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Hans Förstl (Hrsg.) Demenzen in Theorie und Praxis 3., aktualisierte ...

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<strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.)<br />

<strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong><br />

<strong>3.</strong>, <strong>aktualisierte</strong> <strong>und</strong> überarbeitete Auflage


<strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.)<br />

<strong>Demenzen</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong><br />

<strong>3.</strong>, <strong>aktualisierte</strong> <strong>und</strong> überarbeitete Auflage<br />

Mit 48, zum Teil farbigen Abbildungen<br />

<strong>und</strong> 52 Tabellen


Professor Dr. med. <strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong><br />

Kl<strong>in</strong>ik für Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie<br />

Kl<strong>in</strong>ikum rechts der Isar<br />

Technische Universität München<br />

Isman<strong>in</strong>ger Straße 22<br />

81675 München<br />

ISBN-13 978-3-642-19794-9 Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg New York<br />

Bibliografi sche Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

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© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

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kann vom Verlag ke<strong>in</strong>e Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom<br />

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berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche<br />

Namen im S<strong>in</strong>ne der Warenzeichen- <strong>und</strong> Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten<br />

wären <strong>und</strong> daher von jedermann benutzt werden dürfen.<br />

Planung: Renate Schedd<strong>in</strong>, Heidelberg<br />

Projektmanagement: Renate Schulz, Heidelberg<br />

Lektorat: Kar<strong>in</strong> Dembowsky, München<br />

Umschlaggestaltung: deblik Berl<strong>in</strong><br />

Coverbild: © Michael Kempf / fotolia.com<br />

Satz: Fotosatz Detzner, Speyer<br />

SPIN: 12787784<br />

Gedruckt auf säurefreiem Papier 18/5135 – 5 4 3 2 1 0


Geleitwort<br />

Die Zahl älterer Menschen <strong>und</strong> ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung ist im<br />

Laufe des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts erheblich angewachsen. Dies hat zu e<strong>in</strong>er Zunahme<br />

von Demenzerkrankungen geführt, die schon bei jüngeren Personen<br />

auft reten können, im Alter jedoch deutlich ansteigen. Aus zahlreichen Feldstudien<br />

<strong>in</strong> verschiedenen Regionen der Welt ist bekannt, dass sich die Rate<br />

von Neuerkrankungen vom 60. Lebensjahr ab <strong>in</strong> jeder Lebensdekade verdreifacht.<br />

Bei der Mehrzahl der Demenzprozesse beträgt die mittlere Krankheitsdauer<br />

vom ersten Auft reten kognitiver Störungen an etwa 7–8 Jahre <strong>und</strong> von<br />

der sicheren Feststellung der Diagnose bis zum Tod ca. 4 Jahre. Die Gesamtrate<br />

schwerer <strong>und</strong> mittelgradig ausgeprägter Demenzerkrankungen liegt bei<br />

65-Jährigen <strong>und</strong> Älteren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Größenordnung von 4 bis nahezu 8% <strong>und</strong><br />

erreicht unter E<strong>in</strong>schluss leichterer Krankheitsformen e<strong>in</strong>en Wert von 10%<br />

<strong>und</strong> mehr; bei 90-Jährigen <strong>und</strong> Älteren erhöht sich diese Rate bis auf 30% <strong>und</strong><br />

darüber.<br />

Unter Zugr<strong>und</strong>elegung solcher Zahlen muss davon ausgegangen werden,<br />

dass <strong>in</strong> der B<strong>und</strong>esrepublik m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e Million Menschen von e<strong>in</strong>em<br />

Demenzsyndrom betroff en s<strong>in</strong>d. Der größte Teil dieser Personen wird lange<br />

Zeit h<strong>in</strong>durch von Familienangehörigen betreut. Viele der zunächst <strong>in</strong> Privathaushalten<br />

lebenden Patienten müssen aber kürzere oder längere Zeit vor ihrem<br />

Lebensende <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Pfl egee<strong>in</strong>richtung untergebracht werden. Die Rate<br />

von Demenzkranken <strong>in</strong> Wohn-, Alters- oder Pfl egeheimen liegt derzeit <strong>in</strong><br />

Deutschland mit etwa 280.000 bei über 40%.<br />

Diese Zahlen zeigen, dass die Verbreitung von Demenzkrankheiten <strong>in</strong> der<br />

Bevölkerung das Ausmaß e<strong>in</strong>er Epidemie angenommen hat <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en außerordentlich<br />

hohen Bedarf an ärztlichen Untersuchungs-, Behandlungs- <strong>und</strong><br />

Beratungsmaßnahmen nach sich zieht. Die hiermit verb<strong>und</strong>enen Aufgaben<br />

s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e ausschließliche Angelegenheit von Psychiatern, Neurologen <strong>und</strong><br />

Geriatern. Die von kognitiven Leistungse<strong>in</strong>bußen betroff enen Patienten <strong>und</strong><br />

ihre Angehörigen wenden sich <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie an ihre Hausärzte, an Internisten<br />

oder Ärzte anderer Fachrichtungen, ehe die Konsultation e<strong>in</strong>es Facharztes<br />

erfolgt.<br />

Das vorliegende Kompendium schließt e<strong>in</strong>e bis heute bestehende Informationslücke<br />

<strong>und</strong> fasst das aktuelle Wissen über die Demenzerkrankungen <strong>in</strong><br />

V


VI Geleitwort<br />

mehreren Beiträgen präzis <strong>und</strong> zugleich allgeme<strong>in</strong> verständlich zusammen.<br />

