert – nicht <strong>als</strong> unmoralisch, sondern<br />

<strong>als</strong> künstlerisch "schwach, unklar, nichtssagend und<br />

peinlich banal", ein Urteil, dem nur schwer zu widersprechen<br />

war. So kam <strong>Ingrid</strong> erstm<strong>als</strong> in ihrem Leben zu schlechten<br />

Kritiken: ihr Spiel habe "keine Tiefe", ihr Ausdruck sei "leer".<br />

Jahre danach wird "Stromboli" – einzig in seiner Hughes-Version<br />

verfügbar – <strong>als</strong> armselig konzipiert und echt<br />

langweilig bezeichnet; und Rossellinis Anweisungen zum definitiven<br />

Schnitt – so sie überhaupt befolgt wurden – haben<br />

wohl auch nichts verbessert. Was <strong>Ingrid</strong>s schauspielerische<br />

Leis<strong>tu</strong>ng betrifft, ist klar, dass ihr Image neu beurteilt wurde,<br />

und nicht ihre Kunst: sie portraitierte Karin mit kontrollierter<br />

Panik <strong>als</strong> wäre es ein Handbuch über die Darstellung von<br />

Sehnsucht und Hass auf eine feindselige Gesellschaft.<br />

Während den ersten paar Tagen lockte der Film in 19<br />

Städten Massen in die Kinos, doch verblasste der Zustrom<br />

schnell bis zur Bedeu<strong>tu</strong>ngslosigkeit – ausser in den grossen<br />

Filmtempeln. Aber für den Entscheid, ihn zurückzuziehen, waren<br />

zwei sehr unterschiedliche Kriterien massgebend. Wo der<br />

Film an den Kassen keine Zugkraft hatte, wurde er mit der<br />

Begründung abgesetzt, dass <strong>Ingrid</strong> eine unmoralische Person<br />

sei, deren Werk nicht aufgeführt werden dürfe. Aber wo er<br />

Kasse machte, blieb er im Programm <strong>als</strong> Zeichen des Widerstands<br />

gegen jede Unterdrückung der künstlerischen Freiheit.<br />

"Wie können die sich öffentlich und unverschämt so heuchle-<br />

424


isch benehmen?", schnaubte <strong>Ingrid</strong>. "Und mich nennen sie<br />

eine unmoralische Person! Zusammen mit meinem Baby R<strong>ob</strong>ertino<br />

möchte ich gegen diese menschliche Blödheit nur<br />

schreien!" Nach einigen Wochen war von "Stromboli" nichts<br />

mehr zu hören.<br />

Dafür umso mehr von <strong>Ingrid</strong>. Weil Petter die Scheidung<br />

über die güterrechtliche Auseinandersetzung verschleppte,<br />

setzten sie und R<strong>ob</strong>erto eine Mexikanische Scheidung in Gang,<br />

die sie aufgrund von Zerrüt<strong>tu</strong>ng, mentaler Grausamkeit und<br />

Vernachlässigung anstrebte. Zusätzlich stellte sie – anfänglich<br />

gegen ihren Willen – wahrheitsgemäss fest, dass sie von ihren<br />

letzten Stromboli-Gagen noch nichts zu sehen bekommen habe,<br />

die von Lindström mit der Begründung zurückbehalten<br />

wurden, dass er sie <strong>als</strong> Unterhaltsbeitrag für Pia beanspruche.<br />

<strong>Ingrid</strong> hatte die erste Zahlung bereitwillig zu diesem Zweck<br />

hergegeben, doch jetzt verdiente Petter ebenfalls Geld. Am 9.<br />

Februar, während sie sich in der Klinik noch erholte, wurde ihr<br />

die Scheidung in absentia gewährt. Als er davon informiert<br />

wurde, verkündete Petter erwar<strong>tu</strong>ngsgemäss, dass er die<br />

Scheidung <strong>als</strong> ungültig betrachte und seinerseits ein Begehren<br />

stellen werde. Das dauerte sehr viel länger, <strong>als</strong> die kühnsten<br />

Erwar<strong>tu</strong>ngen hätten erahnen lassen.<br />

Und dann kamen die Politiker.<br />

Am 14. März 1950 trat Senator Edwin C. Johnson von<br />

Colorado ans Rednerpult des Senats:<br />

"Herr Präsident, nachdem der einfältige Film über eine<br />

schwangere Frau und einen Vulkan Amerika in gewohnter<br />

Weise und sehr zum beidseitigen Vergnügen von<br />

RKO und dem disqualifizierten Rossellini im Griff hat,<br />

können wir da nur müde gähnen und uns damit zufrieden<br />

geben, dass wir das scheussliche Ding nun vergessen<br />

können? Ich hoffe nicht. Wir müssen einen Weg<br />

finden, unser Volk in Zukunft vor solchem zu beschützen."<br />

425


Und dann leitete er über zum Abschuss, den er mit einer<br />

unbeabsichtigt komischen gemischten Metapher einleitete,<br />

w<strong>ob</strong>ei er Piraten und Indianer miteinander verwechselte:<br />

426<br />

"Als der Liebespirat Rossellini über seine Er<strong>ob</strong>erung<br />

höhnisch grinsend nach Rom zurückkehrte, baumelte<br />

nicht Mrs. Lindströms Skalp von seinem Gürtel, sondern<br />

ihre Seele. Was von ihr übrig blieb, hat nun zwei<br />

Kinder in die Welt gesetzt – das eine hat keine Mutter,<br />

das andere ist illegitim. Selbst in unserem modernen,<br />

an Überraschungen gewöhnten Leben, ist es unerträglich,<br />

unserer äusserst populären aber schwangeren<br />

Filmkönigin, deren Zustand das Ergebnis einer illegalen<br />

Affäre ist, zusehen zu müssen, wie sie die Rolle einer<br />

billigen, gr<strong>ob</strong>schlächtigen Frau spielt, um einer leblosen<br />

Geschichte etwas Würze zu geben. Um den Kasseneinnahmen<br />

auf die Beine zu helfen, braucht "Stromboli"<br />

schlicht und einfach einen privaten Skandal seitens der<br />

Hauptdarstellerin... und der gemeine und unbeschreibliche<br />

Rossellini etabliert ein Allzeittief hinsichtlich unverschämter<br />

Ausbeu<strong>tu</strong>ng und Missach<strong>tu</strong>ng der öffentlichen<br />

Moral."<br />

<strong>Ingrid</strong> wurde von Johnson <strong>als</strong> schizophren oder unter<br />

hypnotischem Einfluss stehend diagnostiziert; so oder so war<br />

sie sicher eine Verfechterin der freien Liebe und ein Apostel<br />

der Erniedrigung. Nathaniel Hawthornes Charakterschilderung<br />

hätte nicht besser sein können. Damit kam Johnson zum<br />

Punkt seiner Hetzrede, an welchem er <strong>Ingrid</strong> und R<strong>ob</strong>erto <strong>als</strong><br />

Startrampe für einen Gesetzesentwurf benutzte, der darauf<br />

abzielte, beim in eine verdrehte moralische Überlegenheit eingetauchten<br />

Amerika zu punkten: er verlangte, dass das Department<br />

of Commerce Schauspielerinnen, Produzenten und<br />

Filme offiziell nach ihrem moralischen Gehalt bewerte und lizenziere.<br />

<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> hatte sich "einen Angriff auf die Insti<strong>tu</strong>tion<br />

der Ehe zuschulden kommen lassen. Sie ist heute<br />

eine der mächtigsten Frauen der Welt – und ich bedaure, sa-


gen zu müssen: ein mächtiger Einfluss des Bösen". Zwei Wochen<br />

später sagte Johnson dasselbe von Rossellini, den er<br />

(ohne den geringsten Beweis dafür zu haben) <strong>als</strong> drogenabhängig,<br />

<strong>als</strong> Nazi-Kollaborateur und Schwarzmarkthändler bezeichnete.<br />

Wenigstens bezichtigte er ihn nicht, ein Politiker zu<br />

sein.<br />

Johnson folgerte daraus, dass jeder anständige Amerikaner<br />

erkennen müsse, dass "unter unseren Gesetzen kein<br />

der Verderbtheit schuldiger Ausländer seinen Fuss auf amerikanischen<br />

Boden setzen darf. Mrs. Petter Lindström hat aus<br />

eigenem Antrieb das Land verlassen, das so gut zu ihr war.<br />

S<strong>ob</strong>ald die im Zusammenhang mit "Stromboli" erlittene<br />

Schmach überwunden ist, können in Hollywood wieder Anstand<br />

und gesunder Menschenverstand Einzug halten, dann<br />

wird <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> ihre Karriere nicht sinnlos geopfert haben.<br />

Möge aus ihrer Asche ein besseres Hollywood erstehen."<br />

Und dann die dramatische Schlussfolgerung: "Da sich<br />

beide diese fremden Charaktere der moralischen Verderbtheit<br />

schuldig gemacht haben, ist es ihnen unter unseren Einwanderungsgesetzen<br />

verboten, amerikanischen Boden zu betreten."<br />

Über diesen Antrag wurde nie abgestimmt, doch hat<br />

<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Bewegungsfreiheit dadurch erheblichen<br />

Schaden genommen. Anfragen, <strong>ob</strong> für <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> (aufgrund<br />

der Ausländer- und Einwanderungsgesetze von 1907)<br />

die Bestimmungen bezüglich "moralischer Verderbtheit" überhaupt<br />

anwendbar seien, beantwortete der Immigration and<br />

Na<strong>tu</strong>ralisation Service in dem Sinne, dass Miss <strong>Bergman</strong> in der<br />

Tat keine U.S.-Bürgerin sei.<br />

Mehr dazu äusserte die Dienststelle nicht, aber die Verunsicherung<br />

war da. Bei einer neuen Reise nach Amerika hätte<br />

<strong>Ingrid</strong> bei der Einreise festgehalten werden können (ihr Visum<br />

war eben vor Jahresfrist abgelaufen). Sie hätte auch vorübergehend<br />

auf Ellis Island verbracht werden können. Diese Massnahme<br />

wäre zwar – auch nach Meinung verschiedener Experten<br />

– unwahrscheinlich gewesen, doch es war das Jahr 1950,<br />

<strong>als</strong> Hexenjagden über das Land fegten und keine auch noch so<br />

427


extreme Massnahme unvorstellbar gewesen wäre. Und für Pia,<br />

die womöglich Zei<strong>tu</strong>ngsberichte mit Bildern von ihrer wie ein<br />

gewöhnlicher Verbrecher in Handschellen abgeführten Mutter<br />

zu sehen bekommen hätte, wäre das – worin sich auch Petter<br />

und R<strong>ob</strong>erto einig waren – viel traumatischer gewesen. Die<br />

Presse, soviel war klar, hätte solche Neuigkeiten <strong>als</strong> die Story<br />

des Jahrhunderts ausgeschlachtet. "Das Schlimmste an der<br />

ganzen Sache", so <strong>Ingrid</strong>, "war, dass ich meiner Tochter weh<strong>tu</strong>n<br />

musste. Ihr das an<strong>tu</strong>n zu müssen, wo sie doch keinerlei<br />

Schuld an allem hatte – das machte mich krank. Nichts anderes,<br />

was immer in meinem Leben sonst noch passierte, machte<br />

mich so kaputt."<br />

IN DIESEM JAHR LEBTEN die Leute in Hollywood bereits<br />

unter den schlimmsten Verdächtigungen der ganzen Filmgeschichte.<br />

Das House Committee on Un-American Activities<br />

(HUAC) war am Herumwüten, durchwühlte das Leben der Filmemacher,<br />

Autoren, Schauspieler und sogar Kunstprofessoren<br />

im Bestreben, auch das geringste Anzeichen von kommunistischem<br />

Umtrieb unter "gefährlichen" Künstlern und Intellek<strong>tu</strong>ellen<br />

im Keime zu ersticken. Wenn verräterische Amerikaner<br />

nicht entlarvt würden (so die allgemeine Meinung), würden die<br />

Russen in die Häuser schleichen, während die anständigen<br />

Amerikaner schliefen, und plötzlich wäre Amerika unter der<br />

Kontrolle der Sowjets. Die Verräter seien vermutlich schon an<br />

ihren Plänen, wie sie das Gehirn unschuldiger Amerikaner<br />

atomisieren könnten: nach Meinung einer sehr aktiven (und<br />

fehlgeleiteten) Bürgergruppe, würde Amerika betäubt, s<strong>ob</strong>ald<br />

es den Kommunisten gelänge, die nationale Wasserversorgung<br />

mit Fluorid zu verseuchen.<br />

Diese Paranoia, die das Nachkriegs-Amerika erfasste,<br />

hatte mehrere Ursachen. Die erste von allen war, dass China<br />

1949 unter kommunistische Herrschaft geriet. Im gleichen<br />

Jahr kündigte Moskau die Zündung einer Atombombe an.<br />

Kommunistische Truppen bereiteten Anfang 1950 einen Krieg<br />

gegen das von Amerika unterstützte Korea vor. Und dann gab<br />

428


es – unglücklicherweise – einige Fälle von Spionage und Verrat<br />

an der Heimfront. Dies alles nährte eine schreckliche Verängstigung<br />

unter der Bevölkerung.<br />

Der Triumph über den Faschismus in Europa und die<br />

bisher in diesem Umfang unvorstellbare Machtdemonstration<br />

Amerikas durch die beiden Atombomben am Ende des zweiten<br />

Weltkriegs bewirkten die unausgesprochene Vorstellung, dass<br />

Amerika so etwas wie einen göttlichen Auftrag habe, alles<br />

"Reine" im Zusammenhang mit den amerikanischen Wertvorstellungen<br />

und Erfolgszielen zu beschützen. Im Juni 1949<br />

zeugten Friede und Prosperität für die Richtigkeit dieser Theorie.<br />

Unter solchen Umständen entsteht gerne eine gewisse<br />

moralische Selbstgefälligkeit, die an sich ausgefallene und<br />

unausgesprochene Vorstellung, Gott sei ein Amerikaner. So<br />

verschmelzen Stolz und Paranoia.<br />

Alles begann im Okt<strong>ob</strong>er 1947, <strong>als</strong> das HUAC, das unbeaufsichtigt<br />

von einem Kongresskommittee amerikanische<br />

Intellek<strong>tu</strong>elle nach verdächtigen Aktivitäten auszuforschen<br />

begann, sich in zunehmendem Masse der Methoden mittelalterlicher<br />

Kreuzritter bediente. 19 Prominente in Hollywood<br />

wurden vorgeladen, über ihre Verwicklung in kommunistische<br />

Aktivitäten auszusagen. Die erste Gruppe (die <strong>als</strong> die "Hollywood<br />

Ten" bekannt wurde) verweigerte zunächst die Aussage<br />

und verlor prompt ihre J<strong>ob</strong>s, wurde mit Gefängnis bestraft und<br />

wegen Missach<strong>tu</strong>ng des Kongresses gebüsst. *) S<strong>tu</strong>dio-<br />

Direktoren verurteilten diese Hexenjagd zuerst, aber nachdem<br />

sie mit dem Verlust der finanziellen Unterstützung durch die<br />

Ostküsten-Banken bedroht wurden, erwiesen sie sich <strong>als</strong><br />

Freunde des HUAC. Die innigste Loyalität des Moguls gilt immer<br />

dem Kassier. Deshalb auch die Heucheleien über den<br />

Kassenerfolg von "Stromboli".<br />

In kurzer Folge wurden jene, die verdächtigt waren,<br />

über kommunistische Verbindungen zu verfügen – oder gar<br />

*)<br />

Die "Hollywood Ten": Autoren Alva Bessie, Lester Cole, Ring Lardner<br />

Jr., John Howard Lawson, Albert Maltz, Samuel Ornitz, Adrian Scott<br />

und Dalton Trumbo; und Regisseure Herbert Biberman und Edward<br />

Dmytryk.<br />

429


einer gesellschaftskritisch intellek<strong>tu</strong>ellen Gruppe aus den 30er-<br />

Jahren anzugehören – auf eine schwarze Liste gesetzt, es sei<br />

denn, sie wären bereit gewesen, mit dem HUAC zu kooperieren.<br />

Das Ergebnis war, dass wer sich widersetzte, worunter<br />

sich auch erstrangige Hollywood-Talente befanden, dort nie<br />

wieder Arbeit fand oder aber eine lange Auszeit nehmen musste.<br />

Gleichzeitig wurden während eines Autoren-Streiks alle<br />

Angestellten, die sich der Zusammenarbeit mit dem HUAC<br />

verweigerten, von den S<strong>tu</strong>dios entlassen.<br />

All das erreichte den Höhepunkt mit dem Auftritt des<br />

berüchtigten Senators Joseph McCarthy, eines vierzigjährigen<br />

Wisconsin-Republikaners, der sich beeilte, einen der übelsten<br />

Angriffe auf die verfassungsmässigen Rechte Amerikas in der<br />

ganzen Geschichte des Landes zu starten. Fast im Alleingang –<br />

allerdings mit der lauten Unterstützung von Millionen – erweiterte<br />

McCarthy die Hexenjagd in Hollywood noch mit der Behaup<strong>tu</strong>ng,<br />

er habe Namen von Kommunisten, die in höchsten<br />

Regierungsstellen tätig seien. Die "Listen" dieser Namen legte<br />

er aber nie vor und ebensowenig konnte er je einen einzigen<br />

überzeugenden Fall gegen ein Individuum vorweisen. Nichtsdestotrotz<br />

schlug McCarthy Kapital aus den nationalen Ängsten<br />

bezüglich Korea und Osteuropa, er t<strong>ob</strong>te und wütete und<br />

trat die zivilen Rechte im Namen des Patriotismus mit Füssen.<br />

Schliesslich fiel McCarthy 1954 in Ungnade, nachdem<br />

ihn sein Wahnsinn dazu verleitete, (ausgerechnet) Präsident<br />

Eisenhower <strong>als</strong> Kommunisten-Sympathisanten zu bezeichnen.<br />

Aber bis ihn der Senat schliesslich aus dem Verkehr zog, hatten<br />

McCarthys Fantasien zahllose Leben ruiniert und dazu beigetragen,<br />

dass ein gefährliches Rechtsaussen-Verständnis<br />

Platz griff – eine Denkweise, die in einer Nation, die durch<br />

Revolution entstanden, mit gesunden Meinungsverschiedenheiten<br />

aufgewachsen und von einem vernunftbetont markigen<br />

Individualismus geprägt worden ist, eigentlich anomal ist.<br />

Die Senatoren McCarthy, Johnson und Co. waren sich<br />

einig um Gottes Segen für ihre Massnahmen und sie wussten<br />

genau, wohin diese führen und wo sie versagen würden. In<br />

der Unterhal<strong>tu</strong>ngsindustrie, einem ihrer treuesten Supporter,<br />

430


war Walter Winchell, dessen Berichte an "Herrn und Frau<br />

Amerika" das Blacklisting von Schauspielern, Autoren und<br />

Technikern in Radio und Fernsehen begrüssten.<br />

So war das Land sowohl von Wut wie auch von Angst<br />

vor den Leuten in Hollywood erfüllt. Kein Produzent, Autor<br />

oder Schauspieler, der arbeiten wollte, wagte sich an eine Geschichte,<br />

die auch nur im Entferntesten etwas kritisierte, was<br />

im Lande schief gelaufen war, und ebensowenig hätte er oder<br />

sie anzutönen gewagt, dass die Kul<strong>tu</strong>r zunehmend von paranoidem<br />

Wahn bestimmt würde. Ein entsetzlich dichter, konservativer<br />

Nebel verdüsterte das ganze Klima der<br />

Unterhal<strong>tu</strong>ngsdindustrie in jenem Moment, <strong>als</strong> sich <strong>Ingrid</strong><br />

<strong>Bergman</strong> verliebte und schwanger wurde.<br />

Für viele Amerikaner waren Filmschauspieler fremdartige,<br />

unmoralische Schurken. Die Zei<strong>tu</strong>ngen hatten die Lebensgeschichten<br />

von Lana Turner, Charles Chaplin, Mickey Rooney<br />

und Errol Flynn veröffentlicht. Wie Louella Parsons und Walter<br />

Winchell am Radio verkündeten, seien Filmstars nicht immer<br />

angenehme Leute. Manchmal tranken sie zuviel, manchmal<br />

würden sie arrestiert; sie hätten extravagante Häuser und<br />

feierten wilde Parties; am schlimmsten: sie schienen sich so<br />

oft zu scheiden, wie andere Leute Geburtstage feiern. Von<br />

alledem war <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> ausgenommen – bis jetzt. "Die<br />

Leute sahen mich in "Joan of Arc" und betrachteten mich wie<br />

eine Heilige", sagte <strong>Ingrid</strong>, "ich bin aber keine. Ich bin eine<br />

Frau, ein menschliches Wesen." Nun, das war keine Entschuldigung.<br />

Die puritanische öffentliche Schande schlug derart<br />

heftig über ihr zusammen, dass es wie ein Wunder anmutet,<br />

dass sie nicht einen Nervenzusammenbruch erlitt.<br />

AM 24. MAI HEIRATETEN <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> und R<strong>ob</strong>erto<br />

Rossellini im Abwesenheitsverfahren. In Juarez, Mexico, standen<br />

zwei Gentlemen – Javier Alvarez und Ar<strong>tu</strong>ro Trevino – vor<br />

Richter Raul Orozco und gaben das Eheversprechen an ihrer<br />

Stelle ab.<br />

431


Nur Mexico anerkannte die Scheidung, die <strong>Ingrid</strong> gewährt<br />

wurde, und weil weder sie noch R<strong>ob</strong>erto Lust hatten,<br />

nach Mexico zu reisen und womöglich amerikanischen Journalisten<br />

in die Hände zu laufen, entschieden sie sich für die ungewöhnliche<br />

– zwar gültige, aber seltsame – Ferntrauung.<br />

(Einen Präzedenzfall gab es 1945, <strong>als</strong> die Schauspielerin Merle<br />

Oberon den Filmer Lucien Ballard auf die selbe Art und Weise<br />

heiratete.) "Natürlich haben wir bedauert, dass wir an unserer<br />

eigenen Hochzeit nicht zugegen sein konnten", bemerkte <strong>Ingrid</strong><br />

später in ihrer humorvollen Art, "doch hat ihr das in unseren<br />

Augen keinen Abbruch getan." Zur S<strong>tu</strong>nde, <strong>als</strong> der Ehebund<br />

in der Ferne besiegelt wurde, kniete das glückliche Paar<br />

in einer ruhigen, dunkeln römischen Kirche, die während des<br />

ganzen Abends für sie offen gehalten wurde. Sie tauschten<br />

goldene Bänder aus und gel<strong>ob</strong>ten sich die Ehe ganz unter sich,<br />

ohne Zeugen und trafen sich danach zuhause mit einigen<br />

Freunden zu einem Glas Champagner.<br />

Einige Tage danach fuhren die Rossellinis zu einem<br />

Strandhaus, das R<strong>ob</strong>erto gekauft hatte – Santa Marinella, etwa<br />

40 km nördlich von Rom. Das Geld dafür, wie auch für den<br />

Unterhalt der Römer Wohnung, für das Personal und die Autos,<br />

stammte aus dem Verkauf von R<strong>ob</strong>ertos Auslandrechten<br />

an diesem oder jenem früheren Film, aus Anleihen zulasten<br />

seines "San Francesco"-Films, aus von künftigen Produzenten<br />

herausgeschmeichelten Darlehen und aus der Vorführung seiner<br />

grossartigen Frau, die immerzu nur süss lächelte und kurz<br />

und gut – ecco! – R<strong>ob</strong>erto erhielt ein Geschenk von diesem<br />

Fan oder ein unbefristetes Darlehen von jenem. Er hielt auch<br />

Geld in seiner Tasche zurück, indem er schlicht und einfach<br />

Rechnungen ignorierte, worüber sich gewisse Lieferanten gewundert<br />

haben mögen, die seine kleinen Reden über die Bedürftigen<br />

und Armen gehört hatten. "R<strong>ob</strong>erto lebte und arbeitete<br />

im kreativen Chaos", so <strong>Ingrid</strong>, "nichts war je organisiert."<br />

Santa Marinella hing malerisch über der Küste an einem<br />

kleinen Meeresarm etwas südlich vom alten römischen<br />

Hafen Civitavecchia. Während dieses ersten Sommers über-<br />

432


wachte <strong>Ingrid</strong> die Gärtner bei der Anlage der Blumenbeete im<br />

Garten und den Ausbau des behäbigen Garagebaus für R<strong>ob</strong>ertos<br />

Autoflotte. Das sieben acres umfassende Achtzimmerhaus<br />

war weiss, kühl und einfach struk<strong>tu</strong>riert. Ein Cheminée dominierte<br />

den gemütlichen Wohnraum, der auf eine geräumige<br />

Veranda mit Blick auf's Meer hinausführte. Das Anwesen hatte<br />

seinen privaten Strand und einen grossen Garten mit Palmen,<br />

Pinien und Blumen allüberall. Vom Sommer 1950 an teilten sie<br />

ihre Saisons zu gleichen Teilen auf beide Domizile auf, und<br />

R<strong>ob</strong>erto erstellte in Santa Marinella noch ein Redaktions-<br />

S<strong>tu</strong>dio, um seiner Familie während des ganzen Sommers nahe<br />

sein zu können.<br />

In beiden Haushalten kümmerten sich Bedienstete um<br />

die gr<strong>ob</strong>e Arbeit, aber <strong>Ingrid</strong>, deren schwedisches Auge noch<br />

überall Schmutz und Staub fand, war oft beim Scheuern und<br />

Polieren anzutreffen. "Lasst noch etwas Staub und Spinnweben<br />

übrig – Mutter kommt", war in späteren Jahren ein familiärer<br />

Scherz über <strong>Ingrid</strong>s Leidenschaft für Sauberkeit. Sie liebte<br />

auch das Einkaufen und Handeln mit den Fischhändlern<br />

über den besten Fang und die fairsten Preise. Stets mit einem<br />

Auge auf ihren Finanzen, war <strong>Ingrid</strong> immer die sparsame<br />

Schwedin, ganz im Gegensatz zu R<strong>ob</strong>ertos Rolle <strong>als</strong> verschwenderischer<br />

Grand Seigneur. Diesen Sommer erklärte<br />

<strong>Ingrid</strong> ihrem Mann, dass sie zur Arbeit zurückkehren möchte,<br />

dass sie Geld brauchten und dass sie mit ihrem Leben etwas<br />

unternehmen müsse. Selbstverständlich, antwortete er, aber<br />

bestimmt nur in einem Rossellini-Film. "Er wusste, dass Fellini<br />

und andere italienische Regisseure wie Visconti mit mir arbeiten<br />

wollten, aber R<strong>ob</strong>erto verweigerte dazu konstant seine<br />

Einwilligung...Er war sehr eifersüchtig und so viele von uns<br />

lebten im Schatten seiner jeweiligen Launen. R<strong>ob</strong>ertos Sorgen<br />

und Belas<strong>tu</strong>ngen übertrugen sich immer auf uns." Aber wenn<br />

ihr Gatte gut drauf war, schien die Sonne hell über allen.<br />

Im Spätsommer waren die Rossellinis ein attraktives<br />

Paar – sie schlank und gebräunt in einem langen, trägerlosen<br />

festlichen Kleid, er elegant im weissen Dinnerjacket – am<br />

Film-Festival von Venedig, wo "Stromboli" und "The Flowers of<br />

433


St. Francis" von einem überwältigenden Publikum laut gefeiert<br />

wurden und <strong>Ingrid</strong> öffentliches Interesse genoss. Da gab es<br />

kein Wort von Zensur oder irgendetwas anderes <strong>als</strong> Applaus<br />

und Ermutigung für sie. R<strong>ob</strong>ertos Filme erhielten keine Preise,<br />

doch wurde er <strong>als</strong> Grossmeister des Films gefeiert. Die Italiener<br />

liebten sie, wie Tennessee Williams bei seiner Rückkehr<br />

von einem Besuch berichtete, "aber <strong>Ingrid</strong> will nicht in die<br />

Vereinigten Staaten zurückkehren. Die amerikanischen Touristen<br />

in Rom meiden sie und machen beleidigende Bemerkungen.<br />

Aber sie sind ein glückliches Paar dort drüben."<br />

ENDLICH, NACH LANGWIERIGEN SCHLACHTEN um Finanzen<br />

und Pias Sorgerecht gewann Petter Lindström am<br />

1. November in Los Angeles seine Scheidung wegen Grausamkeit<br />

und Verlassens. Einige seiner Behaup<strong>tu</strong>ngen vor Richter<br />

Thurmond Clarke mögen <strong>Ingrid</strong> erstaunt haben, <strong>als</strong> sie diese<br />

in den Zei<strong>tu</strong>ngen nachlesen konnte.<br />

Das Heim der Lindströms war ein glückliches Heim,<br />

sagte Petter, und die Ehe war solide bevor sie (seine Frau)<br />

überstürzt floh "um eine gewisse Beziehung mit diesem italienischen<br />

Film-Regisseur aufzunehmen." Das sei für ihn, wie er<br />

sagte, ein grosser Schock gewesen, aber <strong>als</strong> er sie in Sizilien<br />

getroffen habe, hätte sie ihre Meinung über diesen Mann geändert<br />

gehabt und beabsichtigt, die Beziehung abzubrechen<br />

und nachhause zurückzukehren. War er verbittert von seiner<br />

Frau? "Ich fühle nur Mitleid mit ihr für die missliche Lage, in<br />

die sie sich selbst gebracht hat. Ich denke, sie hat viele Qualitäten<br />

ausser ihrer Schönheit, und sie ist eine sehr gute Schauspielerin."<br />

Aber das alles habe sie sich selbst zuzuschreiben,<br />

sagte er – und dann eine schockierende Behaup<strong>tu</strong>ng. <strong>Ingrid</strong><br />

hätte, wie er sagte, "bestimmt ohne jede Einmischung seitens<br />

ihres Mannes gearbeitet".<br />

<strong>Ingrid</strong> entsprach praktisch allen Forderungen Petters,<br />

hauptsächlich um die Sache hinter sich zu bringen und das<br />

erste Treffen mit ihrer Tochter planen zu können. Gemäss<br />

Scheidungsurkunde wurde das Haus am Benedict Canyon Pet-<br />

434


ter zugesprochen (<strong>ob</strong>schon es vollumfänglich von <strong>Ingrid</strong>s Einkommen<br />

gekauft worden war) wie auch das Sorgerecht für<br />

Pia. Sie musste bei ihm in Amerika bleiben, w<strong>ob</strong>ei <strong>Ingrid</strong> nur<br />

das Besuchsrecht während der halben Sommerferienzeit zustand<br />

– und Petter hätte sie nie nach Italien begleiten müssen.<br />

<strong>Ingrid</strong> gab auch die Kontrolle über ihre Finanzen auf, die sie<br />

verdient hatte und die treuhänderisch für Pia sichergestellt<br />

wurden. Die Bedingungen der Scheidung waren unbestritten<br />

und Richter Clarke gewährte eine verbale Verfügung bei Abwesenheit<br />

eines Kontrahenten.<br />

Als die Weihnachtszeit nahte, sagte R<strong>ob</strong>erto, er hätte<br />

ein spezielles Geschenk für <strong>Ingrid</strong> – eine wundervolle Idee für<br />

einen neuen Film, für den er mit mindestens zehn Autoren<br />

versuchte, eine Story zu finden. Die Idee dazu kam ihm während<br />

der Dreharbeiten zu "The Flowers of St. Francis": Wenn<br />

eine Frau wie Francesco im zwanzigsten Jahrhundert auf die<br />

Erde zurückkehren könnte und versuchte, in seinem Geiste zu<br />

leben, wie würde sie behandelt? Ohne Zweifel <strong>als</strong> verrückt.<br />

Aber R<strong>ob</strong>erto wollte auch einen Film über das soziale Gewissen<br />

machen, über die zeitgenössischen Pr<strong>ob</strong>leme Europas, und das<br />

brachte ihn noch während der Arbeit am Grundkonzept in<br />

Schwierigkeiten.<br />

Irgendwann mussten er und seine Schreiber <strong>Ingrid</strong> ja<br />

etwas vorlegen können. "Europa 51", wie ihr Titel lauten sollte,<br />

war die Geschichte einer in Rom lebenden reichen Amerikanerin<br />

(<strong>Ingrid</strong>), deren zwölfjähriger Sohn sich im Glauben,<br />

sie kümmere sich nicht mehr um ihn, die Treppe hinunterstürzt<br />

und einge Tage später stirbt. Unter dem Einfluss eines<br />

verbissenen Kommunisten, der ihr rät, ihren Kummer durch<br />

die Arbeit für die Armen zu überwinden, arbeitet sie zunächst<br />

in einer Fabrik und beginnt dann, Bedürftigen geistlichen Beistand<br />

zu spenden. Nachdem sie sich einer jämmerlichen Prosti<strong>tu</strong>ierten,<br />

die an Tuberkulose starb, und dann einer ledigen<br />

Mutter mit einem Trupp Kinder angenommen hatte, verhilft sie<br />

einem jungen Delinquenten zur Flucht aus der Haft und wird in<br />

der Folge durch ihren Ehemann, der durch die Aktivitäten seiner<br />

Frau in Verlegenheit kommt, in eine psychiatrische Klinik<br />

435


eingewiesen. Sie wird für den Rest ihres Lebens dort interniert<br />

bleiben.<br />

"Nun", fragte R<strong>ob</strong>erto seine Frau, nachdem er ihr das<br />

Konzept gegeben hatte, "ist das nicht eine wundervolle, tiefsinnige<br />

und überzeugende Geschichte?" Frohe Weihnacht, <strong>Ingrid</strong>!<br />

436<br />

*<br />

1948 - bei der Ankunft in Schweden


1949 - Stromboli<br />

437


438<br />

1951 - Die Rossellinis und Karin


"Die Spaghetti konnten mir nichts anhaben, ich wurde dünner<br />

und dünner."<br />

1951 - 1956<br />

(<strong>Ingrid</strong> über ihre Jahre in Italien)<br />

IN ROM WIDMETE SICH INGRID mit Hingabe dem Einkauf<br />

der Weihnachtsgeschenke für Pia, die dann per Luftpost<br />

nach Beverly Hills spediert wurden, damit sie rechtzeitig vor<br />

den Festtagen dort ankämen. Besondere Freude machte ihr<br />

eine elegante Armbanduhr, die sie für Pia gekauft hatte und<br />

die sie einem Freund zur persönlichen Übergabe mitgegeben<br />

hatte. Aber <strong>als</strong> sie nach Neujahr mit Pia telefonierte, stellte<br />

sich heraus, dass diese Uhr nirgends zu finden war. <strong>Ingrid</strong><br />

erfuhr dann, dass der Überbringer niemanden zuhause angetroffen<br />

hatte und das Paket einfach im Hundehaus deponiert<br />

hatte – "so wussten doch die Hunde, wie spät es war", wie<br />

<strong>Ingrid</strong> sagte, "doch niemand wusste, wo die Uhr geblieben<br />

war!" <strong>Ingrid</strong> ersetzte Pia das preziöse Stück dann mit erheblichem<br />

Aufwand, den sie anschliessend während Monaten am<br />

Haushaltsbudget einsparte.<br />

Währenddessen hatte R<strong>ob</strong>erto auch weiterhin keine Beziehung<br />

zum Wert des Geldes und fuhr fort mit seinen verschwenderischen<br />

Ausgaben für Familie, Freunde und sich<br />

selbst, <strong>Ingrid</strong>s ständigen Ermahnungen zur Sparsamkeit zum<br />

Trotz. Er hatte die Gewohnheit, wie <strong>Ingrid</strong> oft sagte, nicht nur<br />

sein Hemd wegzugeben, sondern im Laufe der Dinge gleich<br />

auch noch das Hemd aller andern. So lebte er in seiner Wohnung<br />

wie auch im Sommerhaus am Meer auf grossem Fusse,<br />

439


und wenn er je in's Fieber geriet, dann ausschliesslich für teure<br />

Rennwagen. "Warum verkaufen wir nicht einen davon",<br />

fragte er seine Sekretärin eines Tages. "Sehr gut", kam die<br />

Antwort, "dann können wir die Rechnungen für die andern<br />

bezahlen!"<br />

Langweilig war das Leben nie. "Im Gegensatz zu meinem<br />

grossen leeren Haus in Hollywood", sagte <strong>Ingrid</strong>, "war<br />

meine Wohnung in Rom stets voll von Leuten aus allen Bereichen<br />

des Lebens – Mönche, Schriftsteller, Rennfahrer, Bettler.<br />

Ich habe dabei so viel Wärme und Liebe erfahren, wie es an<br />

meinem Swimmingpool in Hollywood nie möglich gewesen<br />

wäre. Oh, es gab in Italien auch Schwierigkeiten, aber die italienischen<br />

Schwierigkeiten sind auch so viel interessanter."<br />

Über <strong>Ingrid</strong>s Ergebenheit R<strong>ob</strong>erto gegenüber, ihre Betreuung<br />

seiner weitreichenden Interessen und ihre Freude an<br />

den Vergnügungen, die er ihr und R<strong>ob</strong>ertino bot, gab es keinerlei<br />

Zweifel; dennoch gelang es ihrem Mann, "Schwierigkeiten"<br />

zu produzieren. Zusätzlich zu seinem mangelnden Sinn<br />

für Finanzen und seiner chronischen Unfähigkeit sich zu konzentrieren<br />

oder sich zur Arbeit zu zwingen, ging R<strong>ob</strong>erto auch<br />

fast unverantwortbare Risiken ein. Schlampig und unorganisiert,<br />

wie er bei der Arbeit war, gab es ihm auch nichts zu <strong>tu</strong>n,<br />

seinen Ferrari mit 150 Meilen pro S<strong>tu</strong>nde über die Aut<strong>ob</strong>ahn<br />

zu jagen, gleichviel wer neben ihm sass. Und seine sorglose<br />

Unbekümmertheit bezüglich Höflichkeit und Umgangsformen<br />

bescherte seiner Frau öfters erhebliches Ungemach: er lud hin<br />

und wieder zehn oder ein Dutzend Personen zum Abendessen<br />

ein, zu dem er selbst dann nicht erschien, womit er <strong>Ingrid</strong> zur<br />

Gastgeberin für ein Haus voller Fremden machte. "Er war so<br />

italienisch und chaotisch, und ich war so nordisch korrekt."<br />

Sie war methodisch, kam stets vorbereitet zur Arbeit,<br />

hatte perfekte Manieren und war zurückhaltend ohne jede Affektiertheit<br />

, und in ihrer Freizeit liebte sie es, langsam durch<br />

einen Hain oder dem Strand entlang zu wandern. "Ich entspanne<br />

mich bei meiner Familie", sagte <strong>Ingrid</strong>. "R<strong>ob</strong>erto entspannt<br />

sich beim Herumrasen in schnellen Autos. Das ist seine<br />

440


Art, ich warte einfach, bis er wieder zurück ist."<br />

"Es war nicht leicht, mit R<strong>ob</strong>erto zu leben", stellte sie<br />

sachlich fest. Aber sie glaubte an ihre Ehe. Es würde schon<br />

werden. Und Rossellini, der einen mit seiner flatterhaften und<br />

egozentrischen Art zum Wahnsinn treiben konnte, wusste sehr<br />

genau, wie er <strong>Ingrid</strong>s Gemüt wieder beschwichtigen konnte,<br />

wenn er einmal zu weit gegangen war: er inszenierte eine improvisierte<br />

Glosse, brachte sie zum Lachen, erzählte ihr alte<br />

Geschichten aus der bunten Vergangenheit seiner Familie; er<br />

übernahm die Küche und kochte ihr eine umwerfende Pasta,<br />

um dann in den Garten zu laufen und mit einem Arm voll Blumen<br />

zurückzukommen. Er war in jeder Beziehung das bare<br />

Gegenstück zum verlässlichen Petter.<br />

ZUVERLÄSSIG, WIE IMMER, kam Lindström seiner Vereinbarung<br />

nach, Pia einen Teil ihrer Sommerferien 1951 bei<br />

<strong>Ingrid</strong> verbringen zu lassen. Aus Angst, die Rossellinis könnten<br />

so weit gehen, sie zu kidnappen, brachte er sie nach London,<br />

und <strong>Ingrid</strong> hatte von Rom herzukommen, um sie Ende Juli zu<br />

treffen. Pia wurde herumkutschiert zwischen Sidney Bernsteins<br />

Landhaus (Hitchcocks Partner in "Under Capricorn"),<br />

Ann Todds und David Leans Londoner Stadthaus und einem<br />

Londoner Hotel. Petter war bei all diesen Besuchen anwesend,<br />

ausser während eines Nachmittags.<br />

Der Grund für seine ununterbrochene Präsenz wurde zu<br />

Beginn des Treffens klar, <strong>als</strong> die Leans die Lindströms zum<br />

Abendessen in ihrem Haus am Ilchester Place, Kensington,<br />

einluden. Sie hatten ein Gästezimmer für <strong>Ingrid</strong> und Pia für<br />

einige Tage vorbereitet, hatten aber kein zusätzliches für Petter,<br />

der erklärte, "er fürchte, dass wenn er das Haus verlasse,<br />

er nicht mehr eingelassen würde". Überdies vermutete er,<br />

dass <strong>Ingrid</strong> mit Pia entwischen und in England einen Rechtsstreit<br />

über eine Verlängerung des Besuchs ihrer Tochter vom<br />

Zaun brechen könnte.<br />

Das war nun nahe an reiner Paranoia. David Lean frag-<br />

441


te Petter, <strong>ob</strong> er gehen würde, wenn er ihm einen Schlüssel zur<br />

Hauseingangstür überlassen würde. Dieses Angebot wurde<br />

angenommen, und Petter begab sich zurück zu seinem Hotel.<br />

Aber sehr früh am folgenden Morgen fand Leans Hausmädchen<br />

Petter vor <strong>Ingrid</strong>s und Pias Zimmertür sitzend, um eine<br />

mögliche Entführung zu verhindern. Er kam nicht zum Frühstück,<br />

bevor er <strong>Ingrid</strong> und Pia im Auge hatte. Als <strong>Ingrid</strong> Pia an<br />

diesem Nachmittag zu einem Kin<strong>ob</strong>esuch im West End – Walt<br />

Disneys "Alice in Wonderland" – mitnehmen wollte, lehnte<br />

Petter diesen Wunsch glatt ab – bis Ann Todd sich einmischte<br />

und Petter garantierte, sie bringe Pia wieder zurück und dass<br />

sie, ihre Tochter und ihre Sekretarin sie begleiteten. Kay<br />

Browns Tochter Kate wurde von Amerika eingeladen, Pia <strong>als</strong><br />

Gesellschafterin zu begleiten. Die Mädchen versuchten, gute<br />

Miene zum bösen Spiel zu machen und die Reise zu geniessen.<br />

Logischerweise konnte sich Pia später nur noch an einen<br />

schrecklichen Spannungszustand und Stress während der ganzen<br />

Reise erinnern. Fast dreizehnjährig, reif, intelligent und<br />

gesittet, war sie einer im doppelten Sinn unmöglichen Aufgabe<br />

ausgeliefert: ihrem Vater gefällig zu sein und gleichzeitig zu<br />

versuchen, mit ihrer Mutter eine neue Beziehung aufzubauen.<br />

Die eisige Atmosphäre wurde nicht besser, <strong>als</strong> sie zwei<br />

Tage danach die Bernsteins in ihrem Landhaus in Kent besuchten.<br />

Begaben sich <strong>Ingrid</strong> und Pia auf einen Spaziergang,<br />

folgte ihnen Petter im Abstand von fünfzig Schritten, um sie<br />

nie aus den Augen zu lassen. Als <strong>Ingrid</strong> mit Pia vor dem Fernseher<br />

sass, hielt sich Petter in einem angrenzenden Durchgang<br />

auf, <strong>als</strong> wollten die beiden aus dem Haus bolzen – <strong>als</strong><br />

wartete ein Privatflugzeug auf dem Feld nebenan auf sie, um<br />

mit ihnen Gott weiss wohin zu flüchten.<br />

Schliesslich, nach nur dreitägigem Besuch, verkündete<br />

Petter, dass er nun mit Pia seine Verwandten in Schweden<br />

besuchen werde. <strong>Ingrid</strong> bat um etwas mehr Zeit, aber Petter<br />

blieb s<strong>tu</strong>r. Sie habe sein Leben ruiniert, sagte er kalt; er hätte<br />

schon seit langem eine Universitäts-Professur, aber das internationale<br />

Geschwätz habe seine Karriere aufgeschmissen. Er<br />

habe für sie alles getan, behauptete er, und sie habe dafür nur<br />

442


Undank gehabt. Er wisse auch, dass sie zu endloser Perversion<br />

fähig und vertrauensunwürdig sei – daher auch seine Überwachung<br />

Pias und die Verweigerung eines längern Besuchs. Nach<br />

Aussagen <strong>Ingrid</strong>s und ihrer Gastgeber, weinte sie praktisch<br />

nur noch und ihr Abschied von Pia war noch Formsache.<br />

"Das Kind war wundervoll", schrieb <strong>Ingrid</strong> Irene Selznick<br />

von Rom aus. "So ruhig bei alledem. So heiter. Sie spricht<br />

von R<strong>ob</strong>erto und dem Baby völlig unbelastet. Alles tönt so natürlich<br />

und einfach, wenn du ihr zuhörst. Sie liebt mich (ich<br />

bete darum) aber sie liebt ihren Vater wohl mehr, weil sie sich<br />

um ihn kümmern muss....Sie hat nichts dagegen, hierher zu<br />

kommen, im Gegenteil, sie hätte Freude daran, aber sie versteht,<br />

dass es ihren Vater schmerzt, so bat sie mich, Geduld zu<br />

haben!"<br />

GERADE SO, WIE INGRID MIT ROBERTO Geduld haben<br />

musste, der das Geld für die Finanzierung von "Europa 51" bis<br />

im Okt<strong>ob</strong>er nicht zusammenbrachte. Schliesslich kamen Carlo<br />

Ponti und Dino de Laurentiis <strong>als</strong> Produzenten an Bord, worauf<br />

die Dreharbeiten in einem sehr heissen Okt<strong>ob</strong>er begannen.<br />

Erinnerungswürdig nur <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong>s Portraits<strong>tu</strong>die – sanft aber<br />

eindrücklich hübsch, wehmütig, traurig, entschlossen, belustigt,<br />

verängstigt – litt der Film im übrigen an zu abrupten<br />

Wechseln, unklaren Motivationen und einem merkwürdigen<br />

Mix aus religiöser Überzeugung, sozialem Gewissen, politischer<br />

Wut und ungeschminktem Prediger<strong>tu</strong>m.<br />

Rossellini schien nie ganz sicher zu sein, <strong>ob</strong> er eine Geschichte<br />

über einen weiblichen San Francesco erzählt, den<br />

eine Tragödie in einen selbstlosen Heiligen verwandelt, oder<br />

<strong>ob</strong> er eine Meditation über die Tugenden der sozialen Revolution<br />

hält ("Wenn du jemandem die Schuld am Selbstmord deines<br />

Sohnes geben musst, dann gib sie der Nachkriegs-<br />

Gesellschaft!", schreit ein sympathischer Kommunist in der<br />

Geschichte). In erster Linie scheint der Film die Italiener dazu<br />

aufzufordern, reihenweise Kinder zu haben: Giulietta Masina<br />

spielt eine mittellose Frau, die in einem Glückswahn lebt, weil<br />

443


sie (ohne Ehemann) für eine Gruppe allerliebster Kinder sorgt<br />

und jedermann auffordert, Kinder bis zum Geht-nicht-mehr zu<br />

zeugen.<br />

Bei seinem Erscheinen im folgenden Jahr fand "Europa<br />

51" bei den Italienern Gefallen und wurde zum grossen Erfolg.<br />

Aber überall sonst wurde der Film nur ignoriert, und es fällt<br />

nicht schwer, den Grund dafür zu finden. Auf jeden Fall sahen<br />

die Rossellinis keine Lira Profit daraus, denn R<strong>ob</strong>erto hatte<br />

seine Rechte daran verkauft, um Schulden bezahlen zu können.<br />

Darin lag eine traurige Ironie, denn einige von R<strong>ob</strong>ertos<br />

engsten Teilhabern gingen davon aus, dass er <strong>Ingrid</strong> in diesem<br />

Film im Interesse der Kasseneinnahmen eingesetzt habe. Als<br />

er schliesslich unter dem Titel "The Greatest Love" 1954 nach<br />

Amerika kam, war es in den vergangenen vier Jahren (seit<br />

"Stromboli") der erste <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>-Film, der dort wieder<br />

zu sehen war. Wie das Publikum dam<strong>als</strong> und später feststellte,<br />

zeigte der Film (aufgenommen, <strong>als</strong> sie 36 war) eine Stärke<br />

und reife Schönheit in <strong>Ingrid</strong>, die noch während Jahren Bestand<br />

haben sollte.<br />

Die Produktion von "Europa 51" war ein Albtraum. Von<br />

R<strong>ob</strong>erto instruiert, ihren Dialog zu erfinden, während die Szene<br />

gedreht wurde, fand sie keine Worte. Sie versuchte es,<br />

aber gute Schauspieler brauchen eben gute Autoren und ihr<br />

wurde keiner gegeben. Verschlimmert wurde die Sache noch<br />

durch den Umstand, dass Rom im Griff einer entsetzlichen<br />

Hitzewelle war, weshalb R<strong>ob</strong>erto beschloss, nachts zu drehen<br />

und die Schauspieler tagsüber zu Bett zu schicken – <strong>ob</strong>wohl<br />

<strong>Ingrid</strong> während des Tages bei R<strong>ob</strong>ertino sein wollte. Ausserdem<br />

fiel sie einer schweren Erkäl<strong>tu</strong>ng zum Opfer, die sie während<br />

Wochen nicht los wurde. Und schliesslich und endlich<br />

mussten die Dreharbeiten diesen Herbst mit aller Eile vorangetrieben<br />

werden bevor sich <strong>Ingrid</strong>s Erscheinung dramatisch<br />

veränderte: sie war wieder schwanger. Wie sie ihren Freunden<br />

erzählte, gehörten die Geburten und die Erziehung von Rossellinis<br />

Kindern zu den glücklichsten Erfahrungen ihrer Zeit in<br />

Italien. Die Filme allerdings nicht.<br />

444


ALS SIE HOLLYWOOD VERLIESS, machte sich <strong>Ingrid</strong><br />

grosse Hoffnungen auf eine neue Aera ihrer Karriere, aber von<br />

Anfang an war klar, dass sie sich hinsichtlich ihrer Tauglichkeit<br />

für Rossellinis Arbeitsweise schwer verschätzt hatte. Die Produktion<br />

von "Stromboli" ist zu einer schrecklichen Enttäuschung<br />

geraten – doch <strong>Ingrid</strong> war bereits schwanger und auf<br />

Rossellini <strong>als</strong> die einzige Quelle angewiesen, die ihr Kraft und<br />

Schutz bot. Die Filme, die sie danach mit ihm drehte, waren<br />

gleichermassen enttäuschend, und – noch nicht ganz vierzig –<br />

akzeptierte sie gefasst, dass sie die Kontrolle über den weiteren<br />

Verlauf ihrer Karriere verloren hatte.<br />

Da sass sie <strong>als</strong>o – ihre Karriere blockiert, ihre Talente<br />

unterfordert und unbeachtet, die Beziehung zu ihrer Tochter in<br />

Gefahr, ihre weltweite Popularität im Schwinden begriffen, ihre<br />

einzige Beschäftigung die Haushaltaufgaben einer bürgerlichen<br />

Mutter. Am schlimmsten aber der Umstand, dass die Ehe, für<br />

die sie so viel aufgegeben hatte, schnell schal wurde und ihr<br />

R<strong>ob</strong>erto, wie sehr sie dringend auf einen finanziellen Erfolg<br />

angewiesen gewesen wären, nicht erlaubte, mit einem andern<br />

Regisseur zu arbeiten – was sie im Interresse ihrer gegenseitigen<br />

Beziehung auch nicht erzwingen wollte. Mit andern Worten:<br />

ihre derzeitige Lage war nichts anderes <strong>als</strong> eine Variante<br />

zu ihrer Ehe mit Petter.<br />

Als Künstlerin war <strong>Ingrid</strong> immer gierig auf Arbeit – oder<br />

dann auf's Reisen, wenn kein Projekt sie beschäftigte. Jene<br />

Projekte, die in den frühen Fünfzigerjahren auf sie zukamen,<br />

liessen befürchten, dass sie angesichts des plötzlichen Verblassens<br />

ihrer Karriere zusehends von ihrem Ehemann wegdriftete.<br />

Doch trotz ihres momentanen beruflichen Elends und<br />

des Umstands, dass ihr ihre Mutterpflichten keinen genügenden<br />

Ersatz dafür boten, hatte sich in ihrem Verhalten etwas<br />

geändert. Sie war fast verbissen entschlossen, dieser Ehe nun<br />

den Bestand zu sichern und sich ausserdem <strong>als</strong> gute Mutter zu<br />

erweisen. Und so übernahm sie klaglos die wohl ungewöhnlichste<br />

Rolle ihres Lebens, die der Signora Rossellini, der sie<br />

sich auch mit Brillanz <strong>als</strong> gewachsen erwies.<br />

445


In der strengen schwedischen Filmtradition der 1930er-<br />

Jahre erzogen, wurde sie in den Vierzigerjahren durch die anspruchsvolle<br />

Hollywood-Routine vom Erfolg gekrönt. Niemand<br />

und nichts hatte sie auf Rossellini vorbereitet – ausser vielleicht<br />

ihre erste Ehe. War sie während eines Dutzends von<br />

Jahren einem diktatorischen Ehemann unterworfen, fand sie<br />

sich jetzt in einer ähnlichen Si<strong>tu</strong>ation. War ihre bisherige Reaktion<br />

darauf Flucht, so verharrte sie jetzt an der Stelle, zu<br />

der sie von ihrem Schicksal geführt wurde – worüber sich <strong>Ingrid</strong><br />

<strong>Bergman</strong> selbst am meisten gewundert haben mag. Über<br />

ihre tiefe Frustration während ihrer Jahre in Italien erzählte sie<br />

nur, dass sie zwar wieder zu überfuttern begann, von ihren<br />

Pr<strong>ob</strong>lemen und ihrem Kummer aber schlank gehalten wurde;<br />

"die Spaghetti konnten mir nichts anhaben – ich wurde dünner<br />

und dünner". Wohlgemerkt, natürlich, vor und nach ihren<br />

Schwangerschaften. Als 1952 die Wintertage länger wurden<br />

und der Frühling nahte, war <strong>Ingrid</strong> ungewöhnlich breit – eine<br />

Entwicklung, die ihr einige Sorge bereitete, bis ihr Arzt ihr bestätigte,<br />

dass sie Zwillinge erwartete.<br />

Die Geburt der Kinder wurde im Juni erwartet, weshalb<br />

<strong>Ingrid</strong> im April einem Gericht in Los Angeles beantragte, ihr<br />

Pia während des Sommers zu überlassen, gegen Petters<br />

starrh<strong>als</strong>ige Versicherung, sie aus Angst vor Rossellinis Einfluss<br />

nie nach Italien gehen zu lassen. Es sei weder möglich<br />

noch sinnvoll, die Neugeborenen für einen Besuch in Kalifornien<br />

zurückzulassen, erklärte <strong>Ingrid</strong>; ausserdem könnten die<br />

öffentlichen Reaktionen auf ihre Rückkehr nach Amerika für<br />

Pia sehr unangenehm sein.<br />

Unter andern Freunden und Kollegen setzte sich David<br />

Selznick bei Gericht sehr intensiv für <strong>Ingrid</strong> ein. Er und Irene<br />

hatten <strong>Ingrid</strong> mehrfach in Rom und Santa Marinella besucht,<br />

weshalb er einen typischen, in Länge und Inhalt eindrücklichen<br />

Brief an den mit dem Fall betrauten Richter sandte. <strong>Ingrid</strong> und<br />

R<strong>ob</strong>erto seien die aufopferndsten Eltern, behauptete er, während<br />

Lindström offensichtlich ein verbittert rachsüchtiger Vater<br />

sei, dem es nur darum gehe, Pias Beziehung zu ihrer Mutter<br />

zu zerstören. Selznick stellte die rhetorische Frage, wie lange<br />

446


sie denn noch leiden müsse, wie lange noch ausharren in der<br />

Rolle der schuldbeladenen Magdalena.<br />

Dann fand sich aber ein noch wertvollerer Zeuge für<br />

<strong>Ingrid</strong>s Charakter und R<strong>ob</strong>ertos heiles Heim in der Person von<br />

Richter Thurmond Clarke, der Lindström 1950 die Scheidung<br />

gewährte. Er hatte die Rossellinis einmal in Santa Marinella<br />

besucht und bestätigte, dass Pia in einer sicheren und liebevollen<br />

Umgebung aufgenommen würde: "Ich würde sagen,<br />

dass das Verhalten der Rossellinis ihren Kindern gegenüber<br />

(R<strong>ob</strong>ertino und Renzo, der auf Besuch weilte) liebevoll und<br />

aufopfernd ist. Es war, was Sie <strong>als</strong> 'glückliches Familienleben'<br />

bezeichnen würden." Er könnte noch beigefügt haben 'ein<br />

fröhlich-chaotisches', wie es sich für R<strong>ob</strong>erto geziemt. Das<br />

Hauspersonal in Santa Marinella wurde ergänzt durch sechs<br />

Hunde, eine Schar Hühner, die frei ums Haus herum streiften,<br />

einige Möven und was immer sich sonst noch an fremden Krea<strong>tu</strong>ren<br />

aus der Umgebung des Hauses dazu entschloss, dem<br />

Anwesen einen längeren Besuch abzustatten.<br />

Petter seinerseits reichte inzwischen eine einundzwanzigseitige<br />

eidesstattliche Erklärung ein, mit welcher er den<br />

Antrag seiner Frau auf Gewährung des erbetenen Besuchsrechts<br />

seiner Tochter zurückwies – und zur Dokumentation<br />

seiner moralischen Erniedrigung fügte er gleich noch <strong>Ingrid</strong>s<br />

Brief an ihn vom 3. April 1949 hinzu, den sie ihm vom Albergo<br />

Luna Convento aus schrieb ("Lieber Petter, es wird dir sehr<br />

schwer fallen, dieses zu lesen....").<br />

Die Unterstützung, die <strong>Ingrid</strong> von Selznick, Clarke und<br />

andern erhielt, war nutzlos und ihr Antrag wurde abgelehnt,<br />

denn Petter hatte sich noch mit dem psychiatrischen Gutachten<br />

eines Psychiaters namens Charles S<strong>tu</strong>rdevant bewaffnet,<br />

welches bestätigte, dass eine Reise nach Italien für Pia eine<br />

emotionale Gefahr darstellen würde. Was er verschwieg, war<br />

Petters Bemerkung zu einem Kollegen, wonach er (Petter) "im<br />

Falle einer Anfrage an Pia schon dafür sorgen würde, dass sie<br />

eine Reise nach Italien selbst ablehnen würde."<br />

447


Und genau das tat Pia, dam<strong>als</strong> nicht ganz vierzehnjährig,<br />

am 13. Juni vor Gericht. "Ich liebe meine Mutter nicht",<br />

sagte sie stoisch. "Ich mag sie...ich will nicht nach Italien reisen...ich<br />

möchte lieber bei meinem Vater leben...ich denke,<br />

meine Mutter kümmert sich nicht gross um mich." Jahre später<br />

erklärte Pia zum Hintergrund dieses traurigen Tages: "Mein<br />

Vater hat mich vollkommen in der Hand gehabt – mit meinem<br />

Einverständnis. Er war verzweifelt, und ich fühlte, dass ich<br />

alles war, was er hatte." Der Richter lehnte <strong>Ingrid</strong>s Antrag auf<br />

einen Sommerferienbesuch ihrer Tochter ab, die ihre Mutter<br />

bis 1957 nicht mehr zu sehen bekam. *)<br />

Nach Beendigung der letzten Phase dieses Trauerspiels<br />

kehrten Petter und Pia in ihr neues Heim in Pittsburgh zurück,<br />

wo er den Posten des Chefs der Neurochirurgischen Abteilung<br />

des Aspinwall Veterans Hospital versah und ein Forschungsprojekt<br />

über Gehirnstörungen an der Universität von<br />

Pittsburgh leitete. Seine Karriere blühte dam<strong>als</strong> während einiger<br />

Jahre auf. 1954, mit siebenundvierzig Jahren, heiratete er<br />

Dr. Agnes Rovnanek, eine um einundzwanzig Jahre jüngere,<br />

begabte Ärztin. Als erfahrene und leidenschaftliche Pädiaterin<br />

wurde sie später klinische Professorin im öffentlichen Gesundheitswesen.<br />

Dr. Rovnanek schenkte Petter vier Kinder, und<br />

nach über vierzig Jahren waren sie noch immer ein glückliches<br />

Paar, das sich der beiden nächsten Generationen der Familie<br />

erfreute.<br />

AM 8. JUNI 1952 GEBAR INGRID in Rom Isabella Fiorella<br />

Elettra Giovanna und Isotta <strong>Ingrid</strong> Frieda Giuliana, die immer<br />

<strong>Ingrid</strong> genannt wurde. Diesen Sommer kam Signe Hasso<br />

zu Besuch. "Ich konnte diesen Unsinn, <strong>Ingrid</strong> sei eine schlechte<br />

Mutter, nie verstehen", erinnerte sie sich später. "Sie war<br />

ihren Kindern eine wundervolle Mutter und stets dafür besorgt,<br />

dass sie gut umsorgt und ausstaffiert waren. Gewisse<br />

*) Als Pia das U.S.-Bürgerrecht erhielt, wollte sie sich Jenny Ann nennen.<br />

Doch schloss sie nach und nach mit ihrem Taufnamen Frieden und nahm<br />

diesen wieder auf.<br />

448


Leute sagen, dass wir in unserem Beruf <strong>als</strong> Schauspieler keine<br />