Dabei wird nicht nur auf Ätiologie, Symptomatologie <strong>und</strong> Th erapie der wichtigsten<br />

dementiellen Prozesse, sondern auch auf solche Syndrome – wie leichtere<br />

kognitive Störungen, Verwirrtheitszustände, Depression oder schizophrene<br />

Krankheitsverläufe – e<strong>in</strong>gegangen, die diff erentialdiagnostisch <strong>in</strong> Betracht<br />

zu ziehen s<strong>in</strong>d oder teilweise auch als Vorläufer oder Begleitersche<strong>in</strong>ungen<br />

von Demenzprozessen auft reten können.<br />

Obwohl der Leser alle wissenswerten Tatsachen über die theoretischen<br />

Gr<strong>und</strong>lagen der Demenz erfährt, liegt der Schwerpunkt der Darstellung zu<br />

Recht auf den praktischen Problemen, die mit der Betreuung der Patienten<br />

verb<strong>und</strong>en s<strong>in</strong>d. Dabei geht es u. a. darum, welche speziellen Diagnoseverfahren<br />

bei dem Verdacht auf e<strong>in</strong>e Demenzerkrankung notwendig <strong>und</strong> s<strong>in</strong>nvoll<br />

s<strong>in</strong>d, welche Fragen von Patienten <strong>und</strong> Angehörigen im Rahmen von Beratungsgesprächen<br />

berücksichtigt werden müssen oder wie mit den zahlreichen<br />

sozialen <strong>und</strong> juristischen Schwierigkeiten umzugehen ist, die im Verlauf solcher<br />

Krankheiten auft auchen. Die Indikation der gegenwärtig verfügbaren<br />

Behandlungsmöglichkeiten, ihr rationeller E<strong>in</strong>satz <strong>und</strong> die Th erapie der demenzbed<strong>in</strong>gten<br />

seelischen Störungen nichtkognitiver Art werden e<strong>in</strong>gehend<br />

dargestellt. Der Anhang enthält zusätzliche Informationen, die für den Leser<br />

von großem Nutzen s<strong>in</strong>d, wie z. B. e<strong>in</strong>e Übersicht über e<strong>in</strong>ige <strong>in</strong> der Demenzdiagnostik<br />

häufi g angewandte standardisierte Untersuchungsverfahren <strong>und</strong><br />

e<strong>in</strong>e Zusammenstellung der Adressen von Alzheimer Zentren <strong>und</strong> Selbsthilfegruppen.<br />

Bei der Lektüre des Buches wird mir deutlich, wie sehr e<strong>in</strong> Kompendium<br />

dieser Art bisher gefehlt hat. Ich b<strong>in</strong> davon überzeugt, dass es sowohl den auf<br />

diesem Gebiet bereits erfahrenen Kollegen als wichtiges Nachschlagewerk dienen<br />

kann als auch allen <strong>in</strong> der ärztlichen Primärversorgung Tätigen e<strong>in</strong>e große<br />

Hilfe se<strong>in</strong> wird. Darüber h<strong>in</strong>aus ist dieser Band aber auch für Psychologen, Sozialarbeiter,<br />

Alten- oder Krankenpfl eger<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> -pfl eger oder <strong>in</strong>teressierte<br />

Laien <strong>und</strong> nicht zuletzt für Angehörige von Demenzkranken geeignet.<br />

Dieses Buch wird dazu beitragen, e<strong>in</strong>em immer noch weit verbreiteten<br />

therapeutischen Nihilismus entgegen zu wirken <strong>und</strong> den vielen an e<strong>in</strong>er Demenzkrankheit<br />

leidenden Patienten <strong>in</strong> ihrem Schicksal ärztlichen <strong>und</strong><br />

menschlichen Beistand zu leisten.<br />

<strong>Hans</strong> Lauter<br />

München, März 2000


Vorwort zur <strong>3.</strong> Auflage<br />

Zur Drucklegung der <strong>3.</strong> Aufl age dieses Buches hat das US-amerikanische<br />

Nationale Alterns<strong>in</strong>stitut (NIA) geme<strong>in</strong>sam mit der dortigen Alzheimer-Gesellschaft<br />

(AA) die Kriterien für die Diagnose von Demenz <strong>und</strong> Alzheimer-<br />

Krankheit nach fast 30 Jahren erstmals revidiert. Die E<strong>in</strong>haltung der Deadl<strong>in</strong>e<br />

verdient Anerkennung. Daher geben wir die aktuellen NIA-AA-Kriterien für<br />

die Diagnose e<strong>in</strong>er leichten kognitiven Bee<strong>in</strong>trächtigung (mild cognitive<br />

impairment, MCI) auf der Basis e<strong>in</strong>er Alzheimer-Krankheit, e<strong>in</strong>es Demenzsyndroms<br />

(allgeme<strong>in</strong>) <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Demenz auf der Basis e<strong>in</strong>er Alzheimer-<br />

Krankheit im Anschluss an Kapitel 15 als Addendum (mit gelbem Randstreifen)<br />

<strong>in</strong> deutscher Übersetzung wieder. Es wäre anzunehmen, dass die Amerikaner<br />

– <strong>und</strong> nach ihnen die ganze Welt – diesen Schritt betrachten wie die<br />

erstmalige Entdeckung <strong>und</strong> Beschreibung des Eigelbs, herrschten nicht e<strong>in</strong>ige<br />

sehr nachdenkliche Töne v. a. h<strong>in</strong>sichtlich des Stellenwerts moderner Biomarker<br />

vor.<br />

Die folgenden Th emen werden die nächsten 20 Jahre wesentlich bestimmen:<br />

4 Erprobung verfügbarer <strong>und</strong> neuer Biomarker für neurodegenerative Erkrankungen,<br />

4 ihr E<strong>in</strong>satz zur Identifi kation von Risikogruppen für wissenschaft liche<br />

Zwecke,<br />

4 die systematische Entwicklung kausaler Interventionsstrategien ohne zu<br />

große Hoff nung auf raschen Gew<strong>in</strong>n,<br />

4 Defi nition geeigneter Rahmenbed<strong>in</strong>gungen vom Patentrecht bis zu ethischen<br />

Standards,<br />

4 pharmakologischer Pragmatismus mit e<strong>in</strong>er Rückbes<strong>in</strong>nung auf vielfäl tige<br />

bereits vorhandene Behandlungsmöglichkeiten,<br />

4 Sachlichkeit <strong>in</strong> der methodischen Untersuchung praktikabler Präventions-,<br />

Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gs-, Beratungs-, Pfl ege- u. a. Maßnahmen,<br />

4 gesamtgesellschaft liche Verantwortung – die aber voraussichtlich v. a. von<br />

Rentnern e<strong>in</strong>er neuen Generation getragen wird.<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong><br />

München, im Mai 2011<br />

VII


Vorwort zur 2. Auflage<br />

In den letzten Jahren hat sich im Bereich der <strong>Demenzen</strong> viel getan. Das öffentliche<br />

Bewusstse<strong>in</strong> ist stark angewachsen <strong>und</strong> »Alzheimer« gilt nicht mehr als<br />

e<strong>in</strong>e Erkrankung von wenigen, die das Schicksal bestraft, sondern als e<strong>in</strong><br />

großes <strong>und</strong> geme<strong>in</strong>sames gesellschaftliches Problem. Der umfassende Zusammenhang<br />

von geistigen Reserven, der Erhaltung körperlicher Ges<strong>und</strong>heit<br />

über e<strong>in</strong>e lange Lebenszeit <strong>und</strong> der Entwicklung e<strong>in</strong>er Demenz im hohen Lebensalter<br />

wird immer besser verstanden. Aber selbst bei günstigen Voraussetzungen<br />

<strong>und</strong> vernünftiger Lebensführung ist niemand gegen e<strong>in</strong>e Demenz<br />

gefeit. Zwar steigt die Lebenserwartung auch deshalb immer weiter an, weil<br />

die Menschen immer länger körperlich <strong>und</strong> geistig ges<strong>und</strong> bleiben, jedoch hat<br />

der Hauptrisikofaktor für viele Demenzformen – das Alter – damit noch weiter<br />

an Brisanz gewonnen. E<strong>in</strong>fache Hochrechnungen entlang der demographischen<br />

Veränderungen reichen sicher nicht aus, um die Zahl der Demenzkranken<br />

<strong>in</strong> Zukunft zuverlässig vorherzusagen.<br />

Ganz sicher werden die <strong>Demenzen</strong> uns alle vor wachsende Aufgaben stellen.<br />

Es wird nicht damit getan se<strong>in</strong>, Alzheimer etc. symptomatisch mit Tabletten<br />

zu behandeln – so wichtig dies auch se<strong>in</strong> kann. Patienten <strong>und</strong> ihre Familien<br />

können ke<strong>in</strong>en Fatalismus mehr ertragen. Durch vielfältige Behandlungsmöglichkeiten,<br />

verbesserte Verfahren <strong>in</strong> der Unterstützung von Patienten <strong>und</strong><br />

Angehörigen bekommen Ärzte, Pflegekräfte, Sozialpädagogen <strong>und</strong> Andere<br />

sehr viel mehr zu tun. Vor besondere praktische Herausforderungen wird uns<br />

die Forschung stellen. Sie konfrontiert uns mit mehr Wissen über behandelbare<br />

Risikofaktoren, mit <strong>in</strong>novativen Verfahren zur Frühestdiagnose <strong>und</strong><br />

neuen Konzepten, – weg vom späten kl<strong>in</strong>ischen Demenzsyndrom, h<strong>in</strong> zu den<br />

Ursachen.<br />

Fanden sich Gerontopsychiater <strong>und</strong> Geriater bisher <strong>in</strong> der Rolle des Torwarts,<br />

wird die Prävention, Diagnostik <strong>und</strong> Therapie der <strong>Demenzen</strong> nun zu<br />

e<strong>in</strong>er Aufgabe der gesamten mediz<strong>in</strong>ischen Mannschaft. Die wichtigsten<br />

Gr<strong>und</strong>regeln werden <strong>in</strong> diesem Band aktuell zusammengefasst.<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong><br />

München, im Oktober 2008<br />

IX


Vorwort zur 1. Auflage<br />

Hausärzte, also Allgeme<strong>in</strong>ärzte, praktische Ärzte <strong>und</strong> Internisten tragen die<br />

Hauptlast der ärztlichen Versorgung <strong>und</strong> damit der Verantwortung für die<br />

Diagnose, Beratung <strong>und</strong> Behandlung bei Demenzerkrankungen. Hier, <strong>in</strong> der<br />

Primärversorgung, liegt die Chance zu e<strong>in</strong>er Verbesserung der Früherkennung,<br />

zu rechtzeitigen <strong>und</strong> richtigen Weichenstellungen h<strong>in</strong> zu weiteren diagnostischen<br />

<strong>und</strong> therapeutischen Schritten. Hier liegt die Verantwortung zur<br />

E<strong>in</strong>leitung <strong>und</strong> Überprüfung angemessener Behandlungspläne.<br />

In diesem Band wird der aktuelle Wissensstand über bedeutende Demenzformen<br />

dargestellt, soweit diese Erkenntnisse praxisrelevant s<strong>in</strong>d. Diese<br />

Darstellung im Th eorieteil orientiert sich an den gängigen Schlagwörtern<br />

»Alzheimer«, »B<strong>in</strong>swanger«, »Park<strong>in</strong>son« <strong>und</strong> anderen gängigen Eponymen,<br />

die E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> die gängigen Klassifi kationssysteme gef<strong>und</strong>en haben. Neben<br />

den neurodegenerativen <strong>und</strong> vaskulären Demenzformen wird auch e<strong>in</strong>e Reihe<br />

von Störungen erwähnt, die mit e<strong>in</strong>er Demenz verwechselt werden können.<br />