Kinder haben sollten – wir immer viel zu beschäftigt seien<br />

– natürlich ist da auch etwas Wahres dran. Aber die Behaup<strong>tu</strong>ng,<br />

sie sei nachlässig gewesen, ist absolut lächerlich."<br />

Dass <strong>Ingrid</strong> nicht nach Amerika fuhr, um ihre Tochter<br />

zu sehen – und wäre es nur für einen kurzen Besuch während<br />

den kommenden Jahren gewesen, war nicht nur der Angst vor<br />

einer unangenehmen Si<strong>tu</strong>ation bei der Einreise (eine Ausflucht,<br />

deren Glaubwürdigkeit von Saison zu Saison verblasste)<br />

oder auch nur der Gefahr von negativer Werbung für sie<br />

und Pia zuzuschreiben.<br />

Der einzige Verhinderungsgrund für ein Zusammentreffen<br />

mit ihrer Tochter war R<strong>ob</strong>erto, der <strong>als</strong> ihr Lebenspartner so<br />

s<strong>tu</strong>r und dominant war, wie Petter. "Niemand wird je R<strong>ob</strong>ertos<br />

eisernen und wütenden Willen verstehen", sagte sie später,<br />

"ich war unfähig, gegen seinen Willen wegzufahren." Wäre sie<br />

gegangen, hätte sie bei ihrer Rückkehr eine gewalttätige Szene<br />

erlebt, denn R<strong>ob</strong>erto sagte, er würde einen solchen Besuch<br />

<strong>als</strong> Verrat betrachten, der ihrer Ehe irreparabeln Schaden zufügen<br />

würde. So blieb sie eben, zerrissen zwischen zwei gegensätzlichen<br />

Loyalitätspr<strong>ob</strong>lemen – und versenkte ihren<br />

Kummer in der intensiven Hinwendung zu ihren drei Jungen.<br />

Im Bestreben, keinen Schaden zu riskieren, beugte sie<br />

sich R<strong>ob</strong>ertos Eifersucht so, wie sie Petters gönnerhafte<br />

Herrschsucht akzeptierte. Bei wenigstens einigen Gelegenheiten<br />

während den sieben Jahren, die sie zusammen waren,<br />

wurde R<strong>ob</strong>erto gewalttätig. Er hatte Wutanfälle, sagte sie später,<br />

Episoden, die sie in Angst und Schrecken versetzten. Einmal,<br />

auf dem Höhepunkt seiner Raserei, sprang sie zu ihm<br />

und umarmte ihn, um ihn mit einer unterwürfigen Geste zu<br />

beruhigen – "doch klatsch! warf er mich so hart gegen die<br />

Wand, dass ich hätte zu Bruch gehen können. Ich konnte<br />

nichts machen. Nur in seine Nähe zu kommen, war lebensgefährlich."<br />

449


Es war eine bittere und anwachsende Ironie des<br />

Schicks<strong>als</strong>, dass sie Pia in Hollywood <strong>als</strong> eine Art Last und Eindringling<br />

in ihre Karrierepläne empfand, während ihre Rossellini-Kinder<br />

für sie einen Hort der Zuflicht und der erbaulichen<br />

Verantwor<strong>tu</strong>ng in Italien darstellten, wo ihre Karriere so enttäuschend<br />

verlief. Ein aussagekräftiges Beispiel dafür wurde<br />

vom Journalisten William Safire, dam<strong>als</strong> Armee-Korporal beim<br />

American Forces Network, aufgezeichnet. Wie dieser sich später<br />

in allen Einzelheiten erinnerte, berichtete sie lebhaft und<br />

aufgestellt über ihre Arbeit und ihr Leben – bis Rossellini den<br />

Raum betrat und sie einen abrupten Wandel vollzog, indem sie<br />

unterwürfig wurde und ihm in allem und jedem beipflichtete,<br />

<strong>als</strong> fürchtete sie sich, sich in Gegenwart ihres Mannes selbst<br />

auszudrücken.<br />

Im zweiten Halbjahr 1952 war <strong>Ingrid</strong> Vollzeitmutter,<br />

während R<strong>ob</strong>erto sich darauf vorbereitete, im Dezember in der<br />

San Carlo Opera in Neapel eine Produktion von Verdis "Othello"<br />

zu leiten. Auf der Reise dorthin trafen die Rossellinis zufälligerweise<br />

den Dichter Paul Claudel und den Komponisten<br />

Arthur Honegger. <strong>Ingrid</strong> besass eine Aufzeichnung von deren<br />

religiösem Oratorium "Jeanne d'Arc au Bûcher" , das 1938<br />

uraufgeführt wurde, und <strong>als</strong> sie ihre Bewunderung dafür zum<br />

Ausdruck brachte, schlugen ihr die Autoren vor, es auf einer<br />

Europa-Tournée aufzuführen. Die Rolle der Jeanne war keine<br />

Singrolle; Chor und Orchester sorgten für die Musik, während<br />

Jeanne in Versen über ihr Leben und den Prozess meditierte.<br />

R<strong>ob</strong>erto erkannte, dass sich hier seiner Frau eine ideale Chance<br />

bot, weshalb man übereinkam, das Projekt später im Jahr<br />

an die Hand zu nehmen. Wen wundert's, dass sich <strong>Ingrid</strong> für<br />

das Projekt begeistern konnte? "Da war sie ja, meine liebste<br />

Heilige kam mir einmal mehr zu Hilfe!"<br />

Während der Vertrag ausgehandelt wurde, schwamm<br />

<strong>Ingrid</strong> im Meer und spielte mit ihrer Nichte Fiorella, jetzt siebzehnjährig<br />

und wie eine Tochter zu ihr, Ping-Pong. <strong>Ingrid</strong><br />

sprach schon ausgezeichnet Italienisch und arbeitete fleissig<br />

an ihrem Französisch, denn für R<strong>ob</strong>erto stand fest, dass sie<br />

eines Tages ein Appartement in Paris haben und dort filmen<br />

450


würden. So konnte sie es mit der Aussicht auf gute Arbeit akzeptieren,<br />

unter R<strong>ob</strong>ertos dauernder Kontrolle zu leben.<br />

MIT LEERER KASSE, WIE IMMER, startete R<strong>ob</strong>erto am<br />

5. Februar 1953 in Neapel einen neuen Film; die Mittel dazu<br />

kamen von einem Mailänder Industriellen, der sich für "Open<br />

City" begeistert hatte. Wie sich <strong>Ingrid</strong> erinnerte, "begann R<strong>ob</strong>erto<br />

ohne Script, ja er hatte nicht einmal ein Konzept, nur<br />

gerade eine Idee ohne ein Ende!" George Sanders, ihr Co-Star<br />

in "Rage in Heaven" vor zwölf Jahren, wurde hergeholt, um<br />

ihren Konterpart zu spielen, und sehr bald stand er vor einem<br />

Nervenzusammenbruch. Noch mehr <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> zuvor trieb ihn<br />

R<strong>ob</strong>ertos Arbeitsmethode zur Verzweiflung, was auch Frühschichten<br />

in den Rossellini-Hotelsuiten in Neapel, auf dem<br />

Lande oder auf Capri (wo R<strong>ob</strong>erto einige Szenen drehen wollte,<br />

weil er einen Vorwand zum Harpunenfischen brauchte) mit<br />

einschloss. Alles rannte herum, ohne viel zu <strong>tu</strong>n – ein Produzent,<br />

ein Autor, zwei Assistenten und die drei herumwirbelnden<br />

Kinder – und <strong>Ingrid</strong> versuchte, alles im Griff zu behalten.<br />

Nach zwei Wochen begrub Sanders seine Hoffnung, die Dreharbeiten<br />

würden endlich seriös aufgenommen. Dieser Zustand<br />

zog sich über drei Monate hin, meistens völlig unproduktiv,<br />

weil R<strong>ob</strong>erto sich verschlief, Karten spielte und generell alles<br />

verschleppte.<br />

Auf zwei Uhr nachmittags angesetzte Szenen mit Sanders<br />

wurden auf morgen drei Uhr früh versch<strong>ob</strong>en, weil R<strong>ob</strong>erto<br />

nicht die entfernteste Idee hatte, wie es weitergehen sollte;<br />

von Tag zu Tag versch<strong>ob</strong>ene Szenen wurden schliesslich gestrichen,<br />

nachdem R<strong>ob</strong>erto es vorgezogen hatte, mit seinem<br />

Ferrari ein Privatrennen Neapel-Rom zu veranstalten. Nachgerade<br />

war Sanders über seine Untätigkeit, das fehlende Script<br />

und die allgemeine Führungslosigkeit so wütend, dass er verlangte,<br />

seine Frau nachkommen zu lassen. Mit der Ankunft<br />

von Zsa Zsa Gabor erreichten die chaotischen Zustände einen<br />

neuen Höhepunkt. Aber niemand hatte einen Nutzen davon –<br />

ausser vielleicht <strong>Ingrid</strong>, die zu den Kindern flüchtete. Ihre alte<br />

451


Flamme Larry Adler kam dieses Frühjahr für ein paar Tage zu<br />

Besuch: "Ich konnte sehen, dass sich Rossellini keinen Deut<br />

um <strong>Ingrid</strong>s berufliches Ansehen kümmerte, aber nicht, wie sie<br />

sich dabei fühlte. Aber sie spielte mit, machte den Film und<br />

nahm sich ihrer Kinder an."<br />

"Viaggio in Italia", wie der Film schliesslich genannt<br />

wurde, schlug in den Fünfzigerjahren keine grossen Wellen.<br />

Die Geschichte eines englischen Ehepaars, das in seinen Ferien<br />

in Italien mit der Leere einer toten Ehe konfrontiert wird,<br />

wirkt mehrheitlich wie ein Reisebericht auf der Suche nach<br />

Dialogen. Der Mann entscheidet sich für eine Scheidung, aber<br />

nachdem sie von einem religiösen Fest mitgerissen werden<br />

und die Menge "Wunder! Wunder!" schreit, erkennen die beiden<br />

(weshalb, bleibt ein Geheimnis) wie sehr sie auf einander<br />

angewiesen sind. Ende der sogenannten Geschichte. Wie verworren<br />

sie war, mag schon daraus hervorgehen, dass <strong>Ingrid</strong><br />

stets der Meinung war, das letzte Wunder sei der Umstand,<br />

dass die beiden die Liebe entdeckt hätten. R<strong>ob</strong>erto seinerseits<br />

bestand für den Rest seines Lebens darauf, "dass den beiden<br />

die Augen geöffnet wurden und sie erkannten, dass sie sich<br />

nicht liebten."<br />

Die Kritiken geisselten den Film <strong>als</strong> s<strong>tu</strong>mpf und langweilig,<br />

sein Script <strong>als</strong> armselig, die Regie <strong>als</strong> inkompetent,<br />

Redaktion, Schnitt und Montage <strong>als</strong> abscheulich. <strong>Ingrid</strong> wirkte<br />

nervös und steif, was der Figur durchaus gerecht wurde, die<br />

zumeist gezeigt wurde, wie sie Museumshallen und leere Villen<br />

durchstreifte. "Viaggio in Italia" wurde später aus unerklärlichen<br />

Gründen von der French New Wave in den Himmel gerühmt<br />

und ist aber ein Triumph der Geist tötenden, eleganten<br />

Leere. "Wir wussten nie, was wir <strong>als</strong> Nächstes <strong>tu</strong>n würden",<br />

verkündete R<strong>ob</strong>erto stolz. "Die Dinge fügten sich wie von<br />

selbst zusammen!" Nein, taten sie eben nicht.<br />

Eine kürzere und leichtere Episode der <strong>Bergman</strong>-<br />

Rossellini-Kooperation spielte sich noch vor Jahresende ab.<br />

R<strong>ob</strong>erto war eingeladen, einen kurzen komischen Sketch zum<br />

Anthologiefilm "Wir Frauen" beizusteuern, und wie üblich be-<br />

452


schloss R<strong>ob</strong>erto, sich die Sache einfach zu machen. Er baute<br />

die Kamera in Santa Marinella auf und dokumentierte einen<br />

Nachmittag im Alltagsleben seiner Frau in der Küche, wie sie<br />

sich mit einem Huhn herumschlägt, das ständig an ihren<br />

Lieblingsrosen naschte. Das war für <strong>Ingrid</strong>, die mit trockenem<br />

Ernst ihre Abneigung gegenüber dem Huhn zum Ausdruck<br />

brachte, offensichtlich ein mächtiger Spass; diesmal hatte die<br />

Anweisung ihres Mannes, den Dialog aus dem Stegreif zu führen,<br />

Erfolg. Mit geschickt inszeniertem, spontanem Witz murrte<br />

und schimpfte <strong>Ingrid</strong> hinter dem Huhn her, und mit einem<br />

maliziösen Grinsen drehte sie sich zur Kamera um, der sie<br />

anvertraute, dass sie nun den Hund auf den Vogel hetzen<br />

werde. Auch der dreijährige R<strong>ob</strong>erto hatte hier einen Mini-<br />

Auftritt.<br />

Im November 1953 hatte Rossellinis Bühnenstück<br />

"Jeanne d'Arc au Bûcher" in seinem "glücklichen Theater",<br />

dem Teatro San Carlo in Neapel, Premiere. Dem Stück war in<br />

Italien ein riesiger Erfolg beschieden, und weil <strong>Ingrid</strong> es liebte<br />

und R<strong>ob</strong>erto Geld brauchte wurde es noch für Palermo, Mailand,<br />

Paris, Barcelona, London und Stockholm gebucht – w<strong>ob</strong>ei<br />

<strong>Ingrid</strong> den Text schnell in fünf Sprachen lernen musste.<br />

"Sie lesen es so locker", stellte Honegger anerkennend fest.<br />

"Wer immer die Rolle schon gespielt hat, verfiel in übertriebene<br />

Dramatik und passte sich der Musik an." Claudel fügte lächelnd<br />

bei: "Aber Sie ncht." Das sei der Höhepunkt ihres Lebens<br />

gewesen, sagten diese gebrechlichen alten Männer. Beide<br />

starben 1955; <strong>Ingrid</strong> blieb ihren Familien sehr verbunden.<br />

Aber die Berichte ausserhalb Italiens fielen kühl aus,<br />

denn Rossellini hatte es versäumt, im Oratorium jenen Punkt<br />

anzusteuern, in dem die Handlung hauptsächlich von den<br />

Sängern getragen wird und <strong>Ingrid</strong> nahezu bewegungslos in<br />

mystischer Ruhe hätte verharren müssen. Sie war nie ausdrucksstärker<br />

<strong>als</strong> in den Szenen am Scheiterhaufen, aber im<br />

Laufe des Weiterzugs der Kompanie von Stadt zu Stadt wurde<br />

die Vorstellung flacher und flacher bis sie kaum noch mehr <strong>als</strong><br />

ein dramatischer Abend unter Rossellinis Lei<strong>tu</strong>ng war. Fasziniert<br />

vom Einsatz von Hintergrundprojektionen und vielleicht<br />

453


auch vom Gedanken an den neorealistischen Film verlor er<br />

den Bezug zum intimen, meditativen Wesen des Oratoriums.<br />

Die Kritiker bemängelten die Produktion <strong>als</strong> unbeholfen<br />

und statisch, doch <strong>Ingrid</strong> erhielt beachtliches L<strong>ob</strong>. Mitten in<br />

der Tournée sorgte R<strong>ob</strong>erto für eine Filmaufzeichnung; später<br />

erklärte er kurz und bündig, "es sei ein totaler Flop gewesen,<br />

den niemand habe sehen wollen. Basta!" <strong>Ingrid</strong> ergänzte: "Die<br />

Sprache musste synchron zur Musik gehen, und Rossellini achtete<br />

nicht sehr auf diesen Punkt. Er spielte die Musik im Playbackverfahren<br />

ein. In der Oper war das perfekt, aber im Film<br />

ging etwas daneben. Die Playback-Musik war ein Teil des<br />

Pr<strong>ob</strong>lems."<br />

Bezüglich ihres Einkommens erwähnte <strong>Ingrid</strong> in Briefen<br />

an Freunde, dass ihnen nach allen Spesen (sie hatten ihre drei<br />

Kinder und das Kindermädchen dabei) nicht mehr viel Bargeld<br />

übrig blieb. "Wenn ein guter Film entsteht, ist es wohl besser,<br />

sich nicht mehr vorzunehmen, <strong>als</strong> den Kindern neue Schuhe<br />

zu kaufen." Wie zu erwarten war, gab es auch Gemecker von<br />

Kolumnisten, die den Rossellinis vorwarfen, dass sie ihre noch<br />

kleinen Kinder quer durch Europa mit sich schleppten und sie<br />

einer derartigen Belas<strong>tu</strong>ng aussetzten. "Es ist nicht das erste<br />

Mal, dass ich solche Ratschläge zu hören bekomme", erwiderte<br />

<strong>Ingrid</strong>. "Ich habe Pia nie auf Tournée mitgenommen. Diesmal<br />

will ich meine Kinder aber bei mir haben!"<br />

R<strong>ob</strong>erto wollte wie üblich von einer Zusammenarbeit<br />

<strong>Ingrid</strong>s mit einem andern Regisseur nichts wissen – <strong>ob</strong>schon,<br />

wie ebenso üblich, bei <strong>Ingrid</strong> und Kay Brown wöchentlich Anfragen<br />

von europäischen Regisseuren eingingen, die <strong>Ingrid</strong><br />

nun erstm<strong>als</strong> selbst beantwortete. Die ersten Angebote kamen<br />

u.a. auch von Hollywood, von wo George Cukor schrieb um<br />

<strong>Ingrid</strong>s Interesse an einer Filmversion der Hawthorne-Novelle<br />

"The Marble Faun" zu erkunden. <strong>Ingrid</strong> musste ihm antworten,<br />

dass ihr Mann das Script gelesen und die italienische Version<br />

<strong>als</strong> völlig unglaubwürdig und unmöglich empfunden habe.<br />

Abgesehen davon, dass das Stück in Stil und Handlung mit<br />

Leichtigkeit hätte auf den Punkt gebracht werden können:<br />

454


Rossellini hat es abgeschmettert. Basta. Dies – wie ihr alter<br />

Freund Joe Steele zu berichten wusste – führte denn auch zu<br />

den ersten Rissen im Rossellini-Idyll.<br />

Inzwischen kam Rossellini mit einer Stefan Zweig-<br />

Geschichte mit Namen "Angst" daher, die sie 1954 in München<br />

(Wohnort der Produzenten) rasch in einer Pause der "Jeanne"-<br />

Tournée drehten. Nach mehrjähriger Pause betrachtet, wirkt<br />

"Angst" fast wie ein Erfolgsfilm. <strong>Ingrid</strong> (wieder mit Namen Irene,<br />

wie schon in "Europa 51") spielt die Rolle der Ehefrau eines<br />

erfolgreichen Wissenschafters und Industriellen. Sie hat<br />

sich einen Liebhaber zugelegt und wird nun von dessen früherer<br />

Mätresse erpresst – bis sie entdeckt, dass ihr Ehemann<br />

hinter der Erpressung steckt. Von ihren Kindern getrennt, die<br />

nach dem Willen ihres Mannes nun auf dem Land leben, und<br />

jetzt von Liebhaber und Ehemann verlassen, will sie sich das<br />

Leben nehmen, woran sie aber von diesem gehindert wird.<br />

"Ich liebe dich!" sagt sie sinnloserweise <strong>als</strong> sie sich umarmen.<br />

Ende der Geschichte.<br />

Mit etwas mehr Zuwendung zum Script und einem interessanteren<br />

Finale hätte "Angst" zu einer Art Renaissance für<br />

Rossellini werden können. Der Film verlief zügiger <strong>als</strong> jeder<br />

andere seit "Open City" (mit Ausnahme des kurzen hausgemachten<br />

Dokumentarstreifens in "Wir Frauen") und <strong>Ingrid</strong>s<br />

Spiel harmonierte gut mit dem ihrer Co-Stars. Speziell wirkungsvoll<br />

ist die zentrale Telefonszene: ihre Stimme zittert,<br />

<strong>als</strong> sie ihren Kindern ihre Liebe zum Ausdruck bringt und ihren<br />

bevorstehenden Selbstmord impliziert. Wie schon so oft,<br />

brachte sie einen Gefühlskonflikt mit minimalem Aufwand zum<br />

Ausdruck – ein Talent, das dam<strong>als</strong> von den wenigen Kritikern,<br />

die den Film gesehen hatten, erkannt wurde. Der Film selbst<br />

verschwand schnell und spurlos von der Bildfläche. Nachdem<br />

sie während zehn Tagen daran gearbeitet hatte, stand für <strong>Ingrid</strong><br />

fest, dass sie keinen weiteren Film mit ihrem Mann mehr<br />

drehen würde, dessen Selbstbewusstsein zu dieser Zeit völlig<br />

gebrochen war. Seine kreative Energie war am Boden zerstört.<br />

455


BOB CAPAS PLÖTZLICHER TOD im Mai 1954, <strong>als</strong> er einer<br />

Landmine in Indochina zum Opfer fiel, umnebelte <strong>Ingrid</strong>s<br />

Gemüt mit anhaltendem Kummer, der nur von den Kindern<br />

durchbrochen wurde. Sie hatte Capa während Jahren nicht<br />

mehr gesehen, doch ihre Zuneigung zu ihm hatte sich nach<br />

und nach in einer Ecke ihres Herzens eingenistet, wie sie Ruth<br />

und Kay schrieb. Und R<strong>ob</strong>erto, der auf alle seine Vorgänger<br />

eifersüchtig war, bot ihr keine Stütze.<br />

Am 2. Okt<strong>ob</strong>er kamen <strong>Ingrid</strong>, R<strong>ob</strong>erto, die Kinder und<br />

ein kleiner Stab von Helfern in London an, und drei Wochen<br />

später hatte "Joan of Arc at the Stake" Premiere im Stoll<br />

Theatre für insgesamt 29 Vorstellungen. Die Produktion wurde<br />

von den Kritikern allgemein <strong>als</strong> Synthese von Stilen, geschmäcklerisch<br />

erarbeitet und statisch bezeichnet. <strong>Ingrid</strong> wurde<br />

respektvoll (aber nicht überzeugend) gel<strong>ob</strong>t, w<strong>ob</strong>ei einige<br />

Stimmen sie <strong>als</strong> unverständlich und in schlechter Bühnenverfassung<br />

empfanden.<br />

ABER DIE REAKTION der Stockholmer Presse zu Beginn<br />

des folgenden Jahres war weit frostiger. "Jeanne", die am 17.<br />

Februar 1955 im Konserthus Premiere hatte, wurde von der<br />

Presse zerfetzt, und deren führender Kritiker nutzte die Gelegenheit,<br />

Charakter und Persönlichkeit der einheimischen Tochter<br />

zu demontieren. "Sie reist herum und stellt sich für Geld<br />

zur Schau", schrieb Stig Ahlgren im 'Vecko-Journalen'. "Der<br />

Zirkusdirektor ist Rossellini, mit dem sie drei Kinder und einen<br />

Rolls-Royce hat. Sie ist sehr gut bezahlt, <strong>ob</strong>schon sie nichts<br />

verdient, denn sie ist nicht einmal eine Schauspielerin, geschweige<br />

denn eine Künstlerin." Da gab es noch Schlimmeres,<br />

w<strong>ob</strong>ei praktisch alles auf ihr Privatleben abzielte; Ahlgren zum<br />

Beispiel ging so weit, <strong>Ingrid</strong>s hohe Absätze und die Kleidung<br />

der Kinder zu kritisieren.<br />

Nach Rücksprache mit Edvin Adolphson, mit dem sie ein<br />

freundschaftliches Wiedersehen hatte, beschloss <strong>Ingrid</strong>, zurückzuschlagen.<br />

Nach einer Wohltätigkeits-Matinée zugunsten<br />

von Kindern, die der in Schweden so schlimm verlaufenen Kin-<br />

456


derlähmungs-Epidemie zum Opfer fielen, wurde <strong>Ingrid</strong> eingeladen,<br />

die Gewinner einer Verlosung zu ziehen. Dann wandte<br />

sich Adolphson vereinbarungsgemäss an das Publikum: "<strong>Ingrid</strong><br />

<strong>Bergman</strong> möchte ein paar Worte an Sie richten." Ein Raunen<br />

von Überraschung und gespannter Aufmerksamkeit ging durch<br />

das Haus. "Würden Sie uns Bitte Ihre Eindrücke bei Ihrer<br />

Rückkehr nach Schweden schildern?"<br />

Bleich aber gefasst trat sie an die Rampe:<br />

"Ich bin sehr glücklich, wieder zuhause zu sein und<br />

wieder schwedisch sprechen zu können. Aber ein Trupp<br />

tapferer Ritter von der Presse preschte vor, um mich<br />

niederzumachen. Gestern las ich Stig Ahlgrens Artikel.<br />

Und überall werde ich angeklagt, nichts zu <strong>tu</strong>n ausser<br />

Publizität zu suchen. Aber nicht ich suche die Publizität!<br />

Ich schicke keine Fotographen los, die mich am Theater<br />

und im Hotel herumhetzen. Sie verdammen mich, weil<br />

ich ihnen nicht erlaube, meine Kinder zu<br />

fotographieren, und sie verdammen mich, weil ich den<br />

Widerstand schliesslich aufgab und einige Bilder freigab.<br />

Ich fühle mich wie Indras Tochter in Strindbergs<br />

"Dream Play" , deren Schicksal lautete: 'Schlagt sie,<br />

wenn sie antwortet, und schlagt sie, wenn sie<br />

schweigt!'<br />

Aber natürlich bin ich nicht die Einzige, die in diesem<br />

Land so behandelt wird – mit Garbo und andern war es<br />

nicht anders. Ich fürchte, die Schweden können nichts<br />

Ungewohntes akzeptieren – wie in Hans Christian Andersens<br />

Märchen, in welchem jeder, der Grösser ist <strong>als</strong><br />

die Menge, enthauptet wird, damit alle gleich gross<br />

sind.<br />

Ich wollte diese Gelegenheit benutzen, um zu Ihnen direkt<br />

sprechen zu können, nicht durch die Presse, die<br />

meine Worte nur verdrehen würde. Während der vergangenen<br />

sechs Jahre wurde ich dauernd von andern<br />

verleumdet, die mich verdammt und verurteilt haben,<br />

ohne das Geringste über mein Leben zu wissen. Ich<br />

457


458<br />

wollte, dass wenigstens Sie, liebe Leute, die unser Oratorium<br />

unterstützt haben, die Wahrheit wüssten."<br />

Damit trat sie zurück und verneigte sich vor dem Publikum,<br />

das nun mit den Füssen stampfte, klatschte, schrie und<br />

sich von den Sitzen erh<strong>ob</strong>. Ihr Triumph war perfekter <strong>als</strong> in<br />

der Vorstellung. Dennoch fanden böse Briefe ihren Weg in ihre<br />

Grand Hotel-Suite. "Sie haben mich zur Verzweiflung getrieben",<br />

kommentierte sie die hässliche Post. "Die seelische Belas<strong>tu</strong>ng,<br />

die mir meine Landsleute zumuten, raubt mir den<br />

Schlaf."<br />

ZUM SOMMERANFANG war die Tournée zu Ende, und<br />

die Rossellinis kehrten nach Rom zurück, wo sie eine Anfrage<br />

der rumänisch-französischen Schauspielerin Elvire Popesco<br />

erwartete, die nun Theater-Produzentin am Théâtre de Paris<br />

war. Tenessee Williams Stück "Katze auf dem heissen Blechdach"<br />

und R<strong>ob</strong>ert Andersons "Tee und Mitgefühl" sollten<br />

demnächst in Paris produziert werden: <strong>ob</strong> sie sich eine Rückkehr<br />

zur Bühne im einen oder andern dieser Stücke vorstellen<br />

könnte? Fraglos war <strong>Ingrid</strong>, die im August ihren 40. Geburtstag<br />

feierte, für die Rolle der Maggy in "Cat" zu alt. Aber die<br />

Rolle der Laura, des Rektors Gattin, die Tee und Mitgefühl anbietet<br />

und – wie in einer höchst delikaten Szene vor dem letzten<br />

Vorhang angedeutet wird - sich einem scheuen jungen<br />

Mann auch selbst anbietet, war für <strong>Ingrid</strong> massgeschneidert,<br />

weshalb sie sie unbedingt annehmen wollte. Deborah Kerr<br />

hatte in New York einen Riesenerfolg damit gehabt, und <strong>Ingrid</strong><br />

wollte es in Paris zu ihrem eigenen machen.<br />

Zunächst fürchtete Popesco, wie sich R<strong>ob</strong>ert Anderson<br />

nach Jahren erinnerte, einige kritische Stimmen, die bei der<br />

Erwähnung <strong>Ingrid</strong>s für diese Rolle bei Kritikern und Publikum<br />

laut wurden, sodass die Produzenten Anderson (dessen Frau<br />

dam<strong>als</strong> schwerkrank darniederlag) baten, mit den Rossellinis<br />

in Rom zu sprechen.


"Sie wünschte sehr, diese Rolle zu spielen", so Anderson,<br />

"und natürlich stimmte ich ihr sofort zu. Als ich in Rom<br />

war, hatte R<strong>ob</strong>erto von diesem Stück keine Ahnung, und er<br />

zog sich während unseres Gesprächs in einen andern Raum<br />

ihres Appartments zurück." Unmittelbar nach Andersons Abreise<br />

gab R<strong>ob</strong>erto seine Meinung zu "Tee und Mitgefühl" zum<br />

besten: "<strong>Ingrid</strong>, es ist Mist, wenn du es machst, wird es nach<br />

einer Woche aus sein!" Soviel zur Ermutigung unter Eheleuten.<br />

Auch hätte sich Rossellini nie dazu herabgelassen, für<br />

"Tee und Mitgefühl" Regie zu führen, wie Popesco und Anderson<br />

ursprünglich vorgeschlagen hatten, um <strong>Ingrid</strong>s Beteiligung<br />

zu sichern. R<strong>ob</strong>erto bereitete sich übrigens auf eine Reise nach<br />

Indien vor, wo er einen Dokumentarfilm zu produzieren gedachte,<br />

während sie die Kinder zu betreuen hatte. "R<strong>ob</strong>erto<br />

wünscht sich eine Frau, die zuhause sitzt und auf ihn wartet",<br />

sagte <strong>Ingrid</strong> dam<strong>als</strong>. "In seinen Augen bin ich eben sein Eigen<strong>tu</strong>m.<br />

Aber ich ertrage unseren unsicheren Von-der-Hand-inden-Mund-Lebensstil<br />

nicht. Wer weiss, hätten wir einen erfolgreichen<br />

Film zusammen gemacht, wäre es vielleicht anders.<br />

Ich muss zur Arbeit zurückkehren und er wird sich daran gewöhnen<br />

müssen. Ich muss etwas <strong>tu</strong>n – für mich selbst und um<br />

den Kindern Schuhe kaufen zu können. Unsere wachsenden<br />

Schulden belasten mich enorm."<br />

Die nachgerade offenkundige Disharmonie zwischen<br />

<strong>Ingrid</strong> und R<strong>ob</strong>erto verstärkte sich 1955 spürbar. Ihm bereitete<br />

der offensichtliche Zusammenbruch seiner Karriere zunehmende<br />

Angst, und noch mehr ängstigte ihn wohl die Möglichkeit<br />

einer Renaissance seiner Frau, käme sie dereinst von seinem<br />

Regiemonopol frei. "Er liebte den Streit", nach <strong>Ingrid</strong>, die<br />

erstm<strong>als</strong> von Mathias Wieman, ihrem Co-Star in "Angst" den<br />

Rat erhielt, diese Ehe zu beenden. Das stehe ausser Diskussion,<br />

antwortete sie dam<strong>als</strong>. Was würde aus ihm werden – und<br />

was aus ihren Kindern, die von jedem Gericht ihm zugesprochen<br />

würden? Was sie – nota bene – nicht beifügte, war, dass<br />

sie R<strong>ob</strong>erto noch immer liebte, weshalb man im Grunde genommen<br />

sagen müsste, die <strong>Bergman</strong>-Rossellini-Ehe sei ge-<br />

459


scheitert, weil ihre (Film-)Kunst gescheitert ist. Sein Versprechen<br />

an sie wurde nicht erfüllt, weshalb sich der Bund auflöste<br />

– genau wie ihre Ehe mit Lindström fallierte, <strong>als</strong> sein "Beitrag"<br />

zum leeren Geschäft wurde, ohne jeden Bezug zu ihrer künstlerischen<br />

Arbeit.<br />

SPÄTER DIESEN SOMMER ERHIELT SIE einen Anruf und<br />

dann einen Besuch von ihrem alten Freund Jean Renoir, der<br />

dabei war, speziell für sie ein Stück und ein Screenplay zu<br />

verfassen – eine Komödie mit Musik. Nun sass <strong>Ingrid</strong> in Santa<br />

Marinella am Meer und las ein wirkliches Drehbuch für einen<br />

Film mit historischen Kostümen, mit allen Angaben zur Vertonung,<br />

zu den Figuren des Films und den Darstellern – ein<br />

FILM!, akribisch vorbereitet, etwas, was sie seit sieben Jahren<br />

nicht mehr zu sehen bekam! Wann immer sie das Script beiseite<br />

legte und ihren Blick über das stille Wasser schweifen<br />

liess, entlockte ihr das ein ein Lächeln voll glücklicher Erwar<strong>tu</strong>ng<br />

auf das Kommende. Der Film mit Namen "Elena und ihre<br />

Männer" (der in Amerika "Paris Does Strange Things" genannt<br />

wurde) war eine gallische Farce über Prinzessin Elena<br />

Sorokowska (<strong>Ingrid</strong>), die mit Männern herumtrödelt, welchen<br />

sie damit erheblichen beruflichen Erfolg bringt: ein General<br />

(Jean Marais), der durch einen Staatsstreich zu einem wohltätigen<br />

Diktator werden will; ein junger Graf (Mel Ferrer), der<br />

sie wirklich liebt; und ein reicher, älterer Bürger (Pierre<br />

Bertin). Die Geschichte war wirr, unnötig verwickelt und gehaltlos<br />

– eine muntere Burleske über Chauvinismus, das französische<br />

Landleben und hohle Liebeleien – aber es war lebhaft<br />

und eingängig, und der Humor war ganau was sie jetzt<br />

brauchte. Mit andern Worten, es war völlig verschieden von<br />

der Kost, die ihr von Rossellini geboten wurde – der sie diesmal,<br />

wohl oder übel, wenn auch widerwillig gewähren liess.<br />

Seine Reise nach Indien war versch<strong>ob</strong>en worden, weshalb er<br />

sie mit den Kindern nach Paris begleitete.<br />

<strong>Ingrid</strong> bezog eine kleine Suite im Hotel Raphael, die<br />

während der kommenden Jahre oft zu ihrem Heim werden<br />

460


sollte, speziell wenn sie an der Bühne arbeitete. Ob sie Rom<br />

und Santa Marinella vermisste? Hatte sie denn je eines ihrer<br />

Heime in Stockholm und Beverly Hills vermisst? Nun, wann<br />

immer solche Diskussionen entstanden, erklärte sie, nie<br />

Heimweh nach früheren Lebensräumen gehabt zu haben. Zuhause<br />

war sie dort, wo sie eben war; von ihr könnte man sagen,<br />

was Marcia Davenport über Lena Geyer geschrieben hatte<br />

– "Sie war wirklich sentimental, aber nur mit ihren persönlichen<br />

Gefühlen, nicht mit Orten oder Dingen, auf die man sie<br />

durch eine echte Verbundenheit hätte fixieren können.<br />

KLAR – INGRID WAR WIEDER in ihrem Element in den<br />

Joinville S<strong>tu</strong>dios sechs Meilen ausserhalb von Paris. Mit ihrer<br />

gewohnt fleissigen Bereitwilligkeit lernte sie die Rolle in französischer<br />

wie auch in englischer Sprache für den Exportmarkt.<br />

In grossartige Gewänder gekleidet und in frisch-saftigem<br />

Technicolor fotographiert, sah sie bezaubernder aus, <strong>als</strong> je<br />

zuvor. Zeit und Kummer hatten ihrem Antlitz den Stempel von<br />

Stärke und Reife aufgedrückt – nicht aber von Härte – und<br />

ihre Lebhaftigkeit wurde von warmer Eleganz betont. Klugerweise<br />

machte Renoir eine polnische Prinzessin aus ihr, um ihr<br />

akzentiertes Französisch zu decken, das nun charmant statt<br />

störend wirkte.<br />

Die Produktion dauerte vom November 1955 bis Anfang<br />

März 1956, und natürlich wurde die Neuigkeit, wonach <strong>Ingrid</strong><br />

ohne Rossellini arbeitete, von der Weltpresse flugs<br />

herumposaunt. Und damit wurde Kay Brown aktiv. Twentieth<br />

Cen<strong>tu</strong>ry-Fox hatte die Filmrechte an einem britischen Bühnenstück<br />

gekauft, das 1954 in New York gut gelaufen war –<br />

"Anastasia" , die Geschichte von Anna Andersons Anspruch,<br />

die Grossherzogin und Tochter von Zar Niklaus II. zu sein, die<br />

das Massaker an den Romanovs von 1918 überlebt hatte. <strong>Ingrid</strong><br />

las das von Arthur Laurents modifizierte Script von Guy<br />

Boltons Bühnenstück; die Rolle bot eine traumhafte Reichweite,<br />

von ihren Szenen <strong>als</strong> schmutzige, suizidgefährdete Herumtreiberin<br />

zu ihrer Schulung <strong>als</strong> glaubhafte Grossherzogin und<br />

461


schliesslich zu ihrem Triumph durch ihre Aufnahme in die internationale<br />

Gesellschaft.<br />

Das war nicht nur eine glanzvolle, exotische Geschichte<br />

mit einer hochwillkommenen Hauptrolle: es könnte auch zu<br />

etwas wie einer Analogie ihres Ansehens in den Augen Amerikas<br />

werden (von der königlichen Prinzessin zum verstossenen<br />

Aschenputtel und zurück); jedenfalls war es ein gutes Script<br />

mit einer hochgradig sympathischen und seriösen Hauptfigur.<br />

(Allerdings war Anastasias Person in keiner Weise identisch<br />

mit der – vielfach vermuteten und später bestätigten - historischen<br />

Wahrheit, wonach die echte Grossherzogin mit ihrer<br />

Familie massakriert wurde und Anna Anderson nichts weiter<br />

<strong>als</strong> eine Betrügerin war.) Jedenfalls konnte eine derart wundervolle<br />

Hauptrolle <strong>Ingrid</strong>s Sache zur Wiederherstellung ihres<br />

Ansehens beim kritischen Amerika keinen Abbruch <strong>tu</strong>n.<br />

Die erste Wahl von Fox-Präsident Spyros Skouras für<br />

die Rolle der Anastasia war Jennifer Jones. Diese Wahl wurde<br />

aber von Produktions-Chef Darryl Zanuck in Frage gestellt, der<br />

mit Kay darin einigging, dass dies der ideale Moment dafür<br />

wäre, <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> nach Amerika zurückzubringen. Sie<br />

würde bestimmt nicht nur Neugier wecken, betonte Zanuck:<br />

die vor sieben Jahren erlebte Hysterie sei verebbt und sie<br />

würde bestimmt wieder <strong>als</strong> die grosse Schauspielerin akzeptiert,<br />

die sie war, und Fox sollte nun keine Produktionskosten<br />

scheuen, die den Ruf des Unternehmens nur stärken könnten.<br />

Aber Skouras erwiderte, dass <strong>Bergman</strong> ein Fluch für jedes<br />

Projekt wäre, was er durch die Ergebnisse einer Umfage erhärtete.<br />

"So lange ich hier Zensor bin", erklärte ein Beamter<br />

von Tennessee, "wird auf keiner Leinwand in Tennessee ein<br />

Film mit <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> erscheinen." Das genügt wohl, meinte<br />

Skouras.<br />

Aber Zanouk blieb hart, Tennessee hin oder Tennessee<br />

her, und bald erhielt er die Unterstützung von Buddy Adler,<br />

der den Film in London und Paris produzierte, und von Anatole<br />

Litvak, einem russischstämmigen Hollywood-Immigranten, der<br />

der Romanov-Kul<strong>tu</strong>r sehr verbunden war. Um es nicht auf eine<br />

462


Revolte dieser Talente ankommen zu lassen, lenkte Skouras<br />

ein, sein Verwal<strong>tu</strong>ngsrat stimmte zähneknirschend zu, und im<br />

Dezember 1955 unterzeichnete <strong>Ingrid</strong> den Vertrag, im kommenden<br />

Sommer <strong>als</strong> Anastasia aufzutreten. Der Film werde<br />

ein totaler Reinfall sein, murrte R<strong>ob</strong>erto, der den Raum verliess,<br />

<strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> bei der Unterzeichnung zur Feder griff. "Aber<br />

ich hatte beschlossen, ihm die Stirne zu bieten", sagte sie später,<br />

"ich war während sieben Jahren im beruflichen Exil, und<br />

das reichte." Sie stritten sich an jenem Abend heftig, und<br />

R<strong>ob</strong>erto drohte einmal mehr, mit seinem Ferrari in einen<br />

Baum zu rasen und sich so das Leben zu nehmen. <strong>Ingrid</strong><br />

machte sich einen Tee.<br />

IM MÄRZ BEGAB SIE SICH direkt von der Synchronisation<br />

von "Elena und ihre Männer" zu den Garder<strong>ob</strong>e- und Makeup-Tests<br />

für "Anastasia" mit Produktions-Horizont von Mai<br />

bis August 1956. R<strong>ob</strong>ertos Reise nach Indien wurde nochm<strong>als</strong><br />

versch<strong>ob</strong>en, diesmal bis zum Jahresende wegen Geldmangels<br />

und der jährlichen Regenzeit. En attendant nahm er ein Angebot<br />

an, die Regie für einen Film mit Namen "Sea Wife" zu<br />

übernehmen, ein Drama um ein Schiffswrack mit Richard Burton<br />

und Joan Collins in den Hauptrollen. Aber nach einer Arbeitswoche<br />

in Jamaica hatte er Schauspieler und Crew derart<br />

verärgert, dass Produzent André Hakim damit drohte, ihn aus<br />

dem Film zu nehmen.<br />

Nachdem R<strong>ob</strong>erto eine Besprechung mit Hakim in London<br />

verlangt hatte, wurde er dort bei seiner Ankunft von Laurence<br />

Evans, dem Direktor des MCA-Büros in London empfangen,<br />

dem Dekan der Londoner Agenten und einem Mann, der<br />

seinen beträchtlichen Einfluss mit einer seltenen Mischung aus<br />

scharfer Intelligenz, charmantem Witz und tadelloser Ethik<br />

ausübte. Er hatte sich während der Produktion von "Under<br />

Capricorn" um <strong>Ingrid</strong> gekümmert, der er zu einem guten<br />

Freund und klugen Berater geworden war und von der er nun<br />

mit der Bitte um Hilfe angegangen worden war, negative Publizität<br />

von ihrem Mann abzuwenden. Mit gewohnter Routine<br />

463


hiess er R<strong>ob</strong>erto, der Presse gegenüber kein einziges Wort<br />

verlauten zu lassen, und begleitete ihn zum Savoy Hotel, wo<br />

auch <strong>Ingrid</strong> abgestiegen war.<br />

Die Besprechung mit Hakim änderte nichts an allem,<br />

und R<strong>ob</strong>erto wurde aus "Sea Wife" entlassen. Jetzt be<strong>ob</strong>achtete<br />

er die wiederauflebende Karriere seiner Frau mit irrationalen<br />

Verdächtigungen und gewaltigem Verdruss. So, wie die<br />

Jahre von 1950 bis 1955 einen Niedergang in ihrem Leben<br />

bedeuteten, so reihten sich nun in einem einzigen Jahr eine<br />

lohnende Aufgabe an die andere. Während dieses Besuches<br />

entwickelte R<strong>ob</strong>erto die seltsame Idee, dass <strong>Ingrid</strong>s Tätigkeit<br />

ihr Familienleben gefährde, weshalb er drohte, die Kinder nach<br />

Italien und dann nach Indien mitzunehmen: es waren seine<br />

Kinder und sie war sein Eigen<strong>tu</strong>m.<br />

R<strong>ob</strong>ertos besitzergreifende Art, die oft verbal gr<strong>ob</strong> und<br />

gemein wurde, "dauerte so lange, ich wusste nicht mehr was<br />

ich glauben sollte", schrieb <strong>Ingrid</strong> einer Freundin. Nun verlangte<br />

er plötzlich die Trennung – mit dem uneingeschränkten<br />

Sorgerecht für die Kinder. Drohungen und Schmähungen folgten<br />

in rascher Folge; <strong>Ingrid</strong> war entsetzt. "Ich habe Angst,<br />

meine Kinder wieder zu verlieren; allein zu sein, fürchte ich<br />

nicht, aber vier Kinder zur Welt gebracht zu haben, die mir<br />

alle weggenommen werden." Und so nahm R<strong>ob</strong>erto R<strong>ob</strong>ertino,<br />

Isabella und klein <strong>Ingrid</strong> mit sich nach Santa Marinella, in sein<br />

Refugium, wo er mit ihnen allein sein konnte.<br />

"Anastasia" wurde dann vollständig in den Londoner<br />

Borehams<strong>tu</strong>dios gemacht, ausser für einige Nachtaufnahmen<br />

in Paris. Zanouk und Adler hielten ihr Versprechen: der Film<br />

hatte ein ungewöhnlich hohes Budget von $ 3.5 Mio., und es<br />

wurde an keinem Detail gespart, um eine erstklassige Produktion<br />

sicherzustellen. Am ersten Drehtag sagte <strong>Ingrid</strong>: "Ich bin<br />

so aufgeregt, wieder in einem Set arbeiten zu können." Gewisse<br />

Anwesende werden die Andeu<strong>tu</strong>ng wohl verstanden haben.<br />

Yul Brynner spielte die Rolle des ernsten Bounine, der<br />

Anna Anderson auf ihre Rolle vorbereitete bis auch er unsicher<br />

464


wird, weil sie Kenntnisse hatte, die nur ein Romanov haben<br />

konnte; und Helen Hayes spielte die betagte Kaiserin-Witwe<br />

Marie, Anastasias Grossmutter. *) Die Erkennungsszene – die<br />

damit beginnt, dass <strong>Bergman</strong> von der misstrauischen Hayes<br />

zurückgewiesen wird – haben die beiden Schauspielerinnen<br />

mit grossem gegenseitigem Respekt für ihre jeweiligen Stärken<br />

in der Szene privat eingeübt. Laurents verbesserte die<br />

Dialoge im ganzen Stück wesentlich, sodass die Darstellerinnen<br />

speziell in dieser Sequenz schrittweise von der Reue zur<br />

Querulanterie, vom Betteln schliesslich zur aus der Verzweiflung<br />

erwachsenen Liebe fanden.<br />

Litvak, Hayes, Brynner und der ganzen internationalen<br />

Besetzung war bald klar, dass <strong>Ingrid</strong>s Leis<strong>tu</strong>ng nichts weniger<br />

<strong>als</strong> traumhaft war. Sie portraitierte eine durch Zurückweisung<br />

verbitterte Frau, die gegen ihren Willen von macht- und geldgierigen<br />

Menschen missbraucht wird. Die Geschichte geht aber<br />

so weit, dass Anna Beweise dafür anbietet, dass sie die echte<br />

Anastasia sei – womit aus der verstörten Nomadin im Zuge<br />

eines Strudels von Konfusionen die königlichste der Prinzessinnen<br />

wird. Wahrscheinlich konnte zu dieser Zeit niemand in<br />

dieser Rolle so überzeugend wirken, wie <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>; ganz<br />

sicher hätten aber nur sehr wenige den inneren Kampf, das<br />

zwiespältige Gefühl von neidvoller und schmerzlicher Sehnsucht<br />

so eindrücklich zur Darstellung gebracht, wie ingrid das<br />

in jede Szene hineinprojizierte.<br />

Zanucks Leute, die hinter vorgehaltener Hand über die<br />

grosse Wahrscheinlichkeit eines Academy Awards spekulierten,<br />

äusserten sich auch der Presse gegenüber nicht allzu zurückhaltend<br />

– speziell dem Moderator einer populären Fernseh-Unterhal<strong>tu</strong>ngsshow,<br />

Ed Sullivan, gegenüber, der beabsichtigte,<br />

mit einer TV-Crew von New York nach London zu kommen,<br />

um ein kurzes Interview und ein paar Dokumentarszenen<br />

aus der laufenden Produktion aufzunehmen. Der Beitrag<br />

*)<br />

Die Bühnenrolle der Kaiserin-Witwe wurde in London von Helen Haye,<br />

einer klassischen englischen Schauspielerin und renommierten Lehrerin,<br />

mit grossem Erfolg gespielt. So hiess es im Telegramm von Fox' Londoner<br />

Büro an Litvak auch "VERPFLICHTET HELEN HAYE". Der Name wurde<br />

aber <strong>als</strong> Druckfehler interpretiert, sodass Helen HAYES verpflichtet<br />

wurde.<br />

465


sollte mit der begeisterten Zustimmung von Fox im folgenden<br />

August ausgestrahlt werden. Doch zuvor wollte Sullivan sein<br />

Fernsehpublikum auf nationaler Basis befragen. "Es ist euere<br />

Entscheidung", verkündete er am 29. Juli 1956. "Schickt mir<br />

eine kurze Notiz, <strong>ob</strong> ihr sie in der Show sehen wollt – und<br />

wenn nicht – gut, dann teilt mir das auch mit. Ich will euer<br />

Urteil." Überzeugt davon, wie er sagte, "dass sie für ihre Sünden<br />

genug gelitten und Busse getan habe (!)" und dass das<br />

Publikum <strong>Ingrid</strong> willkommen heissen würde, empfing er mit<br />

der Post auch den Schock: 5'826 Briefe lauteten zugunsten<br />

ihres Interviews in der Show, aber 6'433 dagegen. Als etwas<br />

einfallsloser aber wortgetreuer Mann hielt sich Sullivan widerstrebend<br />

an das Urteil. <strong>Ingrid</strong> war in den Augen Amerikas alles<br />

andere <strong>als</strong> nachhause zurückkgekehrt, wenn es sich dabei<br />

auch nur um die Augen handelte, die Ed Sullivans Show verfolgten<br />

und engstirnig genug waren, schriftlich ihre unverminderte<br />

Ablehnung zu bekunden.<br />

DIE HAUPTSÄCHLICHEN DREHARBEITEN zu "Anastasia"<br />

waren Ende August abgeschlossen, anschliessend wurden<br />

Schnitt und Montage durchgepeitscht, damit der Film im Dezember<br />

erscheinen konnte. Dann eilte <strong>Ingrid</strong> zu den Lesungen<br />

und Pr<strong>ob</strong>en für "Tee und Mitgefühl" mit Regisseur Jean<br />

Mercure und den Co-Stars Yves Vincent und Jean Loup Philippe<br />

nach Paris zurück. Dort fand sie R<strong>ob</strong>erto frostig, in sich<br />

gekehrt und übelgelaunt bei den Vorberei<strong>tu</strong>ngen zu seiner<br />

lange aufgesch<strong>ob</strong>enen Reise nach Indien. Alles scheine sich<br />

gegen ihn zu wenden, erklärte er, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> auf einer Erklärung<br />

für seine missmutige Verfassung bestand. Andererseits<br />

wusste sie natürlich, dass ihre Ehe gefährdet war, wenn sie<br />

mit "Tee und Mitgefühl" fortfahren würde. "Dass R<strong>ob</strong>erto und<br />

ich so lange zusammenblieben, geschah ausschliesslich der<br />

Kinder wegen", sagte sie nicht lange danach. "Er will, dass ich<br />

dieses nicht <strong>tu</strong>, er will, dass ich jenes nicht <strong>tu</strong>. Aber zur Abwechslung<br />

übernehme ich jetzt die Verantwor<strong>tu</strong>ng einmal für<br />

mich selbst."<br />

466


Die Pr<strong>ob</strong>en begannen zögerlich, denn <strong>Ingrid</strong> stolperte<br />

gelegentlich über die französischen Übersetzungen von Roger<br />

Ferdinand. Dann, am Samstag, 10. November, fühlte sie sich<br />

krank und behauptete, es handle sich um nichts weiter <strong>als</strong><br />

eine Verdauungsstörung. Drei Tage später konnte sie ihre<br />

Leibschmerzen, die sich durch weitere böse Symptome verstärkt<br />

hatten, nicht mehr überspielen. Am 14. November unterzog<br />

sich <strong>Ingrid</strong> im American Hospital in Neuilly einer Blinddarmoperation.<br />

Sie blieb dort für eine Woche – und lernte ihre<br />

Rolle <strong>als</strong> Laura.<br />

Inzwischen neigte sich in Amerika die lange Leidenszeit<br />

von R<strong>ob</strong>ert Andersons Frau Phyllis dem Ende zu; sie erlag ihrem<br />

Krebsleiden am 28. November nach einem bittern, fünfjährigen<br />

Kampf, während dem ihr Mann es irgendwie schaffte,<br />

seinen beruflichen Pflichten nachzukommen und sich gleichzeitig<br />

ihrer Pflege zu widmen. Dam<strong>als</strong> neununddreissigjährig,<br />

kämpfte Anderson nicht nur mit den im Zusammenhang mit<br />

dem Todesfall anstehenden Aufgaben und Formalitäten, sondern<br />

auch mit seinem tiefen Leid, das ihn an den Rand eines<br />

Zusammenbruchs führte, wovor ihn einzig die Aufmerksamkeit<br />

seiner Freunde und Familie bewahrte. Die Weihnachtsfeiertage<br />

standen bevor, weshalb Kay <strong>Ingrid</strong> anrief und <strong>Ingrid</strong> Anderson<br />

telephonierte: "Ich denke, du gehörst während dieser schwierigen<br />

Zeit hierher", sagte sie ihm, "es ist Weihnacht und das<br />

Theater wird dir ein familiäres Umfeld bieten." Und so wurde<br />

im Raphael-Hotel ein Zimmer für ihn gebucht.<br />

"Tee und Mitgefühl" wurde für den Autor wie für die<br />

Hauptdarstellerin zu einem gewaltigen Triumph. Das zwölfhundertköpfige<br />

Publikum holte <strong>Ingrid</strong> für 15 Vorhänge zurück,<br />

und sie erhielt ausgezeichnete Kritiken. In dieser Nacht verharrten<br />

Massen von Menschen noch S<strong>tu</strong>nden nach der Vorstellung<br />

vor dem Theater in der Hoffnung auf einen kurzen Blick<br />

auf eine Frau, die in der Lichterstadt zu keiner Zeit in Ungnade<br />

gefallen war. Die Kritiker beteten sie an, bis hin zur totalen<br />

Ignorierung ihres schweren Akzents in der französischen Sprache,<br />

was übrigens zu derart heiteren Flops führte, wie dass sie<br />

den jungen Tom statt korrekt <strong>als</strong> "champion" <strong>als</strong> "champig-<br />

467


non" (Pilz) bezeichnete. Das Publikum wie ihre Co-Stars waren<br />

zwar s<strong>tu</strong>mm, schüttelten sich aber vor Lachen und pressten<br />

Handtücher auf ihre Gesichter. <strong>Ingrid</strong> trat an die Rampe, hielt<br />

ihre Hand hoch zum Publikum und korrigierte sich:"Il est le<br />

champion de l'école!" Damit hatte sie die Leute auf ihrer Seite,<br />

die sich von ihren Sitzen erh<strong>ob</strong>en und ihr während drei Minuten<br />

zujubelten. Wie hätte sich Paris in eine solche Darstellerin<br />

nicht verlieben sollen?<br />

Nur ein Zuschauer war weit von jedem Wohlwollen entfernt.<br />

R<strong>ob</strong>erto sass während des ganzen Stücks hinter der<br />

Bühne, weigerte sich, das Stück aus dem Auditorium anzusehen,<br />

verweigerte seiner Frau auch nur ein einziges Wort der<br />

Ermutigung oder Anerkennung. Nach dem ersten Akt fragte er<br />

sie: "Ist noch jemand dort? Sind nicht schon alle gegangen?"<br />

Nach dem zweiten Akt, sagte er: "Haben sie schon angefangen,<br />

Gegenstände zu schmeissen?" Der tosende Applaus nach<br />

dem dritten Akt war dann für R<strong>ob</strong>erto wie eine schallende Ohrfeige.<br />

"Er war rot vor Wut", erinnerte sich die Schauspielerin<br />

Simone Paris, die im Stück mitwirkte. "Am Schluss", erzählte<br />

<strong>Ingrid</strong> B<strong>ob</strong> Anderson (der ein paar Tage nach der Premiere<br />

eintraf), "hatte ich eine vierzehnminütige Ovation. Aber <strong>als</strong> ich<br />

mich umwandte und R<strong>ob</strong>erto im Seitenflügel der Bühne sah,<br />

wusste ich, dass meine Ehe zu Ende war."<br />

Der zügellose Enthusiasmus des Publikums, der Strom<br />

der Verehrer hinter der Bühne und die verliebten Pressestimmen<br />

– all das war für R<strong>ob</strong>erto zuviel. Noch in derselben Nacht<br />

raste er von Paris nach Rom, von wo aus er endlich seine Reise<br />

nach Indien antrat. Seine letzten Worte an <strong>Ingrid</strong>: "Noch vor<br />

Ablauf einer Woche wirst du diese schreckliche Show gebodigt<br />

haben." Diese bösartige Prognose - wie weitab von den Realitäten<br />

sie auch liegen mochte, denn das Stück erlebte eine<br />

neunmonatig ausverkaufte Laufzeit in Paris – sass wie ein<br />

Dolch in ihrem Herzen. Wie glücklich wäre sie über ein einziges<br />

Wort der Anerkennung von jenem Mann gewesen, vor dessen<br />

Talent sie eine derart hohe Ach<strong>tu</strong>ng hatte.<br />

468


BEI SEINER ANKUNFT IN PARIS am 10. Dezember wurde<br />

B<strong>ob</strong> Anderson, der noch stark von seinem Leid gezeichnet<br />

war, sofort seelisch erwärmt durch die Aufführung jener<br />

Schauspielerin, die nach seinen Worten sein Stück mit ihrem<br />

Spiel, mit ihrer eigenen, ganz speziellen Anmut und ihrem Stil<br />

gesegnet hat. Nun pflegten sie gemeinsam ihre beiderseitigen<br />

Wunden: sie erzählte, was sich in Indien abspielte, und er<br />

klagte über seinen Verlust. Was Wunder <strong>als</strong>o, dass diese beiden<br />

Menschen nicht nur einen grossen Trost und festen Halt<br />

aneinander gefunden hatten, sondern dass sie während seines<br />

Aufenthalts in Paris auch zu hingebungsvoll Liebenden wurden,<br />

die sich gegenseitig um einander kümmerten und gemeinsam<br />

den Erfolg seines Stücks und ihres Spiels darin genossen.<br />

"Ein Kritiker", erinnerte sich Anderson, "liebte <strong>Ingrid</strong><br />

mehr <strong>als</strong> "Tee und Mitgefühl" und schrieb, '<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong><br />

rettet das Stück'." Schon bald danach fand der Autor selbst<br />

eine gute Gelegenheit, dieser Sicht der Dinge neuen Inhalt zu<br />

geben.<br />

Jeden Abend wohnte Anderson der Vorstellung bei oder<br />

kam hinter die Bühne, um <strong>Ingrid</strong> abzuholen und mit ihr zum<br />

Raphael zurückzukehren. Tagsüber pflegten sie gemeinsam<br />

die Ruhe, lunchten in einem Café im Bois de Boulogne, folgten<br />

Einladungen zu Parties, die zu <strong>Ingrid</strong>s Ehren gegeben wurden,<br />

kuschelten durch die kalten Dezemberlüfte und beschleunigten<br />

ihre Schritte, wenn sie die Rue de Rivoli entlang eilten. "Sie<br />

widmete mir wirklich ihre ganze Zeit", sinnierte Anderson vierzig<br />

Jahre später. "Und sie nahm sich nach der Vorstellung<br />

nichts vor, bevor sie wusste, dass für mich gesorgt war."<br />

Und so lief es diesen Winter. Einer von ihnen litt an der<br />

schrecklichen Wunde, die ihm der Tod eines geliebten Menschen<br />

verursacht hatte, und der andere hatte eben die fürchterliche<br />

Gewissheit erlangt, dass seine Ehe kaputt war. "Er war<br />

mir in jenen Tagen sehr nahe", schrieb <strong>Ingrid</strong> über diese wertvolle<br />

Episode in ihrer beider Leben. "Vielleicht brauchte auch<br />

ich jemanden. Ich wusste, dass es wohl für uns beide wichtig<br />

war." Wie Anderson bemerkt haben dürfte, liefen die Dinge<br />

gegenwärtig ähnlich wie in seinem Stück: ein sensibler Mann<br />

469


mit gebrochenem Herzen wurde von einer Frau geliebt, die<br />

sich ihrerseits in einem Zustand von hilfebedürftiger Konfusion<br />

befand, nachdem sie mit ihrem Ehemann gebrochen hatte. Auf<br />

der Bühne in Andersons klassicher, berührender Schlussszene<br />

näherte sich Laura Tom mit einer Feinfühligkeit, die Eingang in<br />

die Ikonographie des modernen Theaters gefunden hat. Im<br />

Leben boten sich <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> und R<strong>ob</strong>ert Anderson die<br />

Zärtlichkeit, das Mitgefühl und den Trost, die die scharfen<br />

Kanten ihres Kummers abs<strong>tu</strong>mpfen liessen. So liess sie ihn<br />

z.B. nicht S<strong>tu</strong>nden weinend über den Massen der Kondolenzpost<br />

verbringen, die er zu beantworten beabsichtigte. "Los,<br />

komm B<strong>ob</strong>", sagte sie und wischte die Briefe zur Seite. "Wir<br />

gehen raus und unternehmen etwas!"<br />

Oben auf ihrer Besorgungsliste stand ein Exemplar der<br />

neuen und hochgel<strong>ob</strong>ten Novelle "Geschichte einer Nonne" ,<br />

die B<strong>ob</strong> gelesen hatte und nun für <strong>Ingrid</strong> besorgen wollte. Basierend<br />

auf dem Lebensbericht einer Belgierin, die das insti<strong>tu</strong>tionelle<br />

religiöse Leben aufnahm und nach Jahren wieder verliess,<br />

war der Geschichte dieses Jahr ein grosser Erfolg beschieden.<br />

Die Filmrechte wurden an Warner Bros. verkauft,<br />

deren Produzent Henry Blanke den idealen Autor und die entsprechende<br />

Besetzung für das Projekt suchte. Phillis Anderson<br />

sah in B<strong>ob</strong> den richtigen Screenwriter, und Kay Brown hatte<br />

das Stück <strong>Ingrid</strong> empfohlen. Aber beim S<strong>tu</strong>dium der Rolle<br />

wurde <strong>Ingrid</strong> schnell klar, dass sie – ganz abgesehen von ihrer<br />

früheren Rolle <strong>als</strong> Schwester Benedict – für diesen Part eindeutig<br />

zu alt war; sie war aber dafür, dass B<strong>ob</strong> das Script<br />

übernehmen sollte. Der Rest, wie man so sagt, ist Geschichte:<br />

R<strong>ob</strong>ert Andersons Screenplay für Fred Zinnemanns Film "Geschichte<br />

einer Nonne" war ein Meisterwerk der Filmlitera<strong>tu</strong>r.<br />

Seine Hauptrolle war wohl auch Audrey Hepburns grösste<br />

Leis<strong>tu</strong>ng. Niemand freute sich über beider Erfolg mehr <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong>.<br />