Hierzu zählen die amnestischen <strong>und</strong> deliranten Syndrome, die durch<br />

ihre Symptomatik bei genauer Betrachtung von dem Demenzsyndrom unterschieden<br />

werden können, hierzu zählen aber auch psychische Erkrankungen,<br />

die im höheren Lebensalter gelegentlich Merkmale aufweisen können, welche<br />

e<strong>in</strong>er Demenz ähneln.<br />

Im <strong>Praxis</strong>teil wird erstens das konkrete Vorgehen <strong>in</strong> der ärztlichen <strong>Praxis</strong><br />

zur stationären Diagnostik, Beratung <strong>und</strong> Behandlung geschildert; zweitens<br />

die Überweisung zu besonderen diagnostischen <strong>und</strong> therapeutischen Maßnahmen<br />

(Labor, Bildgebung, gezielte neuropsychologische Testung, umfassende<br />

Untersuchung <strong>in</strong> Alzheimer Zentren, sozialpädagogische Unterstützung<br />

<strong>und</strong> psychotherapeutische Maßnahmen); drittens wird das Vorgehen bei<br />

der E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> geriatrische <strong>und</strong> gerontopsychiatrische Sta tionen oder <strong>in</strong><br />

rehabilitative E<strong>in</strong>richtungen für Patienten <strong>und</strong> Angehörige erläutert. Am Ende<br />

des Bandes folgen Listen geriatrischer <strong>und</strong> ge ron to psychiatrischer Fachabteilungen,<br />

rehabilitativer Modelle<strong>in</strong>richtungen sowie der Deutschen <strong>und</strong> der<br />

lokalen Alzheimer Gesellschaft en.<br />

Die Kapitel des Bandes s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>zeln lesbar <strong>und</strong> verständlich. Stellenweise<br />

kommen etwas abweichende Haltungen <strong>und</strong> Erwartungen zum Ausdruck, die<br />

ich <strong>in</strong>soweit erhalten habe, als sie das Selbstverständnis bestimmter Berufs-<br />

XI


XII Vorwort zur 1. Auflage<br />

gruppen <strong>und</strong> E<strong>in</strong>richtungen refl ektieren <strong>und</strong> damit für den Umgang mite<strong>in</strong>ander<br />

von Bedeutung s<strong>in</strong>d.<br />

Die folgenden Punkte wurden von mehreren Autoren immer wieder aufgegriff<br />

en:<br />

4 Dem Problem Demenz muss früher <strong>und</strong> mehr Aufmerksamkeit geschenkt<br />

werden.<br />

4 Beim Verdacht auf e<strong>in</strong>e Demenzerkrankung muss e<strong>in</strong>e konsequente Diagnostik<br />

<strong>und</strong> Behandlung e<strong>in</strong>geleitet werden.<br />

4 Die Behandlung ist meist nicht e<strong>in</strong>fach, sondern erfordert große diagnostische<br />

Sorgfalt <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e therapeutische Nachhaltigkeit, sie sich im Allgeme<strong>in</strong>en<br />

nicht auf das Verschreiben e<strong>in</strong>es Medikaments beschränken darf.<br />

Der Erlös des Buches wird der Deutschen Alzheimer Gesellschaft zur Verfügung<br />

gestellt.<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong><br />

München, Sommer 2000


Inhaltsverzeichnis<br />

<strong>Theorie</strong><br />

XIII<br />

1 Was ist Demenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong> <strong>und</strong> Christoph Lang<br />

2 Gedächtnisfunktionen <strong>und</strong> Gedächtnisstrukturen . . . . . . 11<br />

Pasquale Calabrese, Christoph Lang <strong>und</strong> <strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong><br />

3 »Leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung« im Alter . . . . . . . . . 25<br />

Michael Zaudig<br />

4 Alzheimer-Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong>, Alexander Kurz <strong>und</strong> Tobias Hartmann<br />

5 Alzheimer-Demenz mit präsenilem Beg<strong>in</strong>n –<br />

Besonderheiten <strong>in</strong> Diagnostik, Therapie<br />

<strong>und</strong> Management . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73<br />

Bianca Natale, Doris Wohlrab, Bett<strong>in</strong>a Förtsch, <strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong>,<br />

Alexander Kurz <strong>und</strong> Jan<strong>in</strong>e Diehl-Schmid<br />

6 Morbus B<strong>in</strong>swanger <strong>und</strong> andere vaskuläre <strong>Demenzen</strong> . . . . 93<br />

Roman L. Haberl<br />

7 »Park<strong>in</strong>son Plus«/Demenz mit Lewy-Körperchen,<br />

Chorea Hunt<strong>in</strong>gton <strong>und</strong> andere <strong>Demenzen</strong><br />

bei Basalganglienerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 113<br />

Adolf We<strong>in</strong>dl<br />

8 Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung<br />

<strong>und</strong> andere Prionkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145<br />

<strong>Hans</strong> A. Kretzschmar <strong>und</strong> <strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong><br />

9 Pick-Komplex: frontotemporale Lobärdegenerationen . . . . 155<br />

Adrian Danek<br />

10 Wernicke-Korsakow-Syndrom<br />

<strong>und</strong> andere amnestische Syndrome . . . . . . . . . . . . . . . 173<br />

Pasquale Calabrese, Dirk Wolter <strong>und</strong> <strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong>


XIV Inhaltsverzeichnis<br />

11 Verwirrtheitszustände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong> <strong>und</strong> Horst Bickel<br />

12 Medikamenten-, Drogen- <strong>und</strong> Alkoholabhängigkeit . . . . . 211<br />

Rupert Müller <strong>und</strong> Thomas Zilker<br />

13 Depression <strong>und</strong> Dissoziation:<br />

Ganser-Syndrom <strong>und</strong> andere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233<br />

Re<strong>in</strong>hilde Zimmer <strong>und</strong> <strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong><br />