DIE VIELFALT IHRER AKTIVITÄTEN diesen Winter diente,<br />

B<strong>ob</strong> war sich dessen wohl bewusst, nicht nur seiner Zer-<br />

470


streuung: sie lenkte auch sich selbst ab, denn im Tempo eines<br />

Rennfahrers hatte R<strong>ob</strong>erto innerhalb von Tagen seit seiner<br />

Ankunft in Indien einen waschechten Skandal entfacht. Tag<br />

und Nacht, an der Arbeit und beim Essen wurde er Hand in<br />

Hand mit einer exotischen Schönheit namens Sonali Senroy<br />

Das Goupta, fotographiert, ihres Zeichens Co-Writer am Film<br />

und Gattin seines indischen Produzenten. Die Presse stand<br />

sofort vor <strong>Ingrid</strong>s Tür, suchte sie am Theater, verfolgte sie<br />

telefonisch und sandte ihr Notizen. Konnte sie zu den Gerüchten<br />

um ihren Ehemann etwas sagen? Würdevoll mockierte sie<br />

sich über deren Kühnheit; privat vertraute sie B<strong>ob</strong> an, dass sie<br />

keineswegs überrascht sei. Gedankenverloren und ironisch sah<br />

sie die Si<strong>tu</strong>ation <strong>als</strong> Gegenstück zu ihrer eigenen vor sieben<br />

Jahren. Jetzt war es ihr Gatte, der sich in ein fremdes Land<br />

begab und eine Mitarbeiterin zur Geliebten nahm.<br />

Wie unglücklich und erniedrigt sie sich auch fühlte, <strong>Ingrid</strong><br />

blieb sich selbst treu. Weihnacht stand bevor, und bittersüss<br />

bemüssigten sie und B<strong>ob</strong> sich pauschaler Grosszügigkeit.<br />

Sie nahm sich alle Zeit und widmete sich mit enormer Sorgfalt<br />

dem Einkauf von Geschenken für ihn und ihre Kinder, die für<br />

die Feiertage von Rom hergebracht wurden, während er einen<br />

Baum in ihre Suite brachte und diesen dekorierte.<br />

Ganz im Gegensatz zum Fall von R<strong>ob</strong>erto und "Tee und<br />

Mitgefühl" , war B<strong>ob</strong> entzückt von den Neuigkeiten, die <strong>Ingrid</strong><br />

aus Amerika erreichten. "Anastasia" war mit Gala-Premieren<br />

in New York und Los Angeles angelaufen, und <strong>Ingrid</strong>s Kritiken<br />

und öffentliches L<strong>ob</strong> waren nichts weniger <strong>als</strong> brillant. Man<br />

hätte um zehn Jahre zurückgehen müssen, um ähnlich unbändige<br />

Zustimmung zu ihrem Spiel lesen zu können. Sie war<br />

"schlicht grossartig in einer prachtvoll gestalteten Darstellung,<br />

die eines Academy Awards würdig ist", schieb Bosley Crowther<br />

in der New York Times. Seine Kollegen standen seinem L<strong>ob</strong> in<br />

nichts nach. Indem sie die Wandlung einer Frau vom emotionalen<br />

Zusammenbruch über Zweifel zur Akzeptanz einer neuen<br />

Identität zeichnete – <strong>als</strong> die gefeierte "Entdeckung" Anastasia<br />

und <strong>als</strong> gewöhnliche, liebesfähige Frau – bot <strong>Ingrid</strong> den<br />

Kinogängern ein doppeltes Sinngebilde. Sie war eine gejagte,<br />

471


pathetische, in der Illusion verlorene Figur und dann erstrahlte<br />

sie neu in ihrer ganzen Würde.<br />

Es war vielleicht diese einst verlorene aber immer<br />

standhafte und schliesslich triumphierende Anastasia, wie <strong>Ingrid</strong><br />

<strong>Bergman</strong> selbst, die Publikum und Kritiker erkannten, <strong>als</strong><br />

sie sich Ende 1956 wieder und wieder in sie verliebten, denn<br />

Amerika liebt nichts so sehr wie die grosse Geste der Vergebung<br />

für einen Sünder, der – wie alle fühlten – genügend lange<br />

Zeit im Büssergewand zugebracht hat. Es war wirklich an<br />

der Zeit, ihr ihren Ruhm zurückzugeben.<br />

472<br />

Ca. 1955 - mit den drei Rossellini-Kindern in Italien unterwegs


1949/51 - Blick zurück aus "Europa51" auf die<br />

Set-Atmosphäre am Str<strong>ob</strong>oli<br />

473


474<br />

1957 - mit ihren vier Kindern in Santa Marinella


"....Ich danke Gott für dich und dafür, dass du meine Wege<br />

gekreuzt hast. Da bin ich nun – deine alte Dame, dein K<strong>ob</strong>old<br />

und dein Unglück – ich bin nun deine Bürde und werde dir<br />

zeitlebens am H<strong>als</strong> hängen....."<br />

1957 - 1964<br />

(<strong>Ingrid</strong> an Lars Schmidt, ihren dritten Ehemann)<br />

EINES SPÄTEREN ABENDS eilte <strong>Ingrid</strong> von einer Einkaufstour<br />

zu ihrer Suite im Raphael zurück. "Schau mal, was<br />

ich gekauft habe!" sagte sie aufgeregt zu B<strong>ob</strong> Anderson. Sie<br />

packte ein Päckchen von etwas mehr <strong>als</strong> der Grösse einer<br />

Postkarte aus, da kam ein Minia<strong>tu</strong>rgemälde von Auguste Renoir,<br />

dem Vater ihres kürzlichen Regisseurs, zum Vorschein.<br />

"Das", sagte sie mit Nachdruck zu B<strong>ob</strong>, "ist das erste Mal,<br />

dass ich über mein eigenes Geld verfügen konnte. Ich beschloss,<br />

mich selbst zu überraschen, ging aus und kaufte mir<br />

etwas!" Ihnen beiden war klar, dass dies den Beginn einer<br />

neuen Freiheit in ihrem Leben bedeutete, die sie allerdings<br />

teurer bezahlte <strong>als</strong> den Renoir. Was ihren Umgang mit ihrem<br />

eigenen Geld anbelangt, war klar, dass <strong>Ingrid</strong> bescheiden lebte.<br />

Sie musste auch: die Rossellini-Filme brachten kein Einkommen,<br />

und was sie von vor 1950 besass, ging für die<br />

Lindström-Scheidung flöten.<br />

Etwa gleichzeitig anfangs 1957 sassen <strong>Ingrid</strong> und B<strong>ob</strong><br />

nach einer "Tee und Mitgefühl"-Vorstellung in <strong>Ingrid</strong>s Suite im<br />

Raphael beim Abendessen, <strong>als</strong> ein Telefonanruf von Cary<br />

Grant aus Hollywood durchgestellt wurde. Er und Regisseur<br />

Stanley Donen hatten eben eine Produktionsgesellschaft gegründet<br />

und wollten, dass sich ihnen <strong>Ingrid</strong> für ihr erstes Pro-<br />

475


jekt anschliesse. Es handle sich um einen Film über Norman<br />

Krasnas Komödie von 1953 "Kind Sir", die am Broadway zwar<br />

durchgefallen war, der sie aber grosse Chancen <strong>als</strong> Film einräumten.<br />

<strong>Ingrid</strong> bat Cary um einen Moment Geduld, während<br />

sie einen Experten konsultiere.<br />

476<br />

"Kind Sir"? fragte sie zu B<strong>ob</strong> gewandt.<br />

"Eine Katastrophe!" flüsterte B<strong>ob</strong>, "<strong>tu</strong>'s nicht!"<br />

"Mein Berater hier sagt, es sei schrecklich" gab <strong>Ingrid</strong><br />

an Cary weiter, der nun fragte, <strong>ob</strong> sie bereit wäre, diesen<br />

Sommer einmal Donen zu treffen? Sie war.<br />

Eines andern Abends hatte "Tee und Mitgefühl" keine<br />

Vorstellung (eine Pariser-Tradition, damit alle aktiven Schauspieler<br />

Gelegenheit hatten, einmal ihre Kollegen in anderen<br />

Stücken spielen zu sehen), und <strong>Ingrid</strong> und B<strong>ob</strong> besuchten eine<br />

Vorstellung von "Katze auf dem heissen Blechdach". An einer<br />

Party hinter der Bühne stellte B<strong>ob</strong> <strong>Ingrid</strong> einem grossen, blonden,<br />

hübschen Mann vor – ein eleganter Kellner, dachte <strong>Ingrid</strong>,<br />

der durch die Vorstellung im Moment etwas verlegen<br />

wurde. Doch weit gefehlt, dieser "Kellner" war der europäische<br />

Produzent des Stücks, ein erfolgreicher Impresario namens<br />

Lars Schmidt – der zufälligerweise auch B<strong>ob</strong>s skandinavischer<br />

Agent war.<br />

Nicht lange danach und auf Empfehlung von Kay<br />

Brown, die fand, zwei Schweden in Paris müssten sich doch<br />

kennenlernen, rief Lars an und lud <strong>Ingrid</strong> zum Lunch ein. Sie<br />

bedauere, antwortete <strong>Ingrid</strong>, und erklärte (um die Sache nicht<br />

komplizierter zu machen), sie werde sich mit ihren Kindern ins<br />

Bois de Bouilogne begeben. Einige S<strong>tu</strong>nden später, nach dem<br />

Essen spazierten sie und B<strong>ob</strong> in den Park, wo ihnen niemand<br />

anderes <strong>als</strong> Lars Schmidt begegnete. "Ich sah ein Paar, das so<br />

verliebt aussah", erinnerte sich Lars, "und sich dann <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong><br />

und B<strong>ob</strong> entpuppte. Ich traf sie und sagte: 'Na <strong>als</strong>o, so spielt<br />

man mit den Kindern im Bois!' <strong>Ingrid</strong> errötete und bat mich,<br />

sie anzurufen. Wir dinierten an jenem Abend zusammen und


waren von da an nie mehr sehr lange voneinander getrennt."<br />

Vor seiner Rückkehr nach New York ging B<strong>ob</strong> zu Cartier's,<br />

wo er für <strong>Ingrid</strong> einen Silberteller kaufte. Darauf eingraviert<br />

war das Zitat eines Kritikers: "<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> rettete<br />

das Stück" – was er ergänzte mit: " – und einen Playwright".<br />

Bald bot sich ein guter Grund für einen Unterbruch von<br />

"Tee und Mitgefühl". <strong>Ingrid</strong> hatte den New York Film Critics<br />

Circle Award <strong>als</strong> beste Schauspielerin in "Anastasia" gewonnen,<br />

und Produzent Buddy Adler wünschte, sie möchte den<br />

Award persönlich in Manhatten abholen kommen. Schliesslich<br />

war es kalendarisch auch die Zeit, in der die Oscar-<br />

Nominationen fällig wurden, und die Publizität konnte weder<br />

dieser Chance noch dem Kassenerfolg von "Anastasia" etwas<br />

anhaben. Tatsächlich erhielt <strong>Ingrid</strong> später diesen Winter ihre<br />

fünfte Nomination <strong>als</strong> beste Schauspielerin.<br />

Verständlicherweise war sie über diese Rückkehr sehr<br />

nervös, nachdem sie sich darauf eingestellt hatte, vielleicht<br />

nie wieder nach Amerika zurückzukehren und ganz bestimmt<br />

der Presse den Grund für diese Reise nicht zu entschleiern.<br />

Aber ihr Vertrag enthielt Verpflich<strong>tu</strong>ngen für Publicity-Auftritte<br />

für "Anastasia", was sie eben honorierte. Twentieth Cen<strong>tu</strong>ry-<br />

Fox entschädigte Madame Popesco für die Schliessung ihres<br />

Theaters während der einen Nacht, in der <strong>Ingrid</strong> abwesend<br />

war: sie würde sofort danach auf der Bühne des Théâtre de<br />

Paris zurück sein. Und so schritt <strong>Ingrid</strong> am Samstag Morgen,<br />

19. Januar, die Treppe vom Flugzeug herunter, um eine Masse<br />

von Fans und einen Trupp Presseleute zu begrüssen, die sie<br />

am Idlewild Airport in New York erwarteten.<br />

Das war ihr erster Besuch in Amerika seit ihrer Abreise<br />

vor acht Jahren, und jeder Moment ihres Tages bis hin zur<br />

Abreise am Sonntag Abend war von Fox' Werbeteam (das ihr<br />

drei S<strong>tu</strong>nden für den Besuch einer Samstags-Theatermatinée<br />

zugestand) verplant. In erster Linie war eine Pressekonferenz<br />

am Flughafen vorgesehen – ein Anlass, den <strong>Ingrid</strong> mit erstaunlicher<br />

Ruhe und gutem Humor hinter sich brachte. Die<br />

Journalisten waren nicht scheu: Bereute sie etwas in ihrem<br />

477


Leben? Wenn sie nochm<strong>als</strong> von vorne beginnen könnte, was<br />

würde sie anders machen? Was sie von sich selbst halte?<br />

"Ich hatte ein wundervolles Leben", sagte sie ruhig und<br />

lächelte die Reporter der Reihe nach an. "Ich habe nie bereut,<br />

was ich tat. Ich bereue, was ich nicht tat. Mein Leben war<br />

reich und sehr interessant. Mein Leben lang tat ich, was ich<br />

<strong>tu</strong>n wollte, oft auch sehr spontan. Nun, mir war Mut gegeben,<br />

eine gewisse Abenteuerlust und auch etwas Humor...Es war<br />

sehr hart in jenen Tagen (1949 und 1950), aber die Zeit heilt<br />

alle Wunden. Ich denke, niemand hat das Recht, sich in dein<br />

Privatleben einzumischen, aber sie <strong>tu</strong>n das eben." Sie ging<br />

nicht in die Falle, und für jeden, der ihr literarisches Vorleben<br />

kannte, mochte es den Anschein haben, <strong>als</strong> hätte sie eine weitere<br />

Seite aus Lena Geyer aufgeschlagen, die sagte: "Ich bedaure<br />

nichts. Ich fühle alles – aber ich muss nach vorn schauen!"<br />

An diesem Nachmittag wurde sie unbemerkt durch den<br />

hintern Bühneneingang ins Mark Hellinger-Theater geschmuggelt,<br />

wo "My Fair Lady" gespielt wurde. Ein Raunen ging durch<br />

das Publikum, und nach dem letzten Vorhang erhielt <strong>Ingrid</strong><br />

eine stehende Ovation. Von da gings zum Roxy-Theater, wo<br />

ihr von Joan Crawford ein Award des LOOK-Magazins für<br />

"Anastasia" überreicht wurde. Am selben Abend nahm sie an<br />

einem Dinner-Empfang im Sardi's, dem legendären Theater-<br />

Restaurant, wo sie von Steve Allen für's Fernsehen interviewt<br />

wurde, den Film Critics Award entgegen. Nachdem sie am<br />

Sonntag Morgen verschiedene Interviews auf Schwedisch,<br />

Deutsch, Italienisch und Französisch gegeben hatte, bereitete<br />

sie sich auf die Abreise vor, w<strong>ob</strong>ei sie das Herz der Stadt in<br />

der Tasche und sich ihr Anrecht auf das Land gesichert hatte.<br />

"Niemand könnte sich mehr <strong>als</strong> ich über Miss <strong>Bergman</strong>s<br />

Comeback freuen", sagte Ex-Senator Edwin C. Johnson, der<br />

die Nation vor sieben Jahren aufforderte, <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> zu<br />

verbieten, je wieder einen Fuss in dieses Land zu setzen.<br />

478


DIESE DETAILS über <strong>Ingrid</strong>s Tour-Programm wären<br />

nicht von Belang, ausser im Zusammenhang mit einem hässlichen<br />

Gerücht, das seit einem Jahrzehnt kursierte – nämlich<br />

dass <strong>Ingrid</strong> sich weigerte, Pia zu treffen, die jetzt S<strong>tu</strong>dentin an<br />

der Universität von Colorado war.<br />

<strong>Ingrid</strong> fühlte genau, dass wenn sie ihre Tochter nach<br />

New York geholt hätte, die Presse sie bei ihrer Ankunft beide<br />

überwältigt hätte und sie (weniger Pia) wohl die Fassung verloren<br />

hätte. Sie wäre glücklich gewesen, während dieses<br />

dreissigstündigen Aufenhalts einige Momente mit ihrer Tochter<br />

allein zu sein, was von den Journalisten unweigerlich <strong>als</strong><br />

trivial oder aber <strong>als</strong> Zeichen des Bruchs zwischen ihnen misinterpretiert<br />

worden wäre. <strong>Ingrid</strong> und Pia hatten einen telefonischen<br />

Kontakt, der aber den sechsjährigen Graben nicht gross<br />

zu überbrücken vermochte.<br />

AUCH FÜR ROBERT ANDERSON, der sich inzwischen<br />

hoffnungslos in sie verliebt hatte, fand <strong>Ingrid</strong> privat keine Zeit<br />

mehr. Sie trafen sich, allerdings nur kurz, an einer Party bei<br />

Irene Selznick vor dem Award-Dinner. In einem Brief, den sie<br />

bei ihrer Abreise von New York auf einer Seite eines kleinen<br />

Taschennotizbuchs geschrieben hatte und der dann später in<br />

Paris spediert wurde, erklärte sie ihre Gefühle über ihre Beziehung,<br />

warum sie ihn veranlasste, sein Leben wieder in die<br />

Hand zu nehmen und warum sie glaubte, dass ein gewisser<br />

Realismus – wie hart das nun auch tönen mochte – den weiteren<br />

Verlauf ihrer Leben bestimmen sollte.<br />

"Lieber B<strong>ob</strong>,<br />

Ich muss dir jetzt schreiben! Das Flugzeug hat eben<br />

abgeh<strong>ob</strong>en. Ich heulte. Ich habe mein Gesicht zum<br />

Fenster gedreht, damit man es nicht sehen konnte. Ich<br />

bin so müde, B<strong>ob</strong>, aber ich war auch sehr gerührt von<br />

den vielen Leuten, die zum Abschied herkamen und<br />

winkten und in der Kälte ausharrten, bis wir starteten.<br />

Es gibt so vieles, wofür ich dankbar bin. Ich musste<br />

479


480<br />

Fernsehen, Radio und Fotos hinter mich bringen, fast<br />

so schlimm, wie dam<strong>als</strong>, <strong>als</strong> ich hier ankam. Ich war<br />

drauf und dran, zusammenzubrechen und vor ihnen allen<br />

loszuheulen.<br />

Es war zuviel. Ich hielt es daher für besser, dass du<br />

nicht zum Flughafen kommst. Du hast mich so oft gefragt<br />

(wann du zu mir nach Paris zurückkommen könnest),<br />

und ich sagte immer: "Warte". Es ist nicht so,<br />

dass ich das nicht möchte. Aber ich möchte, dass du<br />

dich selbst wieder auffängst. Ich kann dir dabei nicht<br />

helfen. Gerade jetzt musst du es selbst durchstehen.<br />

Wieder in Paris zu sein, würde bedeuten, dich bei einer<br />

andern Person zu verstecken. Du weißt, dass es am<br />

Ende für dich nur schlimmer würde. Es wird immer eine<br />

Zeit kommen, wo du mit der Einsamkeit fertig werden<br />

musst. Ich werde morgen an dich denken, wenn sich<br />

der Vorhang hebt und ich Auge in Auge mit dem Publikum<br />

stehe.<br />

Schlaf wohl<br />

<strong>Ingrid</strong>"<br />

Anderson war gerührt und dankbar für ihre Aufrichtigkeit.<br />

Ja, er hatte sich in sie verliebt. Aber das geschah sehr<br />

schnell, und wie tief die Anhänglichkeit und echt die gegenseitige<br />

Zuneigung auch war, sie war die Folge eines kritischen<br />

Moments, einer tiefgründigen Notlage in ihrer beider Leben.<br />

Sie hätte die Affäre leicht noch weiterziehen können, doch am<br />

Ende wäre sie nach wie vor beides gewesen: Frau Rossellini<br />

und <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>, eine Frau deren Leben sich einmal mehr<br />

privat und beruflich dramatisch veränderte. Ein Leben mit ihr<br />

hätte für Anderson das geographische Chaos und die Desorientierung<br />

bedeutet, denn er war eine wichtige Stimme im<br />

amerikanischen Theaterleben und stand für bedeutende Drehbuchaufträge<br />

unter Vertrag.<br />

Ohne ihr gemeinsames Leben konnte sich sein Talent<br />

entfalten und erweitern; hätten sie aber ihre Schicksale miteinander<br />

verbunden – na ja, wenigstens sie hätte Drachen ge-


sehen, und zwar zu Recht. Er war noch immer ein trauernder<br />

Witwer, und es war nicht die Zeit, Verpflich<strong>tu</strong>ngen einzugehen.<br />

Letzten Endes waren <strong>Ingrid</strong> und B<strong>ob</strong> zwei gute und anständige<br />

Menschen, die sich um einander kümmerten, und sie<br />

wollte, dass sie ihre gegenseitige Liebe jenseits jeder Leidenschaft<br />

in dauernder Freundschaft weiterlebten. Dass das möglich<br />

war, bezeugt ihrer beider Reife, ihre Würde und den tiefen,<br />

liebevollen Respekt, den sie immer für einander hatten.<br />

INGRID KEHRTE ZURÜCK zu ihrem anstrengenden Bühnen-Pensum<br />

mit "Tee und Mitgefühl", einer Routine, die sie bis<br />

zum Sommer 1957 beschäftigte. Sehr bald schon rief Lars<br />

Schmidt an.<br />

Lars Schmidt, am 11. Juni 1917 geboren, war der Sohn<br />

von Hugo Schmidt, einem Offizier der schwedischen Armee,<br />

und seiner Frau Sigrid. Ursprünglich hatte sich Lars auf eine<br />

Karriere im Schiffbaugeschäft vorbereitet, aber er fühlte sich<br />

immer zum Theater hingezogen und begann 1941 mit der Produktion<br />

von Bühnenstücken, meistens in Göteborg und später<br />

auch anderswo in Schweden und auf dem Kontinent, wo er<br />

Werke von Arthur Miller und Tennessee Williams und vielen<br />

andern vorstellte. 1954 zog er nach Paris und etablierte sich<br />

später <strong>als</strong> massgebender Produzent mit dem Erfolgsstück "Katze<br />

auf dem heissen Blechdach". 1957 verhandelte er um die<br />

Rechte an "My Fair Lady". Intelligent, scharfsinnig, gewitzt und<br />

unaffektiert charmant wie er war, hatte er weltweit gute<br />

Freunde und Bewunderer. Eine frühere Ehe wurde geschieden,<br />

und er hatte die Tragödie des Unfalltods seines einzigen Kindes<br />

zu verkraften. Dieses Frühjahr nun genossen <strong>Ingrid</strong> und Lars<br />

ihre Gesellschaft enorm – aber für den Moment war es für <strong>Ingrid</strong><br />

nicht mehr <strong>als</strong> Freundschaft.<br />

Dieses Verhältnis wurde am 27. März sehr augenfällig,<br />

<strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> ihren zweiten Oscar <strong>als</strong> beste Darstellerin erhielt,<br />

den Cary Grant in ihrem Namen entgegennahm: "Liebe <strong>Ingrid</strong>,<br />

wenn du mich jetzt hören kannst oder diese Fernseh-<br />

Aufzeichnung später einmal siehst, möchte ich, dass du weißt,<br />

481


dass alle andern Nominierten und alle, mit welchen du in<br />

"Anastasia" zusammengearbeitet hast, und Hitch, und Leo Mc-<br />

Carey und wirklich alle, die heute Abend hier versammelt sind,<br />

dir ihre Glückwünsche und Liebe und Bewunderung und alle<br />

guten Gedanken schicken." Zwei Tage später antwortete <strong>Ingrid</strong><br />

Cary:<br />

482<br />

"Ich erhielt die Mitteilung über den Award heute um<br />

sechs Uhr früh. Ich fragte am Telefon, "Ich habe ihn erhalten?".<br />

Die Antwort war "Ja", und ich schlief wieder<br />

ein. Wohl eine etwas gleichgültige Art, einen Oscar entgegenzunehmen...Einige<br />

S<strong>tu</strong>nden später, <strong>als</strong> ich in der<br />

Badewanne sass, stürmte R<strong>ob</strong>ertino mit dem tragbaren<br />

Radio herein, ich hörte meinen Namen und hörte dich<br />

sagen, "Wenn du mich jetzt hören kannst...", und ich<br />

sagte "Hier bin ich, Cary, im Bad!". Das war der Moment,<br />

in dem ich den Oscar wirklich erhielt und ich<br />

spürte, wie mir Tränen in die Augen traten...Ich erhielt<br />

ihn im Bad. Was für ein Ort, einen Oscar entgegenzunehmen."<br />

Zu dieser Zeit verbrachten Lars und <strong>Ingrid</strong> mehr und<br />

mehr Zeit zusammen, und er lernte sie <strong>als</strong> eine bemerkenswert<br />

aufrichtige Person kennen, die ungeachtet ihrer Pr<strong>ob</strong>leme<br />

eine bewundernswerte Leidenschaft für das Leben und die Arbeit<br />

bewahrt hatte. Zu Beginn ihres gemeinsamen Lebens hatte<br />

Lars den Eindruck, dass die physische und emotionale Verbindung<br />

zu <strong>Ingrid</strong> "auf rückhaltloser Preisgabe und grenzenloser<br />

Grosszügigkeit ihrerseits beruhte. Ich gab ihr die Sicherheit,<br />

die ihr fehlte, und sie gab mir die Leidenschaft und das<br />

Vertrauen zur Vollendung der Gemeinschaft."<br />

Sie waren sich nach ihren beiderseitig zerbrochenen Beziehungen<br />

begegnet – sie nach zwei fallierten Ehen, er nach<br />

einer solchen und dem Tod seines Sohnes. Und trotzdem ihre<br />

ständigen Begleiter während der beiden ersten Jahre ihres gemeinsamen<br />

Lebens Anwälte in Rom, Paris, London und Stockholm<br />

(i.S. Rossellini-Scheidung) waren, war <strong>Ingrid</strong> immer für


Lars da – und verliess sich ihrerseits mehr auf ihn <strong>als</strong> je zuvor<br />

auf Petter und R<strong>ob</strong>erto.<br />

Aber nicht alles lief in diesem Frühjahr 1957 so pr<strong>ob</strong>lemlos.<br />

Mitten in der Nacht des 17. Mai erhielt <strong>Ingrid</strong> in ihrer<br />

Suite im Raphael einen Anruf aus Bombay (Mumbay), Indien.<br />

R<strong>ob</strong>erto warnte sie, dass ein Skandal im Entstehen sei, von<br />

dem sie aber kein Wort glauben solle – was natürlich den genau<br />

gegenteiligen Effekt hatte. Zwei Tage danach platzte die<br />

Presse mit der Geschichte heraus über die Affäre des einundfünfzigjährigen<br />

Rossellini mit der siebenundzwanzigjährigen<br />

Sonali Das Gupta, die zwei Kinder hatte. <strong>Ingrid</strong> wischte die<br />

Fragen der Reporter mit einer Handbewegung und einem verharmlosenden<br />

Lächeln beiseite, doch die Vorstellung konnte<br />

nicht überzeugen. Aus Indien waren während der folgenden<br />

Monate einige halbherzige Dementi zu vernehmen.<br />

DIESEN SOMMER ERLEBTE INGRID eine hochwillkommene<br />

Ablenkung von ihren Gedanken an die Ehekrise, respektive<br />

immer wahrscheinlicher: ihre bevorstehende Trennung.<br />

Am 8. Juli kam Pia nach einem Besuch mit ihrem Vater in<br />

Schweden alleine in Paris an. Die erste Begegnung von Mutter<br />

und Tochter nach den paar schwierigen Tagen in London vor<br />

sechs Jahren war zunächst etwas unangenehm; <strong>Ingrid</strong> war<br />

ausserordentlich erschöpft, weil sie tags zuvor H<strong>als</strong> über Kopf<br />

nach Paris zurückkehren musste, nachdem die fünfjährige Isabella<br />

einer Blinddarm-Notoperation unterzogen werden musste.<br />

Pia war von einem schnippischen Mädchen von zwölf zu<br />

einer sehr attraktiven jungen Frau von 18 Jahren herangewachsen.<br />

Sie hatten sich viel zu erzählen, aber ihr Treffen in<br />

Paris wurde durch die Paparazzi, die sie wie die Fliegen umschwärmten,<br />

nicht gerade erleichtert. <strong>Ingrid</strong> fürchtete, dies<br />

könne Pia auf unerträgliche Art belasten, aber sie hatte nicht<br />

berücksichtigt, dass ihre Tochter Kraft und Zähigkeit von ihr<br />

geerbt hatte.<br />

"Ich erlebte dieses Treffen in Paris und den ganzen<br />

Rummel <strong>als</strong> sehr aufregend", sagte Pia Jahre später. "Hunderte<br />

483


und aberhunderte von Menschen waren am Flughafen, um<br />

meine Mutter und mich zu sehen. Ich meine, es war wirklich<br />

eine Mischung aus Aufregung und vermutlich auch Verlegenheit<br />

und Missbehagen." Einige Tage später begaben sie sich<br />

nach Santa Marinella, wo Pia den Sommer mit R<strong>ob</strong>ertino, Isabella<br />

und <strong>Ingrid</strong> verbrachte. "Manchmal dachte ich, das sei<br />

doch lächerlich", fügte Pia bei. "Was soll ich hier? Was würde<br />

mein Vater dazu sagen? Sicher hätte er keine Freude daran –<br />

er muss gedacht haben, es sei für mich schrecklich gewesen,<br />

nach Italien zu kommen und mit diesen drei Kindern zu leben.<br />

Trotzdem, ich tat es und dies manchmal mit einem sehr speziellen<br />

Gefühl."<br />

Alle gaben sich eine enorme Mühe in diesem Sommer,<br />

aber die lockere und herzliche Verbundenheit zwischen <strong>Ingrid</strong><br />

und Pia, wie sie von der Presse geflissentlich verbreitet wurde,<br />

war leider eine weitere Illusion. Pia stellte sich <strong>als</strong> geschickte<br />

und flinke Helferin an, lernte mit erstaunlicher Leichtigkeit Italienisch,<br />

akzeptierte, dass sie Mamas Aufmerksamkeit mit ihren<br />

Halbgeschwistern teilen musste und bewies eine Reife, die<br />

ihre Jahre bei weitem übertraf. "Vermutlich suchte ich eine<br />

Familie", sagte Pia später, "und im wahrsten Sinne fand ich<br />

erstm<strong>als</strong> eine in jenem Sommer." Aber die Sensibilität beider,<br />

von Mutter und Tochter, gestaltete ihr Wiedersehen so delikat,<br />

wie sie beide voll Sehnsucht und unausgereifter Liebe füreinander<br />

waren.<br />

Am 18. August kehrte Pia in ihr College in Amerika zurück,<br />

und wenige Tage nachdem sie ihr am Flughafen zum Abschied<br />

zugewinkt hatte, kehrte <strong>Ingrid</strong> zurück um einen andern<br />

Reisenden zu treffen – Regisseur Stanley Donen, der herkam,<br />

um sie dafür zu gewinnen, mit Cary Grant in einem Film Namens<br />

"Kind Sir" aufzutreten. Aber er hatte keine schwierige<br />

Aufgabe. "Ich will es Ihnen leicht machen", sagte <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> sie<br />

im Rossellini-Apartment ankamen. "Ich werde den Film machen.<br />

Ich habe einen Artikel über Sie gelesen, wonach Sie sehr<br />

talentiert seien ...und auch Cary will offenbar mit Ihnen arbeiten.<br />

Das genügt mir. Aber, Bitte, würden Sie mir sagen, worum<br />

es in diesem Film eigentlich geht?"<br />

484


Das war einfach – es ging um nichts weiter <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong><br />

<strong>Bergman</strong> und Cary Grant, die in Technicolor betörend aussehen.<br />

Natürlich äusserte Donen nichts dergleichen. Die Geschichte<br />

handelt von einem Mann, der um Junggeselle zu bleiben,<br />

jeder Frau – vor dem Beginn einer Affäre – erzählt, er sei<br />

verheiratet. Er begegnet dann einer erfolgreichen Schauspielerin<br />

(<strong>Ingrid</strong>), die ihn verblendet und, wie sie die Wahrheit über<br />

ihn erfährt, den Spiess umdreht. Am Schluss ist klar, dass sie<br />

heiraten werden. Viel Lärm um nichts, und die Zensoren hätten<br />

ihren Frieden. Nachdem Donen die Geschichte auf seine charmante<br />

Art umrissen hatte, bestätigte <strong>Ingrid</strong> ihre Bereitschaft,<br />

die Rolle der Anna Kalman zu übernehmen.<br />

Was sie bei dieser schnellen Zustimmung verschwiegen<br />

hatte, war, dass sie dringend Geld brauchte. Steuerplanung<br />

war ihr aus ihren Lindström-Rossellini-Jahren überhaupt kein<br />

Begriff, doch plötzlich musste sie erkennen, dass die französischen<br />

Behörden ihre Theatergagen mit massiven Forderungen<br />

belegten und dass sich auch Italien ein Anrecht auf Teile davon<br />

sicherte. R<strong>ob</strong>erto war in Indien praktisch so arm wie ein Bettler<br />

und lieferte dieses Jahr nichts weiter <strong>als</strong> Liebesgrüsse an seine<br />

Kinder; seiner Frau sandte er einfach mehr Rechnungen, die<br />

sie zu begleichen hatte. <strong>Ingrid</strong> sollte für den Film $ 125'000<br />

erhalten und weil sie <strong>als</strong> Ausländerin galt, nahm die amerikanische<br />

Produktionsgesellschaft auch keinen Steuerrückbehalt vor<br />

– aber Frankreich und Italien machten happige Forderungen<br />

geltend. Während der nächsten Jahre hatte sich <strong>Ingrid</strong> selbst<br />

auf ein ausgewogenes Budget festgelegt, und bis 1961 gelang<br />

es ihr, auf einem Schweizer Bankkonto mehrere hunderttausend<br />

Dollar zurückzulegen.<br />

Was den Titel von Donens Film anbelangt – nun, "Kind<br />

Sir" war am Broadway ein verheerender Misserfolg und wurde<br />

daher <strong>als</strong> Titel aufgegeben, und logischerweise mussten sie<br />

(nachdem <strong>Ingrid</strong> unterzeichnet hatte) auch die Vorschläge<br />

'Mister and Mistress' oder 'As Good as Married' oder 'They're<br />

not Married' fallenlassen. Kurz bevor die Dreharbeiten diesen<br />

Herbst in London begannen, wurde der Titel dann definitiv auf<br />

"Indiskret" festgelegt.<br />

485


Für diese Nachricht hatte <strong>Ingrid</strong> nur ein müdes Lächeln<br />

übrig, denn sie widerspiegelte fast genau die Si<strong>tu</strong>ation ihrer<br />

eigenen Vergangenheit – und der ak<strong>tu</strong>ellen ihres Gatten. Ihm<br />

war noch nicht bewusst, wie einfach er die Trennung von ihr<br />

haben könnte, denn sosehr sie den Gedanken an eine Kampfscheidung<br />

um die Kinder und die damit verbundene neue Negativpropaganda<br />

hasste, war sie doch entschlossen, einen<br />

Strich unter diese Ehe zu ziehen. Die Bestätigung für diese<br />

Entscheidung erhielt sie am 1. Okt<strong>ob</strong>er, <strong>als</strong> sie die Tür zu ihrem<br />

Appartement im Raphael öffnete und niemand anderes <strong>als</strong><br />

Sonali Das Gupta, braunhäutig, exotisch und schön, ihr eine<br />

Hand hinstreckte, während sie mit der andern ein Baby trug.<br />

Blitzartig kalkulierte <strong>Ingrid</strong> die Zeit, seit welcher ihr Mann abwesend<br />

war und erhielt von Sonali aber im nächsten Moment<br />

die Bestätigung: es war nicht R<strong>ob</strong>ertos Kind. Sonali war jetzt<br />

aber von R<strong>ob</strong>erto schwanger und ein anderes Kind hatte sie<br />

noch in Indien zurückgelassen.<br />

So befand sich <strong>Ingrid</strong> nun in einer ähnlichen Si<strong>tu</strong>ation<br />

wie Anna Magnani vor acht Jahren. Jetzt war sie die Frau, die<br />

von R<strong>ob</strong>erto für eine andere verlassen wurde; und da war nun<br />

Sonali – "Ist das nicht seltsam", sagte <strong>Ingrid</strong> später, "dass sie<br />

ein Kind zurückgelassen hat, genau wie ich?" Über das Treffen<br />

mit Sonali ist nichts genaues bekannt, ausser dass sie erklärte,<br />

ihren geliebten R<strong>ob</strong>erto heiraten zu wollen und <strong>Ingrid</strong> ihr versprach,<br />

ihr diesbezüglich keine Steine in den Weg zu legen.<br />

Fünf Tage danach traf R<strong>ob</strong>erto in Paris ein, zehn Monate<br />

nachdem er <strong>Ingrid</strong>s Pariser Premiere fluchtartig verlassen hatte.<br />

Für die Fotographen mimten sie ein liebevolles Wiedersehen<br />

und begaben sich dann unverzüglich zum Raphael, um<br />

ihre Trennung zu besprechen. Mit seiner Frage nach dem Stück<br />

konnte er einmal mehr nicht punkten: "Machst du diesen Mist<br />

immer noch?"<br />

Am 7. November unterzeichneten sie in Rom eine Trennungs-Vereinbarung.<br />

Vorderhand hatte <strong>Ingrid</strong> das Sorgerecht<br />

für die Kinder, aber R<strong>ob</strong>erto hatte das uneingeschränkte Besuchsrecht<br />

erhalten. Dagegen hatte er keinerlei Verfü-<br />

486


gungrecht über den in Indien vollendeten Film, denn sein<br />

Schuldenberg war dort inzwischen derart angewachsen, dass<br />

die Regierung das Negativ beschlagnahmte und dessen Ausfuhr<br />

aus Indien verbot. Ohne einen Moment lang zu zögern<br />

unternahm <strong>Ingrid</strong> eine Nachtreise nach London, suchte Premierminister<br />

Nehru auf (der dort seine im Exil lebende<br />

Schwester besuchte) und bezirzte diesen zugunsten der Kunst<br />

ihres Mannes. Innerhalb von 24 S<strong>tu</strong>nden wurde der Film für<br />

R<strong>ob</strong>erto freigegeben.<br />

NUN BEGANN EINE NEUE PHASE von juristischem Hick-<br />

Hack zur Scheidung der <strong>Bergman</strong>-Rossellini-Ehe. Die Trennung<br />

war ja nur eine vorübergehende Regelung, doch jetzt kamen<br />

die grossen Pr<strong>ob</strong>leme daher.<br />

Erstens war 1957 in Italien keine Scheidung möglich.<br />

Die einzig mögliche Lösung bestand in der Feststellung, dass in<br />

erster Linie ernste Gründe den gesetzesmässigen Vollzug der<br />

Ehe verunmöglichten und diese daher <strong>als</strong> anulliert erklärt wurde.<br />

Dass zweitens die Rossellini-Kinder italienische Staatsbürger<br />

waren. Drittens, dass <strong>Ingrid</strong> nichts unternahm, um R<strong>ob</strong>erto<br />

die Kinder vorzuenthalten oder deren Loyalität zu ihm zu untergraben.<br />

Viertens verbot er ihr, sich wieder zu verheiraten,<br />

ansonsten er sie <strong>als</strong> unfähige Mutter deklarieren und ihr alle<br />

Besuchsrechte an den Kindern absprechen würde. Fünftens,<br />

dass, wenn <strong>Ingrid</strong> sich nach einer im Ausland vollzogenen<br />

Scheidung wieder verheiraten würde, sie in Italien <strong>als</strong> Bigamistin<br />

gelten würde.<br />

Irgendwann, nach endlosen Diskussionen und viel akademischer<br />

Haarspalterei hatte <strong>Ingrid</strong>s gewiefter Anwalt, Ercole<br />

Graziadei, eine Lösung gefunden. <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> schwedische<br />

Staatsangehörige hatte ihre Scheidung in Schweden ebensowenig<br />

registiert, wie ihre Heirat mit Rossellini. So galt <strong>Ingrid</strong>,<br />

die Schwedin, nach einem alten italienischen Gesetz bei ihrer<br />

Heirat mit Rossellini noch immer <strong>als</strong> die Frau von Dr. Lindström<br />

– was sie vor den römischen Gerichten auch jetzt noch war.<br />

Und so begründete Graziadei seinen Scheidungsantrag für die<br />

487


<strong>Bergman</strong>-Rossellini-Ehe: sie hat gar nie existiert. Glücklicherweise<br />

hatte das italienische Gesetz auch für den würdigen Sta<strong>tu</strong>s<br />

der Kinder vorgesorgt: kein italienisches Kind ist unehelich,<br />

solange der Vater seine Vaterschaft anerkennt. Graziadeis<br />

Plaedoyer war so genial, um nicht zu sagen: einmalig, dass der<br />

Richter in Rom am Schluss der Verhandlung nur zustimmend<br />

mit dem Kopf nickte und sich zum Lunch begab. Damit war<br />

noch eine Hürde nicht beseitigt: Schweden aberkannte <strong>Ingrid</strong><br />

ihr Bürgerrecht, falls sie ihre italienische Ehe 1950 in einen<br />

ungeschiedenen Zustand umwandeln würde. Auch dieses Pr<strong>ob</strong>lem<br />

sorgte noch während des ganzen Jahres 1958 für Juristenfutter;<br />

dann wurde ihr schwedisches Bürgerrecht aber wieder<br />

neu anerkannt.<br />

488<br />

"Ich war nicht sehr traurig", kommentierte <strong>Ingrid</strong> später<br />

das Ende ihrer Ehe.<br />

Sicher, ich war unglücklich. Man glaubt an etwas, das<br />

sich dann <strong>als</strong> Fehler entpuppt. So ist das Leben eben.<br />

Aber ich habe eine Kraft, die nicht allen Frauen gegeben<br />

ist, und die kommt aus meiner Arbeit. Das kann mir<br />

niemand nehmen. Wäre ich eine Frau, die vollständig<br />

auf ihren Mann angewiesen ist, auf sein Geld, auf seinen<br />

Schutz, dann wäre das etwas ganz anderes.<br />

Sie hätte vielleicht noch beifügen können, dass sie während<br />

der Rossellini-Jahre viel Nützliches über das Leben, die<br />

Liebe und den Misserfolg gelernt hat – nicht zuletzt, wie sich<br />

von Zeit zu Zeit etwas zu entspannen und zu verhindern, dass<br />

man unter dem Druck des ständigen Arbeitsdrangs nicht zerbricht.<br />

Sie wurde durch die Schwierigkeiten auch stärker, wie<br />

verschiedene Freunde wie Kay Brown bemerkten: "Sie hatte<br />

nie das Gefühl, die Jahre mit R<strong>ob</strong>erto seien für sie ein Zeitverlust<br />

gewesen. Ich glaube, in wesentlichen Dingen ist sie gewachsen."<br />

UND SO TRAF INGRID AM 10. NOVEMBER für "Indiskret"<br />

in London ein, wo ihr Kummer durch die Anwesenheit


ihres alten Freundes Cary Grant in den Hintergrund verdrängt<br />

wurde. Er holte sie am Flughafen ab und schirmte sie vor den<br />

üblichen Paparazzi-Attacken ab. Drei Tage danach begannen<br />

die Dreharbeiten, die nur durch <strong>Ingrid</strong>s Festhalten an der Forderung,<br />

die Weihnachtstage zuhause bei den Kindern in Rom<br />

zu verbringen, unterbrochen wurden: "Sie fand, die Familie<br />

müsse an Weihnachten beisammen sein", sagte der Produktionspublizist<br />

Phil Gersdorf, "und sie nahm Mengen von Geschenken<br />

für die Kinder mit."<br />

<strong>Ingrid</strong> war, wie Signe Hasso über diese Jahre erzählte,<br />

die besorgtere Mutter <strong>als</strong> je zuvor – aber es war oft eine Sorge<br />

aus der Distanz, weshalb gewisse Leute behaupteten, diese<br />

Sorge habe auch ihre Grenzen. Ab 1958 war <strong>Ingrid</strong> einmal<br />

mehr der erfolgreiche Star, und sie fühlte, sie könnte eine hingebungsvolle<br />

Mutter sein, auch wenn es ihr nicht möglich war,<br />

ständig bei den Kindern zu sein. In ihrer Arbeit konnte sie ihre<br />

Persönlichkeit entfalten, weshalb sie glaubte, gerade dadurch<br />

ihren Kindern mehr bieten zu können – vor allem die alles<br />

überstrahlende Freude an der Arbeit und am Leben.<br />

Sie war bestimmt keine schlechte Mutter, und ihre Kinder<br />

versicherten vor und nach ihrem Tod immer wieder, sie<br />

hätten sich jederzeit auf ihre Mutterliebe verlassen können.<br />

Aber <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> – die unvergleichliche Frau, Freundin,<br />

Geliebte und Künstlerin – war auch <strong>als</strong> Mutter eine Kategorie<br />

für sich, mehr in der englischen oder französischen Tradition,<br />

<strong>als</strong> in der amerikanischen. "Es ist nicht meine besondere Freude,<br />

ständig zuhause und Mutter zu sein", bekannte sie in ihrer<br />

üblichen Offenheit. "Ich geniesse es, wenn ich nicht arbeite –<br />

und das ist oft!"<br />

Isabella sprach für sich und ihre Geschwister, <strong>als</strong> sie<br />

sagte: "Es tat mir nicht weh, dass meine Mutter nicht täglich<br />

bei mir war. Wir verbrachten im Sommer zwei Monate mit ihr,<br />

einen Monat um Weihnachten, zwei Wochen an Ostern – und<br />

sie sorgte dafür, monatlich wenigstens eine Woche bei uns zu<br />

sein. So sahen wir uns wirklich oft...und wenn Mama kam, hatte<br />

sie nichts anderes zu <strong>tu</strong>n, <strong>als</strong> sich um uns zu kümmern. Sie<br />

489


kam zur Schule, um zum Rechten zu sehen. Sie ging abends<br />

nie aus. Sie lud nicht einmal je Gesellschaft zum Nachtessen<br />

ein, um sich etwas Abwechslung von uns zu verschaffen. Sie<br />

gehörte nur uns."<br />

Zu <strong>Ingrid</strong>s Schuldgefühl für ihre ungewöhnliche Art der<br />

Mutterschaft, fügte Isabella bei:<br />

490<br />

"An uns vier Kindern fühlte sie sich nicht so sehr schuldig,<br />

weil sie eine Schauspielerin war. Es waren vielmehr<br />

die Streitereien mit Lindström und meinem Vater, die<br />

sie uns gerne erspart hätte – und dass der Streit so unglaublich<br />

heftig werden konnte. Sie fragte sich, was sie<br />

hätte <strong>tu</strong>n können, um die Wut der Väter zu beschwichtigen."<br />

Am 6. Februar 1958 war "Indiskret" vollendet und wurde<br />

zur Veröffentlichung im Juni vorbereitet. Trotz ihren praktisch<br />

täglichen Kontakten mit Anwälten und ihrer unverwüstlichen<br />

Geduld mit der zunehmend aufsässigen Presse war <strong>Ingrid</strong><br />

in diesem Film erstm<strong>als</strong> in ihrer englischsprachigen Karriere<br />

eine strahlende, hochperfekte Kommödiantin. Ihre subtilen<br />

Reaktionen, zeitlich fein auf Grants schickes Verhalten abgestimmt,<br />

boten dem Publikum neue Aspekte ihrer Schauspielkunst.<br />

"Wie kann er es wagen, mich zu lieben ohne verheiratet<br />

zu sein!" schrie sie, w<strong>ob</strong>ei dieser abgedroschene Spass nie<br />

amüsanter wirkte, <strong>als</strong> hier. Auch ihr Auftritt in den von Dior,<br />

Balmain und Lanvin eigens für sie entworfenen Kleidern war<br />

spektakulär.<br />

Eines von diesen trug sie an einem Abschiedsdinner,<br />

das Cary Grant zu ihren Ehren gab und an dem er ein hübsch<br />

verpacktes kleines Päckchen mit Geschenkkarte an ihren Platz<br />

legte. Wie sie es öffnete, erkannte sie sofort den Weinkellerschlüssel<br />

aus "Notorious", das Requisit, das er in der Hoffnung<br />

entwendet hatte, es werde ihm eine neue Tür in seiner Karriere<br />

öffnen. Nun, sagte er, der Talismann habe seinen Dienst in<br />

den vergangenen Jahren getan. Jetzt sollte er ihr gehören, und<br />

er verband es mit der liebevollen Hoffnung, der Schlüssel werde<br />

nun auch ihr ein verheissungsvolles Tor in ihrer Karriere


öffnen. <strong>Ingrid</strong> behielt den Schlüssel während einundzwanzig<br />

Jahren, bevor sie ihn an einen weiteren würdigen Empfänger<br />

weitergab.<br />

In gewissem Sinne war bereits eine Tür dabei, sich in<br />

<strong>Ingrid</strong>s Leben neu zu öffnen, und zwar nicht nur beruflich. Ihre<br />

Freundschaft zu Lars Schmidt wurde zusehends vertrauter und<br />

auch intimer. Sie bewunderte sein Selbstvertrauen, sein Verständnis<br />

für das Temperament eines Schauspielers und seinen<br />

Verzicht darauf, sie zu kontrollieren: schliesslich hatte er eine<br />

eigene herausfordernde Karriere zu bewältigen und unterstützte<br />

ausserdem <strong>Ingrid</strong>s Wunsch, die ihre weiterzuführen. Sie<br />

bemerkte, dass er ihre Gefühle kannte, noch bevor sie sie zum<br />

Ausdruck brachte und dass ihnen ein Blick genügte, um sich<br />

gedanklich zu verständigen. "Was ich an ihm auch mochte,<br />

war, dass wir uns in unserer Sprache über unsere schwedischen<br />

Landsleute amüsieren konnten", fügte <strong>Ingrid</strong> noch bei.<br />

"Übrigens war es auch ein grosses Vergnügen, die Presse zu<br />

überrumpeln. Da kamen sie, um über die arme, verlassene<br />

<strong>Ingrid</strong> zu schreiben – und dann tauchte ich mit Lars auf! Mit<br />

ihm werde ich nun mein drittes Leben beginnen."<br />

Lars seinerseits war nicht nur vom bildhübschen, begnadeten<br />

Filmstar entzückt, sondern auch von der warmherzigen,<br />

aufrichtigen Frau, die es verstand, den Mann den sie liebte,<br />

zu verwöhnen und zu verehren. "Ich bewundere ihre In<strong>tu</strong>ition,<br />

ihren Willen, ihre Kraft und ihren Humor", sagte er dam<strong>als</strong>.<br />

"Das Beste von allem: wir sprechen dieselbe Sprache."<br />

Als ihre Freundschaft zur Romanze wurde, begannen sie, ganz<br />

offen von Heirat zu sprechen – "s<strong>ob</strong>ald alle rechtlichen Voraussetzungen<br />

erfüllt sind", wie <strong>Ingrid</strong> sagte. Das war aber bis Dezember<br />

1958 nicht der Fall, denn wie Rossellini von <strong>Ingrid</strong>s<br />

Heiratsplänen hörte, machte er seine Drohung wahr, brandmarkte<br />

sie öffentlich <strong>als</strong> unfähige Mutter und focht um das<br />

vollständige Sorgerecht für ihre drei Kinder – was ihm das italienische<br />

Gericht auch gewährte und dem sich <strong>Ingrid</strong>, viel später,<br />

auch endgültig fügte, weil sie den Kindern eine öffentliche<br />

Schlammschlacht, wie Pia sie seinerzeit durchleben musste,<br />

ersparen wollte.<br />

491


Adler, Skouras und Co. bei Fox bedrängten nun Kay<br />

Brown mit Angeboten, <strong>Ingrid</strong>s Dienste für einige Filme zu gewinnen<br />

– und zwar zur bisher unerreichten Gage von $ 1 Million<br />

(was dasselbe S<strong>tu</strong>dio später Elizabeth Taylor für "Cleopatra"<br />

bezahlte). Zur allgemeinen Überraschung lehnte <strong>Ingrid</strong> das<br />

Angebot aber mit der Begründung ab, sie wolle nicht in den<br />

Sta<strong>tu</strong>s der Vertrags-Schauspielerin zurückkehren und dass,<br />

wenn es ihr mit individuellen Engagements gelinge, genügend<br />

Geld zur Deckung ihres Lebensbedarfs und zur Finanzierung<br />

einer guten Ausbildung ihrer Kinder zu verdienen, ihr das genüge.<br />

Ihr einziger Wunsch diesen Winter: "Ich will bei dir leben",<br />

schrieb sie Lars am 21 Januar, "und ich sehne mich nach<br />

Frieden und Ruhe und nach Arbeit, wenn sie mir Spass macht."<br />

War Petter Lindström der Finanz- und Vertrags-Produzent vom<br />

Dienst und R<strong>ob</strong>erto Rossellini der wandernde Geschichtenerzähler,<br />

der ihr Schicksal umschrieb, dann war Lars Schmidt<br />

eindeutig der Verleger, der endlich der Ordnung zum Durchbruch<br />

verhalf und dem Glanz auf dem Endprodukt ermöglichte,<br />

unbehindert weiterzustrahlen.<br />

Die Briefe, die sie Lars dieses Jahr schrieb, lassen eine<br />

leidenschaftliche Frau erkennen, nicht die nordischkühle, wie<br />

sie von der Presse oft dargestellt wird; tatsächlich erlebte sie<br />

mit zweiundvierzig das Entzücken einer jungen Braut. Am 13.<br />

Februar, unterwegs von London nach Rom, wo sie einige Advokaten-Termine<br />

wahrzunehmen hatte, schrieb <strong>Ingrid</strong>:<br />

492<br />

"Ich liebe dich mehr <strong>als</strong> alles auf Erden...ich denke an<br />

uns und all das Schöne, das wir mit Gottes Hilfe erleben<br />

dürfen...ich stelle mir vor, du seist hier, ich küsse<br />

dich...Mein Liebster, ich danke dir für deine Liebe, vor<br />

allem aber für dein Verständnis. Noch sind es kaum<br />

eineinhalb S<strong>tu</strong>nden, seit wir uns trennten, und schon<br />

fehlst du mir. Es gab bisher nichts Besseres <strong>als</strong> uns<br />

zwei. Ich danke Gott für dich und dass du meine Wege<br />

gekreuzt hast. Da bin ich nun – deine alte Dame, dein<br />

K<strong>ob</strong>old und dein Unglück – ich bin nun deine Bürde und<br />

werde dir zeitlebens am H<strong>als</strong> hängen."