14 Spätschizophrenie <strong>und</strong> chronische Schizophrenie<br />

im höheren Lebensalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241<br />

Stefan Leucht <strong>und</strong> Werner Kissl<strong>in</strong>g<br />

<strong>Praxis</strong><br />

15 Rationelle Diagnostik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong><br />

16 Rationelle Beratung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285<br />

<strong>Hans</strong> Gutzmann <strong>und</strong> Lydia Steenweg<br />

17 Rationelle Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299<br />

<strong>Hans</strong> Gutzmann <strong>und</strong> Richard Mahlberg<br />

18 Behandelbare somatische Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . 317<br />

Thorleif Etgen<br />

19 Neuropsychologische Untersuchung. . . . . . . . . . . . . . . 337<br />

T<strong>in</strong>a Theml <strong>und</strong> Thomas Jahn<br />

20 Bildgebende Verfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353<br />

Frank Hentschel <strong>und</strong> <strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong><br />

21 Labordiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375<br />

Robert Perneczky <strong>und</strong> Panagiotis Alexopoulos<br />

22 Neurophysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong><br />

23 Konsil- <strong>und</strong> Liaisonpsychiatrie bei Demenz . . . . . . . . . . . 395<br />

Torsten Kratz


Inhaltsverzeichnis<br />

24 Gedächtnissprechst<strong>und</strong>en (Memory-Kl<strong>in</strong>iken) . . . . . . . . . 419<br />

Jan<strong>in</strong>e Diehl-Schmid, Nicola T. Lautenschlager <strong>und</strong> Alexander Kurz<br />

25 Geriatrische Stationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437<br />

Not-Rupprecht Siegel<br />

26 Gerontopsychiatrische Stationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 453<br />

Ra<strong>in</strong>er Kortus<br />

27 Alten- <strong>und</strong> Pflegeheime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467<br />

Jens Bruder<br />

28 Zur Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481<br />

Rolf D. Hirsch<br />

29 Sozialpädagogische Hilfen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503<br />

Bett<strong>in</strong>a Förtsch, <strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong> <strong>und</strong> Eva Gratzl-Pabst<br />

Anhang<br />

A1 Geriatrisches Screen<strong>in</strong>g . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543<br />

A2 Barthel Index. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547<br />

A3 M<strong>in</strong>i-Mental-State-Test . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551<br />

A4 Uhren-Test . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553<br />

A5 SIDAM für ICD-10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557<br />

A6 Geriatric Depression Scale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565<br />

A7 Adressen von Alzheimer-Gesellschaften<br />

<strong>und</strong> L<strong>in</strong>ks zu weiteren Internet-Informationsangeboten<br />

<strong>in</strong> Deutschland, Österreich <strong>und</strong> der Schweiz . . . . . . . . . . 567<br />

Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571<br />

XV


Autorenverzeichnis<br />

XVII<br />

Alexopoulos, Panagiotis, Dr.<br />

Kl<strong>in</strong>ik für Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie,<br />

Kl<strong>in</strong>ikum rechts der Isar, Technische Universität München,<br />

Isman<strong>in</strong>ger Straße 22, 81675 München<br />

Bickel, Horst, Dr. Dipl.-Psych.<br />

Kl<strong>in</strong>ik für Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie,<br />

Kl<strong>in</strong>ikum rechts der Isar, Technische Universität München,<br />

Isman<strong>in</strong>ger Straße 22, 81675 München<br />

Bruder, Jens, Dr.<br />

Heilwigstraße 120, 20249 Hamburg<br />

Calabrese, Pasquale, Priv.-Doz. Dr.<br />

Institut für Psychologie,<br />

Missionsstrasse 62A, CH-4055 Basel<br />

Danek, Adrian, Prof. Dr.<br />

Neurologische Kl<strong>in</strong>ik, Kl<strong>in</strong>ikum Großhadern,<br />

Marchion<strong>in</strong>istraße 15, 81377 München<br />

Diehl-Schmid, Jan<strong>in</strong>e, Priv.-Doz. Dr.<br />

Kl<strong>in</strong>ik für Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie,<br />

Kl<strong>in</strong>ikum rechts der Isar, Technische Universität München,<br />

Isman<strong>in</strong>ger Straße 22, 81675 München<br />

Etgen, Thorleif, Dr.<br />

Kl<strong>in</strong>ikum Traunste<strong>in</strong>, Abteilung für Neurologie,<br />

Cuno-Niggl-Straße 3, 83278 Traunste<strong>in</strong><br />

<strong>Förstl</strong>, <strong>Hans</strong>, Prof. Dr.<br />

Kl<strong>in</strong>ik für Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie,<br />

Kl<strong>in</strong>ikum rechts der Isar, Technische Universität München,<br />

Isman<strong>in</strong>ger Straße 22, 81675 München


XVIII Autorenverzeichnis<br />

Förtsch, Bett<strong>in</strong>a, Dipl.-Soz. Päd.<br />

Kl<strong>in</strong>ik für Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie,<br />

Kl<strong>in</strong>ikum rechts der Isar, Technische Universität München,<br />

Möhlstraße 26, 81675 München<br />

Gratzl-Pabst, Eva, Dipl.-Soz. Päd.<br />

Kl<strong>in</strong>ik für Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie,<br />

Kl<strong>in</strong>ikum rechts der Isar, Technische Universität München,<br />

Isman<strong>in</strong>ger Straße 22, 81675 München<br />

Gutzmann, <strong>Hans</strong>, Priv.-Doz. Dr.<br />

Gerontopsychiatrische Abteilung, Vivantes Kl<strong>in</strong>ikum Hellersdorf,<br />

Krankenhaus Hellersdorf, Myslowitzer Straße 45, 12621 Berl<strong>in</strong><br />

Haberl, Roman, Prof. Dr.<br />

Abt. für Neurologie, Städtisches Krankenhaus München-Harlach<strong>in</strong>g,<br />

Sanatoriumsplatz 2, 81545 München<br />

Hartmann, Tobias, Prof. Dr.<br />

Universitätskl<strong>in</strong>ikum des Saarlandes, Kl<strong>in</strong>ik für Neurologie,<br />

Kirrberger Straße, Gebäude 90, 66241 Homburg/Saar<br />

Hentschel, Frank, Prof. Dr.<br />

Zentral<strong>in</strong>stitut für Seelische Ges<strong>und</strong>heit, Abteilung Neuroradiologie,<br />

Mediz<strong>in</strong>ische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg,<br />

J5, 68159 Mannheim<br />

Hirsch, Rolf-Dieter, Prof. Dr. Dr.<br />

LVR-Kl<strong>in</strong>ik Bonn, Abt. für Gerontopsychiatrie,<br />

Kaiser-Karl-R<strong>in</strong>g 20, 53111 Bonn<br />

Jahn, Thomas, Priv.-Doz. Dr.<br />

Kl<strong>in</strong>ik für Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie,<br />

Kl<strong>in</strong>ikum rechts der Isar, Technische Universität München,<br />

Isman<strong>in</strong>ger Straße 22, 81675 München


Autorenverzeichnis<br />

XIX<br />

Kissl<strong>in</strong>g, Werner, Dr.<br />

Kl<strong>in</strong>ik für Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie,<br />

Kl<strong>in</strong>ikum rechts der Isar, Technische Universität München,<br />

Isman<strong>in</strong>ger Straße 22, 81675 München<br />

Kortus, Ra<strong>in</strong>er, Dr.<br />

Gerontopsychiatrische Kl<strong>in</strong>ik, Sonnenberg-Kl<strong>in</strong>iken,<br />

Sonnenbergstraße, 66119 Saarbrücken<br />

Kratz, Torsten, Prof. Dr.<br />

Evangelisches Krankenhaus König<strong>in</strong> Elisabeth Herzberge,<br />

Funktionsbereich Gerontopsychiatrie, Stationen P5 <strong>und</strong> P6,<br />

Herzbergstraße 79, 10365 Berl<strong>in</strong><br />

Kretzschmar, <strong>Hans</strong> A., Prof. Dr.<br />

Institut für Neuropathologie, Kl<strong>in</strong>ikum Großhadern,<br />

Feodor-Lynen-Straße 23, 81377 München<br />

Kurz, Alexander, Prof. Dr.<br />

Kl<strong>in</strong>ik für Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie,<br />

Kl<strong>in</strong>ikum rechts der Isar, Technische Universität München,<br />

Isman<strong>in</strong>ger Straße 22, 81675 München<br />

Lang, Christoph, Prof. Dr.<br />

Neurologische Kl<strong>in</strong>ik, Universitätskl<strong>in</strong>ikum Erlangen,<br />

Schwabachanlage 6, 91054 Erlangen<br />

Lautenschlager, Nicola T., Prof. Dr.<br />

WA Centre for Health and Age<strong>in</strong>g (M573),<br />

School of Psychiatry and Cl<strong>in</strong>ical Neurosciences,<br />

University of Western Australia,<br />

Stirl<strong>in</strong>g Highway, Crawley, Perth, Western Australia 6009<br />

Leucht, Stefan, Priv.-Doz. Dr.<br />

Kl<strong>in</strong>ik für Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie,<br />

Kl<strong>in</strong>ikum rechts der Isar, Technische Universität München,<br />

Isman<strong>in</strong>ger Straße 22, 81675 München


XX Autorenverzeichnis<br />

Mahlberg, Richard, Priv.-Doz. Dr.<br />

Praxen für seelische Ges<strong>und</strong>heit,<br />

Bayreuther Straße 28, 91054 Erlangen<br />

Müller, Rupert, Dr.<br />

Fachkl<strong>in</strong>ik Hirtenste<strong>in</strong>,<br />

Kl<strong>in</strong>ik für alkohol- <strong>und</strong> nikot<strong>in</strong>abhängige Männer,<br />

Hirtenste<strong>in</strong> 1, 87538 Bolsterlang<br />

Natale, Bianca<br />

Kl<strong>in</strong>ik für Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie,<br />

Kl<strong>in</strong>ikum rechts der Isar, Technische Universität München,<br />

Isman<strong>in</strong>ger Straße 22, 81675 München<br />

Perneczky, Robert, Priv.-Doz. Dr.<br />

Kl<strong>in</strong>ik für Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie,<br />

Kl<strong>in</strong>ikum rechts der Isar, Technische Universität München,<br />

Isman<strong>in</strong>ger Straße 22, 81675 München<br />

Siegel, Not-Rupprecht, Dr.<br />

Geriatrische Rehabilitationskl<strong>in</strong>ik,<br />

Bahnhofstraße B 107, 86633 Neuburg<br />

Steenweg, Lydia, Dr.<br />

Fritz-Reuter-Straße 4, 12623 Berl<strong>in</strong><br />

Theml, T<strong>in</strong>a, Dipl.-Psych.<br />

Kl<strong>in</strong>ik für Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie,<br />

Kl<strong>in</strong>ikum rechts der Isar, Technische Universität München,<br />

Isman<strong>in</strong>ger Straße 22, 81675 München<br />

We<strong>in</strong>dl, Adolf, Prof. Dr.<br />

Neurologische Kl<strong>in</strong>ik,<br />

Kl<strong>in</strong>ikum rechts der Isar, Technische Universität München,<br />

Isman<strong>in</strong>ger Straße 22, 81675 München


Autorenverzeichnis<br />

Wohlrab, Doris<br />

Alzheimer Gesellschaft München e.V.,<br />

Josephsburgstraße 92, 81673 München<br />

Wolter, Dirk K., Dr.<br />

Fachbereich Gerontopsychiatrie, Inn-Salzach-Kl<strong>in</strong>ikum,<br />

Gabersee 7, 83512 Wasserburg am Inn<br />

Zaudig, Michael, PD Dr.<br />

Psychosomatische Kl<strong>in</strong>ik, W<strong>in</strong>dach GmbH & Co,<br />