Bald danach reisten <strong>Ingrid</strong> und Lars für zwei Wochen<br />

nach Schweden, wo ihn mehrere geschäftliche Termine erwarteten.<br />

Dieses Jahr produzierte Lars einige Stücke in Europa,<br />

worunter "Das Tagebuch der Anne Frank" und "Twelve Angry<br />

Men" ; ausserdem bereitete er die Stockholmer-Premiere von<br />

"My Fair Lady" vor. Genau so wichtig war ihm aber, <strong>Ingrid</strong> seinen<br />

wertvollsten Besitz zu zeigen – die Zwei-Acre-Insel Dannholmen,<br />

einige Meilen vor der schwedischen Westküste gelegen,<br />

die er vor einigen Jahren gekauft hatte.<br />

Eine der Voraussetzungen für eine Ehe zwischen ihnen,<br />

machte Lars klar, sei <strong>Ingrid</strong>s Bereitschaft, die Sommerferien<br />

mit ihm hier zu verbringen. So kletterten sie in Fjällbacka, einem<br />

verschlafenen Fischerdorf, in ein kleines Boot und stiessen<br />

ab – Schatten ihrer ersten Überfahrt nach Stromboli – in<br />

Rich<strong>tu</strong>ng eines blanken Felsens in einem windgepeitschten Archipel<br />

in der Nordsee. Aber beim Näherkommen erkannte <strong>Ingrid</strong><br />

bald, dass kein Vergleich mit der Vulkaninsel angebracht<br />

war, wiewohl hier auch kein schwieriges Projekt auf sie wartete.<br />

Eine blau-weisse See donnerte endlos gegen die farbigen<br />

Felsen von Dannholmen, und den schneidenden Märzwinden<br />

zum Trotz hatte diese Na<strong>tu</strong>r eine Reinheit, die <strong>Ingrid</strong>s eigener<br />

geistiger Strenge gefiel – nicht Lars zuliebe, wie er bald erkannte,<br />

sondern weil die Insel ihren lange unterdrückten<br />

Wunsch nach gelegentlicher Einsamkeit, Ruhe und Einfachheit<br />

zu erfüllen versprach.<br />

Auf einer kleinen Anhöhe erh<strong>ob</strong> sich – einer einfachen<br />

Salzbüchse gleich – eine Hütte mit einer kleinen Küche, einem<br />

Schlafzimmer und einem gemütlichen Wohn-Ess-Raum. Eine<br />

spezielle Anlage bereitete Seewasser zu Trinkwasser auf, aber<br />

es gab da keine Elektrizität, weder Wasserlei<strong>tu</strong>ngen noch Telefon.<br />

Nach und nach richteten <strong>Ingrid</strong> und Lars modernen Komfort,<br />

ein Gäste- und ein Arbeitszimmer ein. "Und mit <strong>Ingrid</strong><br />

kam das Telefon, denn sie wollte mit ihren Kindern natürlich im<br />

Kontakt bleiben." Dennoch blieb Dannholmen eine antike, fast<br />

zeitlose kleine Welt für sich. <strong>Ingrid</strong> hatte kein Heim, das ihr<br />

mehr bedeutete, <strong>als</strong> dieser Ort, wo sie jene Stille und jenen<br />

Frieden fand, welche die zermürbenden Nebenfolgen ihrer Be-<br />

493


ühmtheit zu lindern vermochten. Gegen Ende ihres Lebens<br />

liebte sie es, den rauhen Felsen entlang zu klettern, wo sie<br />

eine glatte Granitplatte gefunden hatte, auf die sie sich mit<br />

ihrem Script oder einem Buch hinsetzte, ihre Texte lernte und<br />

am Wasser zu froher Heiterkeit zurückfand – wie zu ihrer Jugendzeit,<br />

<strong>als</strong> sie auf den Bänken am Strandvägen oder im<br />

Djurgården, später in Santa Monica, Malibu und Santa Marinella<br />

immer einen Ort der Besinnung fand.<br />

DIE ZEIT GAB IHREM HÜBSCHEN GESICHT charakteristische<br />

Züge um Mund und Augen, und die Kon<strong>tu</strong>ren ihres Antlitzes<br />

erschienen fortan gebräunter, markiger und dennoch<br />

strahlender. Selbst später, während ihrer vernichtenden<br />

Krankheit, hat sich dieses Leuchten erhalten.<br />

Anfangs März stellte Lars <strong>Ingrid</strong> seiner Familie und seinem<br />

alten Freund Baron Göran von Essen und seiner Frau Marianne<br />

vor. Alle waren sowohl von ihrer unaffektierten Art<br />

überrascht, wie auch von ihrem Auftritt nach einer Late-night-<br />

Party mit Mengen von Champagner, <strong>als</strong> sie (gemäss den von<br />

Essens) am nächsten Morgen wie eine frisch erblühte Rose<br />

erschien: der ausgesprochen 'feuchte Nachtbetrieb' und ihr<br />

Schlafmangel waren ihr überhaupt nicht anzusehen. "Das ist<br />

nicht gerecht!", sagte Marianne und wiederholte damit die Klage<br />

zahlloser anderer Frauen. Sogar die schwedische Presse, die<br />

Lars und <strong>Ingrid</strong> in Lars' Elternhaus belagerte, war neu gewonnen,<br />

vielleicht weil ihr neuer Partner ein Einheimischer war.<br />

Mitte März, unmittelbar nach einem Besuch bei den<br />

Kindern, kehrte <strong>Ingrid</strong> für einen neuen Film mit Fox-Produzent<br />

Buddy Adler nach London zurück – es handelte sich ausgerechnet<br />

um eine Frau, die hundert Kinder adoptiert. "Ich<br />

schwor, dass ich keine weiteren Heiligen oder Nonnen mehr<br />

spielen werde, und nun spiele ich eine Missionarin!", kommentierte<br />

sie die "Herberge zur sechsten Glückseligkeit", deren<br />

Dreharbeiten in London und in Wales (substi<strong>tu</strong>ierend für China)<br />

im März 1958 begannen. Der Film basierte auf der wahren Geschichte<br />

der Gladys Aylward, einer Haushälterin, die England<br />

494


verlässt, um in China missionarisch zu arbeiten, wo der Krieg<br />

mit Japan und soziale Missstände ihre humanitäre Arbeit aber<br />

nahezu verunmöglichen. Das Finale, in dem sie Massen von<br />

Kindern auf einer entbehrungsreichen Flucht über einen Gebirgszug<br />

in Sicherheit bringt, gräbt sich dem Betrachter durch<br />

den wiederholten Kinderchor des Liedes "This Old Man" ins<br />

Gedächtnis ein.<br />

Trotz "Anastasia" und der allgemeinen Sympathie zu<br />

<strong>Ingrid</strong> während des gegenwärtigen Rossellini-Debakels, waren<br />

Adler und seine Kollegen in Sorge darüber, <strong>Ingrid</strong> einer spezifischen<br />

Konfession zuzuordnen – sodass wir sie nie beim Religionsunterricht<br />

sehen oder gar beim Betreten einer Kapelle.<br />

Trotz den vielen Script-Unstimmigkeiten, auf die sie Adler und<br />

Regisseur Mark R<strong>ob</strong>son (der die meisten ihrer Vorschläge sofort<br />

übernahm) aufmerksam machte, gelang es ihr nicht, Klarheit<br />

darüber zu schaffen, was Miss Aylward eigentlich glaubte.<br />

Sie musste sogar sagen, "sie sei eine unakkreditierte Missionarin"<br />

und damit den Verdacht andeu<strong>tu</strong>ngsweise in den Raum<br />

stellen, sie sei eine Freiberuflerin ohne Credo, die ohne so etwas<br />

Störendes wie das Mysterium des Glaubens predige.<br />

So kam es, dass dieser etwas lahme Film (über zweieinhalb<br />

S<strong>tu</strong>nden in der Original-Version) erst am Schluss bei<br />

der Ret<strong>tu</strong>ng der chinesischen Kinder zu etwas Leben erwachte,<br />

einer langen Sequenz, die durch <strong>Ingrid</strong>s Weigerung, Herzlichkeit<br />

durch Gemeinplätze zu ersetzen, viel Ausdruckskraft erhielt.<br />

Im übrigen ist diese Herberge mit einer Besetzung von<br />

über Zweitausend Personen überfüllt und glich, wie ein Witzbold<br />

einmal sagte, nichts so sehr wie Cecil B. DeMilles Version<br />

von "Now I Lay Me Down to Sleep".<br />

Was immer auch seine Mängel waren, der Film "Die<br />

Herberge zur sechsten Glückseligkeit" konnte die Rehabilitation<br />

seiner Hauptdarstellerin nicht behindern, denn er fand Ende<br />

der 50er-Jahre grosse Beach<strong>tu</strong>ng <strong>als</strong> inspirierender Film – vielleicht<br />

teils auch vor dem Hintergrund des eskalierenden Kalten<br />

Krieges und dem internationalen Säbelrasseln, das bald überall<br />

zu hören war. Unter anderem spielte eben Deborah Kerr eine<br />

495


höchst beeindruckende Nonne in "Heaven Knows, Mr. Allison" ,<br />

Audrey Hepburn arbeitete an der "Geschichte einer Nonne"<br />

und "Ben Hur" war in Vorberei<strong>tu</strong>ng. Was <strong>Ingrid</strong> anbelangt, so<br />

war sie in der öffentlichen Gunst so rehabilitiert, dass ihr Akzent<br />

ebenso bereitwillig ignoriert wurde, wie ihr ehem<strong>als</strong><br />

schlechter Ruf: sie wurde glatt <strong>als</strong> British verkauft, wie ihr<br />

deutscher Co-Star Curd Jürgens <strong>als</strong> chinesischer Offizier und<br />

der Engländer R<strong>ob</strong>ert Donat <strong>als</strong> Mandarin.<br />

ABER DA STAND NOCH EINE ANDERE Wiederherstellung<br />

an, nachdem der Film diesen Sommer fertiggestellt war. Gemeinsam<br />

hatten <strong>Ingrid</strong> und Lars eine Liegenschaft im ländlichen<br />

Frankreich gefunden, ein dreihundert Jahre altes Gebäude,<br />

das geradewegs einem Märchenbuch entsprungen zu sein<br />

schien und dessen Renovation und Modernisierung sie nun zu<br />

überwachen hatten. Eine S<strong>tu</strong>nde von Paris entfernt und zwei<br />

Meilen ausserhalb des winzigen Dörfchens Choysel im Chevreuse-Tal<br />

gelegen, war es ein üppiges Anwesen mit einem reichen<br />

Bestand an alten Zedern, Zypressen, Pappeln, Nussbäumen<br />

und Tannen. Versteckt darin lag "La Grange aux Moines",<br />

die Mönchs-Scheune, ein Haus aus Bruchsteinmauern, mit<br />

Dachgauben und alten Ziegeln. Seit Jahren wünschte sich <strong>Ingrid</strong><br />

ein Stück französischen Boden wegen ihrer tiefen Beziehung<br />

zu Jeanne d'Arc. Nun hatte sie es – ein Ort zum Entspannen,<br />

nahe und doch fern vom Moloch Paris, ein Ort auch für<br />

ihre Kinder.<br />

AM SONNTAG MORGEN, 21. Dezember 1958, gaben<br />

sich <strong>Ingrid</strong> und Lars im Zivilstandsamt von Claxton Hall, London,<br />

in Anwesenheit einiger Freunde das Jawort. Dann begaben<br />

sie sich gemütlich hinüber zur schwedischen Kirche, wo sie<br />

den Segen empfingen, schlürften Champagner beim Lunch im<br />

Connaught Hotel und – noch bevor das Blitzgewitter sie blenden<br />

konnte – bestiegen sie ein Flugzeug nach Choysel. Die<br />

Frage ihrer Trennung oder Scheidung von R<strong>ob</strong>erto Rossellini<br />

konnte Graziadeis Gewieftheit zum Trotz noch nicht gelöst<br />

496


werden, aber dieser Präzedenzfall im englischen Gesetz – gepriesen<br />

sei sein ungeschriebenes, tolerantes Herz – betrachtete<br />

die Lindström-Scheidung <strong>als</strong> definitiv und die Rossellini-Ehe<br />

<strong>als</strong> ungültig, weil sie vor jener Scheidung geschlossen wurde.<br />

So waren Lars und <strong>Ingrid</strong> rechtmässig verheiratet.<br />

Monat für Monat während des ganzen Jahres 1959 setzte<br />

sich die Sorgerechts-Schlacht um die Kinder durch R<strong>ob</strong>ertos<br />

unverminderte Bitterkeit fort – uncharakteristisch, meinte <strong>Ingrid</strong>,<br />

denn die wahren Verlierer seien ja der Junge und die Mädchen.<br />

R<strong>ob</strong>erto focht weiter und wollte nicht zulassen, dass die<br />

Kinder Choysel oder Dannholmen besuchten, bevor ein italienisches<br />

Gericht möglicherweise einmal auf das Selbstbestimmungsrecht<br />

der Kinder erkannte – aber das würde noch Jahre<br />

dauern. "Ich komme vom warmherzigen Süden", sagte er einem<br />

Reporter giftig, "sie aber kommt vom frigiden Norden. Ich<br />

bin den Kindern die bessere Mutter, <strong>als</strong> sie." Und an <strong>Ingrid</strong><br />

schrieb er in einem Ton, der dem seines Vorgängers Lindström<br />

in nichts nachstand: "Mach bloss keine Fehler. Du musst sehr<br />

vorsichtig sein. Du begehst immer Fehler. Zu Beginn unserer<br />

gerichtlichen Auseinandersetzung konnte ich dafür sorgen,<br />

dass du die Kinder nach Belieben sehen konntest, aber jetzt<br />

machst du es sehr schwierig."<br />

Diese Art der Stellungnahme verschaffte ihm bei eben<br />

den Kindern, die er für allezeit behalten wollte, natürlich keine<br />

Sympathie. Auch von <strong>Ingrid</strong> erhielt er keine Anwort. "Er ist ein<br />

grosser Regisseur und der Vater von dreien meiner Kinder",<br />

antwortete sie einem Journalisten auf dessen Frage nach diesem<br />

Ausbruch. "Ich kann Hass und Rache nicht weiterziehen.<br />

Das sind Charakterzüge, die andern Menschen abgehen und in<br />

meinem eigenen Leben schon gar keinen Platz haben! Es mag<br />

ja auch sein, dass er meinetwegen eine schlimme Zeit hatte."<br />

"Zwei Jahre lang dauerte der Kampf um die Kinder noch<br />

an", sagte sie später, "und dann sah ich, dass meine Kinder<br />

beim Klingeln des Telefons sich versteiften und fragten: 'Ist<br />

das der Anwalt?' So gab ich eben auf, und sie zogen nach Italien.<br />

Seither haben wir Ruhe." Nun, vielleicht nicht ganz. Aber<br />

497


von den späten 1960er-Jahren an waren R<strong>ob</strong>erto und <strong>Ingrid</strong> –<br />

einzig dank ihrer Beharrlichkeit – doch fähig, sich in einer weniger<br />

explosiven (gelegentlich sogar herzlichen) Atmosphäre zu<br />

begegnen.<br />

Eine sogar sehr freundschaftliche Atmosphäre umgab<br />

<strong>Ingrid</strong> bei ihrer Ankunft in Los Angeles am 3. April. Es war ihre<br />

erste Rückkehr nach Hollywood seit zehn Jahren und einem<br />

Monat; sie und Lars unternahmen die Reise auf Einladung<br />

durch die Motion Pic<strong>tu</strong>re Academy. Es gab ein Wiedersehen mit<br />

Pia, die einen Tag schwänzte, um von Mills College in Oakland<br />

herzukommen; und dann gabs Parties bei Buddy Adler und<br />

Alfred Hitchcock, der <strong>Ingrid</strong> ganz besonders vermisst hatte.<br />

Am 6. April brachte Cary Grant <strong>Ingrid</strong> ins Pantages Theater,<br />

wo sie zur Übergabe des Awards für den besten Film (an die<br />

Produzenten von "Gigi") auftrat, durch eine lang andauernde<br />

stehende Ovation aber hingehalten wurde. "Es ist so herzerwärmend,<br />

auf diese Art begrüsst zu werden", sagte sie<br />

schliesslich – worauf der Applaus von Neuem losging, bevor sie<br />

beifügen konnte: "Ich fühle mich wieder zuhause. Ich bin so<br />

dankbar dafür."<br />

BIS IM HERBST WAR INGRIDS ZEIT durch die Renovation<br />

des Hauses in Frankreich, das endlose juristische Hick-<br />

Hack um die Kinder und die Rossellini-Ehe – wie auch durch<br />

die Suche, mit Lars' Hilfe, nach einem geeigneten Film- oder<br />

auch TV-Projekt, das sie erstm<strong>als</strong> dieses Jahr wieder angehen<br />

wollte, völlig ausgebucht. Ausserdem beschäftigte sie der Ankauf<br />

einiger Möbelstücke zur Möblierung einer kleinen Wohnung<br />

in Paris, die sie und Lars gleich neben seinem Büro an<br />

der Avenue Vélasquez, mit Blick über den Parc Monceau gemietet<br />

hatten. Als sie im August vierundvierzig wurde, freute<br />

sich <strong>Ingrid</strong>, jetzt für eine Charakterrolle in Betracht gezogen zu<br />

werden. So übernahm sie die Rolle der namenlosen Gouvernante<br />

in einer stark komprimierten TV-Version von Henry James'<br />

klassischer Novelle "The Turn of the Screw". Das Stück<br />

wurde am 20. Okt<strong>ob</strong>er von NBC ausgestrahlt, und <strong>Ingrid</strong> er-<br />

498


hielt für ihre Darstellung den Emmy (das amerikanische TV-<br />

Gegenstück zum Oscar) <strong>als</strong> beste dramatische Schauspielerin<br />

des Jahres.<br />

Diese Anerkennung fiel ihr nicht in den Schoss, denn<br />

James Costignans Script für eine neunzigminütige TV-Sendung<br />

(mit Zeit für Werbespots) gab der brillanten Zweideutigkeit des<br />

Origin<strong>als</strong>tücks vollkommen den Rest und wurde schlicht zu<br />

einem trägen und kraftlosen Märchen von zwei nicht sonderlich<br />

schrecklichen Geistern und zwei seltsamen Kindern. Aber <strong>Ingrid</strong>s<br />

Spiel war voll von nervöser Spannung und flatternder Aufregung<br />

– ein Stil, wie sie später zugab, der zur Hauptsache<br />

ihrer Unzufriedenheit mit dem jungen Regisseur John Frankenheimer<br />

zuzuschreiben war – "ein verrückter Kerl, einer der sich<br />

selbst nicht unter Kontrolle hatte." Seine im Kontrollraum herumgebellten<br />

Wutausbrüche liessen darüber keine Zweifel offen.<br />

"Wenn du mich anschreist, dann schreie ich zurück!" antwortete<br />

<strong>Ingrid</strong> ins Boom-Mikrofon.<br />

"Ich schreie nicht!" brüllte Frankenheimer im F<strong>als</strong>ett.<br />

"Hier tönt es aber so!" gab <strong>Ingrid</strong> zurück. Und so gings<br />

bis zum Ende der Aufnahmen nach mehr <strong>als</strong> zwei Pr<strong>ob</strong>enwochen.<br />

"Sie ist die grösste Schauspielerin der Welt", sagte ein<br />

Kameramann, <strong>als</strong> die NBC-Crew <strong>Ingrid</strong> nach der letzten Szene<br />

applaudierte. "Nein", korrigierte ein Kollege, "sie ist die grossartigste<br />

Frau der Welt". Variationen aller Schattierungen solch<br />

spontaner Bel<strong>ob</strong>igungen von Filmtechnikern und Bühnenarbeitern<br />

(zwei von Stars nicht leicht zu beeindruckende Gruppen)<br />

waren während dem Rest ihrer Karriere immer wieder zu hören.<br />

Zur Weihnachtszeit erging sie sich glücklich im Einkaufsri<strong>tu</strong>al.<br />

Laurence Evans bemerkte, dass sich <strong>Ingrid</strong> scheinbar<br />

an jedermanns Weihnachtsgewohnheiten erinnerte. Er erinnerte<br />

sich daran, wie sie an einer Weihnacht zu den MCA-<br />

Büros kam mit einem Berg von sorgfältig verpackten kleinen<br />

Päckchen für ihn und seine Mitarbeiter, was sie in den folgenden<br />

Jahren gewohnheitsmässig wiederholte. Einmal brachte<br />

<strong>Ingrid</strong> Laurence und Mary Evans einen silbernen Baum ge-<br />

499


spickt mit weissen Keramik-Tauben. <strong>Ingrid</strong> wurde in den späteren<br />

Jahren zu einem häufigen Gast bei den Evans in London<br />

und Sussex, und Marys Vertrautheit und Hilfe waren für sie<br />

speziell wertvoll, nachdem sie nach London gezogen war.<br />

ANFANGS 1960 MUSSTEN AUCH GESCHENKE nach<br />

Amerika versandt werden, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> die überraschende Nachricht<br />

erhielt, dass Pia, dam<strong>als</strong> zwanzig und in ihrem letzten<br />

College-Jahr, am 21. Februar durchgebrannt war, um einen<br />

Mann mit dem beeindruckenden Namen Fuller E. Callaway III.<br />

zu heiraten. Die Vermählung in Elko, Nevada, war so überstürzt<br />

vollzogen worden, dass weder Braut noch Bräutigam<br />

Trauzeugen mitbrachten, sodass ein verwirrter Friedensrichter<br />

den Vollzugsbeamten des Stadtgefängnisses <strong>als</strong> Trauzeugen<br />

bestellen musste. Acht Jahre älter <strong>als</strong> Pia, gross und bestechend<br />

attraktiv, war Callaway Direktor einer Elektronikfirma in<br />

Palo Alto und hatte bereits eine Ehe plus Scheidung hinter sich.<br />

Aber für dieses Detail hätte Pia wohl denselben Kommentar zur<br />

Wahl des ersten Ehemannes bereitgehabt, wie ihre Mutter:<br />

finanziell stabiler, hübscher Kerl mit guter Karriere. Dann kam<br />

ein ominös-prophetischer Moment, <strong>als</strong> Callaway an diesem<br />

Abend in Nevada nach Pias Ring in die Tasche griff: dem Hund<br />

des Vollzugsbeamten missfiel diese Bewegung, weshalb er sich<br />

auf den Bräutigam stürzte.<br />

Dies schien, leider, auch den Ton in dieser Ehe zu<br />

bestimmen, die schnell sauer wurde. Während den ersten<br />

sechs Monaten ihrer Lebensgemeinschaft reisten die beiden<br />

umher, w<strong>ob</strong>ei sie feststellen konnten, dass sie einen Fehler<br />

begangen hatten. Sie trennten sich im darauffolgenden Jahr<br />

und wurden im Dezember 1961 geschieden, nachdem Pia extreme<br />

Grausamkeit geltend machte, da ihr Mann sie geschlagen<br />

und eine Treppenflucht hinunter gestossen habe. "Naiverweise<br />

glaubte ich, durch eine Heirat alle meine Pr<strong>ob</strong>leme lösen<br />

zu können", gab sie zu und bezog sich damit vielleicht auch auf<br />

ihr instabiles Verhältnis zu ihren Eltern. "Weder Fuller noch ich<br />

waren reif genug für die Ehe. Fuller war intelligent, hypersen-<br />

500


sibel und ein vielseitiges Talent. Ich war ein junges Mädchen,<br />

das sich auf Kerzenlicht-Dinners für zwei freute und 'Das eigene<br />

Heim' spielen wollte. Unsere Ehe dauerte eineinhalb Jahre.<br />

Bald fand sich Callaway mit seinen persönlichen Pr<strong>ob</strong>lemen<br />

nicht mehr zurecht und nahm sich das Leben.<br />

IM GLEICHEN MONAT wie diese unglückselige Eheschliessung,<br />

im Februar 1960, erwarben Buddy Adler und<br />

Twentieth Cen<strong>tu</strong>ry-Fox die Filmrechte an Friedrich Dürrenmatts<br />

Stück "Der Besuch der alten Dame", das 1958 von den Lunts<br />

am Broadway aufgeführt wurde. Das S<strong>tu</strong>dio hatte nicht die<br />

entfernteste Idee, wie mit dieser grimmigen Fabel über die<br />

menschliche Korrumpiertheit umzugehen: zuerst dachten sie<br />

daran, es <strong>als</strong> Western zu bringen, à la Nicolas Rays Freud'schem<br />

Cowboyfilm "Johnny Guitar". Aber <strong>Ingrid</strong> hatte Adler<br />

gebeten, es für sie zu beschaffen: sie sagte, es sei so verschieden<br />

von den üblichen Damenrollen, die sie spielte. Das<br />

Stück erzählte die Geschichte einer der reichsten Frauen der<br />

Welt, die einen teuflischen Plan schmiedet, um sich an ihrem<br />

früheren Liebhaber zu rächen. Adlers Tod kurz nach dieser Ankündigung<br />

verzögerte die Produktion dann um fast drei Jahre.<br />

Inzwischen genoss <strong>Ingrid</strong> ihre Rolle <strong>als</strong> Herrin von<br />

Choysel und <strong>als</strong> Sommergastgeberin für jene Freunde, die die<br />

Reise nach Dannholmen schafften – unter ihnen ein hübscher<br />

und hochintelligenter junger Mann namens Stephen Weiss, der<br />

mit Pia befreundet war und folglich auch zu einem nahen<br />

Freund von Lars und <strong>Ingrid</strong> wurde – und später übrigens auch<br />

zu einem unschätzbaren Finanzberater. Weiss war – wie allen<br />

ihren Freunden – bald klar, dass – wie er es ausdrückte –<br />

"neunzig Prozent ihres Lebens ihrer Karriere gehörten und sich<br />

die restlichen zehn Prozent darum herum zu legen hatten." Sie<br />

liebte Choysel und Dannholmen, kein Zweifel, "aber dann wurde<br />

sie ihrer überdrüssig, wurde rastlos und machte sich auf<br />

und davon, um sich wieder ihrer beruflichen Tätigkeit widmen."<br />

Für gewöhnlich lehnte es <strong>Ingrid</strong>, auf Wunsch von Lars,<br />

ab, im Sommer, ihrer unantastbaren Zeit mit Lars auf Dann-<br />

501


holmen, zu arbeiten. "Dort lebte sie in einer vollständig andern<br />

Welt <strong>als</strong> der, in welcher sie arbeitete", sagte ihr Freund Lasse<br />

Lundberg, der lange in Fjällbacka lebte. Er erinnerte sich, dass<br />

<strong>Ingrid</strong> pr<strong>ob</strong>lemlos mit Einheimischen und Besuchern in Kontakt<br />

kam, die Konversation von ihrer Person abzulenken wusste<br />

und den Damen, die während der jährlichen "Ladies Week"<br />

segeln lernten, Kaffee servierte, ja sogar während der Hauptzeit<br />

des Kurses bereitwillig auch in ein Dinghi sprang um es<br />

überzukippen. "Wir offerierten ihr einen privaten Segelkurs,<br />

doch sie lehnte jede Spezialbehandlung ab und bestand darauf,<br />

ein Teil der Gruppe zu sein. <strong>Ingrid</strong> war immer sehr misstrauisch<br />

gegenüber Schweden und dem Verhalten der Schweden<br />

ihr gegenüber, aber für sie bedeutete Schweden Fjällbacka und<br />

Dannholmen."<br />

Im Herbst 1960 nahm <strong>Ingrid</strong> das Angebot von Anatole<br />

Litvak, dem Regisseur von "Anastasia", an, erstm<strong>als</strong> seit zwei<br />

Jahren wieder eine Filmrolle zu übernehmen – die der unglücklichen<br />

Paula Tessier in "Goodbye Again". Samuel Taylors bittersüsses,<br />

provokatives Script von Françoise Sagans Novelle<br />

(Aimez-vous Brahms?) bot ihr Gelegenheit, die treffenden Nuancen<br />

von Leidenschaft, Hoffnung, Enttäuschung und grimmiger<br />

Akzeptanz im Leben einer vierzigjährigen Frau zu finden.<br />

Paula, trostlos über ihren treulosen Liebhaber (Yves Montand),<br />

geht kurz auf die Werbung eines um fünfzehn Jahre jüngeren<br />

Mannes (Anthony Perkins) ein.<br />

Einsamkeit und romantische Verzweiflung waren nie<br />

Attribute von <strong>Ingrid</strong>s Film-Image, was genau der Grund dafür<br />

war, dass sie den Vertrag unterzeichnete – sie wollte einfach<br />

etwas anderes, <strong>ob</strong>schon <strong>Ingrid</strong> mit fünfundvierzig viel zu attraktiv<br />

war, um glaubhaft eine um Aufmerksamkeit verzweifelnde<br />

Frau zu spielen. So stand ihr Makeup-Spezialist, John<br />

O'Gorman, diesmal vor einer gegenteiligen Aufgabe: "Wir<br />

mussten ihr Schatten um die Augen legen und Falten ins Genick,<br />

um ihr die gewünschte Reife zu geben!"<br />

Ihr Charakter in "Goodbye Again" hätte mit einer weniger<br />

instinktiv arbeitenden Schauspielerin leicht zur Karika<strong>tu</strong>r<br />

502


verkommen können, aber <strong>Ingrid</strong> gab Paula eine mit Stärke<br />

gepaarte Wehmut. Das lezte Bild, in dem sie sich im Spiegel<br />

betrachtet, macht jeden Kommentar überflüssig und bleibt ein<br />

tief ergreifendes Bild des Verlusts; <strong>Ingrid</strong> hatte den Geist der<br />

unhysterischen Resignation gefunden, der z.B. an die elegante<br />

Würde der Marschallin in Richard Strauss' "Rosenkavallier" erinnert.<br />

Der Film, der diesen Sommer in Paris gedreht wurde,<br />

liess plötzlich Gerüchte aufkommen, wonach <strong>Ingrid</strong> eine Affäre<br />

mit Yves Montand habe, wie in gewissen Pariser Salons herumgeflüstert<br />

wurde; nein, sie habe versucht, Anthony Perkins<br />

zu verführen; aber ganz im Gegenteil, meine Liebe, sie hat den<br />

jungen Mr. Perkins verdorben. Tatsächlich geschah nichts von<br />

alledem während der Produktion von "Goodbye Again", ausser<br />

dass hart gearbeitet wurde.<br />

Dieses Geschwätz wurde genährt durch ein Vorkommnis<br />

während der Produktion, das von Perkins verbreitet wurde:<br />

Miss <strong>Bergman</strong> habe ihn in ihre Garder<strong>ob</strong>e bestellt, sagte er<br />

nach ihrem Tod, wo sie (Schande!) fand, sie sollten ihre Kussszenen<br />

üben. Aber sie sei damit zu weit gegangen, sagte Perkins,<br />

indem er sein bestes Norman Bates/Psycho-Grinsen aufsetzte,<br />

und Momente später entkam er seinen Zuhörern knapp<br />

unbeschadet.<br />

Die Geschichte beleuchtet, wie ernst der junge Mann –<br />

dam<strong>als</strong> ach<strong>tu</strong>ndzwanzig und selbst überrascht, <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s<br />

Liebhaber zu spielen – seinen Part in diesem Film nahm.<br />

Nur war der Vorfall in Wahrheit ganz anders. Perkins, wie allgemein<br />

bekannt war, hüpfte vom Bett eines Mannes in Hollywood<br />

auf die Couch eines Jungen in New York, und diesen<br />

Sommer hatte er seine Affärenliste auf Paris ausgedehnt. <strong>Ingrid</strong>,<br />

in ihrer gewohnten Toleranz, fand, sein Privatleben gehe<br />

weder sie noch sonst wen etwas an. Dennoch waren sie und<br />

Litvak echt erstaunt über seine Schwierigkeiten bei der ersten<br />

Liebesszene mit ihr. Sie entschloss sich daher, das Pr<strong>ob</strong>lem mit<br />

ihm unter vier Augen zu besprechen, um eine entspannte,<br />

freundliche Atmosphäre zwischen ihnen zu schaffen, damit<br />

503


Perkins vor der Kamera nicht so erscheine, wie im Leben: starr<br />

vor Widerwillen bei der Berührung einer Frau. Sie fand sein<br />

Missbehhagen völlig überflüssig, und die Konversation und<br />

Gesten in der Garder<strong>ob</strong>e waren absolut professioneller Na<strong>tu</strong>r.<br />

<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> hatte wirklich kein Interesse daran, einen<br />

schwulen jungen Mann zu verführen.<br />

Perkins' Bemerkungen wiesen entweder auf eine hyperaktive<br />

Fantasie oder aber auf seinen Wunsch hin, in die Rolle<br />

des Tom in "Tee und Mitgefühl" zu schlüpfen, die er am Broadway<br />

spielte; er mag sich gedacht haben, dass auch <strong>Ingrid</strong> ihre<br />

Rolle in diesem Stück gerne ausspielen würde und ihn damit<br />

ins heterosexuelle Leben führen könnte, das er sich zwar<br />

wünschte, von dem er aber weit entfernt war. Perkins war in<br />

einem bemitleidenswerten Zustand, in Angst darüber (wie so<br />

mancher andere), dass ihn die Enthüllung seines Privatlebens<br />

seine Karriere kosten würde. In Anlehnung an den Schlussdialog<br />

in R<strong>ob</strong>ert Andersons Stück: wenn er später davon sprach –<br />

was er auch tat – dann nicht im guten Sinne.<br />

Was immer der Grund für Perkins' kleine Fiktion war,<br />

sie schadete ihm selbst mehr <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong>, die darauf hinwies,<br />

dass wenn sie wirklich eine Affäre mit jemandem im Cast von<br />

"Goodbye Again" gesucht hätte, Yves Montand es hinreichend<br />

klargemacht hatte, dass er verfügbar wäre. Aber, honni soit,<br />

<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> war sehr glücklich verheiratet, hatte überhaupt<br />

kein Interesse, sich einen Liebhaber zuzulegen und war<br />

wohl für den Rest ihres Lebens mit niemand anderem mehr<br />

intim, <strong>als</strong> mit Lars Schmidt. Und darin liegt natürlich das Pr<strong>ob</strong>lem:<br />

wo es für's Geschwätz keine Beweise gibt, genügt oft die<br />

Fantasie.<br />

"Good Bye Again" war kein Kassenerfolg, denn der internationale<br />

Filmstil machte zu Beginn der 1960er-Jahre wesentliche<br />

Veränderungen durch – und im Zusammenhang damit<br />

machte sich ein erheblicher Mangel an guten Rollen für<br />

Schauspielerinnen von anfangs vierzig bemerkbar. Sie hätte<br />

gerne den Sprung von ihren 45 Jahren zu 50 oder darüber gemacht,<br />

erklärte <strong>Ingrid</strong> dam<strong>als</strong> und danach immer wieder, denn<br />

504


dann hätte sie den Zugang zu guten Charakterrollen gehabt.<br />

Zu ihrem Alter stand sie immer offen und amüsierte sich über<br />

Ratschläge, wie sie ihr Äusseres – ausser vielleicht einer andern<br />

Frisur oder etwas Lippenrot – verändern könnte und<br />

machte klar, dass sie sich in allererster Linie darauf freute,<br />

wieder zu seriöser Arbeit am Theater zu kommen.<br />

Nach Fertigstellung des Films in Paris traf ein neues Angebot<br />

vom amerikanischen Fernsehen bei ihr ein – diesmal von<br />

der Geschäftslei<strong>tu</strong>ng von CBS. "Wir hätten nie geglaubt, einmal<br />

zusammenzuarbeiten", sagte Lars, "doch dann kam diese<br />

Geschichte und wir fanden beide, dass wir uns gerne daran<br />

beteiligen würden." Er unterschrieb <strong>als</strong> Produzent von John<br />

Mortimers neunzigminütigem Script zu einem Stück von Stefan<br />

Zweig. Sie waren überzeugt, im Casino von Monte Carlo, wo<br />

sich die Geschichte zur Hauptsache abspielt, drehen zu können,<br />

doch scheiterten dann die Verhandlungen darüber, und<br />

die ganze Produktion wurde in der Folge nach New York verlegt.<br />

"<strong>Ingrid</strong> hatte keinen Kommentar dazu" nach Lars, "aber<br />

ihres Erachtens konnte das Programm nie das Niveau erreichen,<br />

auf das sie in der natürlichen Umgebung gehofft hatte."<br />

"Twenty-Four Hours in a Womans Life", unter Regisseur<br />

Silvio Narizzano – im Februat 1961 in New York geschnitten<br />

und einen Monat später gesendet – war ein Musterstück der<br />

Langeweile. Aber es bot <strong>Ingrid</strong> die Möglichkeit, ihrem Repertoire<br />

eine überragende neue Charakterrolle hinzuzufügen: die<br />

einer alternden Dame, die in einer ausgedehnten Rückblende<br />

in einer jugendlichen Eskapade mit einem hübschen aber suizidgefährdeten<br />

Angeber (Rip Torn) gezeigt wird.<br />

Auf <strong>Ingrid</strong> lastete die ganze Bürde einer windigen, undramatischen<br />

und mit einer f<strong>als</strong>chen Moral überlagerten Geschichte.<br />

Wie immer entledigte sie sich dieser Aufgabe mit<br />

Bravour, doch vermochten ihre starke Rhetorik und ihre blendende<br />

Erscheinung in den langen Gewändern jener Epoche das<br />

schwache Script und die unbeholfene Inszenierung nicht wettzuschlagen.<br />

"Ich bin an einem sehr schwierigen Punkt meiner<br />

Karriere angelangt", sagte sie nach dieser Sendung. "Wenn ich<br />

505


jetzt nichts Interessantes finden kann, dann setzte ich mich<br />

hin und warte auf das richtige Stück oder den richtigen Film."<br />

Eine kluge Entscheidung, fand Lars. Sie hatte das Recht, wählerisch<br />

zu sein. Dennoch war sie, wie sie selbst sagte, "quirlig<br />

und schnell gelangweilt".<br />

Ihr wachsender Eifer <strong>als</strong> Folge der zunehmenden Rastlosigkeit<br />

war nicht zu übersehen: sie hatte weniger Sorgen und<br />

rauchte mehr denn je zuvor. Der Sommer 1961 auf Dannholmen<br />

war einer der entspanntesten, denn sie hatte alle vier<br />

Kinder während mehrerer Wochen bei sich. Der Schriftsteller<br />

Pierre Barillet, der mit Lars in verschiedenen Produktionen zusammengearbeitet<br />

hatte, war zu einem Besuch eingeladen, der<br />

zu einer lebenslangen Freundschaft führte. Er erinnerte sich an<br />

die sonnigen, langen Tage, an welchen die ganze Familie<br />

schwamm, ein Sonnenbad genoss, fischte, las, segelte und<br />

sich mit Begeisterung dem elementar einfachen Leben hingab.<br />

Der einzige Schatten, der sich über diese Saison legte,<br />

war dem Tod der beiden alten Freunde <strong>Ingrid</strong>s, Gary Cooper<br />

und Ernest Hemingway, zuzuschreiben, die im Abstand von<br />

sechs Wochen im Mai und Juli 1961 starben. "Es <strong>tu</strong>t so entsetzlich<br />

weh", schrieb sie Ruth R<strong>ob</strong>erts, "komisch doch, wie sie<br />

miteinander die Welt verliessen (Cooper starb an Krebs, Hemingway<br />

nahm sich das Leben). Als <strong>ob</strong> sie es geplant hätten.<br />

Von einem gemeinsamen Freund hörte ich, dass die beiden<br />

während ihrer ganzen Krankheitszeit miteinander telefonierten<br />

und scherzten: "I'll race you to the grave".<br />

Wie sich Barillet nach Jahren noch erinnerte, sprach<br />

<strong>Ingrid</strong> noch während derselben Saison mit Regisseur Ingmar<br />

<strong>Bergman</strong>, der ihr schon vor langer Zeit die Möglichkeit einer<br />

Zusammenarbeit in Aussicht gestellt hatte. Mit <strong>Ingrid</strong> zusammenzuarbeiten,<br />

wäre für ihn deshalb ungewöhnlich gewesen,<br />

weil er grundsätzlich auf internationale Stars verzichtete und<br />

sich wenn immer möglich an einen kleinen Kreis von Schauspielern<br />

hielt, die er kannte, die er mochte und denen er vertraute<br />

– mit Ausnahme der Norwegerin Liv Ullman alles<br />

schwedische Landsleute wie <strong>Ingrid</strong> Thulin, Gunnel Lindblom,<br />

506


Max von Sydow, Bibi Andersson und Gunnar Björnstrand. Ingmar<br />

hatte eine vage Idee für eine Rolle für <strong>Ingrid</strong>, aber er hatte<br />

weder eine Story noch ein Konzept dafür, und alle seine<br />

Projekte gründeten auf spontanen Ideen. Und jetzt half auch<br />

sein guter Wille nicht mehr weiter, da er eben die Lei<strong>tu</strong>ng des<br />

Königlichen Dramatischen Theaters von Stockholm übernommen<br />

hatte.<br />

Inzwischen erreichte sie diesen Sommer auf der Insel<br />

doch ein Script zum "Besuch der alten Dame", doch gab es da<br />

ernsthafte Pr<strong>ob</strong>leme: die Produzenten wollten <strong>Ingrid</strong> nicht <strong>als</strong><br />

eine Frau darstellen, die Leute dazu aufstachelt, ihren Ex-<br />

Geliebten umzubringen. Auch wünschten sie sich eine stärkere<br />

Persönlichkeit <strong>als</strong> William Holden, der unbedingt mit <strong>Ingrid</strong><br />

arbeiten wollte und sogar bereit war, die Zahlung seiner Gage<br />

aufzuschieben, um dies zu ermöglichen. Sie hatte mit keinem<br />

dieser Punkte ein Pr<strong>ob</strong>lem. Aber <strong>als</strong> Anthony Quinn die abgelaufenen<br />

Filmrechte <strong>als</strong> Co-Produzent übernahm, trat er selbst<br />

an die Stelle von Holden und akzeptierte die Forderung seiner<br />

Partner nach einem wesentlich milderen Ausgang der Geschichte,<br />

<strong>als</strong> im Original vorgegeben. Jahre später behauptete<br />

Quinn s<strong>tu</strong>r, <strong>Ingrid</strong> selbst habe das härtere Konzept des Origin<strong>als</strong><br />

abgelehnt und ihn <strong>als</strong> ihren Co-Star gefordert. Aber Produktions-Dokumente<br />

beweisen, dass ihn diesbezüglich das<br />

Gedächtnis im Stich gelassen hat. Zweifellos suchte er dringend<br />

einen Grund für den totalen Durchfall des "Besuchs der<br />

alten Dame", der schliesslich 1963 in Rom produziert und im<br />

darauffolgenden Jahr veröffentlicht wurde.<br />

"JA, DA BIN ICH NUN", sagte <strong>Ingrid</strong> diesen Sommer<br />

1961 zu Pierre Barillet, "zu alt für jüngere Rollen und zu jung<br />

für ältere! Was soll ich denn <strong>tu</strong>n? Mit einem Film pro Jahr wäre<br />

ich schon glücklich, aber er muss zu mir passen. Und ich bin<br />

nicht wie diese jungen Schauspieler, die alle 'Regisseur' werden<br />

wollen!" Auch wollte sie nicht nur um die Welt reisen um in<br />

Retrospektiven geehrt zu werden, die bewusst machten, dass<br />

es keine Gegenwart mehr gibt. Wohl kaum eine andere Epoche<br />

507


verschrieb sich so sehr der Jugend, wie die Sechzigerjahre,<br />

und <strong>Ingrid</strong> mit noch nicht einmal 50 Jahren wusste, dass sie<br />

für viele Kinogänger schlicht eine Erinnerung an die Vergangenheit<br />

war.<br />

Diesen Herbst entschlossen sie und Lars sich, etwas zu<br />

unternehmen. Sie war die einzige skandinavische Schauspielerin<br />

in Paris und er der einzige skandinavische Produzent – so<br />

einigten sie sich auf eine Bühnenproduktion in französischer<br />

Sprache von Ibsens "Hedda Gabler" , die erste skandinavische<br />

Klassik in <strong>Ingrid</strong>s Repertoire. Gerade weil Berühmtheiten wie<br />

die Duse, Nazimova und Le Gallienne die bekannte und entsetzlich<br />

sadistische Hedda gespielt hatten, war <strong>Ingrid</strong>s Wahl<br />

ein weit riskanteres Projekt, <strong>als</strong> "Tee und Mitgefühl" es war.<br />

Diesmal hatte sie nicht nur die französische Sprache zu meistern,<br />

sondern auch die Feinheiten einer der unsympathischsten<br />

Figuren der dramatischen Litera<strong>tu</strong>r. Den ganzen Frühling und<br />

Sommer 1962 widmete sie dem anspruchsvollen Texts<strong>tu</strong>dium,<br />

der Textinterpretation und den Details von Gilbert Signaux<br />

Übersetzung. Regisseur Raymond Rouleau war über ihren<br />

Fleiss des L<strong>ob</strong>es voll. Nun, meinte <strong>Ingrid</strong>, sie wolle eine seriöse<br />

Bühnenschauspielerin werden und über die Klassik könne sie<br />

das erreichen.<br />

Ebenfalls sehr hilfreich war ihre Vorberei<strong>tu</strong>ng während<br />

der Montage einer stark gekürzten Version (75 Minuten) von<br />

"Hedda Gabler" in London mit Co-Stars wie Michael Redgrave,<br />

Ralph Richardson und Trevor Howard – eine Sendung, die bald<br />

von CBS in Amerika ausgestrahlt und in Fernseharchiven aufbewahrt<br />

wurde. Selbst in dieser radikal gekürzten Fassung<br />

fand <strong>Ingrid</strong> Heddas giftige Eleganz und wandelte ihr übliches<br />

warmes Lächeln in einen Ausdruck frostigen Ernsts.<br />

Die Premiere der Bühnenproduktion fand am 10. Dezember<br />

1962 im Théâtre Montparnasse statt, wo es leider zu<br />

Anlaufsschwierigkeiten kam. Ihren Anstrengungen zum Trotz<br />

hatte <strong>Ingrid</strong> Pr<strong>ob</strong>leme mit dem kompletten französischen Text,<br />

über den sie wiederholt stolperte und damit auch ihre Kollegen<br />

verunsicherte. Aber nach mehreren Vorstellungen wurde sie<br />

508


gelassener, und die Kritik bewunderte ihre Prägnanz in der<br />

Darstellung amoralischer Boshaftigkeit. Das Stück lief gut ins<br />

Jahr 1963 hinein, und <strong>Ingrid</strong> war <strong>als</strong> Hedda viel erfolgreicher,<br />

denn <strong>als</strong> die rachsüchtige Frau in Dürrenmatts Geschichte.<br />

"Man liebt fast alles, was <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> macht", schrieb der<br />

Kritiker des Le Figaro , indem er "ihre spezielle Stimme und<br />

ihren künstlerischen Auftritt" l<strong>ob</strong>te; "es ist ein Erlebnis, sie zu<br />

sehen und zu hören." France Soir betonte "ihren traumhaften<br />

Stolz – noch nie wurde Ibsen so grossartig gespielt".<br />

Als alles vorüber war, begaben Lars und <strong>Ingrid</strong> sich auf<br />

eine exotische Expedition in den Osten. Katmandus sogenanntes<br />

Royal Palace Hotel war nicht eben königlich (Wasser am<br />

Wasserhahn gab's nur zwischen vier und sechs Uhr früh und<br />

das Essen war unbeschreiblich, aber die Schmidts kamen damit<br />

zurecht); sie stiegen die Berge hoch und nahmen beim<br />

Besuch von Patan und Bathgaon eine glückliche Erschöpfung in<br />

Kauf. Von dort ging's nach Darjeeling und Sikkim und weiter<br />

nach Laos, Kambodscha und Malaysia. In Djakarta lud Präsident<br />

Sukarno zu ihren Ehren zu einem Dinner.<br />

1964 ERLEBTE LARS eines seiner lebhaftesten und erfolgreichsten<br />

Jahre mit seinen Produktionen "How to Succeed<br />

in Business Without Really Trying", "My Fair Lady", "Annie, Get<br />

Your Gun", "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" und "Barefoot<br />

in the Park", die in ganz Europa Publikumsmagneten waren.<br />

Nachdem sie Alfred Hitchcock in Paris zu einem kurzen Besuch<br />

empfangen hatte, begab sich <strong>Ingrid</strong> im Mai nach London, wo<br />

sie in einem Anthologiefilm auftrat, in der visuell umwerfenden<br />

Schlusssequenz von "Der gelbe Rolls-Royce".<br />

Als übellaunige, reiche Amerikanerin, beim Ausbruch<br />

des zweiten Weltkriegs auf Ferientour in Europa, begegnet sie<br />

einem slawischen Patrioten (Omar Sharif), der gegen die Nazis<br />

kämpft. Nachdem sie sich zunächst über seine Politik und die<br />

Störung ihrer luxuriösen Ferienreise in ihrem dito Wagen ärgerte,<br />

muss sie bald die Realität der Weltlage erkennen – und<br />

damit wird sie durch die Liebe im Handumdrehen von der teil-<br />

509


nahmslosen Eigenbrötlerin zur leidenschaftlichen Florence<br />

Nightingale. Mit Leichtigkeit von der Komödie (sie füttert ihren<br />

Hund, während Bomben den Hotel Speisesaal durchschlagen)<br />

zum Drama (der Pflege von Verwundeten) wechselnd, machte<br />

<strong>Ingrid</strong> alles glaubhaft. Wenn sie zu ihrer kurzen Affäre in der<br />

Story sagt: "Herzen sind nie gebrochen – sie werden dann und<br />

wann etwas gequetscht, aber sie heilen immer wieder", lag in<br />

diesen Worten ein wehmütiger Unterton von Wahrheit.<br />

Noch erfreulicher verlief ihr Wiedersehen mit ihrem alten<br />

Freund und Regisseur Gustav Molander, für den sie diesen<br />

Herbst in einem andern Anthologiefilm in Stockholm auftrat –<br />

ihrem ersten Film in Schweden seit über fünfundzwanzig Jahren.<br />

Jetzt 76 und nahezu taub, kehrte Molander zu jener ruhigen,<br />

gemimten Regie zurück, die er Jahrzehnte zuvor mit <strong>Ingrid</strong><br />

angewandt hatte. In ihrer Darstellung einer törichten, gierigen<br />

sozialen Aufsteigerin in einem Kurzfilm von Guy de Maupassants<br />

Stück "The Necklace" schwang ein Hauch von nostalgischer<br />

Betroffenheit mit, und diesmal waren sich die<br />

schwedischen Kritiker ausnahmslos einig in ihrem L<strong>ob</strong> für den<br />

alternden Mentor und seinen berühmten Schützling.<br />

EIGENTLICH WOLLTE INGRID LÄNGER in Stockholm<br />

bleiben, doch dann brauste sie ab nach Rom, <strong>als</strong> eine frühe<br />

Winter-Grippe den ganzen Rossellini-Haushalt lahmlegte und<br />

R<strong>ob</strong>erto der Hysterie nahe war. Zur Weihnachtszeit war <strong>Ingrid</strong><br />

Krankenpflegerin wie dam<strong>als</strong> im "Gelben Rolls-Royce", nur<br />

diesmal erfreulicherweise unter Pias Mithilfe.<br />

Nach dem S<strong>tu</strong>dienabschluss, einer gescheiterten Ehe<br />

und einer kurzen Tätigkeit bei der UNESCO stand Pia mit 26<br />

ziellos vor einer perspektivenlosen Zukunft – "ich konnte mir<br />

keinen Beruf vorstellen, den ich hätte ausüben können". Einige<br />

Versuche <strong>als</strong> Schauspielerin scheiterten (meistens, weil ihre<br />

kleinen Rollen – nicht wegen mangelndem Talent - wegfielen),<br />

sodass sie bei <strong>Ingrid</strong> und Lars in Paris, wie auch bei R<strong>ob</strong>erto in<br />

Rom ein willkommener Gast war und in Rom so etwas wie der<br />

510


Major Domus für die Kinder wurde. Diese liebten sie und vertrauten<br />

ihr bald wie einer älteren Schwester.<br />

Wohl weil sie eine isolierte Jugendzeit verlebt hatte, genoss<br />

Pia das tägliche Familienleben und gewöhnte sich an Rossellinis<br />

ständige Geldsorgen und den chaotischen Haushalt,<br />

dem zeitweise eine Brigade von Kindern (einschliesslich zweier<br />

von Sonali Das Gupta) aus Rossellinis früheren und jetziger<br />

Ehe angehörte. Ihr Kampf gegen Unordnung und einen Haufen<br />

von eigenwilligen Persönlichkeiten, der sie zu schnellen, sinnvollen<br />

Entscheidungen zwang, mag schliesslich zu Pias späterem<br />

Erfolg <strong>als</strong> Fernsehjournalistin und Kunstkritikerin beigetragen<br />

haben – einem Beruf, den sie dann in San Francisco und<br />

New York mit Hingabe ausübte.<br />

Gegen Jahresende war <strong>Ingrid</strong> müde, aber sie begleitete<br />

Lars zu einigen seiner Premieren und bereitete die Feiertage<br />

für die ganze Familie vor. "<strong>Ingrid</strong> war die perfekte Ehefrau",<br />

sagte Lars. "So perfekt, wie man(n) es sich nur wünschen<br />

kann. Sie war Gattin und hätte alles getan, um ihren Mann<br />

zufriedenzustellen. Aber sie war auch ein Wandervogel, der<br />

leidenschaftlich nach den besten Schauplätzen für sein Talent<br />

suchte. Ihre Liebe zur Schauspielerei kannte keine Grenzen<br />

und sie war jederzeit zu einem neuen Abenteuer bereit."<br />

Michael Redgrave, ihr Co-Star in der englischen Fernsehversion<br />

von "Hedda Gabler", gab dann den Anstoss zum<br />

nächsten Abenteuer, <strong>als</strong> er <strong>Ingrid</strong> eben gegen Ende 1964 anrief.<br />

Er sollte die Regie in Turgenjews elegischem Stück "A<br />

Month in the Country", das im kommenden Frühjahr in Guildford<br />

aufgeführt werden sollte, übernehmen, und wollte <strong>Ingrid</strong><br />

für die Rolle der Natalia. Natürlich, sagte sie spontan – war es<br />

nicht logisch, nach Molnàr, O'Neill, den beiden Andersons und<br />

Ibsen einen russischen Klassiker zu spielen? Nahezu zwanzig<br />

Jahre waren es nun her, seit sie letztm<strong>als</strong> in englischer Sprache<br />

auf der Bühne auftrat.<br />

511


Am Neujahrstag 1965 schlürfte sie Champagner und las<br />

die Geschichte des russischen Theaters. <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> war<br />

auf dem besten Weg – wie sie es sich immer schon wünschte,<br />

eine echte Bühnenschauspielerin zu werden, und nicht nur ein<br />

Filmstar zu sein – und dies nicht nur notgedrungenerweise,<br />

weils sie – wie zur Zeit – auf eine passende Rolle für eine Frau<br />

über 19 warten musste. Aber das alles kostete sie einen enormen<br />

Preis. "Ich wusste, gleichgültig wie glücklich wir waren",<br />

sagte Lars, "dass <strong>Ingrid</strong> Künstlerin, ein Star war – und dass ihr<br />

Publikum und ihre Arbeit ihr Leben waren".<br />

512<br />

1961 - In "Lieben Sie Brahms" mit Anthony Perkins


1958 - Mit Cary Grant in "Indiskret"<br />

513


514<br />

1958 - in "Indiskret"


1958 - mit Cary Grant in "Indiskret"<br />

515


516<br />

1958 - mit Lars Schmidt, <strong>ob</strong>en: R<strong>ob</strong>ert Anderson


"Es gibt keine Filmrollen für eine Frau meines Alters! Da bin<br />

ich, in meinen Fünfzigern eine alte Frau; gut, vielleicht kann<br />

ich eines Tages noch eine der Macbeth-Hexen spielen!"<br />

1965 - 1970<br />

(<strong>Ingrid</strong> zur damaligen Marktsi<strong>tu</strong>ation für<br />

Schauspielerinnen ihres Alters)<br />

INGRIDS ALTER FREUND Alfred Hitchcock sagte oft,<br />

dass man die besten Schauspieler nie bei der Arbeit antraf,<br />

dass - mit andern Worten - die echte Kunst darin bestand, die<br />

Kunst selbst und die Arbeitsmethode des Schauspielers unsichtbar<br />

werden zu lassen. "Was muss ich <strong>tu</strong>n?" war eine ihm<br />

von eifrigen Schauspielern oft gestellte Frage. "Gar nichts",<br />

war seine Antwort. Was im Moment zwar keine grosse Hilfe,<br />

aber dennoch der beste Rat der Welt war.<br />

In dieser Beziehung ist es interessant, festzustellen, wie<br />

wenige Schauspieler sowohl auf der Bühne wie auch vor der<br />

Kamera wirklich überragende Leis<strong>tu</strong>ngen zu erbringen vermochten<br />

– wohl weil die Techniken beider Darstellungsformen<br />

so verschiedenartig voneinander sind. Für einen Film musste<br />

man alles herunterspielen (ebenfalls ein von Hitchcock häufig<br />

erteilter Rat), um Reaktionen zu mildern, um durch eine leichte<br />

Drehung des Kopfs, Senkung des Blicks oder der Stimme eine<br />

starke Emotion anzudeuten. Aber im Theater braucht es andere<br />

Mittel – auch der Zuschauer auf dem <strong>ob</strong>ersten Balkon muss<br />

die Gefühlsregungen einer Figur erkennen können. So war es<br />

wirklich bemerkenswert, dass <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> ihre Bühnenprofessionalität<br />

nach so langer Lehrzeit bei der Produktion von<br />

517


Filmszenen, die sich aus Stückchen und Details zusammensetzen,<br />

perfektionieren konnte.<br />

Sie hatte keine "Technik" erarbeiten können, keine "eigene<br />

Methode", und Diskussionen hierüber pflegten sie ausnahmslos<br />

zu langweilen. Aber wenn sie die Bühne betrat klickte<br />

in ihr fraglos ein innerer Schalter und ihre Figur erstrahlte<br />

durch den komplexen Filter des Verstehens und das Licht der<br />

In<strong>tu</strong>ition. Dies alles kam so richtig zum Ausdruck, <strong>als</strong> sie von<br />

Juni 1965 bis März 1966 in "A Month in the Country" auftrat:<br />

sie spielte die gelangweilte, vereinsamte Natalia, die sich unversehens<br />

in den Privatlehrer ihres Sohnes verliebt sieht, aber<br />

verlassen wird, durch Umstände, die sie sich weitgehend selbst<br />

zuzuschreiben hat, und am Schluss verlassener, unzufriedener<br />

und einsamer <strong>als</strong> je zuvor dasteht.<br />

Aber wie bei "Hedda Gabler" lief nicht alles von Anbeginn<br />

an rund, wie sich die Kritiker festzustellen beeilten, <strong>als</strong><br />

das Stück im Guildford im Juni anlief. "Ich war nicht bereit",<br />

gab sie in ihrer typischen Offenheit zu. "Wir pr<strong>ob</strong>ten während<br />

vier Wochen, und das genügte mir nicht. Englisch ist nicht<br />

meine Muttersprache, und trotzdem ich meine Texte kann,<br />

habe ich sie vermutlich nicht genügend verinnerlicht." Anfangs<br />

Sommer benötigte sie mehrere Wochen um die Texte und damit<br />

auch die Figur in den Griff zu bekommen.<br />

Nach der Sommersaison gab's nur eine kurze Pause bevor<br />

das Stück im September nach London verlegt wurde, und<br />

<strong>Ingrid</strong> schaffte eben noch einen kurzen Besuch in Dannholmen.<br />

Sie sei sich bewusst, dass sie Lars die Sommeraufenthalte in<br />

Dannholmen versprochen hatte, sagte sie ihm entschuldigend,<br />

und natürlich versicherte er sie seines Verständnisses. Aber<br />

ihre Bühnenverbissenheit führte zum ersten klar erkennbaren<br />

Riss in ihrer Ehe – entstanden nicht durch Streit, Lieblosigkeit<br />

oder Untreue, nein: nur durch ihre Leidenschaft für ihre Karriere.<br />

Natürlich hatte auch Lars sein Berufsleben. War er in Paris,<br />

war sie in London; reiste er in den Orient, war sie in Rom;<br />

wenn sie gerade in New York war, weilte er in Kopenhagen.<br />

518


Daraus entstand eine Art circulus viciosus: <strong>Ingrid</strong> stürzte<br />

sich in ihre Kunst, weil ihr Mann beschäftigt war. Was die<br />

Kinder anbetraf, war R<strong>ob</strong>ertino fünfzehnjährig, die Zwillinge<br />

dreizehn; sie hatten sich inzwischen an die gelegentlichen Besuche<br />

von Mama gewöhnt. Das ist keine seltene Familiensi<strong>tu</strong>ation:<br />

ein Veranstalter (oder Diplomat oder wer immer in einem<br />

hochqualifizierten Beruf) gibt nichts weniger <strong>als</strong> alles für eine<br />

Karriere, die eine ausgedehnte Reisetätigkeit mit sich bringt –<br />

und bezahlt dafür einen ausserordentlich hohen Preis. Dies gilt<br />

auch für die man liebt.<br />

<strong>Ingrid</strong>s kurzer Abstecher auf die Insel im August fiel mit<br />

ihrem 50. Geburtstag zusammen, einem Anlass, den sie Lars<br />

zu ignorieren bat, dann aber zum Teufel doch fand, es sei ein<br />

guter Grund für eine Party. "Wir hatten einige Leute eingeladen",<br />

erinnerte er sich, "aber dann lief alles aus dem Ruder,<br />

und die internationale Gesellschaft reiste en masse an". Sie<br />

habe ein wundervolles Leben gehabt, erwiderte <strong>Ingrid</strong> auf die<br />

Toasts, und so lange sie bei guter Gesundheit sei und ein<br />

schlechtes Gedächtnis für die unglücklichen Momente der Vergangenheit<br />

habe, sei sie entschlossen, weiterhin ein wundervolles<br />

Leben zu führen. "Ich weiss nicht, warum mein Haar<br />

nicht grau wird", sagte sie lachend, "ich <strong>tu</strong> wirklich nichts um<br />

jung zu bleiben, im Gegenteil, alles was alt macht – ich trinke,<br />

ich rauche und esse Desserts. Vielleicht wird mein Gesicht eines<br />

Tages kollabieren wie ein Stück aus 'Lost Horizon'."<br />

Als "A Month in the Country" am 23. September im<br />

Cambridge Theater, London, wieder anlief, war sie vollkommen<br />

Natalia, <strong>ob</strong>schon Michael Redgrave fand, "sie war nicht in<br />

Hochform, aber für die meisten Leute und mich selbst spielte<br />

das keine Rolle". In einen Schleier von Pastelltönen gekleidet,<br />

beherrschte sie die Bühne mit strahlender Präsenz. Ihr grosser<br />

Monolog hielt das Publikum fast atemlos vor Neugier gefangen:<br />

"Bin ich verliebt in ihn, oder was?" fragte sie indem sie die Tiefe<br />

der Verwirrtheit ihrer Figur durch eine gewisse Starrheit betonte.<br />

"Wie kam es dazu?" fuhr sie fort, mit dem leichtesten<br />

bühnengerechten Bewegung. "Wurde ich vergiftet? Plötzlich ist<br />

alles zerbrochen, zerstreut und weggewischt".<br />

519


Die tragische Torheit menschlicher Selbstisolation wurde<br />

aus ihrer tonlosen Stimme und ihrem beinahe leeren Blick<br />

über das Publikum hinweg erfühlbar. "Ich habe nur eine Entschuldigung<br />

anzuführen", sagte sie ihrem jungen Liebhaber,<br />

"und das ist, dass ich die Kontrolle über mich verlor." Die darauf<br />

folgende Stille war nicht peinlich, sondern erfüllt von ihren<br />

unterdrückten Gefühlen. <strong>Ingrid</strong> vermittelte den Eindruck, dass<br />

sie nach ihrem Abgang von der Bühne sich nicht in ihre Garder<strong>ob</strong>e<br />

zurückzog, sondern in einen andern Teil des Hauses ihrer<br />

Figur, um dort das Leben aufzunehmen, von dem sie momentan<br />

bestimmt war.<br />

Über dieser Vorstellung lag ein fühlbarer Geist von<br />

Reue, und die Londoner Kritiker, die sicher nicht leicht zu übertölpeln<br />

waren, reagierten leidenschaftlich. "Miss <strong>Bergman</strong>s<br />

Spiel hat nun einen komischen Nebeneffekt, der ihrer pathetisch<br />

überzeichneten Rolle besser proportionierte Struk<strong>tu</strong>ren<br />

verleiht..." oder "Ein meisterhaft integriertes und überzeugendes<br />

Portrait..." oder "Durch ihre Natalia wird sie fortan in mir<br />

weiterleben..." oder "<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> hat ihre Interpretation<br />

verfeinert und vertieft und liefert eine brillante Schilderung der<br />

Verfassung einer in den Stürmen der Liebe gefangenen Frau".<br />

Als die Produktion anfangs März 1966 schliesslich zu Ende<br />

ging, verliess <strong>Ingrid</strong> London so traurig, wie Natalia in ihrer<br />

Schlussszene. Wie immer hatte sie am Abschiedsfest für jedes<br />

Cast-Mitglied ein exquisit verpacktes Geschenk bereit.<br />

SIE BEGAB SICH DANN SCHNELLSTENS nach Rom, wo<br />

alarmierende Neuigkeiten über Isabellas Gesundheitszustand<br />

(jetzt noch nicht ganz 14-jährig) sie erwarteten. Seit ungefähr<br />

einem Jahr be<strong>ob</strong>achtete die Familie eine Fehlentwicklung ihres<br />

Körpers, indem sie leicht gebeugt ging, <strong>als</strong> hätte sie Angst, zu<br />

schnell und zu stark zu wachsen. Eine der Nonnen ihrer Schule<br />

unternahm im Einverständnis mit einem Arzt der Familie gewisse<br />

Übungen mit ihr, doch begann sich Isabella dann über<br />

heftige Schmerzen zu beklagen. R<strong>ob</strong>erto wurde sofort herbeigeholt.<br />

Bis Februar konnte das Mädchen nur noch mit grössten<br />

520


Schwierigkeiten gehen und weinte vor Schmerz und Anstrengung.<br />

Und dann, praktisch über Nacht, war sie nicht mehr in<br />

der Lage, ihren Rücken zu strecken.<br />

Oscar Scagliatti, ein führender Orthopädie-Chirurg, diagnostizierte<br />

eine schwere lähmende Scoliose, eine Verkrümmung,<br />

die die Wirbelsäule bis zu einer Schlangenlinie deformieren<br />

konnte. Ohne einen sofortigen und entschlossenen Eingriff<br />

bestand die Gefahr, dass Isabella nie fähig wäre, aufrecht<br />

zu stehen – geschweige denn zu gehen. Am Morgen des 21.<br />

April brachte <strong>Ingrid</strong> Isabella zum Trauma Center in Careggi, in<br />

der hügligen Toscana ausserhalb von Florenz, einer der fortschrittlichsten<br />

Kliniken Irtaliens. Sämtliche Kosten für die aufwändigen<br />

und schwierigen Behandlungen der kommenden eineinhalb<br />

Jahre wurden ausschliesslich von <strong>Ingrid</strong> getragen; R<strong>ob</strong>erto<br />

teilte die emotionale Belas<strong>tu</strong>ng. (Während den achtzehn<br />

Monaten nach "Indiskret" hatte sie ihm freiwillig 75 % ihrer<br />

Gage von $ 125'000 für den Unterhalt ihrer drei Kinder zukommen<br />

lassen.)<br />

Aber das Vorgehen war weit entfernt von einfach und<br />

schmerzlos. Bevor operiert werden konnte, musste Isabella<br />

vom Nacken bis zum Becken eingegipst werden und eine Reihe<br />

entsetzlich schmerzhafter Streckübungen über sich ergehen<br />

lassen: ihr Kopf musste stark nach hinten gedrückt werden,<br />

damit der Gipspanzer nicht zu einer Deformierung der Wirbelsäule<br />

führen konnte. Das war eine grauenhafte Qual für das<br />

Mädchen, gegen die es aus drei Gründen keine Anästhesie<br />

gab: die Ärzte mussten wissen, wann die Krümmung der Wirbelsäule<br />

im richtigen Mass korrigiert war; ihr Kopf durfte durch<br />

die Verkrümmung nicht ins Gips-Korsett sinken, und schliesslich<br />

musste verhindert werden, dass sich Isabella während dieser<br />

zweijährigen Behandlung an Narkotika gewöhnte. Und so<br />

widmete <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> vom Frühjahr 1966 bis zum Sommer<br />

1967 praktisch ihr ganzes Leben der Pflege ihrer Tochter (mit<br />

Ausnahme eines zweiwöchigen Aufenthalts in London zur Erfüllung<br />

einer Auftragsverpflich<strong>tu</strong>ng). Es machte den Eindruck, <strong>als</strong><br />

wollte sie um jeden Preis eine Wiederholung dessen verhindern,<br />

was sich vor 17 Jahren zutrug und wofür sie sich Pia ge-<br />

521


genüber schuldig fühlte. Sie wollte Isabella die Tor<strong>tu</strong>r der<br />

Streckübungen nicht allein verkraften lassen und war daher<br />

täglich zugegen, wenn sich ihre Tränen mit jenen des Mädchens<br />

vermischten und Isabella, mit Leinen auf einen grossen<br />

Tisch gebunden, erdulden musste, dass eine Nonne mit Hilfe<br />

von <strong>Ingrid</strong> den Nacken des Mädchen so lange streckte, bis es<br />

vor Schmerz fast das Bewusstsein verlor. Die Ärzte liessen sich<br />

von Isabellas Schreien leiten, denn wäre sie schmerzfrei gewesen,<br />

wäre sie unter Umständen so weit überstreckt worden,<br />

dass irreparable Schäden daraus hätten entstehen können.<br />

"Ich wollte stark sein", sagte <strong>Ingrid</strong> über diese Zeit, "doch ich<br />

weinte immer, während sie vor Schmerz schrie. Ich konnte uns<br />

beiden nicht helfen." In Tat und Wahrheit hatte sie aber sehr<br />

geholfen – wie auch Lars, der sie durch seine häufigen Besuche<br />

moralisch unterstützte (und es irgendwie fertigbrachte, nicht<br />

mit Rossellini zusammenzutreffen).<br />

Isabella war viermal in der Careggi-Klinik für diese<br />

schrecklichen "Streckungen", doch schliesslich kam der Tag, an<br />

dem die schwierige und heikle sechsstündige Operation an ihrer<br />

Wirbelsäule von Dr. Alberto Ponte (assistiert von Dr.<br />

Scaglietti) durchgeführt wurde. An jenem Tag schritten <strong>Ingrid</strong><br />

und R<strong>ob</strong>erto nervös einen Besucherraum auf und ab, rauchten<br />

endlos Cigaretten und versuchten sich im Flüsterton zerstreut<br />

über Politik, Wetter und Filme abzulenken. Dann entfernte sich<br />

<strong>Ingrid</strong> plötzlich und verschwand in einem Korridor. Nach zwanzigminütiger<br />