Schützenstraße 16, 86949 W<strong>in</strong>dach<br />

Zilker, Thomas, Prof. Dr.<br />

Toxikologische Abteilung,<br />

II. Med. Kl<strong>in</strong>ik <strong>und</strong> Polikl<strong>in</strong>ik, Kl<strong>in</strong>ikum rechts der Isar,<br />

Isman<strong>in</strong>ger Straße 22, 81675 München<br />

XXI<br />

Zimmer, Re<strong>in</strong>hilde, Dr.<br />

Kl<strong>in</strong>ik für Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie,<br />

Kl<strong>in</strong>ikum rechts der Isar, Technische Universität München,<br />

Isman<strong>in</strong>ger Straße 22, 81675 München


Abkürzungen<br />

A<br />

AACD age<strong>in</strong>g-associated cognitive decl<strong>in</strong>e<br />

AAMI age-associated memory impairment<br />

AAT Aachener-Aphasie-Test<br />

ACMI age-consistent memory impairment<br />

AcoA Arteria communicans anterior<br />

AD Alzheimer-Demenz<br />

ADAS Alzheimer’s Disease Assessment Scale<br />

ADL activities of daily liv<strong>in</strong>g<br />

ApoE Apolipoprote<strong>in</strong> E<br />

APP Amyloidvorläuferprote<strong>in</strong><br />

ASD Allgeme<strong>in</strong>er Sozialdienst<br />

B<br />

BPSD behavioral and psychological symptoms of dementia<br />

BSE bov<strong>in</strong>e spongiforme Enzephalopathie<br />

BSF benign senescent forgetfulness<br />

XXIII<br />

C<br />

CADASIL zerebrale autosomal-dom<strong>in</strong>ante Arteriopathie mit subkortikalen Infarkten<br />

<strong>und</strong> Leukenzephalopathie<br />

CAMDEX Cambridge Mental Disorders of Elderly Exam<strong>in</strong>ation<br />

CDR Cl<strong>in</strong>ical Dementia Rat<strong>in</strong>g<br />

GDS Global Deterioration Scale<br />

CBD kortikobasale Degeneration<br />

CERAD Consortium to Establish a Registry for Alzheimer‘s Disease<br />

CIND cognitively impaired not demented<br />

CJD Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung<br />

CT Computertomographie<br />

CVLT California Verbal Learn<strong>in</strong>g Test<br />

D<br />

DDPAC Dis<strong>in</strong>hibition-Demenz-Park<strong>in</strong>sonismus-Amyotrophie-Komplex<br />

DLDH dementia lack<strong>in</strong>g dist<strong>in</strong>ctive histopathology<br />

DLK Demenz mit Lewy-Körperchen<br />

DRPLA Dentatorubropallido-Luysian-Atrophie<br />

DRS Dementia Rat<strong>in</strong>g Scale<br />

DTI diff usion tensor imag<strong>in</strong>g<br />

DWI diff usion-weighted imag<strong>in</strong>g


XXIV Abkürzungen<br />

E<br />

EEG Elektroenzephalographie<br />

EKT Elektrokrampftherapie<br />

EP evozierte Potenziale<br />

EPS extrapyramidalmotorische Störung<br />

ET Er<strong>in</strong>nerungstherapie<br />

F<br />

FFI tödliche familiäre Insomnie<br />

FLAIR fl uid attenuated <strong>in</strong>version recovery<br />

fMRT funktionelle Magnetresonanztomographie<br />

FRA fokale retrograde Amnesie<br />

FTD frontotemporale Demenz<br />

FTLD frontotemporale Lobärdegeneneration<br />

G<br />

GdB Grad der Beh<strong>in</strong>derung<br />

GDS Geriatric Depression Scale<br />

GSS Gerstmann-Sträussler-Sche<strong>in</strong>ker-Syndrom<br />

H<br />

HAWIE Hamburg-Wechsler Intelligenztest für Erwachsene<br />

HCV Hepatitis-C-Virus<br />

HIS Hach<strong>in</strong>ski-Ischämie-Score<br />

HIV humanes Imm<strong>und</strong>efi zienzvirus<br />

HRV Herzratenvariabilität<br />

5-HT Seroton<strong>in</strong><br />

HYVET-COG Hypertension <strong>in</strong> the Very Elderly Trial – cognitive function assessment<br />

I<br />

ICBG idiopathische Kalzifi kation der Basalganglien<br />

IPS idiopathisches Park<strong>in</strong>son-Syndrom<br />

K<br />

KZG Kurzzeitgedächtnis<br />

L<br />

LKB leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung<br />

LLF late-life forgetfulness<br />

LZG Langzeitgedächtnis<br />

M<br />

MCI mild cognitive impairment<br />

MDK mediz<strong>in</strong>ischer Dienst der Krankenkassen<br />

MDMA 3,4-Methylendioxymethanamphetam<strong>in</strong> (Ecstasy)


Abkürzungen<br />

XXV<br />

MELAS mitochondrial encephalopathy with lactic acidosis and stroke-like episodes<br />