Abwesenheit folgte ihr R<strong>ob</strong>erto und fand sie in<br />

einer kleinen Toilette, wo sie ein Becken requiriert hatte und<br />

dabei war, sich die Haare zu waschen. Was sie zum Teufel hier<br />

mache? wollte er wissen. Er sehe es ja, tönte es unter dem<br />

Seifenschaum hervor. Aber warum das? Sie hätte etwas <strong>tu</strong>n<br />

müssen, um nicht verrückt zu werden vor Angst, erklärte sie,<br />

und zudem habe sie schon das dritte Paket Cigaretten hinter<br />

sich.<br />

Die Operation war kompliziert. Zuerst wurde Isabellas<br />

Bein Knochen entnommen, der in zündholzfeine Stückchen<br />

zerschnitten wurde. Dann wurde die Wirbelsäule freigelegt –<br />

endgültig geradegestreckt - , worauf die feinen Schien-<br />

522


einstückchen an den dafür bestimmten Stellen eingesetzt<br />

wurden. Während dreier Wochen nach dem Eingriff hatte Isabella<br />

Rossellini ein unkontrollierbares Martyrium durchzustehen;<br />

ein weiteres Jahr lang hatte sie mit ernstem Missbehagen<br />

zu kämpfen. Als sie von 1966 bis 1968 in den Spitälern wie<br />

zuhause in ihren Gipspanzer verdammt war, hatte sie ihre Mutter<br />

buchstäblich täglich bei sich, die versuchte, zu helfen und<br />

zu trösten, ihr Gesicht und Füsse mit Eau de Cologne wusch,<br />

ihr beim Essen und Trinken half und ihr überhaupt bei der Bewältigung<br />

aller Traumata einer Pubertierenden zur Seite stand.<br />

"Mama arbeitete meinetwegen überhaupt nicht mehr",<br />

sagte Isabella später, "und das hat mich sehr berührt, denn ich<br />

wusste ja, wie sehr sie an ihrer Arbeit hing und ich liebte es,<br />

sie arbeiten zu sehen. Während achtzehn Monaten arbeitete<br />

sie nicht – mit Ausnahme von zwei Wochen, <strong>als</strong> sie für einen<br />

Fernseh-Film über Jean Cocteaus "Human Voice" unter Vertrag<br />

stand.<br />

IRONIE DES SCHICKSALS, dass <strong>Ingrid</strong> ihren Kummer<br />

über Isabella sehr passend in die Londoner Aufnahme von Cocteaus<br />

Stück einbrachte: "The Human Voice" (von <strong>Ingrid</strong> früher<br />

für eine kommerzielle Sendung eingelesen) wurde von David<br />

Susskind zusammen mit Lars Schmidt im Dezember 1966 produziert.<br />

Cocteaus Stück (1948 von Rossellini mit Anna Magnani<br />

italienisch verfilmt) ist nichts anderes <strong>als</strong> ein fünfzigminütiger<br />

Monolog einer Frau am Telefon. Sie wartet, zündet eine Cigarette<br />

an, hört zu, regt sich auf, pafft wütend herum, sie flirtet,<br />

versucht das Unvermeidliche zu akzeptieren, drückt die Cigarette<br />

aus und zündet gleich die nächste an, sie resigniert – und<br />

all das wegen des Verlusts ihres Liebhabers an eine andere<br />

Frau. Der Kummer steht im Zentrum dieses Stücks, und Kummer<br />

war <strong>Ingrid</strong>s ständiger Begleiter während der vergangenen<br />

achtzehn Monate.<br />

Ihr Regisseur, Ted Kotcheff, bemerkte während der<br />

zweiwöchigen Pr<strong>ob</strong>en ihre Bedrücktheit und Unsicherheit, <strong>als</strong><br />

sie die neue Übersetzung von David Exton kritisierte. Bei jeder<br />

523


dritten Zeile hielt sie inne und reklamierte, dieser Text sei ungenau,<br />

jener unlesbar, dieser Satz unverständlich und jener<br />

einfach schlecht. Kotcheff, ein geduldiger junger Regisseur, der<br />

für das gelegentlich fragile Temperament der Schauspieler<br />

Verständnis aufbrachte, veranlasste <strong>Ingrid</strong> zu einer besonnen<br />

Gangart und versprach, sich vor den Aufnahmen noch um alle<br />

diese beanstandeten Stellen zu kümmern. Aber je mehr er sie<br />

hätschelte, desto forscher und kantiger wurde sie, bis Kotcheff,<br />

mit jedem Atemzug lauter werdend, brüllte: "<strong>Ingrid</strong>, hör' sofort<br />

auf mit dieser Hysterie! Mach vorwärts mit der Pr<strong>ob</strong>e und lies<br />

die Texte so, wie ich sagte – nichts ist in Stein gemeisselt! Es<br />

geht jetzt um's Timing – ich verspreche dir, wir werden diese<br />

Pr<strong>ob</strong>leme lösen, und wir werden – bitte fahr' fort und mach'<br />

vorwärts."<br />

Damit hatte er ihrer Beziehung auf sicher den Todesstoss<br />

gegeben, weshalb er Susskind anrief und ihm seinen<br />

Rücktritt bekanntgab. Aber am nächsten Morgen rief Susskind<br />

Kotcheff an, um ihm mitzuteilen, dass jedes Gerede um einen<br />

Rücktritt Unsinn sei. Er habe mit <strong>Ingrid</strong> gesprochen, die ihren<br />

Regisseur liebe und bewundere, ihn nicht verlieren möchte und<br />

alles zu <strong>tu</strong>n bereit sei, um zu kooperieren. Fortan verliefen die<br />

Pr<strong>ob</strong>en und Aufnahmen in aller Minne – und Kotcheff bestand<br />

darauf, ohne Besucher oder Crew weiterzumachen. Er wollte<br />

mit <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> Paar arbeiten.<br />

Und dann hatte der Regisseur eine blendende Idee: für<br />

den fiktiven Liebhaber am andern Ende der Lei<strong>tu</strong>ng wurde ein<br />

Dialog erstellt, auf den <strong>Ingrid</strong> während den Pr<strong>ob</strong>en dann antwortete.<br />

Von da an waren Regisseur und Schauspielerin feste<br />

Freunde. "Wenn du ihr erlaubt hättest, mit diesem Benehmen<br />

durchzukommen", sagte Lars zu Ted, "hätte sie dir nie wieder<br />

geglaubt. Als du sie anschriest, wurde ihr klar: 'Aha, der Mann<br />

weiss genau was er will und was er <strong>tu</strong>t – und ich bin bei ihm<br />

sicher."<br />

Seit dem Ende der Rossellini-Ära, angefangen bei Jean<br />

Renoir und Anatole Litvak mit Elena und Anastasia wollte <strong>Ingrid</strong><br />

auf die Stärken ihrer Regisseure vertrauen können, und der<br />

524


einzige Weg, hierüber Klarheit zu gewinnen, war zu fragen und<br />

zu beanstanden, zu motzen und zu streiten – nicht immer und<br />

nicht für lange Zeit. Sie war nicht der Typ des launischen,<br />

<strong>ob</strong>erflächlichen Stars, der sich ständig <strong>als</strong> das Gelbe vom Ei<br />

sieht. Aber sie hatte ein gesundes Vertrauen in ihre eigene<br />

Erfahrung und ihre Talente und musste sich daher stets vergewissern,<br />

dass ihr Regisseur auch das Beste aus ihr herauszuholen<br />

vermochte.<br />

Es war nicht ihre Art, hart aufzutreten, noch weniger,<br />

persönliche Attacken zu reiten. Kotcheff beschrieb sie <strong>als</strong> die<br />

ultimativ romantische Schauspielerin, unsentimental dank ihrer<br />

Gefühlstiefe und Offenheit, "ihrem grossen Humor und ihrem<br />

enorm grosszügigen Denken – nicht nur dadurch, dass sie alles<br />

für ihre Rolle gab, sondern auch alles für die Produktion". Hätte<br />

sie ihren Regisseur nicht gekannt, hätte sie Mittel und Wege<br />

finden müssen, ihn kennenzulernen, und in dieser Beziehung<br />

war ihre Taktik alles andere <strong>als</strong> "romantisch".<br />

Unsicherheit ist eine vielen - sogar talentiertesten -<br />

Künstlern gemeinsame Eigenschaft. Ganz besonders die<br />

Schauspieler – in Abhängigkeit von Stimme, Erscheinung, Gedächtnis<br />

und Fantasie wie auch von den wechselnden Echos<br />

aus Publikum und Presse oder der Einschätzung durch oft eifersüchtige<br />

Kollegen – sind diesen Sorgen extrem unterworfen.<br />

Laurence Olivier, um nur einen Meister der Gilde zu erwähnen,<br />

litt während einer zehnjährigen Periode spät in seiner Karriere<br />

dermassen unter Angst und Lampenfieber, dass er psychisch<br />

nahezu aktionsunfähig war und ihn nur seine Willenskraft vor<br />

dem totalen Zusammenbruch rettete. Sein Leiden war permanent.<br />

Anders in <strong>Ingrid</strong>s Fall, die nach so langer Arbeitspause<br />

immerhin in eine Einfrau-Show zurückkehrte: die Aufmerksamkeit<br />

aller ruhte konstant auf ihr. Und ihre Beklemmung<br />

wurde durch das Erscheinen einiger Produktions-Financiers, die<br />

die grosse Dame einmal in einem Solostück bei der Arbeit sehen<br />

wollten, nicht eben gemindert. Wie sich Kotcheff erinnerte,<br />

hat sie das eingeschüchtert und geschmissen.<br />

525


"Alles, was ich nicht erwähne, ist gut", versicherte er ihr<br />

zu Beginn der Aufnahmen in der dritten Woche. An einer Stelle<br />

warnte er sie vor einer kleinen Übertreibung, was ihre Zustimmung<br />

fand. "Weißt du, Ted, es passiert, weil ich mich zurück<br />

im Theater wähne und glaube, für den dritten Balkon<br />

spielen zu müssen. Dabei stehe ich doch vor der Kamera – ."<br />

Ja, ich weiss, antwortete Kotcheff, "ich weiss, du wirst das<br />

herunterspielen." Was sie auch tat. <strong>Ingrid</strong> achtete auf jede<br />

Bewegung, jede Pause, jedes Zögern und jedes Schweigen,<br />

und an der Hauptpr<strong>ob</strong>e lieferte sie den gesamten Monolog um<br />

lediglich 35 Sekunden mehr <strong>als</strong> die erforderlichen 50 Minuten.<br />

Auch diese glich sie leicht aus, und <strong>als</strong> das Stück im<br />

Frühling 1967 gesendet wurde (ihr erster Farbfernseh-Auftritt),<br />

würdigten Kritiker und Zuschauer es <strong>als</strong> eine vir<strong>tu</strong>ose Vorstellung<br />

von etwas, was oft <strong>als</strong> langweiliger Schmarren empfunden<br />

wird. Sie spielte mit grimmiger Entschlossenheit und einer tragischen<br />

Verzweiflung, was man kaum unberührt mitansehen<br />

konnte. "Wir sollten immer mit einem Cast dieser Grössenordnung<br />

spielen", sagte Susskind zu Lars. "Es ist wirtschaftlich".<br />

Lars entgegnete ironisch: "Aber sie ist Kettenraucherin. Vielleicht<br />

müssten wir das Budget dort in den Griff bekommen".<br />

Ein düsterer Unterton lag in seinen Bemerkungen zu <strong>Ingrid</strong>s<br />

Rauchgewohnheiten.<br />

NACH WEITEREN AUFENTHALTEN in Spitälern von Florenz<br />

und Rom wurde Isabella im Sommer 1967 endlich in die<br />

Pflege durch ihre Familie entlassen, nachdem ihr das Gipskorsett<br />

am 3. Juli entfernt worden war. <strong>Ingrid</strong> und die andern<br />

Kinder begleiteten sie zur Villa von R<strong>ob</strong>ertos Schwester Marcella<br />

an der Küste, wo sie mit grösster Liebe umsorgt wurde.<br />

Schliesslich, nachdem ihr Körper nochm<strong>als</strong> für ein Jahr in ein<br />

kürzeres Korsett gesteckt worden war, kehrte sie in die Schule<br />

und ins normale Leben eines Teenagers nach Rom zurück. Zu<br />

dieser Zeit hatte sich R<strong>ob</strong>erto mit <strong>Ingrid</strong>s Ehe abgefunden, und<br />

es kam bei Gelegenheit sogar zu einer Einladung an Lars. Und<br />

nachdem für Isabella für die nächste Zeit gesorgt war, sah sich<br />

526


<strong>Ingrid</strong> nach Arbeit um. Mit der Zeit erholte sich Isabella vollständig<br />

und reifte zu einer grossen, geschmeidigen, kerzengeraden<br />

Schönheit heran und erfreute sich einer erfolgreichen<br />

Karriere <strong>als</strong> Model und Schauspielerin.<br />

Bevor sich <strong>Ingrid</strong> ihrer eigenen Karriere wieder zuwenden<br />

konnte, galt es aber, noch eine kleine Revanche zu üben.<br />

Im vergangenen Jahr unterzog sich <strong>Ingrid</strong> Lars' Party-Angebot<br />

zu ihrem 50. Geburtstag. Jetzt war sie an der Reihe, im Stillen<br />

eine solche für ihn vorzubereiten. Sie sagte ihm bloss, ja, sie<br />

habe ein paar Freunde und Verwandte zu einem Lunch in Choisel<br />

eingeladen.<br />

Aber <strong>Ingrid</strong> hatte für diesen Abend etwas ganz anderes<br />

vor. Lars wollte seiner Mutter sein Theater in Paris zeigen,<br />

weshalb sie vom Land dorthin fuhren – nur um das Theater<br />

(entgegen den Instruktionen von Lars an seinen Hausmeister)<br />

– dunkel und verlassen vorzufinden. Mama, <strong>Ingrid</strong> und Lars<br />

standen einen Moment konsterniert da, worauf Lars nach einem<br />

Bühnenarbeiter rief. Im gleichen Moment nun h<strong>ob</strong> sich<br />

der Vorhang und 150 Stimmen von Freunden und Kollegen<br />

sangen das traditionelle Geburtstagslied. Auf <strong>Ingrid</strong>s Einladung<br />

waren sie aus aller Welt hergekommen. Sie hatte ein üppiges<br />

Nachtessen für alle organisiert, vollständig mit francoschwedischer<br />

Dekoration und einem riesigen Geburtstags-<br />

Kuchen.<br />

INGRIDS NÄCHSTES PROJEKT wurde zu Beginn des<br />

Frühjahrs entschieden. Ursprünglich hatte sie mit Lars die<br />

Möglichkeit einer Pariser Bühnenproduktion von "Anna Karenina"<br />

diskutiert. Aber sie war sich noch immer nicht voll im Klaren<br />

darüber: das Stück war einer von Greta Garbos grossen<br />

Erfolgen und ihre schwedische Kollegin war noch immer am<br />

Leben, wenn auch weit entfernt vom realen Leben. <strong>Ingrid</strong> wollte<br />

nach so langer Abwesenheit unbedingt zur Bühne zurückkehren,<br />

aber mit zweiundfünfzig befand sie sich in einem<br />

schwierigen, für die Schauspielerei nahezu unbrauchbaren Al-<br />

527


ter. Sie war zu alt für Natalia, doch hat das niemanden gekümmert.<br />

Was <strong>als</strong>o nun?<br />

Und eben dann, wie auf Bestellung, meldete sich Kay<br />

Brown im März am Telefon. Sie hatte eine Anfrage von Theater-Direktor<br />

Elliot Martin, der an einem unvollendeten Text von<br />

Eugene O'Neills letztem Stück "More Stately Mansions" arbeitete.<br />

Der Schriftsteller hatte angeordnet, dass nach seinem Tod<br />

alle seine unvollendeten Stücke zu vernichten seien, aber dieses<br />

eine tauchte in einer Bibliothek der Universität Yale auf<br />

und wurde, im Einverständnis mit O'Neills Witwe, 1962 in<br />

Stockholm zu einer provisorischen Aufführung gebracht. Nun<br />

teilte sich José Quintero, der 1946 "The Iceman Cometh" und<br />

eine Dekade später "Long Day's Journey into Night" leitete, mit<br />

Martin in die Textüberarbei<strong>tu</strong>ng, indem sie das sprühende Märchen<br />

einer neurotischen Familie im Boston des 19. Jahrhunderts<br />

schnitten und neu arrangierten. "Das unvollendete Manuskript<br />

war etwa eineinviertel Inch dick, wie O'Neill es geschrieben<br />

hatte, und in dieser Form hätte es einer fünfstündigen<br />

Aufführung entsprochen", erinnerte sich Elliot Martin. "Unvollständig<br />

und ungenau, war es auch über viele Seiten in O'Neills<br />

winziger Handschrift geschrieben."<br />

Im September wollte Martin das neue, zweitausendplätzige<br />

Ahmanson-Theater in Los Angeles mit der amerikanischen<br />

Premiere von "More Stately Mansions" eröffnen, wozu er zusätzlich<br />

zu den beiden andern begabten Schauspielern, Colleen<br />

Dewhurst und Arthur Hill, unbedingt <strong>Ingrid</strong> gewinnen wollte.<br />

Sie sollte die Rolle von Deborah Harford übernehmen, einer<br />

Ehefrau und Mutter, die so gierig auf Besitz<strong>tu</strong>m und die Seelen<br />

anderer ausgerichtet war, dass sie sich in einer fiktiven Welt<br />

von Machtwahn verlor. Sehr ähnlich wie Christa Mannon in<br />

"Mourning Becomes Electra" (eine Rolle, die <strong>Ingrid</strong> dieses Jahr<br />

ebenfalls ins Auge fasste), plant und erduldet Deborah vieles,<br />

um die Kontrolle über ihren introvertierten, idealistischen Sohn<br />

gegenüber dessen ebenso entschlossener Frau zu behalten. In<br />

einer inzestösen Fantasie verloren und rachsüchtig, befindet<br />

sie sich im Zentrum eines Strudels von Materialismus und<br />

528


Habgier, die nicht nur eine Familie, sondern – andeu<strong>tu</strong>ngsweise<br />

– auch eine ganze entartete Gesellschaft infizieren.<br />

"More Stately Mansions" war von "A Touch of the Poet"<br />

inspiriert und teilte das Schicksal der Melody-Familie; es war<br />

eines der neun Stücke im von O'Neill geplanten Zyklus zum<br />

Thema des Schnittpunkts zwischen amerikanischer Sozial- und<br />

Familiengeschichte. Vor mehr <strong>als</strong> zwanzig Jahren, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong><br />

Anna Christie spielte, wurde sie vom Schriftsteller persönlich<br />

eingeladen, sich für die gesamten geplanten Serien zu verpflichten.<br />

Als Martin und Quintero am 2. April zur Besprechung<br />

des Scripts in Choisel eintrafen, betrachtete sie die Angelegenheit<br />

somit <strong>als</strong> eine Erfülling ihrer Theater-Laufbahn. Mit Lars'<br />

Zustimmung sagte <strong>Ingrid</strong> sofort zu, diese zutiefst unsympathische<br />

Rolle zu spielen.<br />

Im Juli begab sie sich nach Dannholmen, wo sie las und<br />

das in Arbeit befindliche Stück s<strong>tu</strong>dierte, täglich auf den sonnenexponierten<br />

Felsen sass und in ihren Gedanken vom Rauschen<br />

des Meeres begleitet wurde. Inzwischen ist die Kunde<br />

vom Aufbegehren gewisser Verwal<strong>tu</strong>ngsräte des Ahmanson<br />

durchgedrungen, denen zufolge <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Name umsatzschädigend<br />

sei – <strong>ob</strong> denn nicht Jessica Tandy die bessere<br />

Wahl wäre? Martin und Quintero blieben fest, der Verwal<strong>tu</strong>ngsrat<br />

fügte sich murrend, und alle erwarteten <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s<br />

erstmalige Rückkehr zur Amerikanischen Bühne seit über 20<br />

Jahren.<br />

AM 3. AUGUST traf sie in Los Angeles ein und stand einem<br />

175-köpfigen Korps der Weltpresse gegenüber. Aus Rücksicht<br />

auf den Umstand, dass sie Isabella in letzter Zeit übermässig<br />

viel Zeit gewidmet hatte und nun auch ihr Zwilling<br />

dringend etwas Zuwendung durch die Mutter benötigte, brachte<br />

sie die kleine <strong>Ingrid</strong> zu einem langen Besuch in Kalifornien<br />

mit.<br />

"Am Flughafen stellten die Reporter einige gr<strong>ob</strong>e Fragen<br />

zu Dingen, die mittlerweile achtzehn Jahre zurücklagen", be-<br />

529


ichtete Elliot Martin, "aber <strong>Ingrid</strong> hatte ein Rückgrat aus Stahl<br />

und bot den Burschen an diesem Tag die Stirn. Dennoch war<br />

sie gleichzeitig eine angenehme, sanfte Person". Sein Cast,<br />

fügte er bei, habe <strong>Ingrid</strong> dabei brillant und liebenswürdig unterstützt,<br />

mit Dewhurst und Hill habe sie sich schnell angefreundet.<br />

"Alle in der Kompanie beteten sie an", erinnerte sich Arthur<br />

Hill nach Jahren. "<strong>Ingrid</strong> arbeitete mit ihrem Instinkt und<br />

nicht mit dem Intellekt, und in dieser Beziehung hätte sie die<br />

Rolle wohl besser nicht angenommen – nicht weil sie nicht<br />

dazu fähig gewesen wäre, sondern weil das Stück ein echter<br />

Schlamassel war! Und natürlich war sie auch etwas in Sorge<br />

um ihren ersten Bühnenauftritt in Amerika nach über zwanzig<br />

Jahren. Sie verliess sich auf Ruth R<strong>ob</strong>erts' Hilfe bei der Diktion<br />

und auf José für die Regie.<br />

"Mein Gott", schrie Colleen Dewhurst nachdem sie eine<br />

Woche lang mit <strong>Ingrid</strong> gearbeitet hatte, "ich wusste ja, wie gut<br />

sie aussieht. Aber das war ja lächerlich! Jetzt (mit zweiundfünfzig)<br />

sieht sie besser aus, <strong>als</strong> ich mit dreissig! Sie trinkt ihren<br />

Whisky, ist eine Nachteule und treibt ihre Spässe und sieht<br />

immer noch grossartig aus. Was immer sie mimisch von sich<br />

gibt, ist echt und stimmt – nichts gekünstelt."<br />

Wie <strong>Ingrid</strong> Lars gegenüber zugab, hatte sie an Quintero<br />

mehr auszusetzen, <strong>als</strong> er an ihr, und die Atmosphäre war viel<br />

angespannter <strong>als</strong> seinerzeit mit John Frankenheimer oder Ted<br />

Kotcheff. Zeitweise fand er sie gar nicht so "anbe<strong>tu</strong>ngswürdig".<br />

"Zugegeben, ich trieb den armen José zur Verzweiflung. Es ist<br />

ja bekannt, wie sicher ich meiner Sache bin." Die Wahrheit ist<br />

allerdings, dass sie ihrer Sache gar nicht so sicher war – daher<br />

die Zusammenstösse. Während den Pr<strong>ob</strong>en rief sie Quintero<br />

laut zu: "Oh, das ist f<strong>als</strong>ch!" und dann äusserte sie sich auch<br />

noch zu den Kommentaren, die andere Schauspieler zu seiner<br />

Regieführung abgaben. Diese Szenen wiederholten sich so oft,<br />

bis der Regisseur "ausrastete, mich anbrüllte und mich ausschimpfte"<br />

– und später sah sie ein, dass er damit vollkommen<br />

im Recht war.<br />

530


Die Verbindung von tiefer Sorge um das Stück und dem<br />

ebenso festen Vertrauen in ihr Talent führte <strong>Ingrid</strong> in eine nervöse<br />

Anspannung, die sich während einer gewissen Zeit wie<br />

ein Virus in der Produktion festsetzte. Was Hill und Dewhurst<br />

erkannt hatten, wurde <strong>Ingrid</strong> zu spät bewusst: nämlich, dass<br />

gewisse Dinge in diesem Stück sich nicht leicht (wenn überhaupt)<br />

lösen liessen, dass aber ein unperfekt dargebotenes<br />

O'Neill-Stück immer noch besser ist, <strong>als</strong> vieles andere, was<br />

1967 <strong>als</strong> Theater durchging. Elliot Martin und José Quintero<br />

hatten den mutigen Entschluss gefasst, das letzte Stück eines<br />

grossen Schriftstellers aufzuführen, und so führte die Kompanie<br />

ihre Arbeit spielerisch zu Ende.<br />

Die Premiere am 12. September in Los Angeles erwies<br />

sich zunächst <strong>als</strong> Reinfall. Langer Applaus begleitete ihren ersten<br />

Auftritt, doch plötzlich erstarrte <strong>Ingrid</strong>: sie hatte ihren Dialog<br />

ganz einfach vergessen. Nach einem schrecklichen Moment<br />

lieferte ihr der Souffleur die erste Zeile, womit die Panne beh<strong>ob</strong>en<br />

war. Doch ungeachtet der Pr<strong>ob</strong>leme, hatten die drei<br />

Hauptdarsteller die Kritiker von Los Angeles für sich gewonnen.<br />

Bezüglich <strong>Ingrid</strong>s Verkörperung der fürchterlichen Deborah,<br />

kam ihr Monolog im ersten Akt in metallisch klingender Stimme<br />

daher, voller Erstaunen über ihre eigene Boshaftigkeit:<br />

"Wirklich, Deborah", sprach sie zu sich selbst, <strong>als</strong> <strong>ob</strong> sonst<br />

noch jemand im Raum anwesend wäre, "ich beginne wirklich<br />

zu glauben, du seist etwas verrückt!" Ihre Augen leuchteten,<br />

ein leichtes Lächeln kräuselte sich auf ihren Lippen.<br />

"Du solltest dich in Acht nehmen. Eines Tages kannst<br />

du dich derart tief in diesem romantischen Bösen verlieren,<br />

dass du den Weg zurück nicht mehr findest.<br />

Nun gut, soll es geschehen! Ich würde mich ja gerne<br />

verlieren. Doch wie s<strong>tu</strong>pid. Diese krankhaften, endlosen<br />

Selbstgespräche!"<br />

Nach einer kurzen Pause richtete sie ihren Körper auf<br />

und h<strong>ob</strong> ihre Stimme an, um einen inneren Entschluss anzudeuten:<br />

531


532<br />

"Ich muss jemanden ausserhalb meiner selbst finden,<br />

auf den ich mich verlassen und durch den ich mir<br />

selbst entfliehen kann – einen Starken, mit gesundem<br />

Körper und Geist, der es wagt, das Leben gierig zu leben,<br />

anstatt davon zu lesen und zu träumen. Ah – (ihr<br />

Sohn) Simon – Simon wär's, dein Simon!"<br />

<strong>Ingrid</strong> wurde zu Deborah indem sie zunächst die kalte<br />

Herzlosigkeit der Figur im Umgang mit den Menschen begriff,<br />

dann ihr rationales Denken ausschaltete um zu einer Hal<strong>tu</strong>ng<br />

von kalter Verach<strong>tu</strong>ng zu finden.<br />

IHRER BEKLEMMUNG AN DER PREMIERE zum Trotz tat<br />

<strong>Ingrid</strong> etwas, was Elliot Martin <strong>als</strong> für sie typisch bezeichnete:<br />

sie sandte ihm einen Blumenstrauss mit den Worten: "Ich bin<br />

die Frau eines Produzenten und weiss daher, dass die einzige<br />

an der Premiere vergessene Person der Produzent ist." Die<br />

Presse versammelte sich nach der Vorstellung zur Premieren-<br />

Party, und "tout" Hollywood war anwesend; es schien, jedermann<br />

wollte sie berühren, <strong>als</strong> wäre sie die heimgekehrte Majestät.<br />

Lars und Pia fanden sich zur Vorstellung und Party ein.<br />

Unter all den Verehrern war Alfred Hitchcock wohl der<br />

glühendste. "H<strong>als</strong>- und Beinbruch!" wünschte er <strong>Ingrid</strong>. Sie sah<br />

ihn ratlos an und er fragte: "Weisst du, was das bedeutet?" Sie<br />

schüttelte den Kopf. "Viel Glück und Erfolg!" antwortete Hitch,<br />

indem er sie wie ein verknallter Schuljunge seine geliebte Lehrerin<br />

anstrahlte. Bald danach fand <strong>Ingrid</strong> an einem ruhigen<br />

Nachtessen bei den Hitchcocks Gelegenheit, Reminiszenzen<br />

aufzuwärmen und ihn in ihren momentanen Lebenslauf einzugleisen.<br />

Hitch hatte in seiner langen Karriere einen schwierigen<br />

Punkt erreicht: sein jüngster Film "Torn Curtain" war von der<br />

Kritik zerrissen worden. Und er litt – nach über drei Jahren -<br />

noch immer an einer sehr tiefen Wunde – einer selbstzerstörerischen<br />

Leidenschaft, die er für die Schauspielerin Tippi Hedren<br />

hegte, die er in seinen beiden vorangehenden Filmen "Die Vö-


gel" und "Marnie" präsentierte. Dabei handelte es sich um die<br />

beiden ersten Filme der Schauspielerin nach einer erfolgreichen<br />

Model-Karriere; sie war die willigste Darstellerin, und in<br />

beiden diesen Filmen bot sie eine solide Leis<strong>tu</strong>ng.<br />

Wie <strong>Ingrid</strong>, hatte es auch Tippi Hedren zunächst erfolgreich<br />

geschafft, eine freundschaftliche Nähe zu ihrem Regisseur<br />

zu halten. Aber spätestens während der Produktion von<br />

"Marnie" Ende 1963 wurde klar, dass Hitchcock viel mehr <strong>als</strong><br />

eine freundschafliche Kollegialität wollte, doch Tippi Hedren<br />

widersetzte sich seinen Erwar<strong>tu</strong>ngen. Die seit Jahrzehnten anhaltende<br />

Entsagung führte schliesslich zu einer Eruption, und<br />

Hitchcock beantwortete die höfliche aber bestimmte Zurückweisung<br />

mit offenem Ärger und unstillbarer Bitterkeit; letztlich<br />

schadete er sich selbst damit mehr <strong>als</strong> Tippi Hedren. So verschaffte<br />

ihm <strong>Ingrid</strong>s Besuch, die ihm in Witz und In<strong>tu</strong>ition<br />

ebenbürtig war, eine grosse seelische Erleichterung, denn sie<br />

holte ihn zurück in jene Zeit, <strong>als</strong> er noch wesentlich diskreter<br />

war.<br />

NACH SECHS WOCHEN in Kalifornien wurde "More Stately<br />

Mansions" nach New York verlegt, wo am 31. Okt<strong>ob</strong>er im<br />

Broadhurst-Theater die Premiere stattfand. "Die Schweden<br />

halten alles von der Länge eines O'Neill-Stücks durch", pflegte<br />

<strong>Ingrid</strong> dam<strong>als</strong> zu sagen, "aber die Amerikaner kommen mit<br />

einigen Martinis in<strong>tu</strong>s ins Theater und wollen einfach unterhalten<br />

sein." Im vorliegenden Fall galt das allerdings weder für<br />

das Publikum noch für die Kritiker. "Es leistet der Erinnerung<br />

an O'Neill einen Bärendienst", schrieb der TIMES-Kritiker, und<br />

fügte bei, dass <strong>ob</strong>schon <strong>Ingrid</strong> "<strong>als</strong> Frau so hübsch ist, dass sie<br />

selbst <strong>als</strong> Kunstwerk empfunden wird.....sie merkwürdig unbeholfen<br />

gewirkt hat. Sie setzt ihren natürlichen Charme kräftig<br />

ein und macht aber aus ihrer Rolle weniger, <strong>als</strong> man gehofft<br />

hätte". Seine Kollegen fanden das Stück düster, langweilig und<br />

einschläfernd, aber die meisten äusserten sich netter über <strong>Ingrid</strong>.<br />

Sie brauche keine Nettigkeiten, betonte sie, <strong>als</strong> sie die we-<br />

533


nig enthusiastischen Berichte las – aber die Gr<strong>ob</strong>heiten gegenüber<br />

Quintero, Martin und O'Neill machten sie fuchsteufelswild.<br />

Trotz allem: das Stück lief bis März 1968 während sechzehn<br />

Wochen, was zu jener Zeit schon etwas heissen wollte.<br />

Weder sie noch ihre Kollegen bereuten es, diese Erfahrung<br />

gemacht zu haben. "Sie hatte überhaupt keine Starallüren",<br />

stellte Arthur Hill fest und fügte bei, dass sie alle bemerkten,<br />

dass <strong>Ingrid</strong> es an einem Abend sehr spät werden liess, weil sie<br />

die Backstage-Zone, die Treppenhäuser und Garder<strong>ob</strong>en mit<br />

bunten Dekorationen und schwedischen Trollen ausschmückte.<br />

Die Weihnacht 1967 fiel zusammen mit Kay Browns<br />

fünfundsechzigstem Geburtstag, wozu <strong>Ingrid</strong> "Eine Ode an<br />

Kay" schrieb, die nicht nur <strong>Ingrid</strong>s warmherzigste Seite enthüllte,<br />

sondern auch ihre erstaunliche Gabe zur Verfassung<br />

leichter englischer Verse:<br />

534<br />

"I sat up one night rather late,<br />

Thinking up rhymes for my Kate,<br />

But could find only "holy"<br />

To rhyme with "Stromboli"<br />

So I quickly called in Mrs. Haight. *)<br />

I first met this Lady named Brown<br />

When she flew into my dark, frozen town<br />

With a contract to sign<br />

On the cold, dotted line<br />

And a smile I couldn't <strong>tu</strong>rn down.<br />

In New York, as Mrs. James Barrett,<br />

She said, to meet all, I must dare it.<br />

Both you and your Jim<br />

Took me into the swim<br />

With you at my side I could bare it.<br />

With the flick crowd your girl was soon in<br />

So you warned her of whiskey and gin.<br />

You advised how to dress her,


Was her mother confessor,<br />

And taught her the wages of sin.<br />

*) Eine Nachbarin von Kay Brown<br />

But on Stromboli, that glamorous isle,<br />

Where you came at the height of your style<br />

In a lovely mink coat<br />

And a small fishing boat,<br />

But you failed, Kay, in spite of your guile.<br />

You continued your <strong>Ingrid</strong> to sell<br />

Though things didn't go very well.<br />

Life just didn't fit<br />

Work wasn't it<br />

My luck seemed to quit.<br />

Love was – oh, well!<br />

So instead of a hit<br />

You found me Lars Schmidt<br />

With his island, his dogs and Choisel.<br />

With "Mansions" you found me a part in<br />

A drama I lost my whole heart in.<br />

When I accepted, you cried,<br />

Saying, "It's so dignified."<br />

Then you sent me Quintero and Martin.<br />

After opening, we all went to dine<br />

And to greet me, you headed the line.<br />

And the pic<strong>tu</strong>re will show,<br />

What I already know:<br />

I'm safest, when your hand's holding mine.<br />

In your capable hands I am still,<br />

And God help me, I always will.<br />

Men have tried to replace you<br />

They still push and race you -<br />

As you <strong>als</strong>o can see in the still.<br />

535


536<br />

Now these silly verses must end.<br />

As you hear them you must comprehend<br />

That what these verses say<br />

Is "I love you, dear Kay,<br />

My matchmaker, angel and friend."<br />

AUCH FÜR EINEN ANDERN GUTEN FREUND hatte <strong>Ingrid</strong><br />

diesen Winter gute Worte. Am 25. Januar 1968 eilte sie nach<br />

der Vorstellung ins Sardi's zur Premieren-Party für "I Never<br />

Sang For My Father" von R<strong>ob</strong>ert Anderson. Seit jenem Winter<br />

1957 in Paris hatte er sich <strong>Ingrid</strong>s Rat zu Herzen und sein Leben<br />

wieder in die Hände genommen: einige Monate nach ihrer<br />

Trennung hatte er Teresa Wright kennengelernt, die er 1959<br />

heiratete. Teresa, deren bevorstehende und Award-trächtige<br />

Bühnen-, Film- und Fernseh-Karriere neue Impulse erhielt,<br />

spielte nun <strong>als</strong> Co-Star neben Hal Holbrook und Lillian Gish in<br />

B<strong>ob</strong>s neuem Stück.<br />

Als <strong>Ingrid</strong> im Sardi's eintraf, wartete alles gespannt auf<br />

die ersten Zei<strong>tu</strong>ngsberichte über das Stück. Wie sich dann herausstellte,<br />

war alles begeistert ausser der New York Times.<br />

"Oh B<strong>ob</strong>", sagte <strong>Ingrid</strong> in Anbetracht der Erfahrungen, die sie<br />

eben selbst mit derselben Zei<strong>tu</strong>ng gemacht hatte, "lies lieber<br />

deine Anzeigen, nicht die Rezension!" "I Never Sang For My<br />

Father" lief dann während einer beachtlichen Zeit am Broadway,<br />

wurde erfolgreich verfilmt und später oft wiederaufgeführt.<br />

Immer auf der Suche nach einem geeigneten Projekt<br />

für <strong>Ingrid</strong>, sichtete Kay Brown Woche für Woche die neuesten<br />

Novellen, die der Litera<strong>tu</strong>rabteilung von MCA zugesandt wurden.<br />

Unter den Submissionen war eine des Autors und Produzenten<br />

Stirling Silliphant, der eine Bearbei<strong>tu</strong>ng von Rachel<br />

Maddox' Roman "A Walk in the Spring Rain" vorlegte. Es war<br />

die Geschichte einer Professorengattin mittleren Alters, die<br />

ihren Mann während den Semesterferien für einen Bildungsurlaub<br />

zum Schreiben ins ländliche Tennessee begleitet. Dort<br />

erlebt sie eine kurze Romanze mit einem sehr verschiedenartigen<br />

Mann – einem der primitiven Sorte, passenderweise ge-


spielt von Anthony Quinn. Aber am Ende kehrt sie doch zu ihrem<br />

weniger unabhängigen aber umso realistischeren Leben in<br />

der Stadt zurück.<br />

<strong>Ingrid</strong> las die Bearbei<strong>tu</strong>ng mit einigem Missbehagen.<br />

Der Film sollte in Amerika produziert werden, doch hatte sie in<br />

den vergangenen Jahren in Europa wirklich wenig gemeinsame<br />

Zeit mit Lars verbringen können. "Unser Berufsleben hat uns<br />

getrennt, nachdem wir ständig an verschiedenen Orten in der<br />

Welt arbeiteten", sagte er. "Obschon wir alles Menschenmögliche<br />

unternahmen, um in engem Kontakt zu bleiben, waren wir<br />

doch immer wieder während längerer Zeit allein." Nachdem<br />

dieses Frühjahr "More Stately Mansions" abgesetzt war, versuchte<br />

<strong>Ingrid</strong> zur französischen Landfrau zu werden, doch wie<br />

üblich genügte ihr das Leben in Choisel nicht. Sie und Lars waren<br />

nun während fast zehn Jahren verheiratet, und <strong>ob</strong>schon es<br />

auf beiden Seiten weder Streit noch Argwohn gab, "war es<br />

nicht wirklich ein verheiratetes Leben", wie sie zugab.<br />

Ihr zweiter Grund, mit der Annahme der Rolle zu zögern,<br />

hatte mit dem ersten Entwurf von Silliphants Drehbuch<br />

zu <strong>tu</strong>n, das sie ihm gespickt mit kritischen Bemerkungen zurücksandte.<br />

Dies, dachte sie, würde die Verhandlungen wohl<br />

platzen lassen.<br />

Aber genau das Gegenteil passierte, und die Gerüchte<br />

über <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Rückkehr zum amerikanischen Film nach<br />

einundzwanzig Jahren verursachten einen Wirbel von Interesse<br />

bei andern Produzenten. Mike Frankovich z.B., um einen zu<br />

nennen, der die Filmrechte an der erfolgreichen Komödie "Kak<strong>tu</strong>sblüte"<br />

erworben hatte, war rund um die Welt tätig und feierte<br />

eben einen riesigen Erfolg in New York. Während sich Silliphant<br />

mit den Pr<strong>ob</strong>lemen von "Walking in the Spring Rain"<br />

abmühte, spurteten Frankovich und Regisseur Gene Saks mit<br />

dem Drehbuch von I.A.L. Diamond für "Kak<strong>tu</strong>sblüte" nach<br />

Choisel. Ihre Rolle – die einer scheinbar geschlechtslosen<br />

Zahnarzt-Praxisgehilfin, die dem Titel entsprechend blüht –<br />

könne im kommenden Frühjahr in Hollywood sehr schnell gedreht<br />

werden, sagten sie, und dafür wurde ihr eine so hohe<br />

537


Gage angeboten ($ 800'000 für ein paar Wochen Arbeit), dass<br />

sie nicht ablehnen konnte.<br />

Aber sie sei nahezu dreiundfünfzig, sagte <strong>Ingrid</strong>, und<br />

die Rolle verlange nach einer Frau in den Dreissigern. "Ich bin<br />

eher stolz auf meine Fältchen und habe nie versucht, mein<br />

Alter zu verschleiern." Aber vielleicht möchten Frankovich und<br />

Saks zuerst einen Screentest vornehmen, um sicherzustellen,<br />

dass sie sich <strong>als</strong> Partnerin des um fünf Jahre jüngeren Walter<br />

Matthau eigne? Ausserdem habe sie nie eine Diskothek besucht<br />

und habe keine Ahnung von den neuen, wilden Diskotänzen,<br />

die im Drehbuch erwähnt sind – <strong>ob</strong> das nicht auch zum<br />

Pr<strong>ob</strong>lem werden könne? Die Männer sahen sich an. Eine mittlerweile<br />

legendäre Schauspielerin fragt nach einem Test? Das<br />

Resultat bestätigte dann ihre Beharrlichkeit, und der Handel<br />

wurde besiegelt.<br />

Die Bekanntmachung von <strong>Ingrid</strong>s Teilnahme – und der<br />

Oscar, den Stirling Silliphant im April <strong>als</strong> Autor von "In the<br />

Heat of the Night" erhielt – waren genau die Impulse, die er<br />

benötigte. Diesen Sommer begab er sich nach Dannholmen<br />

und brachte den zweiten Entwurf mit sich – der, wie sie sagte,<br />

stark verbessert war. Nun, meinte Silliphant, er werde den<br />

Film ebenfalls produzieren, und wenn sie sich für "Kak<strong>tu</strong>sblüte"<br />

nach Amerika begebe, könne er später in diesem Frühjahr einen<br />

ebenso flotten Fahrplan für "A Walk in the Spring Rain"<br />

arrangieren. Zwei aufeinanderfolgende Filme mit hohen Gagen,<br />

eine triumphale Rückkehr nach Hollywood, und sie wäre im<br />

Sommer bei Lars in Europa zurück. <strong>Ingrid</strong> unterschrieb.<br />

UND SO KAM SIE ANFANGS 1969 in Los Angeles an, wo<br />

sie im Beverly Hills Hotel untergebracht wurde und Walter<br />

Matthau sowie die dreiundzwanzigjährige Goldie Hawn traf. Im<br />

Ungewissen darüber, wie sie in einem Hollywood-Set empfangen<br />

würde, war <strong>Ingrid</strong> bei Ankunft in den Columbia-S<strong>tu</strong>dios<br />

sehr nervös. Matthau schlug daher vor, dass sie am ersten Tag<br />

zusammen lunchten. Sie kippte drei Martinis, bevor sie stocknüchtern<br />

zur Arbeit in die S<strong>tu</strong>dios zurückkehrten. "Ich stellte<br />

538


fest, wie gut sie dem Alkohol standhielt", erinnerte sich<br />

Matthau, und sie entgegnete: "Ya, schlimm, nicht wahr?"<br />

Goldie Hawn fürchtete, "von ihr so eingeschüchtert zu<br />

werden, dass ich nicht arbeiten kann. Aber nichts von alledem<br />

geschah. Ich hatte nie das Gefühl, in Konkurrenz zu ihr zu stehen.<br />

Ich fühlte mich einfach geehrt, mit ihr im gleichen Film<br />

aufzutreten. Sie hat mich mit grosser Liebenswürdigkeit aufgenommen<br />

und mir vieles beigebracht in meinem ersten Film"<br />

(für den Goldie Hawn den "Supporting Actress Oscar" gewann).<br />

Nach einigen Wochen Arbeit im Set hatte sich in Hollywood<br />

herumgesprochen, dass (wie das Sprichwort sagt) ein<br />

alter Stern ein heisser neuer Stern sei, und so wurde <strong>Ingrid</strong><br />

eingeladen, an der Frühjahrsveranstal<strong>tu</strong>ng den Oscar für die<br />

beste Schauspielerin zu überreichen. Sie öffnete den Umschlag<br />

und verkündete den Award mit einem trällernden Kichern, welches<br />

das Publikum zum Mitlachen animierte noch bevor sie<br />

verkünden konnte, dass es diesmal zwei Gewinner gebe (Katherine<br />

Hepburn und Barbra Streisand).<br />

Wie unter José Quintero machte sich <strong>Ingrid</strong> auch hier<br />

ihre Gedanken zur Regie und scheute sich nicht, mit Gene<br />

Saks darüber zu sprechen. Mochte sie in Bezug auf ihre Rolle<br />

etwas zurükhaltender sein, so beeinflusste im Set ihre wache<br />

Intelligenz alle Aspekte dieser Produktion. <strong>Ingrid</strong> hatte sich<br />

selbst perfekt unter Kontrolle, gemäss Saks – und manchmal<br />

ihn dazu. Lebhaft und auf ihre Erfahrung vertrauend, konnte<br />

sie gelegentlich auch zu weit gehen, w<strong>ob</strong>ei die Diplomatie in<br />

dieser dritten Phase ihrer Karriere des öftern nicht zu ihren<br />

Stärken zu zählen war.<br />

"Ich glaube, Gene Saks ist sehr dankbar für all' die guten<br />

Ratschläge, die ich ihm gebe", schrieb sie Lars im März.<br />

"Wie üblich, mische ich mich in seine Regie ein!" Tatsächlich<br />

empfand Saks sie <strong>als</strong> "eine sensationelle Mischung von Irritation<br />

und Charme", wenn sie Kleinigkeiten in Script oder Regie<br />

aufgriff, die er längst <strong>als</strong> erledigt betrachtet hatte. "Aber dann<br />

lachte sie oft über sich selbst, womit sie mich wieder vollkommen<br />

in der Tasche hatte." Ihre Vorschläge, die nie trivial wa-<br />

539


en, glätteten einige scharfe Kanten im Script, das leider viel<br />

von der brillanten Leichtigkeit des französischen Origin<strong>als</strong> verloren<br />

hatte – "Fleur de cac<strong>tu</strong>s" von <strong>Ingrid</strong>s Freund Pierre<br />

Barillet und Jean-Pierre Grédy.<br />

Wie nicht anders zu erwarten war, sah <strong>Ingrid</strong> sehr<br />

hübsch aus – sei es im Weiss der Schwesterntracht oder im<br />

Paillettenkleid. Sie tanzte die wilden Schwünge der späten<br />

1960er-Jahre im echt fiebernden Stil und schuf durch ihr typisches<br />

Understatement jenen wundervollen Anflug von Komödie,<br />

der seit ihren schwedischen Filmen vor dreissig Jahren bei<br />

ihr nicht mehr zu sehen war – womit ihre Wandlung vom nordischen<br />

Eisberg zur leidenschaftlichen Geliebten weder unfein<br />

noch unglaubwürdig wirkt.<br />

GENAU WIE WÄHREND DEN SELZNICK-JAHREN sprintete<br />

<strong>Ingrid</strong> von einem Film zum andern. Ungeachtet etlicher<br />

Schwierigkeiten mit Script und Besetzung war "A Walk in the<br />

Spring Rain" inzwischen produktionsreif geworden, und eine<br />

Woche nach der Oscar-Verleihung war <strong>Ingrid</strong> in den Smoky<br />

Mountains mit Anthony Quinn, Fritz Weaver und Regisseur Guy<br />

Green, der durch seine erfolgreichen und sensibeln Filme "The<br />

Mark" und "A Patch of Blue" von sich reden machte. Vor Jahren<br />

hatte Green sein scharfes Künstlerauge auf die Verfilmung verschiedener<br />

David Lean-Filme geworfen, und durch eine personelle<br />

Umbesetzung in letzter Minute gab er "Spring Rain" viel<br />

von dessen bildhafter Attraktivität und erzählerischen Einfachheit.<br />

Vom 21. April bis zum 13. Juni 1969 arbeitete <strong>Ingrid</strong> in<br />

Tennessee, New York und Hollywood an diesem Film.<br />

Mehr <strong>als</strong> jede andere Schauspielerin, die er in seiner<br />

Karriere getroffen hat, empfand Green <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> "kooperativ,<br />

bescheiden, immer angenehm und nie ein Pr<strong>ob</strong>lem. Für uns<br />

alle in Cast und Crew war sie eine bemerkenswerte Person –<br />

um jedermanns Pr<strong>ob</strong>leme immer genau so besorgt, wie z.B.<br />

um die quietschenden Räder eines Kamerawagens. Sie ging in<br />

540


der Produktion völlig auf."<br />

Manchmal war sie vielleicht zu sehr engagiert, denn <strong>ob</strong>schon<br />

sie sich nie <strong>als</strong> Regisseur betätigen wollte, handelte sie<br />

jetzt tatsächlich wie einer, und das stellte Anthony Quinns Geduld<br />

auf die Pr<strong>ob</strong>e. Bei den Dreharbeiten zu einer Aussenszene<br />

in Tennessee herrschte eines Tages pefektes Sonnenlicht und<br />

alles war zur Aufnahme bereit. Aber nach einer kurzen Pr<strong>ob</strong>e<br />

für die Szene drehte sich <strong>Ingrid</strong> zu Quinn um und fragte ihn:<br />

"Aber so wirst du die Szene nicht spielen, oder?"<br />

Quinns mexikanisch-irisches Temperament flatterte:<br />

"Wer führt hier eigentlich Regie – du oder Guy?" Unvermittelt<br />

drohte er, den Film zu verlassen; sie sollen Burt Lancaster <strong>als</strong><br />

Ersatz für ihn holen, schlug er vor. Quinn und Green steckten<br />

dann die Köpfe zusammen, während <strong>Ingrid</strong> sich mit Ruth R<strong>ob</strong>erts<br />

unterhielt. "Die Sonne steht schon tief", sagte sie zu<br />

Ruth, "mein Gott, wir könnten einen ganzen Drehtag verlieren,<br />

und alles durch meine Schuld!" Und damit gewann ihr professionelles<br />

Bewusstsein wieder die Oberhand. "Es <strong>tu</strong>t mir entsetzlich<br />

leid", sagte sie auf Green und Quinn zugehend, "ich<br />

werde meinen Mund nie wieder aufmachen darüber, wie du<br />

eine Szene spielen sollst. Lasst uns doch weitermachen, damit<br />

wir die Szene noch in den Kasten bekommen."<br />

BEI IHRER ARBEIT in den frühen Sechzigerjahren konnte<br />

<strong>Ingrid</strong>, wie sie dieses Frühjahr in einem Brief an Lars eingestand,<br />

"ziemlich mühsam sein, wie mir Tony Quinn und Guy<br />

Green klarmachten und aber auch halfen, die Fehler zu erkennen.<br />

Ich höre nie zu und unterbreche ein im Gange befindliches<br />

Gespräch mit völlig bezugsfremden Themen; du kennst<br />

das ja. Das hat mir Tony Quinn abgewöhnt. Er fixiert mich<br />

schweigend bis ich mich entschuldigt habe. Wart's nur ab, ich<br />

bin jetzt viel angenehmer." Bestimmt war sie am Ende der<br />

Aufnahmen angenehmer, <strong>als</strong> sie Tony Quinn und Guy Green<br />

ein Geschenk präsentierte – Malerutensilien für ihren Co-Star<br />

(der inzwischen zu malen begonnen hatte) und eine elegante<br />

Geldkassette für ihren Regisseur, auf deren Deckel eingraviert<br />

541


stand:<br />

542<br />

Within you see<br />

what pleases me<br />

- und Green öffnete die Kassette um in einem kleinen<br />

Spiegel darin sein eigenes Konterfei zu sehen. Wie immer auch<br />

die Umstände, <strong>Ingrid</strong> war nie undankbar, sondern wusste, was<br />

sie geduldigen Kollegen zu verdanken hatte.<br />

Aber sie war in ihrer späten Karriere auch von jedem<br />

Projekt zunehmend gestresst – zum Teil wegen des Mangels an<br />

guten neuen Scripts, aber zum Teil auch weil sie spürte, dass<br />

ihre Ehe durch Zeit und Distanz langsam ausgehöhlt wurde.<br />

Sie rauchte mehr, gelegentlich trank sie auch etwas zuviel<br />

(<strong>ob</strong>wohl nie bis zur Trunkenheit) und wirkte oft kantig und<br />

verwirrt. Gleichzeitig fühlte sie sich oft undefinierbar krank,<br />

aber ohne greifbare Symptome und angesichts so vieler anderer<br />

klarer Befindlichkeiten ignorierte sie ihr Unbehagen einfach<br />

und setzte ihren Lebensstil im gewohnten Sinne fort.<br />

Doch die allgemeine Besessenheit vom Jugendwahn<br />

regte sie auf: "Es gibt keine Filmrollen für eine Frau meines<br />

Alters! Da bin ich, in meinen Fünfzigern eine alte Frau", sagte<br />

sie zu einem Autor, "gut, vielleicht kann ich eines Tages noch<br />

eine der Macbeth-Hexen spielen!" Und dann sprudelte ihr unwiderstehliches<br />

Lachen aus ihr hervor. Aber sie war nicht immer<br />

in guter Verfassung.<br />

"A Walk in the Spring Rain" hatte hübsche Momente,<br />

aber 1970, <strong>als</strong> der Film veröffentlicht wurde, war kein guter<br />

Zeitpunkt für Liebesgeschichten von Erwachsenen. <strong>Ingrid</strong> warb<br />

in ganz Amerika für den Film, der aber nicht gut ankam, und<br />

die Komplimente, die sie erhielt, betrafen gerade noch ihre<br />

Erscheinung – so weit so gut, aber es genügte nicht. So würden<br />

Filmsternchen erwähnt, sagte sie: aber sie war etwas anderes<br />

– eine ernsthafte Schauspielerin, die nach wie vor an<br />

schwierigen und herausfordernden Projekten arbeitete.


INGRID KEHRTE NACH PARIS ZURÜCK, wo Lars sie erwartete.<br />

Sie schilderte lebhaft den derzeitigen Stand im neuen<br />

Hollywood, wo das traditionelle S<strong>tu</strong>dio-System und die Langzeitverträge<br />

durch ein seelenloses, jugendorientiertes und jugendkontrolliertes<br />

Geschäftsgebaren ersetzt wurden. Technisch,<br />

sagte sie, hätte Amerika die weltweit allerbesten Voraussetzungen,<br />

aber diese würden für einige der dümmsten,<br />

hirnlosesten Geschichten eingesetzt, die man sich vorstellen<br />

könne. "Casablanca", gewiss nicht ihr Lieblingsfilm, hätte 1970<br />

niem<strong>als</strong> hergestellt werden können, sagte sie, und sie hatte<br />

Recht damit: es gab darin keinen augenfälligen Sex, keine<br />

sichtbare Gewalt, keine Auto-Hetzjagden und keinen Rock-<br />

Soundtrack. Und "Notorious"? Hitch hätte eine derart subtile<br />

und ausgereifte Idee dieser wilden neuen Welt nie verkaufen<br />

können.<br />

Aber es war nicht nur ihr Berufsumfeld, das sich verändert<br />

hatte, wie <strong>Ingrid</strong> am Abend ihrer Ankunft erfahren sollte.<br />

Auch ihr Leben veränderte sich schnell. So schonend wie möglich<br />

erklärte ihr Lars, dass er sich in eine junge Frau namens<br />

Kristina Belfrage verliebt habe, die in Paris lebte und arbeitete.<br />

Ihre Beziehung sei ernsthafter und für ihn wichtiger geworden,<br />

<strong>als</strong> er ursprünglich erwartet habe. Zwanzig Jahre seien nun<br />

seit dem Tod seines Kindes verstrichen und sein Wunsch nach<br />

einem weiteren Kind sei intensiv und dauerhaft.<br />

<strong>Ingrid</strong> nahm die Neuigkeit nicht ruhig auf. Sie wusste,<br />

dass sie eine Frau in Abwesenheit war und dass dies eine solche<br />

Entwicklung vielleicht unausweichlich machte. Sie besprachen<br />

die Scheidung, aber keiner von ihnen wäre dazu bereit<br />

gewesen. Plötzlich hatte <strong>Ingrid</strong> den Eindruck, dass sich hier<br />

das Ende ihrer Ehe mit R<strong>ob</strong>erto wiederhole und dass Kristina<br />

die neue Sonali Das Gupta war. Sollte ihr ganzes Leben eine<br />

einzige Sühne für 1949 sein?<br />

<strong>Ingrid</strong> gab der Ehe eine letzte, lange Chance, und während<br />

Lars seine Zeit zwischen ihr und Kristina aufteilte, wartete<br />

sie in Choisel buchstäblich Abend für Abend während acht Monaten<br />

– bemüht, Scripts zu lesen, ihre Kinder und einige<br />

543


Freunde zu Besuch zu empfangen, Freunde zu kontaktieren;<br />

erstm<strong>als</strong> in ihrem Leben fühlte sie sich unnütz und unerwünscht.<br />

"Ein Teil in ihr sagte: 'Oh, weiterleben so'", erinnerte<br />

sich Stephen Weiss, "weil die Sache mit Kristina und Lars ihrer<br />

eigenen Vergangenheit so nahe kam. Aber bei all ihrer Stärke<br />

war sie scheu und verängstigt und sie brauchte ihn – <strong>ob</strong>schon<br />

sie ihre Karriere vor allem Andern brauchte."<br />

"Selbst in dieser Si<strong>tu</strong>ation bewies <strong>Ingrid</strong> ihre Grösse",<br />

sagte Lars. "Sie war eine einmalige Künstlerin und eine wunderschöne<br />

Frau von aussergewöhnlicher innerer Stärke. Sie<br />

hatte den Mut, bei ihrer Arbeit, im häuslichen Bereich und in<br />

ihren zwischenmenschlichen Beziehungen ihre Meinung stets<br />

frei zu vertreten. Sie suchte Liebe, sie gab Liebe und wurde<br />

geliebt. Sie war glücklich und eine fröhliche Na<strong>tu</strong>r." Aber das<br />

Lachen verging ihr in dieser Saison.<br />

Dann, eines Abends, kam ein Telefonanruf vom Londoner<br />

Theater-Produzenten Hugh ("Brinkie") Beaumont. Er plante<br />

die Neuauflage einer kleineren Shaw-Komödie, "Captain<br />

Brassbounds Conversion" . 1899 für Ellen Terry geschrieben,<br />

handelte es sich dabei um ein etwas schäbiges Stück, aber<br />

dessen Zentrum wurde bestimmt durch eine brillant entworfene<br />

Rolle, die der Lady Cicely Waynflete. Nach Ellen Terry haben<br />

weitere grosse Bühnendarstellerinnen (u.a. Gladys Cooper,<br />

Sybil Thorndike und Edna Best) <strong>als</strong> Lady Cicely enorme Erfolge<br />

gefeiert.<br />

<strong>Ingrid</strong> las das Stück und, ja, Brinkie hatte Recht: es war<br />

nicht sehr gut. Aber welch eine Rolle für sie – die einzige Frau<br />

unter fünfundzwanzig Mitspielenden, und ihr fielen alle zündenden<br />

Texte zu. <strong>Ingrid</strong> akzeptierte, Laurence Evans handelte<br />

für sie 10 % der wöchentlichen Brutto-Kasseneinnahmen aus,<br />

und nach Weihnacht 1970 reiste sie ab zu den Pr<strong>ob</strong>en nach<br />

London. Ob Lars sein Leben mit Kristina nun weiterführte oder<br />

nicht, war nun, wie sie es sah, ausschliesslich seine Sache;<br />

jedenfalls konnte sie nicht zuhause sitzen und in ständiger<br />

Sorge die Daumen drehen.<br />

544


1969 - "Kak<strong>tu</strong>sblüte", mit Goldie Hawn und Walter Matthau in der<br />

berühmten Tanzszene<br />

545


546<br />

1969 - "Kak<strong>tu</strong>sblüte", mit Walter Matthau


1969 - "Kak<strong>tu</strong>sblüte", mit Goldie Hawn<br />

547


548<br />

1970 - mit Guy Green und Anthony Quinn<br />

in "A Walk in the Spring Rain"


"Sehr geehrter Senator Percy,<br />

mein Krieg mit Amerika ist längst beendet. Die Wunden sind<br />

mir allerdings geblieben. Nun, durch Ihre galante Geste mit<br />

Ihrer grosszügigen und verständnisvollen Adresse an den Senat<br />

sind auch sie für immer verheilt.".<br />

(<strong>Ingrid</strong>s Antwort auf die Entschuldigung aus dem U.S. Senat)<br />

1971 - 1975<br />

"Die Tränen, die du vergossen hast, machen dich zum<br />

menschlichen Wesen, und dafür sollten wir dankbar sein", erklärte<br />

<strong>Ingrid</strong> den Reportern aus dem Stegreif, <strong>als</strong> sie im Januar<br />

1971 in London eintraf. Während Jahren ahnte niemand, dass<br />

sie von ihrer dritten Ehe sprach. Wie immer ihr privater Kummer<br />

aussah, <strong>als</strong> sie sich diesen Winter im Connaught Hotel<br />

einquartierte, sie trug die Maske ihrer üblichen ungezwungenfröhlichen<br />

Eleganz. Ihre Rolle in "Captain Brassbounds Conversion"<br />

kam ihr dabei zustatten.<br />

So charmant, dass sie alle Männer in ihrem Umfeld um<br />

den Finger wickeln kann, ist Lady Cicely Wainflete eines von<br />

Shaws intrigantesten Geschöpfen und zwar ungeachtet der<br />

Tatsache, dass sie in einem Stück agiert, das seit seiner Premiere<br />

ganz allgemein <strong>als</strong> "schön langweilig" beurteilt wird. In<br />

Marokko begegnen sie und ihr Schwager dessen Neffen, dem<br />

berüchtigten Räuber "Black Paquito", alias Captain<br />

Brassbound, der eine alte Rechnung zu begleichen hat. Mit<br />

Humor und Logik befreit sie den Titelhelden von seinen Rachegelüsten<br />

und kämpft für die Gerechtigkeit. Listig, offen, misstrauisch<br />

der Liebe gegenüber und schlau die männlichen<br />

Schwächen ausnutzend, verfügt Lady Cicely über männliche<br />

Boshaftigkeit und steuert aber dank ihrer betont mütterlichen<br />

Na<strong>tu</strong>r ihre Welt in eine bessere Rich<strong>tu</strong>ng.<br />

549


Die Pr<strong>ob</strong>en nahmen im Januar 1971 einen erstaunlich<br />

ruhigen Verlauf, vielleicht weil sich <strong>Ingrid</strong> keinen Illusionen<br />

hingab und wusste, dass sie auf Frith Banburys Regie hinsichtlich<br />

Shaws Subtilitäten angewiesen war. Dennoch hatte sie ihre<br />

eigene Meinung. "Das darfst du nicht <strong>tu</strong>n, weil die Leute ihn<br />

ansehen müssen, während er spricht", wies Banbury <strong>Ingrid</strong><br />

zurecht, <strong>als</strong> sie sich bewegte, während ein anderer Darsteller<br />

seinen Dialog sprach. "Aber meine Reaktion darauf ist wichtig",<br />

konterte sie. "Nicht seine Worte, meine Reaktion. Schliesslich<br />

bestimmt im Leben oft die nicht sprechende Person den Verlauf<br />

einer Handlung." Diese Lektion hatte sie von Hitchcock gelernt<br />

und in diesem Fall war sie auch absolut im Recht.<br />

Die Premiere vom 18. Februar im Cambridge Theatre,<br />

nach einem zweiwöchigen Pr<strong>ob</strong>elauf in Brighton, überraschte<br />

einige Kritiker: wozu eine Neuinszenierung eines unbedeutenden<br />

Shaws und wozu eine Schwedin in der Rolle einer britischen<br />

Aristokratin? Und warum stotterte <strong>Ingrid</strong> (nach ihren<br />

eigenen Worten) "in den ersten Aufführungen wie üblich mit<br />

meinem Dialog herum?" Sie hatten den Nagel auf den Kopf<br />

getroffen, denn es war weit entfernt von Shaws besten Stücken,<br />

<strong>Ingrid</strong> begriff nicht sehr viel davon und ihre Rolle war für<br />

sie nicht geeignet. Trotz alledem, Beaumont kannte sein Publikum<br />

– das dem Stück dann eine Laufzeit von neun Monaten<br />

bescherte – und was den Dialog anbetraf, war dieser für <strong>Ingrid</strong><br />

während der ersten Woche immer etwas risik<strong>ob</strong>ehaftet.<br />

Sie konnte in diesem Stück aber auch grossartig sein,<br />

und ihre polyvalente Diktion verschiedener Dialoge brachte<br />

genau den beabsichtigten feinen Humor hervor. Wenn von einem<br />

Schurken behauptet wurde, er sei ein vernünftiger Mann<br />

geworden, entgegnete sie mit einem leicht bittern Trällern:<br />

"Oh, du glaubst, er habe sich so stark verändert?"<br />

INGRID HATTE DIESEN SOMMER verschiedene ruhige<br />

Dinners mit Hitchcock; er drehte in London "Frenzy", und sie<br />

plauderten, höhlten eine Flasche Champagner, beklagten den<br />

neuen Stil der Filmemacher und feierten eine Freundschaft, die<br />

550


nun über siebenundzwanzig Jahre lang andauerte. Durch<br />

"Brassbound" kamen nun zwei neue Freundschaften dazu – die<br />

zu ihrem Co-Star Joss Ackland, der die Hauptrolle spielte, und<br />

die zu Griffith James, Company und Stage Director der Produktionsgesellschaft.<br />

An Sonntagen kam <strong>Ingrid</strong> öfters zu Ackland,<br />

um mit seinen Kindern im Richmond Park Rad zu fahren.<br />

Was Griff James betrifft, begrüsste er <strong>Ingrid</strong> anlässlich<br />

der ersten Pr<strong>ob</strong>e, zu der sie mit etwa viertelstündiger Verspä<strong>tu</strong>ng<br />

eintraf, mit einem leichten Tadel: seine Professionalität<br />

und Strenge gefielen ihr, womit sich sehr bald eine feste Allianz<br />

bildete. Für den Rest ihres Lebens war Griff ihr ein treuer<br />

Freund, der an all ihren Auftritten in England und Amerika beteiligt<br />

war.<br />

Im Hochsommer war <strong>Ingrid</strong> dankbar für die Ruhe auf<br />

Dannholmen, wohin sie ihre Kinder mitbrachte. "Weißt du",<br />

sagte sie zu einem Freund, "Mutterschaft ist eher eine Frage<br />

der Qualität <strong>als</strong> der Quantität. Ich meine, geht es nicht in erster<br />

Linie darum, wie man die Zeit mit seinen Kindern verbringt,<br />

<strong>als</strong> um die Dauer? Ich sehe meine Kinder nicht sehr oft, aber<br />

wenn, dann gehöre ich ihnen mit Haut und Haar."<br />

Das war ihre Mutterschafts-Philosophie, <strong>ob</strong>schon sie<br />

einsah, dass sie ungewöhnlich sei. "Ich wollte den Erfolg, einen<br />

grossen Erfolg <strong>als</strong> Schauspielerin, ein Zuhause und Kinder. Ich<br />

bin glücklich, alles zu haben. Wenn der Preis dafür zu hoch<br />

war, hoffe ich nur, dass ich ihn allein bezahlt habe. Meine Kinder<br />

haben auch daran bezahlt. Ihre Wege waren gesäumt von<br />

zerbrochenen Heimen." Und dafür fühlte sie sich ein Leben<br />

lang schuldig – was es vielleicht verständlich macht, warum sie<br />

sich in ihrem späten Leben oft mit mütterlicher Zärtlichkeit um<br />

Einsame kümmerte, seien es nun Freunde oder Kollegen gewesen.<br />

Diesen Sommer engagierte Lars einen jungen finnischen<br />

Universitätsabgänger mit einer Mordsbegabung für die Logistik<br />

der Haushaltsführung und mit den Fähigkeiten eines Weltklasse-Chefs.<br />

In den folgenden Jahren wurde Paavo Turtiainen ein<br />

enger Freund von Lars und <strong>Ingrid</strong>, und er war es auch, der ihr<br />

551


ei der komplexen Aufgabe der Sich<strong>tu</strong>ng ihrer Manuskripte und<br />

Dossiers an die Hand ging, <strong>als</strong> sie endlich begann, mit einem<br />

Mitarbeiter an ihren Memoiren zu arbeiten. Paavos Diskretion<br />

und tiefe Verbundenheit zu ihnen beiden waren Lars und <strong>Ingrid</strong><br />

in den folgenden zwölf Jahren eine wertvolle Hilfe, und noch<br />

lange nach <strong>Ingrid</strong>s Tod blieb er ein enger Vertrauter von Lars'<br />

Familie.<br />

In jenem Dezember fand ein Familienfest statt, <strong>als</strong> sich<br />

<strong>Ingrid</strong> nach New York begab, wo sich Pia in zweiter Ehe mit<br />

dem Finanz-Broker Joseph Daly vermählte. Mama wurde von<br />

Sidney Bernstein zur kirchlichen Trauung begleitet, wo auch<br />

ein paar höfliche Floskeln mit Petter gewechselt wurden, der<br />

seine Tochter zum Altar führte. Im Jahr danach wurde <strong>Ingrid</strong><br />

durch die Dalys erstm<strong>als</strong> Grossmutter. Pia zufolge war <strong>Ingrid</strong><br />

"wahrscheinlich die vernarrteste, eifrigste und anhänglichste<br />

Grossmutter, die die Welt je gesehen hat".<br />

ANFANGS 1972 begann sie die kanadische Tournée mit<br />

"Captain Brassbounds Conversion" – in mehreren Städten<br />

während einiger Wochen bis zum Sommer. Während der Spielzeit<br />

im Kennedy Center akzeptierte sie die Einladung zu einem<br />

Frage und Antwort-Forum mit der National Press Association.<br />

Die üblichen Klichees kamen auf's Tapet – Fand sie die Komödie<br />

schwieriger <strong>als</strong> das Drama? Wie beurteilt sie das Kennedy<br />

Center? Wie schafft sie es, so jugendlich zu bleiben? Sollten<br />

sich Schauspieler mit der Politik beschäftigen? Und dann wollte<br />

ein Reporter wissen, wie <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> eine Rolle eins<strong>tu</strong>dierte.<br />

Ihre Antwort war geradeheraus und lehrreich zu einer Zeit,<br />

<strong>als</strong> über die Kunst eines Schauspielers noch viel Ge<strong>tu</strong>e und<br />

selbstgefällig-akademische Weitschweifigkeiten abgezogen<br />

wurden:<br />

552<br />

"Ich habe nicht viel Litera<strong>tu</strong>r über die Schauspielerei<br />

gelesen. Instinktiv und schon beim ersten Durchgang<br />

eines Scripts weiss ich, wer die betreffende Frau ist.<br />

Deshalb lasse ich auch einiges beiseite, was ich nicht<br />

verstehe. Ich muss eine Figur genau verstehen; ich


meine, etwas von dieser Person muss in mir sein, und<br />

dann fühle ich plötzlich, wer sie ist. Es geht hier mehr<br />

um eine Gefühlssache <strong>als</strong> um Technik."<br />

Sie entliess die Journalisten dann im Gelächter über ihre<br />

letzte Anwort: nachdem sie so lange in Italien gelebt hatte,<br />

was hat sie über die Italiener und das zeitgenössische Theater<br />

zu sagen? "Die Italiener kümmern sich nicht sonderlich um das<br />

Theater – weil sie schliesslich alles, was sie auf der Bühne sehen,<br />

zuhause viel besser bekommen."<br />

ABER DEN HÖHEPUNKT erlebte die Tournée nach der<br />

gut benoteten Premiere in New York (wo "Captain Brassbounds<br />

Conversion" das einzige von sechsundfünfzig Stücken dieser<br />

Saison war, das einen Gewinn abwarf). Am 19. April verlas<br />

Senator Charles Percy von Illinois eine nationale Entschuldigung<br />

an die Adresse von <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> für das Unrecht, das<br />

ihr vor zweiundzwanzig Jahren von Senator Johnson angetan<br />

worden ist. Seine Erklärung, ergänzt durch verschiedene Kritiken<br />

und Artikel über sie, die diese Saison erschienen waren,<br />

wurde im Kongressprotokoll dieses Tages festgehalten:<br />

"Herr Präsident,<br />

Eine der hübschesten, anmutigsten und talentiertesten<br />

Frauen der Welt wurde vor zweiundzwanzig Jahren in<br />

diesem Haus zum Opfer von bittersten Angriffen. Heute<br />

möchte ich <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>, einem echten Star im<br />

wahrsten Sinne des Wortes, den längst überfälligen<br />

Tribut zollen."<br />

Nachdem er die Einzelheiten ihres Besuchs in Washington<br />

und die Höhepunkte ihrer Bühnen-, Film- und Fernseh-Karriere<br />

zusammengefasst hatte, stellte er weiter fest, dass<br />

<strong>Ingrid</strong> offensichtlich eine überwältigende Bewunderung<br />

und Zuneigung durch das amerikanische Volk geniesse<br />

– und zwar sowohl für ihr brillantes und einfühlsames<br />

Schauspiel, wie auch für ihren Mut, ihre Ausgeglichen-<br />

553


554<br />

heit und Wärme <strong>als</strong> Individuum .......Unsere Kul<strong>tu</strong>r wäre<br />

ohne ihre Kunst ärmer.....Sie ist eine der grössten aktiven<br />

Schauspielerinnen unserer Zeit.<br />

Und dann kam der Grund für den ganzen Sermon:<br />

"Ich weiss, dass ich für Millionen von Amerikanern rede,<br />

wenn ich <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> deren Bedauern für die persönliche<br />

und berufliche Verfolgung ausspreche, die sie<br />

veranlasste, unser Land auf dem Höhepunkt ihrer Karriere<br />

zu verlassen. Miss <strong>Bergman</strong> ist nicht nur willkommen<br />

in Amerika; wir fühlen uns durch ihre Besuche hier<br />

zutiefst geehrt."<br />

Elf Einträge über <strong>Ingrid</strong> wurden seinem Kongress-<br />

Protokoll dieses Tages noch beigefügt.<br />

"Sehr geehrter Senator Percy", schrieb <strong>Ingrid</strong> von New<br />

York aus, "mein Krieg mit Amerika ist längst beendet.<br />

Die Wunden sind mir allerdings geblieben. Nun, durch<br />

Ihre galante Geste mit Ihrer grosszügigen und verständnisvollen<br />

Adresse an den Senat sind auch sie für<br />

immer verheilt."<br />

Während ihrer Anwesenheit in New York erschien sie<br />

kurz in einem eher unbedeutenden Film <strong>als</strong> exzentrische, reiche<br />

alte Dame, die sich in "From the Mixed-Up Files of Mrs.<br />

Basil E. Frankweiler" mit zwei einsamen Kindern anfreundet.<br />

Wie sie Freunden erzählte, nahm sie die Rolle nicht nur wegen<br />

des vielen Geldes an, das ihr dafür geboten wurde, sondern<br />

auch weil sie den Charakter dieser Rolle – den einer Perrücke<br />

tragenden, gepuderten Einsiedlerin – <strong>als</strong> herrliche Gelegenheit<br />

für eine Satire über die wenigen Rollen erkannte, die es für<br />

Frauen um die fünfzig noch gibt: Frauen über achtzig, die sich<br />

vom dürren, bissigen alten Weib zur verehrten alten Dame<br />

mausern.


ZURÜCK AUF DANNHOLMEN und gelegentlich auch in<br />

Choisel unterbrach sie im Sommer und Herbst 1972 ihren Urlaub<br />

durch verschiedene Reisen nach London, um Projekte zu<br />

besprechen, doch im Moment gab es nichts Sicheres – weder<br />

in der Kunst noch im Leben. Ihr häufiges Erscheinen an Flughäfen<br />

und das zwangsläufig öffentliche Leben von <strong>Ingrid</strong> und<br />

Lars machten die Presse hellhörig, die nun Pr<strong>ob</strong>leme im Eheparadies<br />

zu wittern begann. "Die Leute fragen mich über Lars<br />

aus", sagte sie einem Reporter, "wir sind immer noch verheiratet<br />

und ich hoffe, wir werden wieder klarkommen und verheiratet<br />

bleiben. Das ist alles, was ich im Moment sagen kann. In<br />

den Zei<strong>tu</strong>ngen lese ich, 'Ein Freund sagt....Freunde von Miss<br />

<strong>Bergman</strong> sagen...' und ich wundere mich, wer diese Freunde<br />

alle sein sollen? Ich glaube nicht, dass sich meine Freunde<br />

über meine Ehe äussern, weil sie – wie ich selbst – noch nicht<br />

wissen, was sie sagen sollen." Auch Lars, der Kristina Belfrage<br />

nicht heiratete, wusste es nicht.<br />

Aber <strong>Ingrid</strong> hatte die Antwort sofort bei der Hand, <strong>als</strong><br />

Binkie Beaumont neuerdings von London anrief mit der Idee<br />

für eine weitere Neuaufführung – diesmal von Sommerset<br />

Maughams Komödie "The Constant Wife" aus dem Jahre 1927.<br />

Die zentrale Figur war Constance, eine elegante und<br />

clevere Frau, seit fünfzehn Jahren mit John Middleton verheiratet,<br />

einem renommierten Arzt, der mit ihrer besten Freundin<br />

ein Verhältnis hat. Während ihre Freunde sie aufstacheln,<br />

durchzubrennen und ihre Mutter ihr rät, sich mit der männlichen<br />

Schürzenjägerei abzufinden, wählt Constance einen dritten<br />

Weg: sie versucht, sowohl ihre Selbstach<strong>tu</strong>ng wie auch<br />

ihre finanzielle Unabhängigkeit zu bewahren und eröffnet John,<br />

dass auch sie ihn nicht mehr liebt, dass sie arbeiten wolle um<br />

ihn für ihren Lebensunterhalt entschädigen zu können: "Es gibt<br />

nur eine wirklich wichtige Freiheit, das ist die wirtschaftliche<br />

Selbständigkeit."<br />

Ein Jahr später - solvent und zu haben – erklärt sie<br />

John zu dessen Entsetzen, dass sie nun eine romantische Reise<br />

mit einer alten Flamme unternehmen werde. "Ich war so vor-<br />

555


sichtig, einen Gentleman zu heiraten", sagt sie, "und ich weiss,<br />

dass du mich nie für dasselbe verlassen würdest, das auch du<br />

getan hast." Nach ihrem Abenteuer verspricht sie, zu ihrem<br />

Mann zurückzukehren, der sie zurücknimmt, weil sie – wie er<br />

zugibt – "die betörendste, mutwilligste, kapriziöseste, dickköpfigste,<br />

wunderbarste und bezauberndste Frau ist, die zur Ehefrau<br />

zu haben, ein Mann je verflucht sein kann. Ja, verdammt<br />

nochmal, so komm zurück!"<br />

Als ein ein halbes Jahrhundert altes Stück schien es<br />

bestens geeignet, die allgemeine Stimmung um die Emanzipationsbewegung<br />

der 1970er-Jahre perfekt aufzufangen. Im<br />

Spätherbst las <strong>Ingrid</strong> das Stück, besprach es mit Lars, überprüfte<br />

den Handlungsverlauf und stellte fest, dass die Figur der<br />

Constance von Ethel Barrymore mehr schlecht <strong>als</strong> recht gezeichnet<br />

und später von Katharine Cornell elegant überarbeitet<br />

wurde. Wie die Lady Cicely war auch Constance eine grossartige<br />

Rolle, und <strong>Ingrid</strong> konnte sich – Beaumont sei Dank - zudem<br />

auf eine exquisite Garder<strong>ob</strong>e freuen. Das ausschlaggebende<br />

Argument aber, das <strong>Ingrid</strong>s Beteiligung schliesslich sicherte,<br />

war Sir John Gielguds Zusage, die Regie zu übernehmen.<br />

Selbstverständlich hätte sie es vorgezogen, anstelle von<br />

Neuaufführungen neue, moderne Stücke zu spielen, aber niemand<br />

schrieb Rollen für Frauen mittleren Alters, "und es ist<br />

sehr schwierig, heutzutage gute Scripts zu finden. Die meisten<br />

Autoren scheinen unangenehme Stücke für unattraktive Leute<br />

mit ordinärer Sprache zu schreiben. Ich spiele keine gemeinen<br />

Rollen. Ich möchte meinem Publikum Vergnügen bereiten,<br />

nicht es abstossen."<br />

Und so begaben sich am 20. März 1971 <strong>Ingrid</strong> und Gielgud<br />

nach London zu Gesprächen bei Beaumont zuhause. "Wir<br />

fanden ihn mit Rückenschmerzen im Bett liegend", erinnerte<br />

sich Sir John. Er wollte sich eben zu einer Untersuchung zu<br />

seinem Arzt in der Harley Street begeben. <strong>Ingrid</strong> und ich verbrachten<br />

eine halbe S<strong>tu</strong>nde zu beiden Seiten seines Betts.<br />

Dann war sein Wagen da, und <strong>Ingrid</strong> und ich konnten uns über<br />

einer Tasse Tee im Salon allein weiterunterhalten." Zwei Tage<br />

556


später erlag Beaumont einem Herzversagen im Alter von 64<br />

Jahren.<br />

ENDE MAI WURDE INGRID EINGELADEN, das Präsidium<br />

der Jury der Filmfestspiele von Cannes zu übernehmen, wo<br />

Ingmar <strong>Bergman</strong>s "Cries and Whispers" ausser Konkurrenz<br />

aufgeführt wurde. Wie sie eben Choisel in Rich<strong>tu</strong>ng Riviera<br />

verlassen wollte, fand sie des Regisseurs schriftliches Versprechen<br />

– jetzt über ein Jahrzehnt alt, einen Film mit ihr zu produzieren.<br />

Dem Brief fügte sie einen Zettel mit der Notiz bei:<br />

"Die Zeit läuft!" und steckte beides zusammen am Festival inmitten<br />

des Fotographengerangels in Ingmars Tasche.<br />

Die Produktion von "The Constant Wife" lief gut, mit den<br />

Pr<strong>ob</strong>en im Spätsommer für eine Premiere am 29. September<br />

im Albery-Theater. "Ich erlebte sie bezaubernd bereitwillig und<br />

empfänglich für die Anweisungen der Regie", erklärte Gielgud.<br />

Gerade weil sie sowohl die ersten Anzeichen von Untreue wie<br />

auch die daraus resultierende Notwendigkeit zur Selbständigkeit<br />

der Frau kannte, brachte sie einen verschmitzten Realitätssinn<br />

in die Rolle ein und jene Ironie, die es ihr ermöglichte,<br />

die Spitzen der ehelichen Dissonanzen so unter Kontrolle zu<br />

halten, dass ein Abgleiten in publikumswirksame Sentimentalitäten<br />

vermieden wurde. "Am ersten Abend war ich so nervös<br />

und durcheinander", gestand <strong>Ingrid</strong> bald danach ein. "Ich habe<br />

derart Lampenfieber im Theater, aber überhaupt keines vor<br />

der Kamera. Ich empfand die Kamera immer <strong>als</strong> meinen<br />

Freund, und dann kann man es schliesslich wiederholen, wenn<br />

nötig. Das geht im Theater eben nicht."<br />

Wie schon zuvor, benötigte sie eine Woche nach der<br />

Premiere, um sich in ihrer Rolle zurecht zu finden, aber dennoch<br />

kam es zu Heiterkeit erzeugenden Schnitzern, die das<br />

Vergnügen des Publikums noch zu erhöhen schienen. An einem<br />

Punkt, wo sie ihren Mann dazu bringen sollte, die Menügestal<strong>tu</strong>ng<br />

der Köchin zu überlassen, wäre ihr Dialog gewesen: "Give<br />

the cook her head!" (etwa: überlass das doch der Köchin!),<br />

doch stattdessen sagte sie in beschwörendem Crescendo: "Gi-<br />

557


ve the cook your head!" (etwa: gib der Köchin deinen Kopf!).<br />

Für einen kurzen Moment wunderte sie sich, weshalb sich ihre<br />

Mitspieler vor Lachen schüttelten. "Was hat sie wohl heute<br />

Abend mit uns vor?" war dann das liebevolle Passwort im Cast.<br />

WIE SICH GIELGUD ERINNERTE, machte <strong>Ingrid</strong> eines<br />

Abends aus der Not eine Tugend, <strong>als</strong> sie backstage eben vor<br />

ihrem Auftritt in ein eifriges Gespräch mit Griff James verwickelt<br />

war. Ihr Auftritt war dran, doch sie bemerkte es nicht, im<br />

Gegensatz zu Griff, der sie rasch durch die Tür auf die Bühne<br />

sch<strong>ob</strong>. Atemlos und fast stolpernd erholte sie sich sofort und<br />

wandte sich an ihre Mitspieler mit den Worten – <strong>als</strong> wären sie<br />

Bestandteil ihres Dialogs: "Oh, Entschuldigung - ich sprach<br />

eben mit Griff."<br />

"The Constant Wife", der grösste Renner der Saison,<br />

war am Albery täglich ausverkauft und machte <strong>Ingrid</strong> zu einer<br />

sehr reichen Frau: wiederum Dank Laurence Evans kassierte<br />

sie nun 12,5 % der Bruttoeinnahmen. Ungeachtet einiger bissiger<br />

Kommentare von Kritikern – die wohl mehr aus sprachlichen<br />

Gründen <strong>als</strong> im Zusammenhang mit Shaws Stück zutiefst<br />

bedauerten, dass eine Schwedin eine Engländerin zu spielen<br />

hatte – lief "The Constant Wife" in London während acht Monaten<br />

bis Mai 1974.<br />

Doch was sind schon Kritiker: wirklich in Aufregung versetzte<br />

sie der Zustand ihrer Wohnung an der Mount Street, <strong>als</strong><br />

sie nach der Vorstellung vom Montag, 29. Okt<strong>ob</strong>er nachhause<br />

zurückkehrte. Sie fand die Tür aufgebrochen, die Wohnung<br />

verwüstet, Schmuck im Wert von $ 25'000 gestohlen, ihr<br />

Nerzmantel und etwelche Familienstücke von emotionalem<br />

Wert waren weg. Die Versicherung deckte den materiellen<br />

Schaden, aber <strong>Ingrid</strong> kämpfte bei der nächtlichen Heimkehr<br />

nach der Vorstellung noch während Wochen gegen ein tiefes<br />

Gefühl von Unsicherheit.<br />

558


DOCH DANN traten schwerwiegendere Gründe zur Besorgnis<br />

auf. Am 26. September 1973 starb Anna Magnani im<br />

Alter von 65 Jahren an Krebs. <strong>Ingrid</strong>, die nun in einem freundschaftlichen<br />

Kontakt zu Rossellini stand, hatte den verheerenden<br />

Verlauf von Magnanis Krankheit mitverfolgt. Die exzentrische,<br />

unbändige Künstlerin war in ihren letzten Tagen völlig<br />

einsam – wenn man von R<strong>ob</strong>erto absieht, der sie besuchte,<br />

Blumen brachte und ihre Hand auch durch den Nebel der<br />

Schmerzen und der Narkotika hielt, bis sie starb.<br />

Magnanis alte Verbitterungen, die Missgeschicke, Wutanfälle<br />

und Eifersuchten auf R<strong>ob</strong>erto hatten in den letzten Monaten<br />

an Bedeu<strong>tu</strong>ng verloren, und <strong>Ingrid</strong> sprach fortan stolz<br />

und respektvoll von der liebevollen Zuwendung, die ihr vormaliger<br />

Ehemann Magnani in diesen schrecklichen letzten Wochen<br />

zuteil werden liess. Alle Glocken Roms wurden zu ihrer Beerdigung<br />

geläutet, Tausende von Menschen umstanden die Kirche,<br />

und <strong>als</strong> ihr Sarg herausgetragen wurde, war es totenstill – bis<br />

ein S<strong>tu</strong>rm von Applaus losbrach, wohl die einzige Art, wie ein<br />

dankbares Publikum einer seiner beliebtesten Künstlerinnen<br />

die Ehre erweisen konnte. Als sich in der Folge herausstellte,<br />

dass für ihre Beisetzung keinerlei Vorssorge getroffen worden<br />

war, bestand R<strong>ob</strong>erto darauf, dass sie in seinem Familiengrab<br />

beigesetzt werde.<br />

Vielleicht hat sich <strong>Ingrid</strong> einige Wochen danach an Magnanis<br />

Krebstod erinnert.<br />

Nach einer Vorstellung im November las sie zuhause im<br />

Bett den Brief einer dankbaren Leserin an den Herausgeber der<br />

Zei<strong>tu</strong>ng, die berichtete, dass ein Artikel über die Selbstkontrolle<br />

der Brust ihr das Leben gerettet habe. Noch beim Lesen fuhr<br />

<strong>Ingrid</strong>s Hand sorgfältig über ihre rechte Brust. Kein Knoten,<br />

nichts Ungewöhnliches. Gut so. Beim Weiterlesen ertasteten<br />

ihre Fingerspitzen einen kleinen Knoten unter der linken Brust.<br />

Nein, sagte sie sich, das kann nichts Ernstes sein.<br />

Doch dann griff sie plötzlich zum Telefon und rief Lars in<br />

Choisel an und holte ihn nach Mitternacht aus dem Schlaf. Für<br />

gewöhnlich sprachen sie sich jeden Tag einmal, weil <strong>Ingrid</strong><br />

559


stets praktische Alltagsfragen hatte über Dinge, die sie nicht<br />

meistern konnte, wie: wie finde ich ein gutes Hotel oder eine<br />

anständige Wohnung, wieviel Trinkgeld gibt man dem Gepäckträger,<br />

wie behandelt man einen tropfenden Wasserhahn,<br />

wann bespricht man ein Pr<strong>ob</strong>lem mit dem Produzenten oder<br />

wie buche ich eine Flugreservation.<br />

Ihr Leben lang verliess sie sich hinsichtlich der praktischen<br />

Lebensfragen auf ihre Ehemänner oder Liebhaber, während<br />

sie sich selbst ihrer Kunst widmete. "Sie war wirklich keine<br />

praktisch veranlagte Person – in Tat und Wahrheit war sie<br />

in mancherlei Hinsicht wie ein Kind", wie es Stephen Weiss<br />

ausdrückte. "Es mag ja komisch tönen, aber <strong>Ingrid</strong> war ausserhalb<br />

der Bühne eine sehr unselbständige Person. In ihrer<br />

Arbeit fühlte sie sich stark, anderswo aber nicht." Und s<strong>ob</strong>ald<br />

es um Gesundheitsfragen ging – nun, sie hatte eine bemerkenswerte<br />

Konsti<strong>tu</strong>tion, endlose Ausdauer und erlebte in ihrem<br />

ganzen Leben nur sehr wenige Krankheitstage. 1943 hatte sie<br />

einen Anfall von Lungentzündung, 1956 eine Blinddarmoperation<br />

und einige Jahre danach einen kurzen Spitalaufenthalt für<br />

einen kleinen gynäkologischen Eingriff. Im Übrigen war ein<br />

gelegentlicher Schnupfen ihr grösstes gesundheitliches Pr<strong>ob</strong>lem.<br />

Lars entging ihre beherrschte Angst nicht, <strong>als</strong> sie ihn in<br />

jener Novembernacht anrief. Er riet ihr, noch am folgenden<br />

Tag den Arzt aufzusuchen. Aber <strong>Ingrid</strong> suchte keinen Arzt auf.<br />

Stattdessen erkundigte sie sich während des Makeups beiläufig<br />

bei Griff, <strong>ob</strong> sie und das Theater versichert wären, wenn sie<br />

nicht auftreten könnte. Ihr Ton und Verhalten waren, wie er<br />

sich erinnerte, ruhig und undramatisch, <strong>als</strong> <strong>ob</strong> es sich um die<br />

Besprechung der Pläne für ein künftiges Projekt handelte.<br />

"Versichert?" fragte Griff erstaunt, "warum fragst du? Bist du<br />

krank? Für mich siehst du gesund aus!" Damit hatte <strong>Ingrid</strong> ihre<br />

Antwort erhalten: sie war nicht versichert und das Stück –<br />

Londons grösster Hit dieser Saison – würde bei ihrem Ausfall<br />

ausgesetzt. Keine <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>, keine Constance Middleton,<br />

keine Aufführung.<br />

560


Einige Tage danach erschien sie in der Praxis eines Spezialisten<br />

namens Dr. David Handley. Sein Rat war einfach: viele<br />

kleine Knoten dieser Art sind bösartig, aber nur eine Biopsie<br />

könnte klaren Aufschluss darüber geben, und die müsse sofort<br />

vorgenommen werden. Aber <strong>Ingrid</strong> musste ihr Theaterleben im<br />

Auge behalten – ihr Leben bestand schliesslich zu 90 Prozent<br />

aus ihrer Kunst, wie Lars, Stephen, Pia und viele andere wussten.<br />

Alles andere hatte sich dieser Priorität unterzuordnen.<br />

So beschloss <strong>Ingrid</strong>, immer optimistisch und nie sich irgendwelchem<br />

Selbstmitleid ergebend, sich zu jenen Menschen<br />

zu zählen, welchen eine kleine körperliche Unpässlichkeit keinen<br />

Grund zur Sorge lieferte. Die Biopsie lehnte sie ab. "Man<br />

konnte sie nicht dazu bringen", sagte Laurence Evans, "sie war<br />

eine intelligente Frau und wusste, dass der Knoten bösartig<br />

sein konnte und zog es dennoch nicht einmal in Erwägung,<br />

"The Constant Wife" zu verlassen und die andern Schauspieler<br />

und die Produktion sich selbst zu überlassen".<br />

Vielleicht steckte sie den Kopf in den Sand, vielleicht<br />

war es eine Art Flucht nach vorn: was immer der Grund dafür<br />

war, <strong>als</strong> ihr Sidney Lumet die Gelegenheit bot, ihren S<strong>tu</strong>ndenplan<br />

durch die Übernahme einer Rolle in seinem All-Star-Cast<br />

im Film "Mord im Orient-Express" etwas auszubauen, sagte sie<br />

zu. Lumet, der in vielen hervorragenden Filmen (wie z.B. "Long<br />

Day's Journey into Night" oder "The Pawnbroker") Regie geführt<br />

hatte, hatte keinerlei Pr<strong>ob</strong>lem, <strong>Ingrid</strong> an Bord zu ziehen –<br />

<strong>ob</strong>schon er sie ursprünglich für die Rolle der russischen Prinzessin<br />

Dragomiroff vorgesehen hatte. Nein, sagte <strong>Ingrid</strong>, sie<br />

wolle die Rolle der lustigen schwedischen Missionarin, Greta<br />

Ohlsson, spielen. Das tat sie dann auch bei einem Salär von $<br />

100'000 für ein paar wenige Arbeitstage.<br />

Die Aufnahmen für den so unterhaltenden, wie amüsanten<br />

und spannenden Film gingen zu Beginn des Frühjahrs 1974<br />

in Elstree bemerkenswert flott voran, <strong>ob</strong>schon die meisten der<br />

hochkarätigen Schauspieler, wie auch <strong>Ingrid</strong>, nach den Dreharbeiten<br />

zu ihrem nächsten Auftritt in einem Theater hasteten.<br />

Zum beeindruckenden Ensemble gehörten u.a. Albert Finney,<br />

561


Lauren Bacall, Martin B<strong>als</strong>am, Jacqueline Bisset, Sean Connery,<br />

George Coulouris, John Gielgud, Wendy Hiller (wunderbar<br />

<strong>als</strong> die alte, runzlige Prinzessin), Anthony Perkins (<strong>Ingrid</strong> hatte<br />

keine Szenen mit ihm), Vanessa Redgrave, Rachel R<strong>ob</strong>erts,<br />

Richard Widmark und Michael York. <strong>Ingrid</strong> war speziell erfreut<br />

über den Umstand, dass Lumet beschloss, ihre einzige längere<br />

Szene in einer ununterbrochenen Sequenz aufzunehmen, weil<br />

sie in diesem Film ohnehin nur einige kurze Momente und<br />

Reaktions-Aufnahmen (weniger <strong>als</strong> eine Minute) zu bestreiten<br />

hatte.<br />

"Sie bot eine absolut saubere Leis<strong>tu</strong>ng", sinnierte Lumet<br />

Jahre später. "Sie unternahm keinerlei Versuch, hübsch auszusehen<br />

oder der Rolle Glanz zu geben." Die einzige viereinhalbminütige<br />

Aufnahme – während welcher <strong>Ingrid</strong> das ganze<br />

Spektrum von Langeweile zu Kummer, Angst und einer Art<br />

genervter Nettigkeit einer mädchenhaften, älteren Missionarin<br />

spielte – wurde von der Kritik wie vom Publikum gleichermassen<br />

gel<strong>ob</strong>t. Das war ein wundervolles Stück Komödie und Pathos<br />

(wenn auch fast etwas übertrieben), das Publikum bewunderte<br />

es, und <strong>Ingrid</strong> war erstaunt darüber, dass ihr eine<br />

der fünf Oscar-Nominationen für diesen Film zugesprochen<br />

wurde.<br />

IM MAI 1974 nach Abschluss ihrer Doppelbelas<strong>tu</strong>ng<br />

durch die Arbeit im Tons<strong>tu</strong>dio und im West End, hatte <strong>Ingrid</strong><br />

den Eindruck, der Knoten in ihrer Brust sei grösser geworden.<br />

Einmal mehr suchte sie Dr. Handley auf. Nun, ja, meinte sie,<br />

sie würde sich dem Test unterziehen – nur müsse sie zuvor<br />

noch Pia und ihren Enkel in New York besuchen, wo sie auch<br />

eine zweite diagnostische Meinung einholen wolle.<br />

Der amerikanische Arzt teilte die Meinung seines britischen<br />

Kollegen voll und ganz: eine Biopsie müsse vorgenommen<br />

werden, weil der Knoten doch sehr verdächtig sei. Sie<br />

sagte zu, die Sache nach ihrer Rückkehr nach London an die<br />

Hand zu nehmen – doch zuvor sei am 11. Juni noch Lars' Geburtstag<br />

in Europa zu feiern und dann... "Was ist Ihnen eigent-<br />

562


lich wichtiger", unterbrach sie der Arzt gereizt, "der Geburtstag<br />

Ihres Mannes oder Ihr Leben?" Die Antwort kam wie aus der<br />

Kanone: "Natürlich die Geburtstagsparty für meinen Mann!"<br />

Tags darauf radelte sie – ihre Angst verdrängend – durch den<br />

Central Park um dann abends mit Freunden zu dinieren.<br />

Am 11. Juni empfing und betreute sie Lars' Partygäste<br />

in Paris, und tags darauf reiste sie nach London ab. Vier Tage<br />

danach entnahmen die Ärzte ihrer linken Brust eine Gewebepr<strong>ob</strong>e,<br />

deren Analyse die schlimmsten Befürch<strong>tu</strong>ngen aller bestätigte.<br />

Ihre Brust musste auf der Stelle amputiert werden.<br />

"Es traf mich nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte",<br />

sagte <strong>Ingrid</strong>, während ihr Sohn und die Töchter, die sie<br />

unverzüglich im Spital besuchten, ihren Kummer zu verbergen<br />

suchten. Während den verbleibenden sechs Monaten des Jahres<br />

1974 unterzog sich <strong>Ingrid</strong> einem erschöpfenden Therapieprogramm<br />

und einer entkräftenden Bestrahlungskur. Nur ihre<br />

Familie, Griff James und Laurence Evans wussten von ihrer<br />

Krankheit und kannten den Grund für ihren langen Rückzug<br />

aus dem öffentlichen Leben. Was immer sie an Ängsten empfand,<br />

wurde durch ihren dezidierten Genesungswillen überlagert.<br />

Einige Wochen nach dem Eingriff war <strong>Ingrid</strong> am<br />

Schwimmen und Einkaufen, sie besuchte mit ihren Kindern das<br />

Theater und benahm sich überhaupt so, <strong>als</strong> hätte sie nichts<br />

weiter <strong>als</strong> einen Grippeanfall gehabt. Aber sie erwähnte nie<br />

auch nur mit einer Silbe, was jedermann beschäftigte: dass ihr<br />

Vater mit ach<strong>tu</strong>ndfünfzig an Krebs gestorben war und dass die<br />

moderne Medizin den klaren Zusammenhang zwischen dem<br />

Rauchen und dem Krebs nachgewiesen hatte.<br />

UM NEUJAHR 1975 bestand <strong>Ingrid</strong> darauf, nun ihrer<br />

Verpflich<strong>tu</strong>ng zur Amerika-Tournée mit "The Constant Wife"<br />

nachzukommen, ungeachtet der anstrengenden Reisen nach<br />

Los Angeles, Denver, Washington, Boston und New York zwischen<br />

Januar und Mitte Mai. In allen Städten brach das Stück<br />

563


sämtliche Besucherrekorde der betreffenden Häuser. Niemand<br />

in der Kompanie hatte eine Ahnung von ihrer kürzlich überstandenen<br />

Operation. Im Gegenteil: sie war bei bester Laune<br />

und fröhlich und verbreitete nicht den geringsten Anflug von<br />

dem, was gelegentlich <strong>als</strong> "Starallüren" bezeichnet wird.<br />

Im Shubert Theatre in Cen<strong>tu</strong>ry City, Los Angeles, ereignete<br />

sich ein besonders schlimmer Vorfall, <strong>als</strong> ein altes Bühnensofa<br />

unter dem Druck der jahrelangen inneren Verwüs<strong>tu</strong>ng<br />

zusammenzubrechen drohte. In der Meinung, es sei termingerecht<br />

instandgesetzt worden, liess sich <strong>Ingrid</strong> bei ihrem Einsatz<br />

darauf niederfallen, was den Federn aber gar nicht passte, die<br />

sie auf den Boden zurückwarfen. Das Publikum hielt zunächst<br />

den Atem an und stimmte aber sofort in <strong>Ingrid</strong>s Gelächter ein.<br />

Danach verlief alles ruhig, doch zehn Minuten später hatte sie<br />

einen neuen Einsatz für dieselbe Handlung, w<strong>ob</strong>ei sie den Vorfall<br />

von vorhin vergass und wieder auf dem widerspenstigen<br />

Sofa landete. Wieder allgemeine Heiterkeit. "Die Leute haben<br />

sich amüsiert wie noch nie", meinte Griff James und fügte bei,<br />

er hätte wohl den Preis für eine zweite Vorstellung am Ausgang<br />

kassieren können. Man kann sich sehr leicht andere Stars des<br />

sogenannten "golden age" vorstellen – andere Berühmtheiten,<br />

die ihren Ruhm bis zum Letzten auskosten – die der Bühnen-<br />

Crew dafür die Hölle bereitet und deren Entlassung verlangt<br />

hätten.Doch es gab in Los Angeles weitere Gelegenheiten zur<br />

Improvisation, die allerdings etwas schmerzhafter verliefen.<br />

Als <strong>Ingrid</strong> zwischen der Samstags-Matinée und der Abendvorstellung<br />

mit Griff und einigen Kollegen von einem leichten Imbiss<br />

ins Theater zurückspurtete, übertrat sie ihren Fuss fürchterlich.<br />

Bis sie zu ihrer Garder<strong>ob</strong>e humpelte, war der Fuss stark<br />

angeschwollen, und der Hausarzt stellte fest, dass zwei kleine<br />

Knochen im Fuss gebrochen waren, weshalb dieser sofort eingegipst<br />

werden müsse. Der Theater-Direktor geriet in Panik,<br />

die Schauspieler waren ratlos und die Produzenten steckten die<br />

Köpfe zum Kriegsrat zusammen, weil die Vorstellung ausverkauft<br />

und nicht genügend Geld für Rückzahlungen vorhanden<br />

war. Nur <strong>Ingrid</strong> behielt die Ruhe. "Jetzt seid doch vernünftig",<br />

sagte sie. "Sagt dem Publikum einfach, was passiert ist, er-<br />

564


muntert sie, an der Bar einen Drink zu genehmigen und lasst<br />

meinen Fuss eingipsen, dann wird sich der Vorhang etwas verspätet<br />

heben."<br />

"Sie weigerte sich einfach, das Publikum zu enttäuschen",<br />

sagte Gielgud. "Sie forderte sofort einen Rolls<strong>tu</strong>hl an<br />

und arrangierte sämtliche szenischen Vorgänge neu. Und mit<br />

dieser Behinderung spielte sie tapfer während Wochen." Als die<br />

Vorstellung an jenem Abend (um halb zehn) endlich begann,<br />

gab es keinen leeren Platz mehr im Saal. Die Zuschauer hatten<br />

mit dieser verrückt improvisierten Vorstellung den Spass ihres<br />

Lebens – und niemand mehr <strong>als</strong> die ehrfurchtgebietende <strong>Ingrid</strong>.<br />

Sie wirbelte herum, nahm sich jeden einzelnen Schauspieler<br />

vor, doch diese stiessen auf der Bühne dann und wann<br />

unweigerlich zusammen, und mehr <strong>als</strong> einmal platzte <strong>Ingrid</strong> in<br />

die Szene oder verhedderte sich am Teppich. Wie sich Griff<br />

erinnerte, bekam das Publikum ein Spiel im Spiel zu sehen,<br />

und es ist durchaus möglich, dass die Tücken der Improvisation<br />

mehr Vergnügen bereiteten, <strong>als</strong> Maughams Stück selbst.<br />

Der Generaldirektor der Show kabelte ihr von London: "Die<br />

ganze Welt liegt Ihnen zu Füssen" – worauf <strong>Ingrid</strong> antwortete:<br />

"There's no business like toe business". *)<br />

NACHDEM INGRID ALS DIE NERVÖSE MISSIONARIN in<br />

"Murder on the Orient Express" für die beste Nebenrolle nominiert<br />

worden war, betrachtete man es <strong>als</strong> guten Werbeeffekt<br />

für ihre Tour, ein paar Vorstellungen von "The Constant Wife"<br />

in Boston fallenzulassen und <strong>Ingrid</strong> anstatt dessen an die Oscar-Verleihung<br />

nach Hollywood zu entsenden. Lars traf sie am<br />

Flughafen in Boston und gemeinsam reisten sie weiter nach<br />

Los Angeles, wo sie ihrem alten Freund Jean Renoir, der kränkelte<br />

und an das Haus gebunden war, einen Besuch abstattete.<br />

Als sie ihren dritten Academy Award entgegennehmen<br />

durfte, war sie erstaunt - und wie gewohnt so offen wie dank-<br />

*) Wortspiel in Anlehnung an den Musical-Titel "No Business Like Show Business".<br />

bar. Wie viele Andere dam<strong>als</strong> und später, konnte <strong>Ingrid</strong> nicht<br />

565


verstehen, warum François Truffauts Film "La nuit américaine"<br />

("Day for Night"), der im vergangenen Jahr den Oscar für den<br />

besten ausländischen Film gewonnen hatte, jetzt wieder nominiert<br />

wurde, und zwar diesmal für sein Screenplay. Ausserdem<br />

wurde <strong>Ingrid</strong>s alte Freundin Valentina Cortese (die mit ihr <strong>als</strong><br />

Co-Star in "Der Besuch der alten Dame" auftrat und die sie seit<br />

ihren ersten Tagen in Rom kannte) für die beste Nebenrolle in<br />

"Day for Night" nominiert. Als sie nun ihren Oscar in Empfang<br />

nehmen konnte, überraschte <strong>Ingrid</strong> alle:<br />

566<br />

"Ich bedanke mich recht herzlich. Es ist immer schön,<br />

einen Oscar zu erhalten, der sich in letzter Zeit allerdings<br />

<strong>als</strong> sehr vergesslich und unpünktlich erwiesen hat<br />

– weil letztes Jahr, <strong>als</strong> "Day for Night" gewann, ich es<br />

nicht fassen konnte, dass Valentina Cortese nicht nominiert<br />

war, nachdem sie eine so wunderbare Leis<strong>tu</strong>ng<br />

gezeigt hat. Und nun stehe ich, ihre Rivalin, hier und<br />

mag das überhaupt nicht. Wo bist du? (Sie suchte dann<br />

ihre Freundin im Publikum und Cortese erh<strong>ob</strong> sich und<br />

blies <strong>Ingrid</strong> einen Kuss zur Bühne) Ah, dort bist du -<br />

vergib mir, Valentina, ich wollte das nicht!"<br />

Das Publikum t<strong>ob</strong>te mit Applaus, und die Zuschauer<br />

rund um die Welt sahen, wie eine dankbare Gewinnerin ihre<br />

Auszeichnung mit der Freundin teilte, die den Award ihres Erachtens<br />

weit eher verdient hätte. "Sicher, es war sehr schön",<br />

sagte sie einen Monat nach der Verleihung, "aber ich denke,<br />

ich habe den Oscar nicht verdient. Die Leute waren so beeindruckt<br />

davon, dass ich einen so langen Monolog in einer einzigen<br />

Aufnahme bewältigte – aber das war ja nichts im Vergleich<br />

zu meinem viel anspruchsvolleren Neunminuten-Monolog unter<br />

Hitch in 'Under Capricorn'!".<br />

Lars begleitete <strong>Ingrid</strong> bei festlichen Gelegenheiten und<br />

in jeder schwierigen Si<strong>tu</strong>ation bis an's Ende ihres Lebens, und<br />

er passte seine Verpflich<strong>tu</strong>ngen unabdingbar den Erfordernissen<br />

ihres täglichen Lebens wie auch den ernsteren Bedürfnissen<br />

an. Aber ihre Ehe war vorbei, und schon bald beschlossen<br />

sie, sich gütlich zu trennen; während mehrerer Jahre erfuhr


niemand in ihrem Freundeskreis etwas davon. <strong>Ingrid</strong>s Lebenspriorität<br />

war ihre Karriere, "das kam immer zuerst", wie Lars<br />

sich ausdrückte, "und dann kamen ihre Kinder und dann ihr<br />

Ehemann." Dem hatte sie nichts entgegenzusetzen: "Mein<br />

ganzes Leben war Schauspielrei. Ich hatte meine Ehemänner<br />

und meine Familien. Ich liebe sie alle und bin mit allen im Kontakt,<br />

aber in meinem Innersten fühle ich, dass ich dem Show<br />

Business gehöre."<br />

ALS "THE CONSTANT WIFE" am 14. April in New York<br />

ankam, war <strong>Ingrid</strong> erschöpft und sie hinkte noch immer; aber<br />

sie war vom Gips befreit und dem Rolls<strong>tu</strong>hl entkommen. Wie<br />

üblich schimpften die Kritiker über ihren Auftritt in dem, was<br />

sie ein Drittklasse-Stück nannten. Aber ihr Spiel war, den<br />

Nörglern zum Trotz, ein kleines Juwel von verhaltener, reifer<br />

Komödie. Ohne Szenen zu stehlen oder zu übertreiben fand<br />

<strong>Ingrid</strong> das korrekte Timing und die richtigen Pausen, die jeden<br />

kleinen Moment ins richtige Licht seiner Bedeu<strong>tu</strong>ng rückten.<br />

Während einer Szene mit Brenda Forbes (in der Rolle von<br />

Constances Mutter) gibt es folgenden beiläufigen Wortwechsel:<br />

"Übrigens", sagt Forbes, "was ist eigentlich Treue?"<br />

<strong>Ingrid</strong> erh<strong>ob</strong> sich vom Sofa: "Mutter, darf ich das Fenster<br />

öffnen?"<br />

"Es ist offen."<br />

"In diesem Fall – darf ich es schliessen?" Sie schliesst<br />

es. "Wenn eine Frau deines Alters eine solche Frage stellt,<br />

muss ich etwas Symbolisches <strong>tu</strong>n."<br />

Diese Art Konversation wäre für ein Publikum von 1975<br />

nicht weiter erinnerungswürdig, aber <strong>Ingrid</strong>s Bühnenarbeit –<br />

stehen, springen, zögern, gestikulieren und mit beissender<br />

Ironie sprechen – generierte beim Publikum verständnisinniges<br />

Gelächter.<br />

567


UNGEACHTET DER MASSE VON INTERVIEWS, Pressekonferenzen,<br />

Parties und sonstigen Terminen während ihres<br />

fünfwöchigen New York-Aufenthalts, fand <strong>Ingrid</strong> die Zeit, auf<br />

eine Anfrage von R<strong>ob</strong>ert Anderson einzugehen. Dieser hatte<br />

sich freundschaftlich und beruflich für einen Schriftsteller engagiert,<br />

der an seinem ersten Buch arbeitete, einer langfädigen,<br />

detaillierten und kritischen Beurteilung aller Filme von<br />

Alfred Hitchcock. Auf B<strong>ob</strong>s Veranlassung (und dam<strong>als</strong> noch<br />

ohne Telefonbeantworter) hatte <strong>Ingrid</strong> verschiedentlich versucht,<br />

den Schriftsteller zu erreichen, ohne eine Antwort zu<br />

erhalten, weil er hinter andern Hitchcock-Schauspielern her<br />

war, die eben in New York zu finden waren (u.a. Hume Cronyn,<br />

Jessica Tandy und Anne Baxter). Schliesslich erreichte sie ihn<br />

bei einem weiteren Anruf in seinem Büro.<br />

"Oh gut!" rief sie, <strong>als</strong> sie ihn endlich am Draht hatte.<br />

"B<strong>ob</strong> Anderson sagt mir, Sie seien an einem Buch über Hitchcock<br />

und ich müsse unbedingt mit Ihnen reden. Möchten Sie<br />

nächsten Mittwoch zur Matinée kommen? Wir könnten vor der<br />

Abendvorstellung bei Sardi's etwas essen, ja? Bringen Sie Ihr<br />

Notizbuch oder Tonbandgerät mit, dann können wir über<br />

Hitchcock reden. Und warum kommen Sie nicht gleich in die<br />

Vorstellung und treffen mich dann backstage...?"<br />

Ihr Gespräch und Abendessen, das nicht nur von <strong>Ingrid</strong>s<br />

klaren Erinnerungen an die Arbeit mit Hitchcock gewürzt<br />

war, sondern auch mit erstaunlich offenen Berichten über ihre<br />

Arbeit mit Rossellini und andern Regisseuren, war der Anfang<br />

einer engen Bekanntschaft, die bis zur Endphase von <strong>Ingrid</strong>s<br />

Krankheit andauerte.<br />

"Ich arbeite immer noch an meinem Können und an<br />

meiner Konzentration", erklärte <strong>Ingrid</strong> über ihren Auftritt in<br />

"The Constant Wife". "Ich kann Ihnen sagen, ich war nicht perfekt<br />

an der Premiere in London. Die Kritiker jagten mich, weil<br />

ich stotterte und die Texte verwechselte." Sie beschrieb auch<br />

den Unterschied zwischen Bühnen- und Filmarbeit: sie fand die<br />

nächtlichen Wiederholungen einer Rolle schwierig und ärgerte<br />

sich gelegentlich über die tagsüber geforderte Präsenz. "Vor-<br />

568


sicht - nicht zuviel Wein zum Mittagessen", warnte sie sich<br />

selbst. Sie liebte den Kontakt zum Publikum, aber sie liebte<br />

auch die Kamera – ein Auge anstelle von Tausenden – und, ja,<br />

sie hatte wenige so gute Stücke wie die grossen Filme, z.B.<br />

"Notorious". Ohne ihre Krankheit zu erwähnen fügte sie bei,<br />

dass wenn sich der Vorhang h<strong>ob</strong>, sie die beste Medizin der<br />

Welt erhalte. Dann geschehe etwas Wundervolles, jenseits von<br />

allen Lebenspr<strong>ob</strong>lemen. "Wenn du dich nicht wohlfühlst, geht<br />

das vorbei, weil du dich auf deine Arbeit konzentrieren und an<br />

anderes denken musst, <strong>als</strong> an dich selbst. Wie glücklich ich mit<br />

diesem Leben doch bin!"<br />

IM HERBST 1975 war <strong>Ingrid</strong> in Rom, wo sie einmal<br />

mehr eine weisshaarige Alte spielte – diesmal eine senile Gräfin,<br />

einst eine hinreissende und berühmte Kurtisane, die jetzt<br />

in ihren Erinnerungen verloren ein armseliges Leben in einem<br />

zwielichtigen Hotel zu Ende brachte. "A Matter of Time" war<br />

Vincente Minellis letzter Film, in dem er seine Tochter Liza präsentierte,<br />

die aus keinem handlungsbezogenen Grund zu singen<br />

begann. <strong>Ingrid</strong>, die ihre Rolle aus reinem Interesse an diesem<br />

verrückten Charakter übernahm (und für eine Gage von $<br />

250'000), hatte ihre Zwillinge ebenfalls in diesem Film – Isabella<br />

in ihrer ersten kleinen Rolle <strong>als</strong> eine Ordensschwester<br />

(mit Absicht Pia genannt), und die junge <strong>Ingrid</strong>, die Mama bei<br />

ihrem komplizierten Makeup behilflich war. Zum dritten Mal<br />

arbeitete <strong>Ingrid</strong> mit ihrem alten Freund Charles Boyer, wenn<br />

auch nur in einer ganz kurzen Szene. Seit dem Tod seines einzigen<br />

Kindes 1965 war Boyer von Depressionen umnebelt, was<br />

nun durch die tödliche Krankheit seiner Frau noch verschlimmert<br />

wurde. (Zwei Jahre danach nahm er sich nach ihrem Hinschied<br />

das Leben).<br />

Im allgemeinen Interesse versuchte <strong>Ingrid</strong>, die Atmosphäre<br />

in dieser Produktion, die vom ersten Tag an unter einem<br />

schlechten Stern zu stehen schien, etwas zu erleichtern,<br />

doch schon kurz nach seinem Erscheinen verschwand der Film<br />

sang- und klanglos von der Bildfläche. <strong>Ingrid</strong>, die in diesem<br />

569


Streifen nicht viel anderes zu <strong>tu</strong>n hatte, <strong>als</strong> den Lauf der Zeit<br />

zu ignorieren und Liza zu ermutigen, eine Art italienische Gigi<br />

zu werden, wurde schamlos missbraucht: der Film war nicht<br />

viel anderes <strong>als</strong> Lizas Reisebericht rund um Rom und ein<br />

Schaufenster für ihre Stimme und Garder<strong>ob</strong>e.<br />

Zu dieser Zeit hatte <strong>Ingrid</strong> innerhalb von zwanzig Jahren<br />

– seit "Anastasia" - nicht eine einzige erstklassige Filmrolle<br />

bekommen. Aber, wie sie dam<strong>als</strong> feststellte, war sie alles andere<br />

<strong>als</strong> eine Art Contessa: "Sie ist das pure Gegenteil von mir,<br />

weil sie sich durch ihre Träumerei über die verlorene Jugend<br />

selbst zerstört. Ich träume nicht von meiner Vergangenheit.<br />

Ich akzeptiere mein Alter und mache das Beste daraus."<br />

ÜBER IHRE EIGENE VERGANGENHEIT mit Petter, R<strong>ob</strong>erto<br />

und Lars äusserte <strong>Ingrid</strong> nie ein böses Wort in der Öffentlichkeit<br />

– wie ein derartiger Kommentar auch im privaten Bereich<br />

von ihr unmöglich je zu hören gewesen wäre. Göran von<br />

Essen, Stephen Weiss, Pierre Barillet und eine Legion Anderer<br />

erinnerten sich, dass sie selbst im Gespräch über unangenehme<br />

Si<strong>tu</strong>ationen ihres Lebens nie einen Ehemann <strong>als</strong> Alleinschuldigen<br />

hinstellte. "Sie hatte kein Gramm bösen Willen in<br />

sich", wie Lars sagte. "Vorbei war vorbei, und dann sah sie nur<br />

noch nach vorn."<br />

<strong>Ingrid</strong> hat sich der Welt nie <strong>als</strong> etwas Anderes präsentiert,<br />

denn <strong>als</strong> eine Frau, die ihren Weg gemacht hat, manchmal<br />

schlecht beurteilt wurde und immer bereit war, die Verantwor<strong>tu</strong>ng<br />

für jeden Schaden, den sie Andern durch ihre<br />

Selbstsucht zugefügt hat, zu übernehmen, diese allgegenwärtige<br />

Gefahr, vor der kein menschliches Leben sicher ist. "Ich<br />

liebe alle meine Männer" war die stereotype Aussage, die im<br />

letzten Jahrzehnt ihres Lebens immer wieder zu hören war.<br />

"Alle meine Ehen waren gut, und was der Liebe folgt – oder<br />

folgen sollte, ist echte Freundschaft. Wenn du aus guten Gründen<br />

heiratest, für Vertrauen, Verständnis und Liebe, kannst du<br />

deine Männer nicht hassen oder <strong>als</strong> Idioten bezeichnen, wenn<br />

die Ehe vorbei ist." Wie Lars sagte, war sie nie nachtragend,<br />

570


grübelte nie in alten Wunden, war schnell im Vergessen unglücklicher<br />

Episoden und war der festen Überzeugung, dass es<br />

nichts Unangenehmes gebe, das nicht mit gutem Willen zu<br />

meistern wäre.<br />

MIT ROBERTO UND LARS hatte sich <strong>Ingrid</strong> tatsächlich<br />

freundschaftlich arrangiert auf der Basis jenes Respekts, der<br />

einst zu ehelicher Liebe geführt hatte. Einzig mit Petter war es<br />

schwieriger. Sicher, er griff sie nie öffentlich an, und während<br />

ihrer Krankheit bot er ihr wenigstens zweimal brieflich seine<br />

Unterstützung bei der Vermittlung von ihm bekannten Spezialisten<br />

an. Aber nachdem <strong>Ingrid</strong> 1980 ihre Memoiren (Mein Leben)<br />

veröffentlicht hatte, verlor er jedes Mass. Von da an betrachtete<br />

er <strong>Ingrid</strong> zunehmend <strong>als</strong> unter jeder Kritik; das geht<br />

aus seinen Briefen an Schriftsteller, Journalisten und Freunde<br />

klar hervor. Ja, seine Meinung von ihr war derart unerbittlich<br />

negativ, dass Senator Johnsons Attacken im Vergleich dazu<br />

wie eine Heiligsprechung wirkten.<br />

<strong>Ingrid</strong>s Buch behandelte ihre Geschichte sehr sanft, gerecht<br />

und – nach Meinung buchstäblich aller, die die Beiden<br />

kannten – wahrheitsgetreu. Aber <strong>Ingrid</strong> beschäftigte Petter<br />

zeitlebens so sehr, dass sie in seinen älteren Jahren zu seiner<br />

eigentlichen Besessenheit wurde und er eine hochempfindliche<br />

Wunde offenhielt – seine <strong>als</strong> Bitterkeit maskierte, bejammerte<br />

und verlorene Liebe. Selbst Pia, die Unschuldigste aller Betroffenen,<br />

hatte Mutters freundschaftliche Hand nach all den bittern<br />

frühen Jahren angenommen; ihr Vater war leider unversöhnlich.<br />

Kein Pr<strong>ob</strong>lem dieser Art belastete <strong>Ingrid</strong>s Begegnung<br />

mit R<strong>ob</strong>erto während der Produktion von "A Matter of Time".<br />

Während der vergangenen Jahre hatten <strong>Ingrid</strong> und er einen<br />

Waffenstillstand etabliert, der nun in Freundschaft ausmündete.<br />

Er hatte in den letzten Jahren wenige berufliche Erfolge zu<br />

verzeichnen, <strong>ob</strong>schon seine TV-Dokumentarfilme gel<strong>ob</strong>t wurden.<br />

S<strong>tu</strong>denten in amerikanischen Universitäten standen<br />

571


Schlange, um den Meister des Neorealismus <strong>als</strong> Gastreferenten<br />

zu hören, und die Zeit liess ihn zur grauen Eminenz werden.<br />

In mancherlei Beziehung wurde R<strong>ob</strong>erto <strong>als</strong> einst bedeutender,<br />

heute aber irrelevanter Regisseur betrachtet, was<br />

er <strong>als</strong> weltweiten Verrat am gesunden Menschenverstand betrachtete.<br />

<strong>Ingrid</strong> war gerade die richtige Gesellschaft für einen<br />

sich unverstanden fühlenden Mann. Bei einem gemeinsamen<br />

Nachtessen gaben sie sich vergnügt, sprachen über ihre Kinder<br />

und amüsierten sich über die Exzesse in ihrem früheren gemeinsamen<br />

Leben. Für einmal hatten Roms Paparazzi das<br />

Nachsehen bei dem prominenten, einst so kontroversen Paar,<br />

das nun in einer ruhigen Ecke eines Familienrestaurants<br />

einträchtiglich wie alte Freunde seinen Wein schlürfte.<br />

572<br />

1974 -in "Mord im Orient-Express"


"Weißt du, ich lebe auf Pump."<br />

1976 - 1979<br />

(<strong>Ingrid</strong> zu Ingmar <strong>Bergman</strong> während einer Drehpause)<br />

Nach "A Matter of Time" machte sich <strong>Ingrid</strong> an die Arbeit<br />

für eine Aufgabe, die in der vergangenen Saison ausgehandelt<br />

wurde. Seit Jahren ermunterte Kay Brown – unter Andern<br />

– <strong>Ingrid</strong> zur Niederschrift ihrer Memoiren oder Aut<strong>ob</strong>iographie,<br />

was sie immer resolut zurückwies. Aber unter der Bedingung,<br />

dass sie die vollständige Kontrolle über ein Buch haben<br />

konnte, das jemand anderer über sie geschrieben hat, zog<br />

sie das Ganze in Wiedererwägung. So kam es, dass sich Alan<br />

Burgess <strong>als</strong> Kandidat für diesen J<strong>ob</strong> anbot und auch akzeptiert<br />

wurde. Er war der Autor von "The Small Woman", auf dessen<br />

Basis "Die Herberge zur sechsten Glückseligkeit" entstand. Im<br />

Handumdrehen war die Idee des Buches weltweit verkauft,<br />

und <strong>Ingrid</strong> arbeitete während fast des ganzen Jahres 1976<br />

daran.<br />

Aber was <strong>als</strong> geradlinige, authorisierte und laufend abgestützte<br />

Biographie begann, wurde sehr schnell zu etwas<br />

ganz Anderem. <strong>Ingrid</strong> fand einige alte Dokumente und Tagebücher<br />

aus den vergangenen Jahren; eifrig helfende Freunde<br />

sandten Kopien von Briefen, die sie von ihr erhalten hatten,<br />

und ein Team von Helfern durchforstete in New York Zei<strong>tu</strong>ngsarchive<br />

und Bibliotheken. Das Wichtigste in diesem ganzen<br />

573


Prozess aber war: <strong>Ingrid</strong> arbeitete mit Paavo, einer unschätzbar<br />

wertvollen Hilfe bei der Sich<strong>tu</strong>ng, Sortierung und Verarbei<strong>tu</strong>ng<br />

der Berge von Zei<strong>tu</strong>ngsausschnitten und Sammelalben.<br />

Als Burgess dieses ganze Material in die Finger bekam, beschloss<br />

er, <strong>Ingrid</strong>s Stimme anzunehmen – der ursprünglich in<br />

der dritten Person vorgesehene Erzählstil wurde in die erste<br />

Person verlegt, und das Buch wurde zur Aut<strong>ob</strong>iographie "wie<br />

von Burgess aufgezeichnet".<br />

Aber <strong>als</strong> sie die ersten Musterkapitel durchlas, war <strong>Ingrid</strong><br />

entsetzt. Burgess, der weder Biograph noch Memoirenautor<br />

war, geriet offenbar in Panik; jedenfalls entpuppte sich das<br />

Manuskript <strong>als</strong> Durcheinander, unordentlich und unbestimmt<br />

hinsichtlich der Daten und gespickt mit verdrehten Tatsachen.<br />

Als Krone des Dramas erwies sich Burgess oft unter dem Einfluss<br />

von Alkohol <strong>als</strong> arbeitsunfähig. So geriet <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s<br />

Buch – gleichviel, <strong>ob</strong> <strong>als</strong> Biographie oder Aut<strong>ob</strong>iographie –<br />

hoffnunglos auf die lange Bank. Als nun <strong>Ingrid</strong>s amerikanischer<br />

Verleger, Delacorte Press, (drei Jahre nach dem vereinbarten<br />

Termin) etwas für ihre Druckmaschinen verlangte, brachte das<br />

<strong>Ingrid</strong> zur Verzweiflung: "Es macht mich krank", sagte sie zu<br />

einem Freund, "es ist zu lang, es ist weder mein noch sein<br />

Buch, es ist unmöglich zu lesen und ich fürchte, es werde zu<br />

einem gewaltigen Flop". Als es schliesslich 1980 zur Veröffentlichung<br />

kam, war es zwar kein Reinfall (es trug immerhin ihren<br />

Namen), aber mit ihrer kritischen Einschätzung behielt sie<br />

Recht: in der Ich-Form geschriebene Passagen wechseln mit<br />

im Erzählstil über sie geschriebenen Passagen – optisch durch<br />

unterschiedliche Schrifttypen gekennzeichnet, Material wurde<br />

konfus umgeschichtet, die Ausdrucksweise liess es an Klarheit<br />

fehlen und gewisse Fakten waren schlicht f<strong>als</strong>ch.<br />

Zu allem Überfluss brachte das Buch Petter in Rage, der<br />

(unberechtigterweise) glaubte, es behandle ihn <strong>als</strong> Schurken –<br />

<strong>ob</strong>schon ihm <strong>Ingrid</strong> die kritischen Passagen des Manuskripts<br />

zur Genehmigung vorgelegt und jeden von ihm beanstandeten<br />

Text entfernt hatte.<br />

574


Am 1. Mai 1976 unterbrach <strong>Ingrid</strong> ihre Arbeit am Buch<br />

um sich nach Rom zu begeben: eine Woche später feierte R<strong>ob</strong>erto<br />

seinen 70. Geburtstag: Am Fünften dinierten sie zusammen<br />

mit den Zwillingen und dann, am Siebenten besuchte ihn<br />

<strong>Ingrid</strong> zuhause um sich zu verabschieden, was ihn sehr enttäuschte.<br />

Wusste sie nicht, dass er tags darauf, am 8. Mai seinen<br />

70. Geburtstag hatte? Doch, sagte sie, aber ihre Pflichten<br />

verlangten anderswo nach ihr, und weg war sie. In Tat und<br />

Wahrheit hatte sie mit ihrem Sohn und den Töchtern insgeheim<br />

alles vorbereitet, und am nächsten Tag, <strong>als</strong> die Kinder<br />

R<strong>ob</strong>erto in sein Lieblingsrestaurant führten, traf er dort <strong>Ingrid</strong>,<br />

die viele Freunde und seine ganze Familie zu einer Galafeier<br />

zusammengetrommelt hatte. Sogar seine erste und dritte Frau<br />

waren anwesend, neben Cousins, Nichten und Enkeln. "Ach –<br />

du warst das!", sagte R<strong>ob</strong>erto mit einem breiten Grinsen und<br />

Tränen in den Augen, <strong>als</strong> er <strong>Ingrid</strong> umarmte.<br />

Anfangs 1977 brauchte <strong>Ingrid</strong> eine Ruhepause von ihrer<br />

zermürbenden und zunehmend unbefriedigenden Arbeit mit<br />

Burgess. Sie besuchte Freunde und ihre Töchter in New York,<br />

um anschliessend nach Choisel zurückzukehren. Zu dieser Zeit<br />

war Kristina mit Lars' Kind schwanger, und so wich <strong>Ingrid</strong> ohne<br />

melodramatische Szene oder Wutausbruch ins Raphael Hotel in<br />

Paris aus, wo sich rein zufällig auch R<strong>ob</strong>erto aufhielt. Er bemerkte<br />

ihre unglückliche Verfassung und lud sie zum Abendessen<br />

ein. "<strong>Ingrid</strong>, meine Liebe", sagte er, "du bist ein nervöses<br />

Wrack, das versucht, mit seiner Vergangenheit klarzukommen.<br />

Zum Teufel mit der Vergangenheit! Sieh nach vorn – wie du es<br />

immer getan hast!"<br />

Als sie genau das zu <strong>tu</strong>n versuchte, geschah es zum<br />

richtigen Zeitpunkt. Sie nahm eine Einladung des Chichester<br />

Theatre Festival in England an, wo John Clements die Regie<br />

einer Neuinszenierung von N.C. Hunters Stück "Waters of the<br />

Moon" von 1951 übernahm, das 835 Vorstellungen erlebt hatte<br />

mit drei grossen Damen der englischen Theaterbühne – Edith<br />

Evans, Sybil Thorndike und, <strong>als</strong> die Naive, Wendy Hiller (die<br />

jetzt die Thorndike-Rolle übernahm). Das Stück war harmlos,<br />

hatte aber eine gewisse wehmütige Zartheit; ausserdem ver-<br />

575


langten die Rollen bestandene Schauspieler, und Wendy Hiller,<br />

die mit ihr in "Murder on the Orient-Express" aufgetreten war<br />

und sich in was immer sie tat <strong>als</strong> hervorragende Schauspielerin<br />

erwies, war für <strong>Ingrid</strong> ein Hauptargument beim Entscheid zugunsten<br />

dieses Stücks.<br />

Angesiedelt in einem kleinen englischen Land-Hotel, beschreibt<br />

"Waters of the Moon" das Leben einer Gruppe von<br />

gelangweilten Senioren, deren Routine schlagartig durcheinandergerät,<br />

<strong>als</strong> während eines Schnees<strong>tu</strong>rms die reiche Helen<br />

Lancaster (<strong>Ingrid</strong>), ihr Ehemann und deren junge Tochter bei<br />

ihnen stranden. Das Stück setzt den eintönigen Alltag älterer<br />

Menschen in Kontrast zur frivolen und unkonventionellen Helen,<br />

die flirtet, alles hintereinanderbringt und dann verschwindet.<br />

"Das ist nichts Gutes", sagt ein junges Mädchen im<br />

Stück, "uns von den Wassern des Mondes und andern Glückseligkeiten<br />

träumen zu lassen, die für uns unerreichbar sind."<br />

Aber eben, "wichtig ist, die Hoffnung nie aufzugeben...Die einzige<br />

Sünde im Leben ist, unglücklich zu sein." Es ist genau<br />

diese Hoffnung und dieser Lebenswille, die sich in <strong>Ingrid</strong>s Charakter<br />

wiederspiegeln. Das Thema ist weder originell noch<br />

überwältigend, aber die Rolle der fünfundvierzigjährigen Helen<br />

Lancaster bot <strong>Ingrid</strong> eine hervorragende Gelegenheit, Humor<br />

mit der nervösen Angst vor der Vergänglichkeit in Relation zu<br />

setzen. Das Stück begann am 10. Mai und erfreute das Publikum<br />

während des ganzen Sommer-Festiv<strong>als</strong>.<br />

Vieles in ihrer Rolle war <strong>Ingrid</strong> bekannt und sie kostete<br />

sie aus. "Ich bin rastlos", gibt Helen zu, "immer auf der Lauer<br />

nach neuen Erfahrungen, neuen Vergnügungen. Ich bin unfähig,<br />

Ruhe und Beschaulichkeit und all das zu geniessen. Wenn<br />

ich nicht durch den Tag donnern kann, wie ein Zug durch den<br />

Tunnel, fühle ich mich deprimiert, gelangweilt." Das sei <strong>Ingrid</strong><br />

persönlich, meinten ihre Töchter lachend, <strong>als</strong> sie zur Premiere<br />

kamen. Aber <strong>Ingrid</strong> sah im Text auch die geistige Erstarrung<br />

der Frau, nicht nur ihre nervigen Ängste. Wie schon so oft in<br />

ihren besten Filmen, schien sie die Worte zu denken, ihnen<br />

576


sogar zu erlauben, auf ihren Lippen zu spielen, bevor sie sie<br />

aussprach.<br />

Sie beherrschte die Bühne, zum Beispiel wenn sie über<br />

das Publikum blickte – die Regieanweisung, vor- und zurück zu<br />

schreiten, missachtend – und mit Missbehagen sagte: "Das<br />

Leben muss ein endloses Abenteuer sein, sonst ist es nichts<br />

wert. Man muss seinen Horizont laufend erweitern mit neuen<br />

Erfahrungen, neuen Umgebungen, neuen Freunden. Das Einzige,<br />

was mich im Leben entsetzt, ist drohende Stagnation, Langeweile,<br />

Untätigkeit. Das nie, nie!" Und zur Verteidigung der<br />

unerwiderten Liebe, die besser sei, <strong>als</strong> gar keine Liebe, meinte<br />

sie sehr wehmütig: "Ich habe aus Liebe Dutzende Male geweint.<br />

Wir alle haben das. So ist das Leben." Ihr Tonfall war<br />

weder belehrend noch vage. Die gelassene Aufrichtigkeit ihrer<br />

Aussage betonte diese gefühlvoll – wie dies durch einen Anflug<br />

von Hoffnung und Reue auch im Falle ihres Sylvester-Toasts im<br />

zweiten Akt geschah:<br />

"Mitternacht! Sei gegrüsst und lebe wohl! Die Welt<br />

dreht sich, und unter dem Horizont, in der Dunkelheit,<br />

kommt der erste Tag des neuen Jahrs herauf, herauf<br />

ins Licht. Lasst mir meine Sentimentalität und Albernheit<br />

– ich kann nicht anders in der Sylvesternacht. Umsomehr<br />

<strong>als</strong> ich das Gefühl habe, unter guten Freunden<br />

zu sein. Möge das neue Jahr euch alle euern Herzenswünschen<br />

näherbringen. Mögen die, welche grosse Erwar<strong>tu</strong>ngen<br />

haben dürfen, nicht enttäuscht werden und<br />

mögen jene, die wenig haben, Zufriedenheit und Heiterkeit<br />

finden."<br />

Hatte das Publikum in dieser Saison leichte Komödie<br />

erwartet, war es vielleicht überrascht, in diesem nahezu vergessenen<br />

Stück einer sanften, ernsten Philosophie der Duldsamkeit<br />

zu begegnen, deren Kern in einer von Wendy Hillers<br />

grossen Szenen so bewegend zur Darstellung kam. Als Antwort<br />

auf die Klage, wonach das Leben unfair sei, erwidert sie mit<br />

unsentimentalem Mitgefühl: "Das Leben ist weder fair noch<br />

unfair, noch tragisch oder komisch oder was immer. Das Leben<br />

577


ist das Leben – das ist alles. Man muss es akzeptieren."<br />

Wie sich Dame Wendy später erinnerte, hatte <strong>Ingrid</strong> in<br />

den ersten paar Vorstellungen nicht nur die üblichen Pr<strong>ob</strong>leme<br />

mit den Zeilen: "Wir mussten ihr auch zu verstehen geben,<br />

dass sie nicht herumfuchteln konnte, während sich jemand<br />

durch eine lange Rede arbeitete. Sie konnte doch nicht den Hut<br />

abnehmen, ihr Haar herumschwingen und die Aufmerksamkeit<br />

des Publikums ablenken – sie sollte sich diskret bewegen, aber<br />

nicht stören, und ich denke, es bedeutete für sie eine harte<br />

und spezielle Disziplin, in ihrer Rolle nicht ständig in Bewegung<br />

zu sein. Als sie das einmal geschafft hatte, war sie perfekt.<br />

Und natürlich schätzten wir uns glücklich, mit ihr zu arbeiten,<br />

denn sie war lernbegierig."<br />

ENDE MAI ERHIELT INGRID einen Telefonanruf von R<strong>ob</strong>erto,<br />

der eingeladen war, das Präsidium der Festival-Jury von<br />

Cannes zu übernehmen. "Kannst du dir vorstellen", fragte er,<br />

"ich muss mir all diese Filme ansehen?" Nun, meinte sie – wer<br />

könnte das denn besser <strong>als</strong> er? Aber sie hatte den Eindruck, er<br />

wirke müde und sehne sich danach, nach Rom zurückzukehren.<br />

Sie hatten diesen Herbst ein Treffen in Rom mit den Kindern<br />

eingeplant. Dann, nach etwas mehr <strong>als</strong> einer Woche, am<br />

4. Juni, erhielt <strong>Ingrid</strong> einen weiteren Anruf – diesmal von R<strong>ob</strong>ertos<br />

Nichte, Fiorella Mariani. Wieder zuhause in Rom sei er<br />

einer schweren Herzattacke erlegen; er war einundsiebzig.<br />

<strong>Ingrid</strong> hatte an diesem Abend aufzutreten, aber danach, zuhause<br />

in ihrem in Chichester gemieteten Cottage, war sie die<br />

ganze Nacht hindurch mit R<strong>ob</strong>ertino, Isabella und <strong>Ingrid</strong> am<br />

Telefon und weinte mit ihnen. "Er war ein grosser Filmemacher",<br />

sagte sie der Presse. "Er war auch ein wundervoller Vater<br />

und mein lieber Freund."<br />

Wie Wendy Hiller im Theater sagte: das Leben ist das<br />

Leben, und sie musste es annehmen – was sie innerhalb einiger<br />

Tage nach R<strong>ob</strong>ertos Tod auch tat, <strong>als</strong> sie einen neuen, ablenkenden<br />

Anruf erhielt, diesmal von Lars. Kristina hatte ihren<br />

Sohn geboren, den sie Kristian nannten. Nach Lars war <strong>Ingrid</strong><br />

578


echt erfreut über die Botschaft, <strong>als</strong> wäre sie eine Tante oder<br />

Grossmutter, die freudig auf die Ankunft eines neuen Mitglieds<br />

der eigenen Familie gewartet hatte. Wie er sich aber wohl vorstellen<br />

konnte, hatte sie bei Erhalt der Nachricht eine grossartige<br />

Schau abgezogen – wie auf der Bühne. "Waters of the<br />

Moon" war so erfolgreich, dass es im folgenden Januar noch<br />

für zwei Wochen nach Brighton und danach ans Haymarket<br />

Theatre London verlegt wurde.<br />

ENDLICH, IM SOMMER 1977, hatte Ingmar <strong>Bergman</strong> eine<br />

Geschichte und ein Screenplay für sie. Würde es <strong>Ingrid</strong> etwas<br />

ausmachen, fragte er sie in einem langen Telefongespräch,<br />

die Mutter von Liv Ullman zu spielen, die siebenunddreissig<br />

war? Überhaupt nicht, antwortete sie: sogar Pia war<br />

älter. (Darin lag etwas Ironie, denn Liv Ullman und Ingmar<br />

<strong>Bergman</strong>, die nie verheiratet waren, hatten während der fünf<br />

Jahre ihres gemeinsamen Lebens eine Tochter.) Was denn die<br />

Geschichte des Films sei, wollte sie wissen. Es sei die Geschichte<br />

des Wiedersehens zwischen <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> Konzertpianistin,<br />

die während Jahren die Welt bereiste, und Liv, ihrer Tochter,<br />

die sich stets von ihr vernachlässigt fühlte. Ingmar, der<br />

wusste, was er bewirkte, meinte: schliesslich sei seine zweite<br />

Frau Konzertpianistin gewesen. Aber natürlich klang das alles<br />

eher nach <strong>Ingrid</strong>s Leben <strong>als</strong> nach seinem.<br />

Als sie diesen Sommer ihre Töchter in New York besuchte,<br />

spürte <strong>Ingrid</strong> unter ihrem rechten Arm einen Knoten.<br />

Das sei kein dringendes Pr<strong>ob</strong>lem, meinte der Arzt, es handle<br />

sich wohl eher im eine geschwollene Drüse. Trotzdem, da sie<br />

bald nach Europa zurückzukehren gedenke, sei es doch ratsam,<br />

weitere Tests vorzunehmen. Das tat sie auch sofort in<br />

London (der Test ergab nichts Bösartiges) und dann begab sie<br />

sich zu Ingmar auf seine Insel, um das Script zu besprechen.<br />

Etwas machte ihr ganz besonders Spass: die Gelegenheit zu<br />

haben, einen Film in schwedischer Sprache zu machen. Bis<br />

1977 hatte sie Bühnenstücke und Filmscripts in nicht weniger<br />

<strong>als</strong> fünf Sprachen auswendig gelernt – eine Leis<strong>tu</strong>ng, wohlge-<br />

579


merkt, die in der Geschichte der Schauspielerei sehr selten,<br />

wenn nicht einmalig ist.<br />

"Herbstsonate", wie <strong>Bergman</strong> den Film bereits betitelt<br />

hatte, wurde im September und Okt<strong>ob</strong>er in Norwegen gedreht,<br />

denn Ingmars Pr<strong>ob</strong>leme mit den Steuerbehörden hatten ihm<br />

seine schwedische Geschäftsbasis vermiest. Aber die grosse<br />

Zusammenarbeit, die sich Regisseur und Star schon so lange<br />

gewünscht hatten, konnte deren Erwar<strong>tu</strong>ngen zunächst nicht<br />

erfüllen. <strong>Ingrid</strong> las das Script und war ehrlich entsetzt: die Rolle<br />

der Charlotte sei ein Monster, erklärte sie dem Regisseur.<br />

Die Figur rede zuviel, erscheine lieblos, ihre Motivationen seien<br />

nebulös; und die Tochter, Eva – nun, die sei nur eine Meckerin,<br />

so unreif. Nein, das Script sei ganz unmöglich, lieber Ingmar,<br />

und so werden wir an dieser Szene arbeiten müssen und an<br />

jener und...<br />

Wie sich Lars erinnerte, war der Film so gut wie erledigt.<br />

"Von Anfang an gab es Schwierigkeiten. <strong>Ingrid</strong>s natürliche<br />

Offenheit passte nicht zu Ingmars autoritären Arbeitsgewohnheiten.<br />

Und dann hatte <strong>Ingrid</strong> andere Ansichten vom Leben.<br />

Sie respektierte Ingmar enorm, aber er schätzte ihre kreative<br />

Schauspielerei nicht, wie auch die Tatsache, dass sie es wagte,<br />

im und ausserhalb des Sets sie selbst zu sein. Er sei nicht an<br />

Einwände gewöhnt, sagte er – und so, um es kurz zu sagen,<br />

mochte er sie nicht."<br />

Liv Ullman brach während der ersten Lesung in Tränen<br />

aus, Ingmar war weiss vor Zorn, und <strong>Ingrid</strong> schien hartnäckig<br />

zu sein. Sie konnte keine Frau spielen, die sie nicht verstehen<br />

konnte, das war alles. Die lange Nacht der Konfrontationen<br />

zwischen Charlotte und Eva – die Szene, die den emotionalen<br />

Höhepunkt von "Herbstsonate" bildete – war so bitter, eine<br />

derartige Tirade von Kummer und Ressentiments, dass <strong>Ingrid</strong><br />

das alles <strong>als</strong> völlig irreal vorkam. Sie hatte sich mit ihren eigenen<br />

Kindern gestritten, sicher, sagte sie – "manche Nacht der<br />

Wahrheit zwischen Mutter und Tochter, aber keine so beladen<br />

mit Hass wie in diesem Script! Ich hatte Glück mit meinen Kindern.<br />

Sie waren sehr verständnisvoll, wirklich." Und das waren<br />

580


sie auch. „Aber <strong>Ingrid</strong>“, entgegnete ihr Regisseur ungerührt,<br />

„diese Frau hat Charakterseiten, die – nun ja, die du selbst<br />

verstehen müsstest.“ Sie bat darum, sich ein Wochenende zurückziehen<br />

zu können, um ihre Mitwirkung zu überdenken.<br />

UND DANN PASSIERTE ETWAS GANZ AUSSERORDENT-<br />

LICHES.<br />

Als sie das Script und Ingmars Notizen dazu las, realisierte<br />

sie schockiert, dass diese Frau tatsächlich sie selbst war.<br />

"Vieles von mir steckt in 'Herbstsonate'", sagte sie später, "und<br />

ich war schrecklich nervös, <strong>als</strong> meine Tochter Pia sagte, sie<br />

wolle sich den Film ansehen." Da war eine Konzertpianistin –<br />

wie <strong>Ingrid</strong> in "Intermezzo" – die ihr Talent auch um den Preis,<br />

dass sie ihr Privatleben opfern musste, nicht unter Kontrolle<br />

halten konnte; dieser Film zeigte <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s Verhältnis<br />

zu Pia Lindström, wie Pia selbst sofort erkannte, <strong>als</strong> sie den<br />

fertigen Film zu sehen bekam.<br />

An diesem Spätsommer-Wochenende wurde <strong>Ingrid</strong> bewusst,<br />

dass sie den vielleicht schwierigsten Entscheid ihrer<br />

Karriere treffen musste. Charlotte war so genau <strong>Ingrid</strong>: war die<br />

Schauspielerin bereit, die Rolle noch stärker zu profilieren –<br />

das nackte Eingestädnis der Schuld, die sie nun seit 28 Jahren<br />

mit sich herumtrug, für alle Welt sichtbar auf Film zu bannen?<br />

Und war sie bereit, Ingmars Geschichte zur Erfolgsstory zu<br />

machen, ihr genau den persönlichen Anstrich zu geben, der die<br />

Charaktere glaubhaft macht? Mag Ingmar die Geschichte vor<br />

Augen gehabt haben, gab es da – wie üblich, in seinen Filmen<br />

- auch noch generelle Einflüsse: theologische Aspekte, soziale<br />

Fragen, geistige Überlegungen. Ihr schien, das alles schwäche<br />

das Script. Das zentrale Thema des Dramas musste sich auf<br />

die Mutter-Tochter-Geschichte konzentrieren – und diese Geschichte<br />

kannte sie nur allzugut.<br />

Entschuldigungen, Bemühungen, gemeinsame Ferien,<br />

Versuche zur Versöhnung mit Pia – ja, all das führte zu einer<br />

Art Waffenstillstand. Aber <strong>Ingrid</strong> und Pia waren zu klug und<br />

581


sensibel um zu glauben, 1977 sei nun alles in Ordnung, man<br />

könne die Vergangenheit vergessen. Tiefe Verstimmungen sind<br />

geblieben. Über die Jahre hatte <strong>Ingrid</strong> versucht, ihre Seele zu<br />

erleichtern, die Vergangenheit neu zu ordnen – aber der<br />

Schmerz blieb, nagend und quälend für beide.<br />

Hier nun kam die Gelegenheit, auf die <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong><br />

gewartet hatte. In ihrer Kunst, mit dem stärksten Mittel, das<br />

ihr zur Verfügung stand, wollte sie konfrontieren, gestehen,<br />

Vergebung suchen. So würde die tiefste Wunde ihrer Seele der<br />

Welt für immer offenbart. Sie würde zu guter Letzt – nach 43<br />

Filmjahren – nicht nur eine Rolle spielen, sondern diese Rolle<br />

sein. Wie sie schon oft gesagt hatte, war die Welt voll von ungesühnter<br />

Schuld: konnte sie nicht ihre eigene Schuld mindern,<br />

die sie durch den Schmerz auf sich geladen hatte, den<br />

sie andern – nicht aus Bosheit, sondern aus Egoismus – zugefügt<br />

hatte?<br />

Sie konnte nichts anderes <strong>tu</strong>n. Weltweit riefen die Menschen<br />

nach der Befreiung der Frau – aber war am Ende nicht<br />

die einzig wesentliche Befreiung die, welche von innen kam?<br />

Letztlich war es durch ihre Kunst, dass sie hinter die Wahrheit<br />

kam. "Ich fühlte mich immer schuldig – mein ganzes Leben<br />

lang schuldig für meine Abwesenheiten während meine Tochter<br />

aufwuchs. Das Wichtigste für mich war die Arbeit. Das ist vielleicht<br />

egoistisch. Meine Kinder und ich, wir verstehen uns nun,<br />

da sie erwachsen sind, aber ich weiss, dass sie mich während<br />

Jahren zuhause vermisst haben." Sie mag die Wirkung ihrer<br />

Abwesenheiten auf ihre Kinder überschätzt haben. Aber es war<br />

ihr Gefühl von Reue, das letztlich so tief ging. Mit dieser Last<br />

wollte sie nicht sterben.<br />

SO GESCHAH ES, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong> in der folgenden Woche zur<br />

Arbeit zurückkehrte, dass sie einige Vorschläge zu machen<br />

hatte. Ingmar atmete tief durch und setzte sich, in Erwar<strong>tu</strong>ng<br />

einer unmöglichen Diskussion, die das ganze Projekt womöglich<br />

zu Fall brachte. <strong>Ingrid</strong> habe einige ihrer Dialoge verschärft,<br />

sagte sie; sie habe einen tiefen Blick in ihre Seele geworfen,<br />

582


um den Sinn der dunkeln Nacht im Script besser zu veranschaulichen.<br />

Sie fragte sanft aber bestimmt, <strong>ob</strong> Ingmar bereit<br />

wäre, ihre Vorschläge in Erwägung zu ziehen?<br />

Das war er – und er war erstaunt.<br />

Charlotte war jetzt mehr Charlotte, weil sie mehr <strong>Ingrid</strong><br />

war. Die Zeit der Trennung von Mutter und Tochter müsse 7<br />

Jahre betragen, sagte <strong>Ingrid</strong> (sie war von Pia von 1949 bis<br />

1951 getrennt, und dann wieder von 1951 bis 1957). Und zu<br />

Charlottes Karriere: die müsse 45 Jahre dauern, ja (<strong>Ingrid</strong> sah<br />

den Beginn ihrer eigenen 1933 und "Herbstsonate" sollte 1978<br />

herauskommen). Und anstelle von wiederholten, langen,<br />

manchmal ziellosen Dialogen müssten ätzende, schreckliche<br />

Eingeständnisse von Charlotte treten: "Ein schuldiges Gewissen<br />

– immer ein schuldiges Gewissen?" sinniert sie, und später<br />

(zu Eva), "Ich hatte immer ein schlechtes Gewissen weil ich<br />

dich und Papa alleingelassen habe." An dieser Stelle des<br />

Scripts, schlug <strong>Ingrid</strong> vor, müsse ein Konzert in Los Angeles<br />

erwähnt werden; und an jener Stelle, warum könne Eva nicht<br />

Journalistin sein (wie Pia)? Und Charlotte müsse nervös quasseln<br />

– über ihre Kleider, ihr Haar, ihre Konzerttermine – und<br />

das Zentrum eines Wirbelwinds sein. "Würde sie mehr schlafen",<br />

sagt Eva, "würde sie alle durch die Mühle drehen –<br />

Schlaflosigkeit ist das Mittel der Na<strong>tu</strong>r, mit ihrer überschüssigen<br />

Energie fertig zu werden!" Das war <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> persönlich.<br />

Auf <strong>Ingrid</strong>s Antrag gab Ingmar Liv eine schrecklich<br />

schmerzliche Aussage zu machen, die direkt von den Lippen<br />

von <strong>Ingrid</strong>s eigener Tochter hätte kommen können: "Ich weiss<br />

nicht, was ich mehr hasste – wenn du zuhause oder wenn du<br />

auf Tour warst. Ich realisiere heute, dass du Papas und mein<br />

Leben zur Hölle gemacht hast. Du hast ihn betrogen. Ich war<br />

deine Puppe, mit der du spieltest, wenn du die Zeit dazu hattest.<br />

Ja, du warst immer nett, aber im Geist warst du anderwo."<br />

Aber den grössten Beitrag zum Film lieferte nicht ein<br />

spezieller Text oder eine umgestaltete Szene. Es war <strong>Ingrid</strong><br />

583


<strong>Bergman</strong>s vollkommene Hingabe an diese Rolle, an ihr Selbstportrait.<br />

Und das kommt im vollendeten Film am deutlichsten<br />

in der Sequenz zum Ausdruck, wo Eva Chopins a-moll-Prélude<br />

spielt. Während <strong>Ingrid</strong> zuhört, blendet die Kamera unaufhörlich<br />

Nahaufnahmen ein, die uns die Geschichte einer belasteten<br />

Beziehung schildern. <strong>Ingrid</strong>s Augen, Lippen, die Neigung ihres<br />

Kopfs bewegen und ändern sich nahezu unmerklich; hier werden<br />

Erinnerungen gewaschen – die süssen Rückblicke auf ihr<br />

Baby, die Schuld der scheinbaren Gleichgültigkeit einer Mutter,<br />

die Reue über die nachfolgenden Abwesenheiten, die Rechtfertigungen,<br />

das Unverständnis ihrer selbst, das Staunen, das nur<br />

durch Selbsterkenntnis möglich wird, der Versuch, Schmerz zu<br />

verheimlichen. Diese Szene allein wog ein Dutzend von <strong>Ingrid</strong>s<br />

früheren Filmen auf. Endlich war die Lücke zwischen persönlicher<br />

Vergangenheit und deren dramatischem Inhalt geschlossen:<br />

war Gefühl schon immer die Voraussetzung für eine gute<br />

Leis<strong>tu</strong>ng, führte das hier vorhandene Gefühl zu einem grossartigen<br />

Ergebnis.<br />

"Ich fühle mich so ausgebrannt", sagte Charlotte/<strong>Ingrid</strong><br />

zu ihrem Agenten Paul (der im ganzen Film kein Wort sprach).<br />

"Ich habe immer Heimweh. Aber wenn ich nachhause komme,<br />

spüre ich, dass ich mich nach etwas Anderem sehnte." Diese<br />

nackte Feststellung war ihre ultimative Selbstoffenbarung.<br />

"EINE MUTTER UND EINE TOCHTER – welch schreckliche<br />

Kombination von Gefühlen, Konfusion und Zerstörung",<br />

sagt Liv Ullman gegen Ende des Films – ein Ende das kein Abschluss<br />

ist, das aber in Evas Brief an Charlotte nach deren Abreise<br />

ein klares Zeichen setzt, nämlich dass Erinnerungen tatsächlich<br />

verheilen können, dass es für dieses unglückliche Paar<br />

doch eine Zukunft geben kann.<br />

Das Ende von "Herbstsonate" mit einem für Ingmar<br />

<strong>Bergman</strong>s Filme so atypischen Hoffnungsschimmer, wurde auf<br />

<strong>Ingrid</strong>s Betreiben so gestaltet. "Er wollte den Film ursprünglich<br />

so beenden, dass die Mutter völlig hoffnungslos das Haus der<br />

Tochter verlässt", sagte <strong>Ingrid</strong>. "Aber ich bat ihn, den beiden<br />

584


etwas Hoffnung zu lassen. So fügten wir den Brief ein, den Liv<br />

schreibt. Er tat es für mich."<br />

"Liebe Mama", schreibt die Tochter ihrer Mutter nachdem<br />

Charlotte sich so tief erniedrigt und um Vergebung gebettelt<br />

hatte, "trotz allem fühle ich eine Art Erbarmen. Ich will<br />

dich nie wieder aus meinem Leben verbannen. Ich werde darum<br />

kämpfen. Ich werde nicht aufgeben, auch wenn es zu spät<br />

wäre. Ich denke nicht, dass es zu spät ist." Der Film endet mit<br />

einer sehr langen Nahaufnahme von <strong>Ingrid</strong>, die geradewegs ins<br />

Publikum schaut, ihr Blick voll unverhohlenem Schmerz, ihre<br />

Augen "auf der Suche nach Erbarmen".<br />

Mit dem Geständnis begann der Regenerationsprozess<br />

in der Künstlerin, und danach konnte das Publikum eine der<br />

ganz grossen Leis<strong>tu</strong>ngen sehen, die je auf Celluloid gebannt<br />

wurden. Dies sei ihr letzter Film gewesen, sagte <strong>Ingrid</strong> dam<strong>als</strong>;<br />

sie war überzeugt, keine ebenbürtige Rolle mehr zu finden.<br />

Das war auch der erste Hinweis für das Publikum auf ihre<br />

Krankheit, von der zwar gerüchtweise die Rede war, die aber<br />

nie bestätigt wurde.<br />

WAS WUNDER ALSO, dass sie während der Aufnahmen<br />

zu "Herbstsonate" erheblichen Belas<strong>tu</strong>ngen und Sorgen ausgesetzt<br />

war; aber dafür gab es einen noch ernsthafteren Grund,<br />

<strong>als</strong> die Anforderungen an die Rolle. Während der ersten Drehwoche<br />

begab sie sich für zwei Tage nach London, wo ihr dortiger<br />

Arzt, Dr. Edward McLellan, feststellte, dass der Knoten unter<br />

ihrem Arm sich nun <strong>als</strong> Metastase erwies, wo man doch<br />

geglaubt hatte, ihre Krebserkrankung 1974 besiegt zu haben.<br />

"Sie beabsichtigte, den Film fertig zu spielen", erinnerte<br />

sich Ingmar, "fragte dann aber tatsächlich, <strong>ob</strong> wir die Szenen<br />

mit ihren Auftritten nicht um ein paar Tage komprimieren<br />

könnten – und falls das nicht möglich sei, würde sie natürlich<br />

während der vereinbarten Zeit zur Verfügung stehen. Sie arbeitete<br />

weiter, <strong>als</strong> wäre nichts geschehen. Zunächst begegnete<br />

sie ihrer Krankheit mit Sorge und Ungeduld, aber dann war ihr<br />

585


starker Körper gebrochen, ihre Seele ausgebrannt. Trotz allem<br />

benahm sie sich im S<strong>tu</strong>dio ausserordentlich diszipliniert."<br />

Dann, eines späteren Nachmittags, während <strong>Ingrid</strong> und<br />

Ingmar eine Änderung der Beleuch<strong>tu</strong>ng einer Szene abwarteten,<br />

bemerkte er, wie ihre Hand wiederholt über ihr Gesicht<br />

strich und sie tief einatmete. Ganz kurz huschte ihr fröhliches<br />

Lächeln über ihr Gesicht bevor sie gelassen sagte: "Weißt du -<br />

ich lebe auf Pump." Wie sie ihre eigenen Worte erfasste, erstarb<br />

ihr Lächeln und – für einen ganz kurzen Moment - trat<br />

ein Schatten von Panik in ihre klaren, grau-blauen Augen.<br />

Dann war alles zur Aufnahme bereit, womit sie an die Arbeit<br />

humpelte. "Ihr Benehmen war ausserordentlich professionell",<br />

schloss Ingmar, "denn selbst geschwächt, wie sie offensichtlich<br />

war, war <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> eine bemerkenswerte Person –<br />

grosszügig, grossartig und hochtalentiert."<br />

Liv Ullman war von <strong>Ingrid</strong>s Mut ebenfalls tief berührt.<br />

"Das Sichtbare an ihr war ihre Grösse <strong>als</strong> Schauspielerin, mit<br />

der sie andern skandinavischen Schauspielerinnen - wie mir-<br />

die Tür öffnete, aber das ist nichts gemessen an ihrer wahren<br />

Schönheit. Diese kam <strong>als</strong> eine Person, deren Mut angesichts<br />

dieses schrecklichen Krebses und ihrer Ehrlichkeit und Direktheit<br />

bei der Arbeit für uns alle möglich ist. Das Schönste an<br />

allem: sie sagte mir nie, was ich zu <strong>tu</strong>n hatte. Sie inspirierte<br />

durch ihr Vorbild." "Herbstsonate" brachte <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> ihre<br />

siebente Oscar-Nomination <strong>als</strong> beste Schauspielerin ein.<br />

SOFORT NACH FERTIGSTELLUNG des Films kehrte <strong>Ingrid</strong><br />

nach London zurück, wo ihr Mary Evans behilflich war, eine<br />

komfortable Wohnung in einem Terrassenhaus an Nr. 9 Cheyne<br />

Gardens, Chelsea, zu finden, ein paar Schritte von einem<br />

kleinen Park entfernt und nahe an der Themse. Das Quartier<br />

ähnelte demjenigen in Stockholm, dem Strandvägen entlang:<br />

war das Wetter gut, konnte <strong>Ingrid</strong> dem Ufer entlang spazieren,<br />

sich auf eine Bank setzen und den Schiffsverkehr be<strong>ob</strong>achten,<br />

im Script zu "Waters of the Moon" sich ihre Zeilen für den bevorstehenden<br />

Neubeginn einprägen und die Ruhe geniessen.<br />

586


<strong>Ingrid</strong>s Wohnung erstreckte sich über zwei Etagen – eine Küche,<br />

ein Speise- und ein Wohnzimmer im ersten und zwei<br />

Schlafzimmer, zwei Bäder und eine Terrasse im zweiten Stock.<br />

Sie möblierte das Ganze in Erdfarben, Écru und sanften Brauntönen,<br />

und für ihr Schlafzimmer wählte sie eine Tapete mit<br />

einem Muster von verschlungenen Grünpflanzen und Blätterwerk<br />

– "eine Wald-Szenerie", wie sie es nannte. "Wenn es soweit<br />

ist, werde ich hier zwischen den Blättern sitzen, wenn<br />

mich meine Freunde besuchen kommen."<br />

Vor allem war da die Frage ihrer Gesundheit. Das Geschwür<br />

unter ihrem rechten Arm, eine bösartige Veränderung<br />

eines Lymphknotens, wurde entfernt wonach sich <strong>Ingrid</strong> neuerdings<br />

einer ermüdenden Strahlentherapie unterziehen musste.<br />

Jeden Morgen um neun Uhr kam Griff James sie in Cheyne<br />

Gardens abholen, fuhr sie zum Spital und sah ihr zu, wie sie<br />

alleine einen langen Gang entlang in Rich<strong>tu</strong>ng 'Nuklearmedizin'<br />

ging. Eineinhalb S<strong>tu</strong>nden später stand sie zu den Pr<strong>ob</strong>en auf<br />

der Bühne. Niemand im Cast hatte die leiseste Ahnung von der<br />

Schwere ihrer Krankheit, <strong>ob</strong>schon allen aufgefallen war, dass<br />

<strong>Ingrid</strong> Mitte Nachmittag ungewöhnlich erschöpft war, sie sich<br />

manchmal etwas niedersetzen musste und einen abwesenden<br />

Eindruck machte. "Sie war diese Saison sehr, sehr zu bewundern",<br />

sagte Wendy Hiller, die von <strong>Ingrid</strong> bald ins Vertrauen<br />

gezogen wurde. "Als sie es mir sagte, tat sie es ohne den leisesten<br />

Anflug von Wehleidigkeit."<br />

Nach zwei Wochen in Brighton, hatte "Waters of the<br />

Moon" am 26. Januar 1978 am Haymarket Premiere. "<strong>Ingrid</strong><br />

<strong>Bergman</strong> ist das Herz des Stücks und macht es zu ihrem eigenen",<br />

so etwa lautete der Tenor der Presse. "Ihr sprudelndes<br />

Spiel, ihr inkonsequentes Geplapper, ihre Ungeduld mit dem<br />

Pessimismus, ihr Vertrauen in die Tugenden des Wohlstands<br />

machen sie unwiderstehlich." Ein anderer bemerkte, sie "sei<br />

sicherer und strahle leuchtender <strong>als</strong> je zuvor". Noch immer<br />

hatte die Presse ihr Gesundheitspr<strong>ob</strong>lem nicht erkannt und so<br />

blieb es während den 180 Vorstellungen, die das Stück hier<br />

erlebte.<br />

587


Im Juni erfuhr <strong>Ingrid</strong>, dass sich in der rechten Brust Metastasen<br />

gebildet hatten. Sie stimmte einem chirurgischen Eingriff<br />

nach der letzten Vorstellung im Juli zu, <strong>ob</strong>wohl die Strahlentherapie<br />

sie zunehmend schwächte und krank machte. Ihr<br />

Gesicht war von den Cortisonspritzen oft aufgedunsen, ihr Knie<br />

schwoll an und musste entwässert werden, wenn sie damit<br />

gegen einen Tisch gestossen war; sie litt an ominösen Rücken-<br />

und Schulterschmerzen; und manchmal bewegte sie sich so<br />

langsam, <strong>als</strong> würde sie jeder Schritt schmerzen. "Weiterzumachen<br />

bedeutete für sie eine zunehmende Qual", erinnerte sich<br />

Wendy Hiller, "doch sie machte weiter." Tatsächlich verpasste<br />

<strong>Ingrid</strong> in sechs Monaten gerade zwei Vorstellungen. "Sie<br />

kämpfte weiter, um niemanden von uns zu belasten, trotzdem<br />

sie durch die wahre Hölle ging."<br />

Patrick Garland, der Produzent der Aufführungen von<br />

"Waters" in Brighton und London erinnerte sich, dass ihm ein<br />

amerikanischer Produzent nach einer Aufführung im Haymarket<br />

sagte, wie sehr sie den speziellen Lichteffekt auf <strong>Ingrid</strong> –<br />

speziell den Scheinwerfer, der ihr auf der Bühne konstant gefolgt<br />

sei und wie ein kleiner Heiligenschein gewirkt habe – bewundert<br />

hätten. Garland sah sie verständnislos an und sagte:<br />

"Es gibt keinen Pin-Spot auf <strong>Ingrid</strong> – überhaupt keinen speziellen<br />

Lichteffekt auf sie!" Aber sie hätten das deutlich gesehen,<br />

behaupteten der Produzent und seine Frau. Nein, entgegnete<br />

Garland mit einem Lächeln: was sie "gesehen" hätten, sei eine<br />

unsichtbare Qualität – eine Frau "mit einer Art magischem<br />

Licht, das stark genug ist, zwei sehr erfahrene Theaterleute an<br />

einen künstlichen Lichteffekt glauben zu lassen".<br />

Auch ihren Humor verlor <strong>Ingrid</strong> nicht. Einmal, <strong>als</strong> sie die<br />

Sylvesteransprache hielt, kam sie langsam die Bühne herunter,<br />

hatte einen kurzen Schwindelanfall und landete auf den Knien<br />

von Co-Star Paul Hardwick, w<strong>ob</strong>ei der Inhalt seines Champagnerglases<br />

(Requisit) über seine Hose verspritzte. <strong>Ingrid</strong> kicherte<br />

und improvisierte: "Näher herbei, meine Liebe – aber nicht<br />

so nahe!" Das Publikum glaubte an einen prächtigen burlesken<br />

Regieeinfall. Hinter der Bühne staunten alle, denn da hatte sie<br />

im Handumdrehen ihren eigenen Patzer in einen Moment ver-<br />

588


wandelt, der dem Stück diente.<br />

NACH DER LETZTEN VORSTELLUNG am 1. Juli im Haymarket<br />

erwartete <strong>Ingrid</strong> einen Leihwagen für die Heimfahrt.<br />

Weil sich dessen Ankunft verzögerte, kehrte sie ins Theater<br />

zurück. Er müsse nicht warten, sagte sie zu Griff, der sie zu<br />

den Cheyne Gardens begleiten wollte. Sie machte es sich eben<br />

im Saal gemütlich und verfolgte den Betrieb auf der Bühne.<br />

Allein sah sie zu, wie die letzte Szenerie abgebaut, die letzten<br />

Requisiten und Möbelstücke weggeräumt wurden. Sie konnte<br />

nicht gehen, weil sie wusste, dass wann immer sie wieder ein<br />

Theater betreten würde, es nur <strong>als</strong> Zuschauerin sein konnte.<br />

Dann verlöschten die Lichter im Saal langsam, und Griff fuhr<br />

sie nachhause.<br />

Im Juli trat <strong>Ingrid</strong> (unter dem Namen Mrs. Schmidt) ins<br />

Spital ein, wo ihr Dr. William Slack die rechte Brust amputierte.<br />

Am Vierundzwanzigsten rief <strong>Ingrid</strong> Margaret Johnstone an,<br />

eine Pflegerin und Masseuse, die ihr regelmässig mit Massagen<br />

und Entspannungsübungen zur Seite stand. "Nun, es ist erledigt",<br />

sagte <strong>Ingrid</strong> aufgeräumt, "wann kommst du zu mir?"<br />

Margaret und Griff kamen, und noch immer war die Sache<br />

nicht in die Öffentlichkeit gedrungen. Aber dann, <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong><br />

gezwungen war, die Amerikatournée mit "Waters of the Moon"<br />

abzusagen, musste die Presse informiert werden – allerdings<br />

nur in dem Sinne, dass wegen eines Krankheitsfalls "business<br />

as usual" nicht möglich sei. Weil es unvorstellbar war, dass<br />

<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> auf eine Tournée verzichtete und weil sie auch<br />

plötzlich begann, über ihre dreiundsechzig Jahre hinauszusehen,<br />

verbreitete sich die Neuigkeit bald, sodass sie die Schwere<br />

ihrer Krankheit nicht mehr verheimlichen konnte – was sie<br />

auch gar nicht mehr beabsichtigte. "Natürlich will ich nicht<br />

sterben", sagte sie tonlos, "aber ich habe auch keine Angst<br />

davor." Und nichts in ihrem Verhalten zu Freunden und Öffentlichkeit<br />

hätte etwas anderes erkennen lassen.<br />

Im Okt<strong>ob</strong>er fühlte sie sich stark genug, um nach New<br />

York zu reisen, ihre Kinder zu besuchen und die englische Ver-<br />

589


sion von "Herbstsonate" zu synchronisieren. Sie nahm lebhaften<br />

Anteil am Leben ihrer Kinder und Enkel und sprühte vor<br />

Fragen und guten Ratschlägen. Pia, die nun zwei Kinder hatte,<br />

war Fernsehjournalistin in New York und arbeitete <strong>als</strong> Kritikerin.<br />

R<strong>ob</strong>erto (der bis in die späten Vierziger Junggeselle blieb)<br />

arbeitete in Monte Carlo im Liegenschaftenhandel; Isabella,<br />

Model und Schauspielerin, hatte nach mehreren Ehen drei Kinder,<br />

und Isotta <strong>Ingrid</strong>, Wissenschaftlerin und Lehrerin, zweimal<br />

verheiratet, hatte zwei Kinder.<br />

"Herbstsonate" kam gegen Jahresende in die Kinos, und<br />

<strong>Ingrid</strong> erhielt die sensationellsten Kritiken ihrer Karriere; diesmal<br />

gab es keine Diskussionen und kein Gemecker über den<br />

Stoff. Die Kritiker durchwühlten ihre Vokabularien nach jenen<br />

Superlativen, die normalerweise für N<strong>ob</strong>elpreis-Anwärter eingesetzt<br />

werden. <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> wurde in die Sphären der<br />

feinsten Schauspielerinnen der Geschichte erh<strong>ob</strong>en, sie habe<br />

nie eine auch nur entfernt vergleichbare Leis<strong>tu</strong>ng gezeigt; ihr<br />

Spiel sei von "perfekter Eloquenz" gewesen. Im übrigen war es<br />

schwierig, unter den Kinogängern jemanden zu finden, der<br />

nich berührt gewesen wäre.<br />

INGRID VERBRACHTE EINE GERUHSAME WEIHNACHT in<br />

New York, und anfangs 1979 kehrte sie nach London zurück,<br />

um sich zu erholen und ihre Strahlentherapie fortzusetzen.<br />

Noch nie zuvor, berichtete sie Lars, habe sie sich konstant so<br />

erschöpft gefühlt.<br />

Aber das hinderte sie nicht daran, die Einladung anzunehmen,<br />

am 7. März in Beverly Hills am "American Film Insti<strong>tu</strong>te's<br />

Lifetime Achievement Award to Alfred Hitchcock" das<br />

Amt der Zeremonienmeisterin zu übernehmen. Fünfzehnhundert<br />

Personen nahmen am Bankett teil und sahen sich die<br />

Filmausschnitte an, die zu Ehren des Regisseurs vorgeführt<br />

wurden, dessen Arthritis ihm nun sogar einzelne Schritte zur<br />

Qual machte. In einem wundervollen königsblauen Chiffonkleid,<br />

das die Folgen ihrer Operationen überspielte, entfaltete<br />

<strong>Ingrid</strong> zu Ehren des Anlasses ihren ganzen überragenden<br />

590


Charme.<br />

Aber am Ende des Abends – anstatt sich bei den Gästen<br />

zu bedanken und Hitch ein letztes Mal für seine Verdienste zu<br />

würdigen und die Feier so zu beschliessen, wie es im Script<br />

vorgesehen war – hatte <strong>Ingrid</strong> noch eine Ueberraschung in der<br />

Hinterhand, die niemand unter den Anwesenden je vergessen<br />

konnte, eine Geste, die der Bedeu<strong>tu</strong>ng eines bestimmten, mit<br />

sentimentalen Vorstellungen verbundenen Objekts die Krone<br />

aufsetzte.<br />

"Nun habe ich noch eine Kleinigkeit, die ich vor dem<br />

Ende unseres Abends vorbringen möchte. Hitch, erinnerst du<br />

dich an jene Szene in "Notorious", für die du eine Art Lift gebaut<br />

hast, einen Kran für dich und den Kameramann, von dem<br />

aus ihr die ganze weite Party gefilmt habt, von wo aus ihr<br />

langsam zu meiner Hand – in Nahaufnahme - heruntergezoomt<br />

habt, in der sich der Schlüssel zum Weinkeller befand? Nun,<br />

weißt du was? Cary hat diesen Schlüssel gestohlen! Ja, und hat<br />

ihn während etwa zehn Jahren behalten – und dann, eines Tages<br />

hat er ihn mir in die Hand gedrückt mit den Worten: 'Den<br />

habe ich nun lange genug besessen – er gehört jetzt dir und<br />

soll dir Glück bringen.' Ich habe ihn nun während zwanzig Jahren<br />

behalten, lieber Hitch, und jetzt – hier in meiner Hand –<br />

habe ich eben diesen Schlüssel. Er hat mir viel Glück gebracht<br />

und auch einige gute Filme, und jetzt gebe ich ihn an dich weiter,<br />

in der Hoffnung, er werde dir einige sehr gute Türen öffnen.<br />

Gott behüte dich, Hitch – ich bin mit dem Schlüssel gleich<br />

bei dir."<br />

<strong>Ingrid</strong> nahm ihren Weg durch die Menge in Rich<strong>tu</strong>ng Ehrentisch,<br />

wo Hitch und zu seiner Linken Cary Grant sassen, der<br />

vor Staunen und Freude strahlte. Mit enormer Anstrengung<br />

erh<strong>ob</strong> sich Hitch von seinem Sitz und wandte sich <strong>Ingrid</strong> zu,<br />

die ihm den Schlüssel überreichte. Alfred Hitchcock, ein Mann,<br />

der nie und nimmer bereit war, sich eine Gefühlsregung anmerken<br />

zu lassen, legte nun seine Arme um <strong>Ingrid</strong>s H<strong>als</strong>, zog<br />

sie dicht heran und küsste sie auf beide Wangen. "Hitch<br />

kämpfte sich so galant hoch zu mir", sagte sie später an jenem<br />

591


Abend, "und ich kämpfte gegen die Tränen, doch es nützte mir<br />

nichts – und ihm auch nicht."<br />

Während der Saal von Applaus dröhnte, hielten sie sich<br />

in den Armen, die beiden alten, kranken Freunde, die so geschickt<br />

eine so schwierige und verzwickte Liebe gemeistert<br />

hatten, die sie in eine vertrauliche Verehrung umgewandelt<br />

hatten, und die sich gegenseitig und der Welt (speziell mit<br />

"Notorious") so viel gegeben hatten, was gut, tiefgründig und<br />

ehrlich war. <strong>Ingrid</strong> nahm Hitchs Gesicht in beide Hände und<br />

blickte ihm liebevoll in die Augen, bevor sie Cary heranzog und<br />

für diesen ausserordentlichen Moment in ihre Umarmung einschloss.<br />

Noch selten hat das Fernsehen eine Szene von derart<br />

emotionaler Wirkung eingefangen, die ungekünstelt aus den<br />

tiefsten privaten Gefühlen von Prominenten entstand.<br />

IM NOVEMBER KEHRTE INGRID für eine Ehrung nach<br />

Los Angeles zurück, wo an einer Variety Club Gala Geld für ein<br />

Kinderspital gesammelt wurde. Die Feier fand auf Bühne 9 des<br />

Warner Bros.-S<strong>tu</strong>dios in Burbank statt – <strong>als</strong>o genau an jener<br />

Stelle, wo vor 37 Jahren die Innenaufnahmen zu "Casablanca"<br />

gedreht wurden. Strahlend, in einem schlichten weissen Kleid,<br />

erschien <strong>Ingrid</strong> zwar fröhlich, doch war sie von der Krankheit<br />

viel stärker gezeichnet, <strong>als</strong> noch im vergangenen März. Während<br />

zweier S<strong>tu</strong>nden nahm sie die Bel<strong>ob</strong>igungen durch Kollegen<br />

(Paul Henreid, Joseph Cotten, Cary Grant, Helen Hayes,<br />

Goldie Hawn) entgegen, ja selbst von solchen, die sie kaum<br />

kannten (u.a. James Stewart, Peter Falk und Jack Albertson).<br />

Aber wie bei der Hitchcock-Feier hatte <strong>Ingrid</strong> eine Überraschung<br />

vorbereitet. Mit ihrer Familie hatte sie alle die kleinen<br />

S<strong>tu</strong>mmfilmsequenzen zusammengeflickt, die ihr Vater in ihrer<br />

Kindheit von ihr aufgenommen hatte. Mit starker, stolzer<br />

Stimme begleitete sie den kleinen Film mit einem berührenden<br />

Kommentar.<br />

Der Abend war wichtig, weil er – ganz ähnlich wie<br />

"Herbstsonate" – einen Überblick über ihr Leben vermittelte,<br />

592


den sie mit ihrem Publikum teilen wollte. "Wenn mein Vater<br />

etwas Neues entdeckte – im Filmbereich – war er so begeistert,<br />

dass er an meinen Geburtstagen und bei andern speziellen<br />

Gelegenheiten eine Kamera mietete, die er dann von Hand<br />

kurbelte", begann sie ihren Kommentar, <strong>als</strong> die Bilder über die<br />

Leinwand zu flackern begannen.<br />

Das bin ich auf der Schoss meiner Mutter, hinter mir<br />

mein Grossvater und meine Grossmutter. Das war mein<br />

erster Leinwandauftritt, 1916, <strong>als</strong> ich einjährig war. Und<br />

hier bin ich zweijährig, mit meiner Mutter, die mich in<br />

meinem kleinen Wägelchen herumstiess – das war meine<br />

erste Requisite. Und hier ist meine Mutter, und wie<br />

mich das freut, sie hier sich bewegen und lachen zu sehen.<br />

Ich wusste nicht, was ich in diesen Szenen <strong>tu</strong>n<br />

sollte, ich erhielt ja kaum Anweisungen, und da bin ich,<br />

dreijährig, wie ich zum Grab meiner Mutter komme. Ich<br />

lege Blumen auf das Grab. Ihr werdet verstehen, dass<br />

ich so glücklich bin über diese frühen Aufnahmen, wo<br />

ich sie sehen kann, wie sie sich bewegt, lacht, mich<br />

hochhebt – wie schön das war.<br />

Wie Ihr seht, hatte ich wenigstens gelernt, dem Publikum<br />

zuzuwinken – und hier sind meine Cousins und<br />

Tanten und Onkel von Deutschland. Mein Vater dachte,<br />

ich müsse eine Gouvernante haben, und das ist sie, eifrig<br />

dem Publikum zuwinkend, wie ich auch.<br />

Mein Vater liebte die Oper, wir sehen ihn hier am Piano,<br />

wie er mir eine Unterrichtss<strong>tu</strong>nde gibt. Er spielte nicht<br />

Klavier, aber da dies ja ein S<strong>tu</strong>mmfilm ist, spielt das<br />

keine Rolle. Und wie ihr wisst, wurde aus dieser Opernkarrierre<br />

nichts, die er für mich wünschte.<br />

Hier nun bin ich zwölfjährig, im Garten, inzwischen hat<br />

sich mein Vater in meine Gouvernante verliebt, so filmte<br />

er eben sie! Ich nehme es ihm nicht übel – ihr seht<br />

ja, wie hübsch sie ist!<br />

Dieser letzte kurze Streifen zeigt mich, wie ich von ei-<br />

593


594<br />

nem kleinen Boot komme, das mich von meinen Sommerferien<br />

in Deutschland nach Stockholm zurückbrachte.<br />

Und zehn Jahre später entstieg ich einem wesentlich<br />

grösseren Schiff im New Yorker Hafen. So bin ich nun<br />

eben hier!<br />

NATÜRLICH IST INGRID aus ihren Beziehungen zu ihren<br />

Kollegen nicht der Schatten eines Zerwürfnisses oder einer<br />

Reue geblieben. Aber nach "Herbstsonate" versuchte sie verzweifelt,<br />

die letzte alter Bitterkeit aus ihrem Leben zu tilgen.<br />

Vor einiger Zeit hatte sie Petter ein Foto von Pia gesandt, mit<br />

der Bemerkung: "Es freut mich so, dass sie den Anhänger<br />

trägt, den du mir zu ihrer Geburt gegeben hast." Nachdem<br />

sich ihre Krankheit in diesem Herbst verschlimmert hatte,<br />

sehnte sich <strong>Ingrid</strong> nach einer Versöhnung mit Petter und nach<br />

einem herzlichen Kontakt mit seiner zweiten Frau, und darauf<br />

arbeitete sie hin trotz ihrer laufenden medizinischen Behandlung<br />

und der Arbeit an den Korrek<strong>tu</strong>rfahnen ihrer Memoiren.<br />

Krank und erschöpft besuchte sie an Thanksgiving Petter und<br />

Agnes in deren Heim in der Nähe von San Diego.<br />

"Was 1979 meine Reaktion auf sie gewesen sei?"<br />

schrieb er später.<br />

"Ich hatte sicher keinerlei emotionale Gefühle mehr für<br />

sie, ausser dem Bedauern, das ich für jedermann habe,<br />

der ein so schweres Krebspr<strong>ob</strong>lem mit sich herumträgt.<br />

Nun, meine persönliche Reaktion auf sie liesse sich wohl<br />

am ehesten mit dem schwedischen Sprichwort umschreiben,<br />

das ich <strong>als</strong> Kind gelernt habe: "Je besser<br />

man die Menschen kennt, desto lieber sind einem die<br />

Hunde."<br />

Sie ihrerseits benahm sich eher gefühlsbetont, doch<br />

wieviel dabei echt und wieviel gespielt war, bleibt ungewiss.<br />

Ich fragte mich, was sie von diesem Treffen erwartete,<br />

das sie so dringend verlangte. Vielleicht wollte<br />

sie sehen, wie es mir ging, aber meine Reaktion war


neutral und unverbindlich."<br />

Was Agnes betrifft, befand sie sich in einer unangenehmen<br />

Lage, die sie mit vollendeter, höflicher Würde meisterte,<br />

wie sie auch immer eine warme und freundliche Beziehung<br />

zu allen Kindern <strong>Ingrid</strong>s unterhielt.<br />

Von diesem unbefriedigenden Besuch bei Petter begab<br />

sich <strong>Ingrid</strong> nach Los Angeles zu einem Besuch bei Hitchcock,<br />

der im August seinen achtzigsten Geburtstag gefeiert hatte –<br />

zwei Wochen vor <strong>Ingrid</strong>s Vierundsechzigstem – und mit dessen<br />

Gesundheit es schnell bergab ging. "Er nahm meine beiden<br />

Hände und Tränen liefen ihm über die Wangen, <strong>als</strong> er sagte:<br />

'<strong>Ingrid</strong>, ich werde sterben.' Und ich sagte: 'Natürlich wirst du<br />

einmal sterben, Hitch – wir alle sterben einmal!' Und dann erzählte<br />

ich ihm, dass auch ich kürzlich sehr krank war und an's<br />

Sterben dachte. Er war so süss, er wollte, dass ich nicht leiden<br />

müsste. So sassen wir einen Moment lang einfach beieinander<br />

und irgendwie schien ihn die Logik – dass wir beide das Unausweichliche<br />

vor uns hatten – etwas zu beruhigen."<br />

Als sie für Weihnacht 1979 nach London zurückkam,<br />

wurde sie in Heathrow von Lars empfangen, der sie nach<br />

Cheyne Gardens begleitete, wo er alles für ein Weihnachtstreffen<br />

mit ihren Kindern vorbereitet hatte.<br />

"Die Zeit wird knapp, nicht wahr?" sagte sie zu ihrer<br />

Freundin Ann Todd, <strong>als</strong> sie am Sylvesterabend Champagner<br />

tranken. "Aber weißt du, liebe Ann, dass jeder Tag, den ich<br />

dem Krebs abringe und überlebe, für mich ein Sieg bedeutet?"<br />

595


1978 - mit Ingmar in einer Drehpause von "Herbstsonate"<br />

596<br />

1978 - in "Herbstsonate" mit Liv Ullman


1982 - eine Frau namens Golda<br />

597


598


"Die Arbeit ist wundervoll, wenn man krank ist. Sie gibt einem<br />

Kraft."<br />

1980 - 1982<br />

(<strong>Ingrid</strong> während "A Woman Called Golda" zu einem<br />

Journalisten)<br />

"SELBSTMITLEID WAR KEIN CHARAKTERZUG meiner<br />

Mutter", sagte Pia. "Anstatt sich selbst zu bedauern, sagte sie<br />

nur: 'Weitermachen – nur weitermachen.' Und das tat sie<br />

auch."<br />

Die ersten Monate von 1980 verliefen ruhig im dunkeln<br />

Londoner Winter, wo Lars oft zu Besuch kam, <strong>Ingrid</strong> zu ihren<br />

Ärzten begleitete, sich um die alltäglichen Notwendigkeiten<br />

kümmerte und sie zum Nachtessen ausführte. Larry Adler, der<br />

dannzumal bereits seit nahezu dreissig Jahren in England lebte,<br />

leistete ihnen dabei mehrfach Gesellschaft. "Ich mochte<br />

Lars enorm", sagte Adler. "Er war der richtige Mann für <strong>Ingrid</strong>,<br />

weil er selbst erfolgreich war. Er musste sich nicht behaupten<br />

und konnte auf <strong>Ingrid</strong>s Arbeit stolz sein, anstatt dar<strong>ob</strong> eifersüchtig<br />

zu sein. So, wie ich es sehen konnte, war er ein generöser,<br />

offener Gentleman, auf den sie sich sehr verlassen<br />

konnte."<br />

Im März erhielt <strong>Ingrid</strong> die Einladung, mit einem Stück<br />

ihrer Wahl an's Königlich Dramatische Theater in Stockholm<br />

zurückzukehren, aber ihr Arzt, Edward MacLellan, verbot ihr<br />

die Zusage, weil ihre Gesundheit einfach zu zerbrechlich war.<br />

Gleichzeitig war <strong>Ingrid</strong> in zunehmendem Masse auf Margaret<br />

Johnstone angewiesen, die nicht nur ihre private Pflegerin,<br />

sondern auch ihre Küchenchefin und ergebene Gesellschafterin<br />

599


wurde. Zu jener Zeit erhielt <strong>Ingrid</strong>, wie sie einigen Freunden<br />

sagte, praktisch täglich Todesanzeigen von alten Freunden und<br />

früheren Kollegen – unter welchen, in den vergangenen fünfzehn<br />

Jahren, Edwin Adolphson, David Selznick, Spencer Tracy,<br />

George Sanders, Charles Boyer, Bing Crosby und Gustav Molander.<br />

Dann, am 29. April, kam die Anzeige von Alfred Hitchcocks<br />

Tod. Er war achtzig und lebte seit Jahren mit angeschlagener<br />

Gesundheit. "Jetzt ist der liebe Hitch auch gegangen",<br />

sagte <strong>Ingrid</strong> einem neuen Freund tags darauf. "Aber er war so<br />

unglücklich und krank, <strong>als</strong> ich ihn vergangenen November<br />

letztm<strong>als</strong> sah – ich denke, auf eine Art war es auch eine Erlösung<br />

für ihn. Sein Leiden war wirklich schrecklich mitanzusehen."<br />

Hitchcocks Tod brachte <strong>Ingrid</strong> in ein kurioses Dilemma.<br />

Sie befand sich dam<strong>als</strong> in New York, wo sie ihren Memoiren mit<br />

den Herausgebern den letzten Schliff verpasste. Einige Telefonanrufe<br />

erreichten sie in Irene Selznicks Apartment im Pierre<br />

Hotel: Ob sie zu Hitchcocks Beerdigung in Beverly Hills kommen<br />

werde? Damit hatte <strong>Ingrid</strong> drei Pr<strong>ob</strong>leme: erstens stand<br />

sie unter enormem Druck von Seiten ihres Verlegers, ihre Memoiren<br />

druckreif zu machen; zweitens stand sie unter einer<br />

experimentellen medizinischen Behandlung, die Schwindelanfälle<br />

und Übelkeit verursachen konnte; drittens wusste sie sehr<br />

genau, dass ihre Anwesenheit an der Beerdigung diese zu einem<br />

Presse-Zirkus machen würde.<br />

"Ich weiss nicht, was ich <strong>tu</strong>n soll", sagte sie am 30. April.<br />

"Wenn ich gehe, werden sie vor der Kirche auf mir herumhacken<br />

mit allen unmöglichen Fragen über unsere Filme, und<br />

wie ich mich fühle, nachdem Hitch nun tot ist, und es sei das<br />

Ende einer Aera und all der Mist. Damit wäre die ganze Würde<br />

der Beisetzung zerstört. Und gehe ich nicht, werden sie denken,<br />

ich hätte mich mit Hitch überworfen oder ähnlich! Wirklich,<br />

ich bin in einer schrecklichen Zwickmühle." R<strong>ob</strong>ert Anderson<br />

riet ihr, nicht zu fahren und sich über das Gerede keinerlei<br />

Gedanken zu machen, und ein anderer Freund meinte: sie sol-<br />

600


le <strong>tu</strong>n, was zu ihrem eigenen Besten sei – das sei, was auch<br />

Hitch gewollt hätte, und das tat sie auch. Nur: auch ohne ihre<br />

Anwesenheit glich die Gegend um Good Shepard Church in<br />

Beverly Hills einer wilden Massenszene aus einem seiner Filme;<br />

<strong>Ingrid</strong> wäre entsetzt gewesen, hätte sie teilgenommen.<br />

Zu Ehren ihrer Freundschaft mit Hitch wählte sie am 15.<br />

Okt<strong>ob</strong>er, <strong>als</strong> sie im Museum of Modern Art geehrt wurde, "Notorious"<br />

zur Vorführung. R<strong>ob</strong>ert Anderson war mit dem Autor<br />

des Hitchcock-Buchs anwesend, dem er <strong>Ingrid</strong> 1975 vorgestellt<br />

hatte, und nun plauderten sie zusammen vor und nach der<br />

Filmvorführung. "Er hält sich noch ganz gut, nicht wahr?" sagte<br />

sie mit Bezug auf den Film, um dann beizufügen: "Vielleicht<br />

halte ich mich auch noch ganz gut!"<br />

DIE FERTIGSTELLUNG DER MEMOIREN war eine<br />

schrecklich erschöpfende Aufgabe, schrieb sie Joe Steele –<br />

speziell weil sie darauf bestand, jede Änderung zu überwachen<br />

und jedes Wort der schwedischen Übersetzung zu genehmigen.<br />

Ihr Leben sei lang und reich gewesen, fügte sie bei, weshalb<br />

die Bereinigung des letzten Entwurfs so ein Riesenj<strong>ob</strong> gewesen<br />

sei. Dasselbe waren später im Jahr auch die mühsamen Promotion-Aufgaben<br />

für das Buch, <strong>als</strong> sie ihre Energieen zusammenraffen<br />

musste um die Presse zu bedienen, im Fernsehen<br />

aufzutreten und in England, Amerika, Schweden, Frankreich<br />

und Italien Bücher zu signieren.<br />

Ja, sagte sie, wenn sie danach gefragt wurde, sie habe<br />

Krebsoperationen hinter sich, aber nein, sie sei nicht am Sterben<br />

und sie hoffe sogar, noch einige Zeit so weitermachen zu<br />

können. "Ich muss ein bisschen Fatalistin sein, weil ich die<br />

Dinge akzeptiere, kann ich nichts dagegen unternehmen. Das<br />

Einzige, was ich <strong>tu</strong>n kann, ist, zu versuchen, fröhlich zu sein,<br />

mich nicht selbst zu bedauern und nicht darüber zu reden!"<br />

"Vielleicht", meinte sie noch, "habe ein Produzent mitgehört<br />

und brauche eine alte Hexe" – eine Rolle, für die wohl niemand<br />

an sie gedacht hätte. "Sie wollte ihre Arbeit machen", wie Gö-<br />

601


an von Essen (nebst vielen anderen) sagte, "ihre Gesundheit<br />

war zweitrangig".<br />

Und es geschah, dass wirklich ein amerikanischer Produzent<br />

mitgehört hatte. Gene Corman hatte vier Filme in Israel<br />

gedreht und hatte seit einiger Zeit vor, einen Film über Golda<br />

Meïr zu machen, die mit acht Jahren aus Russland nach Israel<br />

emigriert war. Nach einer Tätigkeit <strong>als</strong> Lehrerin liess sie sich<br />

1921 in Palästina nieder, wo sie <strong>als</strong> Arbeits- und Aussenministerin<br />

diente und schliesslich 1969 den Posten der Ministerpräsidentin<br />

erhielt. Sie wurde für die mangelhafte Vorberei<strong>tu</strong>ng<br />

des Palästina-Kriegs von 1973 kritisiert und resignierte 1974.<br />

Als eine starke (manchmal auch h<strong>als</strong>starrige) Frau, die ihr<br />

ganzes Leben Israel gewidmet hatte, gab sie ihrer Karriere<br />

stets den Vorrang vor Ehemann und Familie; 1978 starb sie<br />

achtzigjährig an Krebs. "Pessimismus", sagte sie einmal, "ist<br />

ein Luxus, den sich kein Jude leisten kann." Dieses Bekenntnis<br />

dokumentiert wohl am besten ihren komplexen aber unzweideutig<br />

starken Glauben an sich selbst und an ihre Mission für<br />

Israel.<br />

Corman war mit Paramount Pic<strong>tu</strong>res im Geschäft und<br />

konnte die S<strong>tu</strong>dios dafür gewinnen, ein vierstündiges TV-<br />

Drama über Golda zu unterstützen – sofern er eine geeignete<br />

Schauspielerin für diese Rolle finden könne. Von Anfang an<br />

hatte er dafür nur <strong>Ingrid</strong> im Auge, weshalb er sich mit Laurence<br />

Evans in Verbindung setzte, der ihm aber sagte, dass <strong>Ingrid</strong><br />

wegen ihrer Krankheit für diese Produktion nicht versicherbar<br />

sei (was ein enormes finanzielles Risiko bedeutet hätte). Aber<br />

Corman und Paramount waren willens, die Verantwor<strong>tu</strong>ng zu<br />

übernehmen, und so rief Evans <strong>Ingrid</strong> an. Ihre erste Reaktion<br />

war ein herzlicher Lacher: sie war eine grosse Schwedin und<br />

Golda war eine kleine Jüdin. Weder sah sie Golda ähnlich noch<br />

hatte sie eine ähnliche Stimme, sagte sie, und bestimmt<br />

verstand sie nichts von der Politik in Goldas Leben. Die Antwort<br />

war 'nein' – was Evans richtigerweise <strong>als</strong> 'vielleicht' interpretierte.<br />

602


Dann, nachdem <strong>Ingrid</strong> ihre Memoiren-Tournée abgeschlossen<br />

hatte, verschwand sie leise zu einem kurzen Ferienaufenthalt<br />

mit ihrer Cousine Britt Engström (einer von Onkel<br />

Ottos Töchtern) in Israel – "Ich wollte den Spuren Jesu folgen",<br />

sagte <strong>Ingrid</strong>. Sie liebe das Land, sagte sie Evans bei ihrer<br />

Rückkehr anfangs 1981, aber einmal mehr bat sie ihn, das von<br />

Paramount wiederholte Angebot zurückzuweisen, und wieder<br />

hatte er den Eindruck, die Tür sei nicht endgültig zu. Aber <strong>als</strong><br />

Freund nahm er auf ihre prekäre Gesundheit Rücksicht, weshalb<br />

er sie nicht zu überreden versuchte.<br />

Zufälligerweise traf Gene Corman, der in Israel vor Beginn<br />

mit "A Woman Called Golda" ein anderes Projekt fertigstellte,<br />

im King David Hotel in Jerusalem auf <strong>Ingrid</strong>. Es gab<br />

ein herzliches Wiedersehen, aber <strong>Ingrid</strong> blieb dabei, sie sei<br />

physisch nicht der richtige Typ – worauf Corman sanft erwiderte:<br />

"<strong>Ingrid</strong>, wir suchen Goldas Stil – was sie der Welt gab. Das<br />

ist wie bei dir. Niemand gleicht <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> körperlich." Er<br />

werde ihr ein paar Bücher schicken, sagte er, und er hoffte, sie<br />

bald wiederzusehen.<br />

NACH IHRER RÜCKKEHR NACH LONDON sagte <strong>Ingrid</strong><br />

zu, Alan Gibson, den 42-jährigen kanadischen Regisseur, der<br />

für das Projekt bestimmt war, zu treffen. Zu seiner freudigen<br />

Überraschung erfuhr er, dass sie Aufzeichnungen von Golda<br />

Meïrs Stimme angehört hatte, um ihren Tonfall anzupassen,<br />

den schwedischen Akzent zu eliminieren, Goldas Ausdrucksweise<br />

so genau wie möglich zu übernehmen. Wie Gibson hier<br />

feststellte, war das einzige Pr<strong>ob</strong>lem, das <strong>Ingrid</strong> noch Sorge<br />

bereitete - ihr Grössenunterschied im Vergleich zu Meïrs Sta<strong>tu</strong>r<br />

– bereits gelöst. "Oh, sie war eine so grosse Person", hatten<br />

mehrere Leute in Israel gesagt. Gewöhnliche Leute betrachteten<br />

Meïr <strong>als</strong> grossartig, weshalb sie ihnen auch <strong>als</strong> grosse (lange)<br />

Frau erschien. Plötzlich gewannen Gibson wie Corman <strong>Ingrid</strong>s<br />

Vertrauen.<br />

Dann begann sie von ihrer zunehmenden Affinität für<br />

Golda zu reden: sie beide kämpften gegen den Krebs (Golda<br />

603


kämpfte während Jahren gegen bösartigen Lymphdrüsenkrebs,<br />

bevor sie ihm erlag) und beide – in <strong>Ingrid</strong>s Worten: "liebten<br />

wir unsere Kinder, von welchen wir aber periodisch getrennt<br />

wurden, weil wir nicht bereit waren, die Kinder über unseren<br />

Beruf zu stellen. Das trug uns ein enormes Schuldgefühl ein ...<br />

ich verstehe Goldas Schuldgefühl, weil sie Mann und Kinder<br />

verlassen hatte, sehr wohl. Mit dieser Schuld habe ich mein<br />

ganzes Leben verbracht". Beide Frauen waren von ihrer Berufung<br />

besessen und konnten in der traditionellen Hausfrauen-<br />

und Mutter-Rolle keine Befriedigung finden. Beide haben ihr<br />

Geburtsland verlassen, sind von da nach dort gezogen und<br />

arbeiteten in den unterschiedlichsten Sprachen.<br />

Aber da war noch ein wesentlich wichtigerer Grund, warum<br />

<strong>Ingrid</strong> die Rolle übernehmen wollte. "Ich war 1938 in<br />

Deutschland sehr dickköpfig", sagte <strong>Ingrid</strong> während der Produktion<br />

von "Golda". "Ich muss ehrlich sagen, dass ich dam<strong>als</strong><br />

keinen Grund sah, gegen Hitler zu sein." Nachdem sie sich nun<br />

aber während so langer Zeit so schuldig gefühlt habe, wolle sie<br />

sich jetzt für Israel und das jüdische Volk einsetzen und Golda<br />

portraitieren – so haben das Verheilen der Wunden der Erinnerung<br />

und die Notwendigkeit zur Wiedergutmachung während<br />

der ganzen Vorberei<strong>tu</strong>ngszeit für diese herausfordernde und<br />

schwierige Rolle ihren Geist beflügelt.<br />

Schliesslich, im Frühjahr 1981, rief <strong>Ingrid</strong> Corman und<br />

Gibson an und bat um einen Termin für Testaufnahmen. Wenn<br />

sie sich in dieser Rolle sehen könne, sagte sie, dann wolle sie<br />

sie spielen. Vier Jahre waren vergangen seit sie letztm<strong>als</strong> vor<br />

der Kamera stand, und ihr Aussehen hatte sich in dieser Zeit<br />

damatisch verändert. Als sie zum Test ankam, war sie – wie<br />

Corman sich erinnerte – "sehr, sehr nervös – tatsächlich zitterte<br />

sie – und sie gestand es mir." Er versuchte, sie zu beruhigen:<br />

"<strong>Ingrid</strong>, hier gibt es viel Aufregung, grosse Spannung und<br />

viel Energie. Die ganze Mannschaft ist deinetwegen aufgeregt.<br />

Die Vorstellung, dass <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> um einen Screen Test<br />

gebeten hat, ist ausserordentlich. Sie alle lieben dich, sie wollen<br />

dich hier sehen."<br />

604


Und dann, während er sprach, ging ihr Blick an ihm<br />

vorbei über die Schulter. Er drehte sich um und sah die Kamera<br />

auf einem Schlitten heranrollen, und <strong>Ingrid</strong> lächelte: "Gene,<br />

ich sehe hier einen alten Freund". Sie erh<strong>ob</strong> sich, ging auf die<br />

Kamera zu und war für den Test bereit. Drei kurze Szenen<br />

wurden perfekt aufgenommen, und <strong>als</strong> sie tags darauf mit<br />

Corman und Gibson die Resultate ansah, sagte sie, falls man<br />

sie noch wolle, würde sie die Rolle spielen. Der Vertrag wurde<br />

unterzeichnet und am 4. September reisten <strong>Ingrid</strong> und Margaret<br />

von London nach Tel Aviv und Jerusalem ab, zur Produktion<br />

von "A Woman Called Golda". "Die Arbeit ist wundervoll, wenn<br />

man krank ist", sagte <strong>Ingrid</strong> zu einem Journalisten, "sie gibt<br />

einem Kraft". Und irgendwie fand sie die Kraft, dem Publikum<br />

eine letzte grosse Überraschung zu bereiten. Ihr Äusseres und<br />

ihre Stimme waren so weit entfernt von <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>, dass<br />

sie gewünscht hätte, das Erstaunen der Zuschauer mitzubekommen;<br />

es erinnere sie an "A Womans Face", sagte sie zu<br />

einigen Freunden, und den Anblick einer schrecklichen Entstellung,<br />

die das Publikum stärker schockierte, <strong>als</strong> vor vierzig Jahren.<br />

WÄHREND DER NEUNWÖCHIGEN PRODUKTION in diesem<br />

Herbst (in und um Jerusalem, Tel Aviv, Jaffa, Lydda, Natanja<br />

und Jericho) machte <strong>Ingrid</strong>s Krankheit rasende Fortschritte;<br />

der Krebs breitete sich in ihren ganzen Körper aus,<br />

sie verlor schnell Gewicht und Kraft, und ihr rechter Arm war<br />

grotesk geschwollen. Dieser unglückliche Zustand war auf die<br />

Entfernung von Lymphknoten bei ihrer Brustoperation zurückzuführen<br />

(wie auch zusätzlich auf die Auswirkungen ihrer Bestrahlungen),<br />

was zur Ansammlung von Flüssigkeit in ihrem<br />

Arm führte. "Mein Schosshündchen" nannte sie ihren geschwollenen<br />

Arm, ihr Hündchen, das sie nicht loswerden konnte<br />

und überall hin mitnehmen musste. Zwei Zeilen an einen<br />

Freund zu schreiben, war für sie eine Aufgabe, die eine Viertels<strong>tu</strong>nde<br />

in Anspruch nahm, aber sie behielt den Kontakt zu ihren<br />

neuen und alten Freunden. <strong>Ingrid</strong> lebte nun buchstäblich<br />

mit ununterbrochenen Schmerzen.<br />

605


Wie sich alle erinnern konnten, erwartete <strong>Ingrid</strong> keinerlei<br />

Spezialbehandlung durch ihren Regisseur oder die Crew,<br />

und sie arbeitete jeden Tag, an dem sie benötigt wurde, beginnend<br />

pünktlich um 6 Uhr früh für zwei S<strong>tu</strong>nden Makeup, um<br />

danach zwölf- bis fünfzehnstündige Sitzungen durchzustehen<br />

und bis spät in die Nacht mit Margaret dafür zu sorgen, dass<br />

sie keine Zeile ihres Dialogs vergessen würde, dass ihre Stimme<br />

Goldas Timbre behalten würde und dass sie alles gelesen<br />

hatte, was es zur Sache zu lesen gab. Während der Dreharbeiten<br />

konsultierte sie Dutzende von prominenten Israelis, einschliesslich<br />

den ehemaligen Aussenminister Abba Eban und<br />

den amerikanischen Botschafter Simcha Dinitz. Sie sah sich<br />

Dokumentarfilme über Golda und die israelische Geschichte an,<br />

und sie verbrachte verschiedene Nachmittage mit Goldas Vertrauter<br />

und Sekretärin, Lou Kaddar.<br />

Wie sich die Kosmetikerin Wally Schneiderhan erinnerte,<br />

wurde <strong>Ingrid</strong> unverzüglich zu Golda, wie sie die gepolsterten<br />

Kleider, die dicken Strümpfe, die ihre dünnen Beine cachieren<br />

sollten, die unattraktiven Perücken angezogen hatte und<br />

die schwere Kosmetik aufgetragen war. Sie spielte Golda im<br />

Alter von fünfundfünfzig bis neunundsiebzig Jahren (w<strong>ob</strong>ei die<br />

Szenen wie üblich ausserhalb der chronologischen Ordnung<br />

gedreht wurden), und die Garder<strong>ob</strong>e war unangenehm und<br />

unkomfortabel. Sehr oft herrschte extrem heisses Wetter, sodass<br />

<strong>Ingrid</strong> viele Aussenaufnahmen bei Tagestempera<strong>tu</strong>ren<br />

von über 38 Grad Celsius zu bestehen hatte. Niemand konnte<br />

sich an eine Bitte um eine Pause oder einen Abbruch der Aufnahmen<br />

erinnern, doch einmal fiel sie in eine Ohnmacht. "Wir<br />

machen hier eine Gratwanderung", sagte der Arzt, der sie betreute<br />

und verblüfft zusah, wie sie sich eine halbe S<strong>tu</strong>nde später<br />

wieder an die Arbeit machte. "Aber ich fürchte, <strong>Ingrid</strong><br />

könnte jeden Moment abstürzen."<br />

Doch sie tat es nicht. Ihr aufmerksamer Freund Lars<br />

besuchte sie oft, erledigte die üblichen täglichen Notwendigkeiten<br />

und finanziellen Angelegenheiten und erleichterte ihr alles<br />

allein durch die Tatsache seiner Anwesenheit. Da ihr Arm geschwollen<br />

blieb, wurde es nötig, spezielle Kleidungsstücke für<br />

606


sie zu entwerfen, doch verschiedene Szenen, in welchen sie<br />

z.B. eine Unterschrift leisten oder einen Teekrug reinigen<br />

musste, erforderten Nahaufnahmen von ihren Händen. Als<br />

Gibson, Corman und der Filmer Adam Greenberg ihr besorgt<br />

anboten, für Nahaufnahmen ihrer Hände pr<strong>ob</strong>lemlos ein Double<br />

einzusetzen, sagte sie nein, sie wolle das Pr<strong>ob</strong>lem anderweitig<br />

lösen.<br />

Jeweils abends vor den Aufnahmen für eine solche Szene<br />

nahm sie einen Infusionsständer zu Hilfe, an welchem ihr<br />

betroffener Arm während der ganzen Nacht hoch gehängt wurde,<br />

sodass das Wasser aus dem Arm zurückfliessen konnte. Mit<br />

dem vorübergehend abgeschwollenen Arm eilte sie am Morgen<br />

früh ins S<strong>tu</strong>dio. "Seht her!", rief sie dem Produzenten und Regisseur<br />

aufgeregt und mit einem triumphierenden Lächeln zu,<br />

"machen wir die Szene doch schnell!" Das geschah auch, und<br />

sie hatte ihre helle Freude daran – aber weil das Pr<strong>ob</strong>lem sich<br />

schnell wieder einstellte, hatte sie noch einige weitere Nächte<br />

mit hochgehängtem Arm vor sich.<br />

Ihre Leis<strong>tu</strong>ng war ein kleines Wunder, denn <strong>Ingrid</strong> verlor<br />

sich mit unglaublicher Intensität in ihrer Rolle. Ihre Golda<br />

war eine Kombination aus Charme und gespielter Tapferkeit,<br />

aus Würde und Unsicherheit. Wie die Premierministerin<br />

schmauchte sie ihren Weg kettenrauchend durch Israels Küchen<br />

und Hinterzimmer, und die Räder in ihrem Kopf drehten<br />

unaufhörlich. Ihre Stimme, wie ein Zuschauer es sagte, habe<br />

wie "in Autorität gebetteter Kies" geklungen. Drei Wochen<br />

nach ihrem Tod erhielt <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> von der Academy of<br />

Television Arts and Sciences den Emmy <strong>als</strong> beste Hauptdarstellerin<br />

in einer limitierten Serie oder einem Sonderprogramm.<br />

"A Woman Called Golda" wurde auch <strong>als</strong> die beste<br />

dramatische Sondersendung der Saison erwähnt.<br />

Ein Tag während der Produktion h<strong>ob</strong> sich aus allen andern<br />

heraus – das Shooting der Szene, in welcher Golda von<br />

ihrem Arzt erfährt, dass sie an einer bösartigen Krankheit leidet.<br />

<strong>Ingrid</strong> hatte Ende August eben ihren 66. Geburtstag gefeiert,<br />

und der Regisseur und seine Crew waren verständlicher-<br />

607


weise in Sorge um diese Szene, die so sehr das wirkliche Leben<br />

der Hauptdarstellerin widerspiegelte. Sie las den Dialog<br />

und legte die Szene buchstabengenau in einem Zug hin: "Nun,<br />

ich bin sechsundsechzig. Wie lange eigentlich werde ich noch<br />

zu leben haben? Die Frage ist – diese paar Jahre – werden die<br />

noch gut sein?...Wie werde ich geistig dran sein? Ich will keine<br />

Minute länger leben, <strong>als</strong> so lange mein Geist noch klar<br />

ist....Und falls irgendetwas darüber irgendwem berichtet wird,<br />

entscheide ich wem und wann. Bis dann ist es ein striktes Geheimnis..."<br />

Als die Szene fertig war, verlangte <strong>Ingrid</strong> nach einer Cigarette<br />

und einem Glas Wasser, dann ging sie weg, um sich<br />

etwas hinzulegen. An diesem Morgen flossen bei der Crew einige<br />

Tränen.<br />

WIEDERHOLT IN DIESER SAISON begegnete <strong>Ingrid</strong><br />

Boulevardgeschichten über ihren bevorstehenden eigenen Tod.<br />

'<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> steht mit einem Fuss im Grab', lautete eine<br />

typische Schlagzeile. "Es stimmt, dass ich mit einem Fuss im<br />

Grab stand", entgegenete sie mit intaktem Humor, "aber die<br />

Erde war zu feucht und kalt für mich und da ich an Rheumatismus<br />

leide, stieg ich wieder raus und kam nach Israel, wo es<br />

warm und trocken ist, um weiter zu arbeiten." Als ihr eine alte<br />

Bekannte, die Journalistin Orianna Fallaci einen Besuch abstattete<br />

und ihre Erschütterung nicht verbergen konnte, sagte <strong>Ingrid</strong><br />

ruhig: "Nun, meine Liebe, es war ein sehr schönes Leben,<br />

ein sehr interessantes und glückliches dazu. Wir alle müssen<br />

sterben, aber in gewissem Sinne habe ich nicht das Gefühl alt<br />

zu werden, weil ich keine Abs<strong>tu</strong>mpfung kenne und die Bitterkeit<br />

ignoriere."<br />

Am Vorabend des letzten Drehtags – in einem Londoner<br />

S<strong>tu</strong>dio im November – gab <strong>Ingrid</strong> für Schauspieler und Crew<br />

eine Dinner-Party. Nach dem Essen liess sie ihr Glas erklingen<br />

und erh<strong>ob</strong> sich unter grossen Schmerzen zu einer Dankesrede.<br />

Ihr Produzent, Regisseur, Kameramann, Makeup-Direktor,<br />

Garder<strong>ob</strong>e-Designer und Coiffeur wandten sich ihr zu, <strong>als</strong> sie<br />

608


jedem Einzelnen ein Lächeln und eine persönliche Dankesadresse<br />

schickte. Wie sie sich alle erinnerten, fand sie für jeden<br />

die richtigen Worte. So war es auch mit Gene Cormans Sohn,<br />

dam<strong>als</strong> ein Jus-S<strong>tu</strong>dent, der <strong>Ingrid</strong> eine Notiz zukommen liess,<br />

wonach er während Jahren monumental in sie verknallt gewesen<br />

sei. <strong>Ingrid</strong> sandte ihm eine unterzeichnete Foto aus "Casablanca",<br />

wie von ihm gewünscht: "Danke für die monumentale<br />

Verknalltheit", schrieb sie mit ihrer hinfälligen Hand, "Here's<br />

looking at you, kid!" Und am Schluss überreichte sie Margaret<br />

Johnstone einen kleinen silbernen Bulldog mit der Notiz: "In<br />

grosser Liebe, meinem lieben Wachhund und Beschützer."<br />

Bei den letzten Aufnahmen am folgenden Tag schien alles<br />

schief zu gehen. Es gab Pr<strong>ob</strong>leme mit der Kamera, einem<br />

wichtigen Licht, mit einem Teil des Sets und einem fehlenden<br />

Requisit. "Da haben wir's, die Kamera will mir auch nicht adieu<br />

sagen", meinte <strong>Ingrid</strong> mit einem Lächeln, <strong>als</strong> sie sich den<br />

Schweiss aus den Augenbrauen wischte und sich niedersetzte,<br />

um eine Welle von durch die Medikamente verursachtem<br />

Brechreiz niederzukämpfen. Nach einer kurzen Pause wurde<br />

die letzte Szene ihrer Karriere beendet. "Es war eine wundervolle<br />

Erfahrung", sagte sie der Crew, "sowohl <strong>als</strong> Schauspielerin<br />

wie auch <strong>als</strong> Mensch, der sich nun schneller aus dem Leben<br />

zurückzieht, <strong>als</strong> ich erwartet hätte." An diesem Abend war Gene<br />

Corman Gastgeber eines Abschiedsessens für Cast und<br />

Crew. Als sie von Tisch zu Tisch ging, um sich bei allen zu bedanken<br />

und dann mit Margaret still wegging, war <strong>Ingrid</strong> die<br />

Einzige, die nicht weinte.<br />

DIESEM SCHMERZ GAB SIE SICH später an diesem<br />

Abend in ihrer Einsamkeit hin, wie sie einem Freund anvertraute.<br />

"Ich kam zurück in diese ruhige, leere Wohnung und realisierte<br />

plötzlich, dass dies nun meine Wirklichkeit war, dass es<br />

nun so ist – und ich fühlte mich ausgetrocknet und sehr traurig.<br />

Das Ende des Films empfand ich wie einen Tod in der Familie."<br />

Sie ging hinüber zum Fenster und sah, wie die Herbstnebel<br />

vom Fluss heraufkamen und die stille Strasse zudeckten,<br />

609


dann begann sie zu weinen – zuerst nur ein paar leise Tränen,<br />

doch dann konnte sie nicht mehr aufhören. War es nicht komisch,<br />

dachte sie: wieviele Filme hatte sie gemacht – warum<br />

hatte sie sich nicht an das Ende gewöhnt? Da gab es so viel<br />

Leben und Vitalität während der Produktion – "und da war ich<br />

nun und weinte mein Herz aus. All diese wunderbaren Leute,<br />

die mir so nahe standen, die ich wohl nie mehr sehen werde.<br />

Und wer weiss, vielleicht war das auch das letzte Mal, dass ich<br />

vor meinem lieben alten Freund, der Kamera, stand."<br />

"GOOD BYE", SAGTE INGRID den Reportern an einer<br />

Pressekonferenz für "Golda" kurz vor Weihnacht. "Ich gehe<br />

nun und werde weder zum Film noch zum Theater zurückkehren.<br />

Ich habe die Schauspielerei abgeschlossen. Ich werde nun<br />

in der Welt herumreisen und mit meinen Grosskindern spielen."<br />

Und genau das tat sie in der letzten Woche von 1981, die<br />

sie mit Lars und ihrer Familie in Choisel verbrachte.<br />

Aber <strong>Ingrid</strong> wurde täglich schwächer, wie es schien –<br />

und für die einfachsten Dinge brauchte sie Hilfe. Bevor sie im<br />

Januar nach London zurückkehrte, sprach Lars mit Margaret<br />

Johnstone, die sofort einwilligte, sich im zweiten Schlafzimmer<br />

in Cheyne Gardens <strong>als</strong> <strong>Ingrid</strong>s Pflegerin, Köchin und Vollzeit-<br />

Gesellschafterin einzurichten. Aber wie krank sie auch sein<br />

mochte, war <strong>Ingrid</strong> – wie Margaret feststellen musste - nicht<br />

die Patientin, die zuhause sass und ihre Wände anstarrte,<br />

wenn sie es auf irgendeine Art schaffte, das Haus zu verlassen.<br />

Gelegentlich lud sie ein oder zwei Freunde zum Nachtessen<br />

ein, ein- bis zweimal die Woche sah sie sich einen Film oder<br />

ein Bühnenstück an oder sie spazierte im kleinen Park dem<br />

Fluss entlang.<br />

Im Sinne eines letzten verzweifelten Versuchs, das Böse,<br />

das ihren Körper zerfrass, zu zerstören, unterzog sich <strong>Ingrid</strong><br />

einem harten Chemotherapie-Programm. Zwischen Februar<br />

und Mai 1982 verbrachte sie monatlich eine Woche im St.<br />

Thomas Hospital, am Südufer der Themse. Das Resultat der<br />

Behandlung war nicht nur nutzlos, die Nebenwirkungen waren<br />

610


grauenhaft. Während zweier Tage nach jeder Behandlung erbrach<br />

sie fürchterlich und während drei weiteren Tagen konnte<br />

sie die Spitalkost nicht anrühren. Margaret anerbot sich, ihr<br />

hausgemachte Suppen und püriertes Essen, das sie gerne<br />

mochte und das gut verdaulich war, zuzubereiten, aber <strong>Ingrid</strong><br />

lehnte ab: "Sie sind hier alle so lieb zu mir, ich möchte sie<br />

nicht beleidigen mit dem Essen."<br />

Ihr rechter Arm war inzwischen völlig unbrauchbar geworden,<br />

weshalb sie sich zwang, ihren linken einzusetzen, um<br />

Dankesbriefe an besorgte Freunde zu schreiben. Wenn man<br />

sich so zerstört fühle, sei es nicht leicht, den Humor zu behalten,<br />

schrieb sie Griff – und dennoch behielt sie ihn. Als sie von<br />

ihrem Zimmer über die Themse zu den Houses of Parliament<br />

hinübersah, lachte sie und meinte: "Nun, nachdem ich Golda<br />

Meïr gespielt habe, kann ich von hier aus für meine nächste<br />

Rolle Mrs. Thatcher s<strong>tu</strong>dieren."<br />

Wieder zuhause, bat sie Griff und Margaret, Theaterplätze<br />

zu buchen und einer von beiden oder Ann Todd begleitete<br />

sie. "Sie überlebte weit länger, <strong>als</strong> ihre Ärzte oder irgendjemand<br />

von uns erwartet hätten", sagte Ann später, "aber wirklich,<br />

ihr Leben war zerstört. Ein einziges Mal war von ihr etwas<br />

zu hören, was im Entferntesten nach einer Klage tönte. Als ich<br />

eines Tages an ihrem Bett sass und strickte, während sie in<br />

einem Album blätterte, bemerkte ich plötzlich, dass sie meine<br />

Hände ansah, und erinnerte mich natürlich, dass das Stricken<br />

eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen war – ihr ganzes Leben<br />

lang; sie strickte immer für sich und ihre Lieben. Ganz ruhig<br />

sagte sie dann: 'Weißt du, Ann, manchmal denke ich, es wäre<br />

besser zu gehen <strong>als</strong> so weiterzukämpfen. Ich bin jetzt wirklich<br />

zu nichts mehr gut. Ich überziehe meine Zeit.'"<br />

Aber ihr eiserner Wille verliess sie nicht. Als sie und Ann<br />

eines Abends Ende April im Theater ankamen, stiessen sie im<br />

Foyer auf einen Harst von Fotographen und Reportern. <strong>Ingrid</strong>,<br />

die in der Tat sehr zerbrechlich und ausgezehrt aussah, war<br />

wütend und verlangte den Direktor: "Wer hat der Presse gesagt,<br />

dass ich komme?" fragte sie. Der arme Mann war zu-<br />

611


nächst sprachlos und sagte dann mitleidvoll: "Niemand, Miss<br />

<strong>Bergman</strong>, die Leute warten auf die Ankunft von Prinzessin<br />

Margaret." Damit produzierte <strong>Ingrid</strong> einen Lachanfall und noch<br />

während des ganzen Stücks hatten die beiden Frauen gelegentlich<br />

etwas zu flüstern und wiederkehrendes Gekicher zu<br />

unterdrücken.<br />

Mit ihrer Familie diskutierte sie nicht über das, was sie<br />

nun <strong>als</strong> ihr mehr oder weniger unmittelbar bevorstehendes<br />

Schicksal erkannte. Aber Freunden wie Ann, Margaret und Griff<br />

gegenüber war sie offener. Ohne jeden Grimm oder jede Melodramatik<br />

sprach sie vom "grossen Theater im Himmel", und<br />

<strong>ob</strong>schon sie irgendwelche fixen Ideen über die Na<strong>tu</strong>r eines Lebens<br />

danach ablehnte, sagte sie wiederholt, sie sei "neugierig<br />

darauf, das herauszufinden". Auch an ihre Eltern dachte sie<br />

oft: Isabella fand die kleinen eingerahmten Bildchen von Jus<strong>tu</strong>s<br />

und Frieda auf <strong>Ingrid</strong>s Nachttisch und stellte fest, "dass sie<br />

Spuren der Lippen meiner Mutter trugen – es sah aus, <strong>als</strong> hätte<br />

sie sie geküsst."<br />

Auch Stephen Weiss besuchte sie im Mai, w<strong>ob</strong>ei sie offen<br />

über die schlechte Prognose ihres Arztes sprach. Sie regelte<br />

einige wichtige finanzielle Angelegenheiten bezüglich ihres<br />

Testaments, das grosszügige Zuwendungen an ihre Cousine<br />

Britt und deren Tochter Agneta vorsah, an Griff und Magaret,<br />

an ihr Patenkind Kate Barrett, an R<strong>ob</strong>ertos Nichte, Fiorella Mariani,<br />

die immer so loyal und hilfsbereit war; und an ihre alte<br />

Dienstmagd in Rom. Ihr Hauptvermögen (das auf knapp 4 Mio.<br />

$ veranschlagt wurde) wurde zu gleichen Teilen auf ihre vier<br />

Kinder verteilt.<br />

IM APRIL WURDE "A WOMAN CALLED GOLDA" im amerikanischen<br />

Fernsehen gesendet, und – hätte es anders sein<br />

können? – die Kritiken überboten sich gegenseitig. "Eine wirklich<br />

bemerkenswerte Leis<strong>tu</strong>ng", schrieb ein älterer Kritiker für<br />

die New York Times. "Miss <strong>Bergman</strong> gestaltet eine Frau von<br />

kompromissloser Strenge mit der Fähigkeit, unvermittelt ergreifende<br />

Wärme zu verbreiten. Eine vorzügliche Schauspiele-<br />

612


in hat eine blendende Gelegenheit ergriffen und voll ausgeschöpft."<br />

Ein anderer schrieb: "Für <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> mit ihren<br />

vielen dramatischen Juwelen in ihrer goldenen Krone ist dies<br />

der Schlussstein" – nachdem die Presse zu diesem Zeitpunkt<br />

wusste, dass es tatsächlich keine Fortsetzung geben würde.<br />

Doch in einem gewissen Sinne gab es noch eine – eine<br />

Anwandlung von Freude, die jedermann in Erstaunen versetzte.<br />

<strong>Ingrid</strong> war nicht davon abzubringen, am 18. Juni in New<br />

York den dreissigsten Geburtstag ihrer Zwillingstöchter zu feiern,<br />

weshalb sie sich mit Margaret dorthin begab. Aber ihren<br />

heroischen Bemühungen und ihrem fröhlichen Gehabe zum<br />

Trotz erkannten ihre Töchter in ihren Augen (wie Isabella sagte)<br />

"starke Schmerzen und grossen Kummer". "Trotzdem",<br />

fügte Pia bei, "ist sie glücklich gewesen, dabei zu sein. Sie<br />

lachte und scherzte. Irgendwie schaffte sie es, ihre grosse Tragödie<br />

in einen Akt von vorbildhaftem Mut umzuwandeln. Sie ist<br />

eine tapfere und n<strong>ob</strong>le Frau mit einem gorssen Herzen – und<br />

das ist letztlich die liebenswerteste von allen ihren Qualitäten."<br />

<strong>Ingrid</strong> traf alte Freunde – Kay Brown und R<strong>ob</strong>ert Anderson,<br />

unter andern – und am Tag nach der Geburtstagsfeier<br />

trafen sie und B<strong>ob</strong> sich zum Lunch im Oakroom im Plaza, direkt<br />

gegenüber dem Wyndham Hotel, wo sie und Magaret<br />

Zimmer hatten. <strong>Ingrid</strong> war schwach und schwitzte, (klar, dass<br />

die Lunchvereinbarung für sie eine Anstrengung bedeutete),<br />

aber sie sagte, sie müsse schlicht den Termin bei Berndorf's –<br />

ein paar Schritte entfernt - einhalten, um ihr Haar in Ordnung<br />

bringen zu lassen. B<strong>ob</strong> begleitete sie zu ihrem Coiffeur-Salon.<br />

"Ich habe einen Termin um drei Uhr", sagte <strong>Ingrid</strong> am<br />

Empfang.<br />

Aber ihre Erscheinung war so verändert, dass die Empfangsdame,<br />

die <strong>Ingrid</strong> bei früheren Gelegenheiten wiederholt<br />

gesehen hatte, sie nicht erkannte und nach ihrem<br />

Namen fragte.<br />

"<strong>Bergman</strong>", sagte <strong>Ingrid</strong> verständnisvoll.<br />

"Und wie ist Ihr Vorname, bitte?"<br />

613


AM 3. JULI KEHRTEN INGRID und Margaret nach London<br />

zurück. Joss Ackland, ihr Co-Star in "Captain Brassbounds<br />

Conversion" brachte ihr einige Bücher und Tonbänder – darunter<br />

ein Exemplar von Antoine de Saint Exupérys Novelle Der<br />

kleine Prinz, eine klassische Fabel zum L<strong>ob</strong> der Grenzenlosigkeit<br />

des Geistes und der Dauerhaftigkeit der Freundschaft.<br />

London erlebte einen schönen Sommer, und <strong>Ingrid</strong> liebte<br />

es, möglichst viel Zeit an den langen Tagen im Freien zu<br />

verbringen, aber ihre Kraft verliess sie nun schnell. Sie sass<br />

ruhig in ihrem Wohnzimmer, bis ihr Zustand sie ins Bett<br />

zwang, und dann bat sie Margaret oder Griff, ihr Alben und<br />

Erinnerungsbücher zu bringen, die sie so sorgfältig über die<br />

Jahrzehnte gehütet hatte. Sie sah darin die faszinierende<br />

Chronik ihres Lebens, das in der Tat – wie sie so oft sagte –<br />

ein wundervolles Leben war, ein Leben voll von Erfolgen und<br />

so vielen interessanten Menschen und Erfahrungen – von welchen<br />

keine einzige wirklich aus ihrem Leben gelöscht wurde.<br />

Ihr Exemplar des Romans Of Lena Geyer, das nach wie vor in<br />

ihrer kleinen Bibliothek mit den Lieblingsbüchern stand, erwies<br />

sich einmal mehr <strong>als</strong> Spiegel ihres Lebens: "Sie ging durch so<br />

viele verschiedene Phasen ihres Lebens und wurde in Wirklichkeit<br />

zum Teil einer jeden; und wenn die nächste kam, dachtest<br />

du, sie habe alle vorangehenden vergessen; und nach kurzer<br />

Zeit stellst du fest, wie f<strong>als</strong>ch deine Annahme war."<br />

<strong>Ingrid</strong> schien von Dankbarkeit beseelt und gelegentlich<br />

leuchteten sogar Blitze ihres unverbrüchlichen Humors auf,<br />

wenn sie gewisse Bilder sah oder bestimmte Artikel und Kritiken<br />

las.<br />

Da war es <strong>als</strong>o, das kleine scheue blonde Mädchen in<br />

Wintermantel und Mütze, das geradewegs in Vaters Kameralinse<br />

blickte. Und dort die Bilder von <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> pfirsichwangige<br />

Elsa in einem gestreiften Kleid in "Munksbrogreven"; <strong>als</strong> wehmütige<br />

Anita in beiden Versionen von "Intermezzo" und <strong>als</strong> die<br />

böse, entstellte Anna in "A Womans Face", die am Ende die<br />

Bedeu<strong>tu</strong>ng von Mitgefühl und Liebe kennenlernt.<br />

614<br />

Sie schweifte durch ihre Lieblingsrollen. Da war sie <strong>als</strong>


Ivy in "Dr. Jekyll and Mr. Hyde", frech am Anfang, dann aschgrau<br />

vor Qual, und natürlich war da auch die klassische Rolle<br />

der Ilsa in "Casablanca" – die sie laut auflachen liess, denn sie<br />

konnte den Riesenrummel um diesen Film nie verstehen, auch<br />

nicht wegen ihres vor Liebe leuchtenden Gesichts, <strong>als</strong> sie von<br />

Bogart – aus edlem Motiv - weggeschickt wird. "Here's looking<br />

at you, kid" sagte <strong>Ingrid</strong> laut, während sie die Seite umblätterte.<br />

Und da war sie <strong>als</strong> Maria in "Wem die S<strong>tu</strong>nde schlägt" –<br />

und wie wundervoll Gary Cooper aussah, seine feinen Züge für<br />

immer von Paramounts Kameras eingefangen. Und dort ein<br />

Bild mit dem galanten Charles Boyer, ihrem Co-Star in drei<br />

Filmen. "Gaslight" war sicher der beste von allen, und ihr Oscar<br />

dafür stand mit denjenigen für "Anastasia" und "Murder on<br />

the Orient Express" auf dem Bücherregal nebenan.<br />

Auf manchen Seiten der Alben war die Filmgeschichte<br />

der amerikanischen Kriegszeit so präsent wie ihre eigene. Sie<br />

musste zugeben, dass sie Schwester Benedict glaubhaft gestaltet<br />

hatte, und <strong>ob</strong>schon sie Bing Crosby nie wirklich gekannt<br />

hatte, mochte sie diesen Film für die emotionale Ehrlichkeit,<br />

die durch die "Glocken von St. Marien" klang.<br />

Da waren auch Familienbilder – ihre verehrten Eltern,<br />

die strenge aber liebenswürdige Tante Ellen, der schrullige Onkel<br />

Otto und die vielbeschäftigte Tante Mutti. Sie hatte alle ihre<br />

Lieblingsbilder von Petter Lindström – stets asketisch attraktiv<br />

und helläugig – aufbewahrt, und natürlich waren da reihenweise<br />

Fotos von Pia von ihrer Kindheit an bis zur Gegenwart. Pia,<br />

die zu einer klugen und gefühlvollen Frau herangereift war, auf<br />

die ihre Mutter sehr stolz war, hatte in den späteren Jahren<br />

erkannt, dass die Versöhnung <strong>Ingrid</strong>s grosses Ziel war. So wie<br />

Pia Akzeptanz und Vergebung gelernt hatte, musste ihre Mutter<br />

lernen, diese Vergebung anzunehmen. Die Versöhnung war<br />

eine Lebensaufgabe.<br />

Dann gab es natürlich viele Bilder von <strong>Ingrid</strong> mit ihrem<br />

Freund Alfred Hitchcock. "Spellbound" hatte viel Spass gemacht,<br />

und "Under Capricorn" empfand sie jetzt eher <strong>als</strong> amü-<br />

615


sant, denn <strong>als</strong> lästig – aber "Notorious" mit so vielen biographischen<br />

Parallelen zu ihrem eigenen Lebenslauf, blieb ihr<br />

Lieblingsfilm. Wenn sie stolz von ihren persönlichen Leis<strong>tu</strong>ngen<br />

sprach, kam ihre Darstellung der liebeskranken Alicia Hubermann<br />

unweigerlich zur Sprache.<br />

Und noch andere lächelten aus den Albumseiten: die<br />

Gesichter von Edvin Adolphson, Victor Fleming, Larry Adler,<br />

B<strong>ob</strong> Capa, R<strong>ob</strong>ert Anderson. Die Liebe änderte sich in ihrem<br />

Wesen, aber sie starb nicht. <strong>Ingrid</strong> blieb ihnen allen verbunden.<br />

Dann fanden sich unzählige Bilder von <strong>Ingrid</strong> in der Rolle<br />

ihrer geliebten Jeanne d'Arc! Nie vergass sie die letzten Zeilen<br />

aus Maxwell Andersons Stück, die ebensogut sie selbst<br />

betreffen konnten: "Niemand kann sie für einen fremden<br />

Zweck missbrauchen, ihre eigene Auffassung wird sich immer<br />

durchsetzen". Und dann Jeannes letzte Worte: "Das Sterben<br />

kann nicht lange dauern. Es wird etwas schmerzen, aber dann<br />

vorbei sein. Nein, der Schmerz wird nicht klein sein, aber er<br />

wird ein Ende haben. Und wenn ich es noch einmal zu entscheiden<br />

hätte, ich würde es wieder <strong>tu</strong>n. Ich würde meinem<br />

Glauben treu bleiben, selbst bis ins Feuer." Ausser einer kleinen<br />

Bibliothek von Büchern über Jeanne war da noch ein<br />

Kleinod, das sie über all die Jahre gehütet hatte und das sie<br />

noch immer bei sich hatte: ein kleines Säckchen mit französischer<br />

Erde von Orléans.<br />

<strong>Ingrid</strong>s Lieblingsbilder von R<strong>ob</strong>erto Rossellini glänzten<br />

auf manchen Seiten, Bilder auf welchen er seine Nase an ihrer<br />

Wange reibt während die drei Kinder um sie herumtollen; Fotos<br />

von ihm, wie er ihr auf den rauhen Felsen von Stromboli<br />

Anweisungen gibt; und auch alles über das Leben ihrer Kinder<br />

war hier zu sehen. Diese Ehe und die Zusammenarbeit mit<br />

R<strong>ob</strong>erto war eine weitere grosse Herausforderung in ihrem<br />

Leben, aber sie bedauerte keinen Tag davon. Und dann fand<br />

sich da auch eine ergiebige Sammlung von Bildern von ihr mit<br />

Lars Schmidt – in Choisel, auf Dannholmen, an Premieren. Die<br />

Kamera war tatsächlich ihr bester Freund: sie betete <strong>Ingrid</strong><br />

616


nicht nur an, sie hinterliess ihr auch Erinnerungen an alle ihre<br />

Lieben und die Zeit ihrer Karriere, die ihr so viel bedeutete.<br />

Ja, es war ein gutes Leben: in sieben Ländern und in<br />

fünf Sprachen erschien <strong>Ingrid</strong> in sechsundvierzig Filmen, in elf<br />

Bühnenstücken und in fünf Fernsehprogrammen; sie hatte alle<br />

Auszeichnungen gewonnen, die ihr Beruf zu bieten hatte. Vom<br />

goldenen Mädchen auf den Stockholmer Bühnen und Leinwänden<br />

bis hin zur kranken und verrunzelten Golda Meïr – wie<br />

könnte irgendjemand je <strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong>s grossartige Ausstrahlung<br />

und Kunst erklären?<br />

LARS KAM DIESEN SOMMER OFT ZU BESUCH, und am<br />

10. August bestand <strong>Ingrid</strong> darauf, dass er sie nach Stockholm<br />

und nach Dannholmen begleite. In ihrer Heimatstadt nahm sie<br />

Lars' Arm und spazierte langsam am Königlichen Dramatischen<br />

Theater vorbei, wo sie vor fünfzig Jahren so aufregende Tage<br />

erlebt hatte. Sie setzte sich auf dieselben Bänke dem Strandvägen<br />

entlang und im Djurgården, wo sie <strong>als</strong> S<strong>tu</strong>dentin ihre<br />

Texte auswendig zu lernen pflegte, sie warf zum Andenken an<br />

ihre Eltern Blumen ins Wasser und be<strong>ob</strong>achtete die Fähren in<br />

der Bucht.<br />

Bei Ankunft auf Dannholmen musste <strong>Ingrid</strong> vom Landesteg<br />

bis ins Haus getragen werden und während Tagen hatte<br />

sie nicht mehr die Kraft, das Bett zu verlassen. "Aber ihre Liebe<br />

zur Insel war so gross", erinnerte sich Lars, "dass sie ihre<br />

Schwäche schliesslich überwand." Eines Morgens bat sie ihn,<br />

sie zur Haustür zu führen, damit sie die frische Seeluft einatmen<br />

und die Sonnenwärme spüren konnte. Tags darauf schaffte<br />

sie einige Schritte im Freien und am folgenden Nachmittag<br />

noch einige dazu. Während zweier Wochen zwang sie sich,<br />

täglich etwas weiter zu gehen – weiter und weiter um die kleine<br />

Insel bis zum flachen Felsblock, bei dem sie allein mit ihren<br />

Scripts und Büchern so manche S<strong>tu</strong>nde verbracht hatte. Dort<br />

blickte sie ruhig über das Meer und bat Lars, hier ihre Asche<br />

ins Wasser zu streuen; das Versprechen, das er ihr gab, hat er<br />

gewissenhaft erfüllt. Sie reichten sich die Hände und spazier-<br />

617


ten dann langsam zum Haus zurück.<br />

<strong>Ingrid</strong> und Lars kamen am 27. August nach London zurück,<br />

w<strong>ob</strong>ei sie von ihrer Cousine Britt begleitet wurden. An<br />

diesem Abend hatte <strong>Ingrid</strong> ein Telefongespräch mit Ann Todd:<br />

"Oh, ich bin so müde", sagte sie zu Ann. "Ich möchte schlafen."<br />

Aber sie konnte nicht. Am Samstag setzte eine wahre<br />

Agonie ein, und Dr. MacLellan verabreichte ihr reichlich<br />

Schmerzmittel. "Zu dieser Zeit", sagte Lars, "hatte sie das Gefühl,<br />

das Leben zu überziehen. Sie wollte sterben." Aber noch<br />

immer blieb <strong>Ingrid</strong> ruhig, zuversichtlich und wach. Karten und<br />

Blumen kamen an, denn am Sonntag hatte sie Geburtstag.<br />

Lars hatte ihre Lieblingsblumen gebracht, Johannis- und Brombeeren<br />

aus ihrem Garten in Choisel und Champagner war<br />

kühlgestellt.<br />

Nach einer ruhelosen Samstagnacht erh<strong>ob</strong> sich <strong>Ingrid</strong><br />

am Sonntag Morgen früh - genau 67 Jahre nach ihrer Geburt,<br />

sogar auf den Wochentag genau – und wollte sich anziehen<br />

und etwas Farbe auftragen. "Also – was sagt ihr?" sagte sie<br />

aufgeräumt, mit dünner, schwacher Stimme aber mit leuchtenden<br />

Augen und einem Lächeln, das ihr Gesicht überstrahlte.<br />

"Ich habe noch ein Jahr geschafft!" Lars, Britt, Griff und Margaret<br />

verbrachten den Nachmittag bei ihr, plaudernd oder lesend,<br />

w<strong>ob</strong>ei sie hin und wieder einnickte. Mitte des Nachmittags<br />

erholte sie sich. Alle Kinder riefen an, und sie sprach kurz<br />

mit jedem von ihnen.<br />

UM SECHS UHR ABENDS AN IHREM GEBURTSTAG, am<br />

29. August 1982, verlangte sie, dass der Champagner serviert<br />

werde und alle tranken einen Toast auf sie. Der Moment glich<br />

sehr jenem, den <strong>Ingrid</strong> <strong>als</strong> Ivy gespielt hatte, die tapfer dem<br />

tödlichen Mr. Hyde gegenüberstand: "Gut, ich nehme einen<br />

Schluck Champagner – natürlich kann ich nicht zu lange bleiben."<br />

Um acht Uhr war sie erschöpft und wollte zu Bett gehen.<br />

618


Neben ihrem Bett lag Der kleine Prinz, aufgeschlagen<br />

auf einer Seite, die sie nahe am Ende, wo er stirbt, markiert<br />

hatte: "Ich kann diesen Körper nicht mitnehmen, er ist zu<br />

schwer...aber er wird sein wie eine alte, verlassene Muschel.<br />

Alte Muscheln sind nichts Trauriges ...Ich werde aussehen, <strong>als</strong><br />

wäre ich tot, aber ich werde es nicht sein..."<br />

<strong>Ingrid</strong> <strong>Bergman</strong> wurde geboren, <strong>als</strong> die Spätsommersonne<br />

Stockholm überstrahlte und über die Bucht gleisste – <strong>als</strong><br />

jedermann für einen Moment vergessen konnte, wie sehr doch<br />

die Dunkelheit im Winter nicht enden will. So war es nun auch<br />

in London, <strong>als</strong> die Themse das Sonnenlicht herüber reflektierte,<br />

das die Baumspitzen in Cheyne Gardens umspielte. Ein milder<br />

Luftzug kam vom Fluss herauf, der die Vorhänge leicht blähte<br />

und die frischen Blumen in ihrem Zimmer umstrich. Ihre Lippen<br />

bewegten sich lautlos, gefolgt von einem langen, leisen<br />

Seufzer. Es war ein ruhiger, strahlender Abend, und dann<br />

leuchteten die Sterne die kurze, wolkenlose Nacht hindurch.<br />

619


620


Quellennachweis<br />

Illustrationen<br />

Zur Illustration des vorliegenden Buches habe ich auf<br />

vorhandenes Material zurückgegriffen, und zwar sowohl für die<br />

Reproduktion authentischer Bilder, wie auch zur Verarbei<strong>tu</strong>ng<br />

in meinen verschiedenen Grafiken. Sie sind z.T. der Originalausgabe<br />

von "NOTORIOUS", Verlag HARPER COLLINS PUBLI-<br />

SHERS, und z.T. dem Band "BERGMAN" von MOVIE ICONS<br />

(TASCHEN GMBH., Köln) entnommen und stammen ursprünglich<br />

- soweit bekannt - aus folgenden Quellen, bei welchen allen<br />

ich mich für die freundliche Überlassung der Bilder sehr<br />

bedanke:<br />

Academy of Motion Pic<strong>tu</strong>re Arts and Sciences<br />

Collection of Guy Green<br />

Collection of R<strong>ob</strong>ert Anderson<br />

Culver Pic<strong>tu</strong>res<br />

IMS Bildbyrå<br />

Kip Rano/Sipa/IMS Bildbyrå<br />

Movie Star News<br />

Museum of Modern Art/Film Still Archive<br />

National Film Archive<br />

National Film Archive/Stills Library<br />

Ruth Orkin (R<strong>ob</strong>ert Capa 1951)<br />

Swedish Film Insti<strong>tu</strong>te<br />

Warner Bros.<br />

621


Filmographie<br />

Jahr Titel Rolle<br />

1932 "Landskamp" Girl waiting in line<br />

1935 "Bränningar" Karin Ingman<br />

1935 "Munkbrogreven" Elsa Edlund<br />

1935 "Swedenhielms" Astrid<br />

1935 "Valborgsmassoafton" Lena Bergstrog<br />

1936 "Intermezzo" (Sweden) Anita Hoffman<br />

1936 "På Solsidan" Eva Bergh<br />

1938 "Dollar" Julia Balzar<br />

1938 "En Kvinnas Ansikte"<br />

[A Woman's Face]<br />

622<br />

Anna Holm<br />

1938 "Die Vier Gesellen" Marianne<br />

1939 "Intermezzo" (USA) Anita Hoffman<br />

1939 Enda Natt Eva<br />

1940 "Juninatten"<br />

[June Night]<br />

Kerstin Nordback<br />

1941 "Adam Had Four Sons" Emilie Gallatin<br />

1941 "Dr. Jekyll and Mr. Hyde" Ivy Peterson<br />

1941 "Rage in Heaven" Stella Bergen<br />

1942 "Casablanca" Ilsa Lund Laszlo<br />

1943 "For Whom the Bell Tolls" Maria<br />

1944 "Gaslight" Paula Alquist<br />

1945 "The Bells of St. Mary's" Sister Benedict<br />

1945 "Saratoga Trunk" Clio Dulaine<br />

1945 "Spellbound" Dr. Constance Peterson<br />

1946 "Notorious" Alicia Huberman


1948 "Joan of Arc" Jeanne d'Arc<br />

1948 "Arch of Triumph" Joan Madou<br />

1949 "Stromboli" Karin<br />

1949 "Under Capricorn" Henrietta Flusky<br />

1952 "Europa '51"<br />

[The Greatest Love]<br />

1953 "Siamo Donne"<br />

[Of Life and Love; Questa e la Vita;<br />

We, the Women]<br />

1953 "Viaggio in Italia"<br />

[Journey to Italy; Strangers; Voyage to<br />

Italy]<br />

1954 "Giovanna d'Arco al Rogo"<br />

[Joan at the Stake; Joan of Arc at the<br />

Stake]<br />

1955 "La Paura"<br />

[Angst; Fear]<br />

Irene Girard<br />

Katherine Joyce<br />

Jeanne d'Arc<br />

Irene Wagner<br />

1956 "Anastasia" Anastasia<br />

1956 "Elena et les Hommes"<br />

[Paris Does Strange Things]<br />

Elena Sokorowska<br />

1958 "Indiscreet" Anna Kalman<br />

1958 "The Inn of the Sixth Happiness" Gladys Aylward<br />

1959 "The Turn of the Screw "(TV) Governess<br />

1961 "Goodbye Again"<br />

[Aimez-vous Brahms?]<br />

1961 "Twenty-four Hours in a Woman's Life"<br />

(TV)<br />

Paula Tessier<br />

1963 "Hedda Gabler" (TV) Hedda Gabler<br />

1964 "The Visit" Karla Zachanassian<br />

1965 "The Yellow Rolls-Royce" Gerda Millet<br />

1967 "Fugitive in Vienna"<br />

1967 "The Human Voice" (TV)<br />

1967 "Stimulantia" Mathilde Hart-<br />

man<br />

623


1969 "Cac<strong>tu</strong>s Flower" Stephanie Dickinson<br />

1970 "Walk in the Spring Rain" Libby Meredith<br />

1973 "From the Mixed-Up Files of<br />

Mrs. Basil E. Frankweiler"<br />

[The Hideaways]<br />

624<br />

Mrs. Frankweiler<br />

1974 "Murder on the Orient Express" Greta Ohlsson<br />

1976 "A Matter of Time" Gräfin Sanziani<br />

1978 "Höstsonaten"<br />

[Au<strong>tu</strong>mn Sonata]<br />

Charlotte<br />

1982 "A Woman Called Golda" (TV) Golda Meïr


625

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