MHT Multisystem-hereditäre Tauopathien<br />

MID Multi<strong>in</strong>farktdemenz<br />

MTI magnetisation transfer imag<strong>in</strong>g<br />

MMSE M<strong>in</strong>i-Mental State Exam<strong>in</strong>ation<br />

MP Morbus Park<strong>in</strong>son<br />

MPD Morbus Park<strong>in</strong>son mit Demenz<br />

MRT Magnetresonanztomographie<br />

MS multiple Sklerose<br />

MSA Multisystematrophie<br />

MT Milieutherapie<br />

N<br />

NAI Nürnberger Alters<strong>in</strong>ventar<br />

NBIA neurodegeneration with bra<strong>in</strong> iron accumulation,<br />

ehemals M. Hallervorden-Spatz<br />

NDH Normaldruckhydrozephalus<br />

NFT neurofi brillary tangles<br />

NICE Institute for Health and Cl<strong>in</strong>ical Excellence<br />

NSE neuronenspezifi sche Enolase<br />

O<br />

OPCA olivopontozerebelläre Atrophie<br />

P<br />

PA progrediente unfl üssige Aphasie<br />

PCP Phencyclid<strong>in</strong><br />

PET Positronenemissionstomographie<br />

PHF paired helical fi laments<br />

PPA primär progessive Aphasie<br />

PPND pallidopontonigrale Degeneration<br />

PROGRESS Per<strong>in</strong>dopril Protection aga<strong>in</strong>st Recurrent Stroke Study<br />

PSP progressive supranukleäre Parese<br />

PTA posttraumatische Amnesie<br />

PWI perfusion-weighted imag<strong>in</strong>g<br />

R<br />

ROT Realitätsorientierungstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />

S<br />

SAE subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie<br />

SCOPE Study on Cognition and Prognosis <strong>in</strong> the Elderly<br />

SD semantische Demenz<br />

SDS Shy-Drager-Syndrom


XXVI Abkürzungen<br />

SET Selbsterhaltungstherapie<br />

SHEP Systolic Hypertension <strong>in</strong> the Elderly Program<br />

SIDAM Strukturiertes Interview für die Diagnose der Demenz vom Alzheimer-Typ,<br />

der Multi<strong>in</strong>farktdemenz <strong>und</strong> <strong>Demenzen</strong> anderer Ätiologie nach DSM III-R<br />

<strong>und</strong> ICD-10<br />

SISCO SIDAM-Gesamt-Score<br />

SND striatonigrale Degeneration<br />

SRO Steele-Richardson-Olszewki-Syndrom<br />

SSPE subakut sklerosierende Panenzephalitis<br />

SSRI selektive Seroton<strong>in</strong>wiederaufnahmehemmer<br />

SPECT S<strong>in</strong>gle Photon Emission Computed Tomography<br />

T<br />

TEA transitorische epileptische Amnesie<br />

TECA transitorische Elektrokonvulsionsamnesie<br />

TGA transitorische globale Amnesie<br />

THC Tetrahydrocannab<strong>in</strong>ol<br />

TIA transiente ischämische Attacke<br />

TPHA Treponema-pallidum-Hämagglut<strong>in</strong>ations-Assay<br />

U<br />

UAW unerwünschte Arzneimittelwirkung<br />

UKZG Ultrakurzzeitgedächtnis<br />

V<br />

VD vaskuläre Demenz<br />

VKT verhaltentherapeutisches Kompetenztra<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />

VZ Verwirrtheitszustand<br />

W<br />

WCST Wiscons<strong>in</strong>-Card-Sort<strong>in</strong>g-Test<br />

WHIMS Women’s Health Initiative Memory Study


<strong>Theorie</strong><br />

1 Was ist Demenz? – 3<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong> <strong>und</strong> Christoph Lang<br />

2 Gedächtnisfunktionen <strong>und</strong> Gedächtnisstrukturen – 11<br />

Pasquale Calabrese, Christoph Lang <strong>und</strong> <strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong><br />

3 »Leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung« im Alter – 25<br />

Michael Zaudig<br />

4 Alzheimer-Demenz – 47<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong>, Alexander Kurz <strong>und</strong> Tobias Hartmann<br />

5 Alzheimer-Demenz mit präsenilem Beg<strong>in</strong>n –<br />

Besonderheiten <strong>in</strong> Diagnostik, Therapie<br />

<strong>und</strong> Management – 73<br />

Bianca Natale, Doris Wohlrab, Bett<strong>in</strong>a Förtsch,<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong>, Alexander Kurz <strong>und</strong> Jan<strong>in</strong>e Diehl-Schmid<br />

6 Morbus B<strong>in</strong>swanger<br />

<strong>und</strong> andere vaskuläre <strong>Demenzen</strong> – 93<br />

Roman L. Haberl<br />

7 »Park<strong>in</strong>son Plus«/Demenz mit Lewy-Körperchen,<br />

Chorea Hunt<strong>in</strong>gton <strong>und</strong> andere <strong>Demenzen</strong><br />

bei Basalganglienerkrankungen – 113<br />

Adolf We<strong>in</strong>dl<br />

1<br />

I


8 Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung<br />

<strong>und</strong> andere Prionkrankheiten – 145<br />

<strong>Hans</strong> A. Kretzschmar <strong>und</strong> <strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong><br />

9 Pick-Komplex: frontotemporale<br />

Lobärdegenerationen – 155<br />

Adrian Danek<br />

10 Wernicke-Korsakow-Syndrom<br />

<strong>und</strong> andere amnestische Syndrome – 173<br />

Pasquale Calabrese, Dirk Wolter <strong>und</strong> <strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong><br />

11 Verwirrtheitszustände – 191<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong> <strong>und</strong> Horst Bickel<br />

12 Medikamenten-, Drogen-<br />

<strong>und</strong> Alkoholabhängigkeit – 211<br />

Rupert Müller <strong>und</strong> Th omas Zilker<br />

13 Depression <strong>und</strong> Dissoziation:<br />

Ganser-Syndrom <strong>und</strong> andere – 233<br />

Re<strong>in</strong>hilde Zimmer <strong>und</strong> <strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong><br />

14 Spätschizophrenie <strong>und</strong> chronische Schizophrenie<br />

im höheren Lebensalter – 241<br />

Stefan Leucht <strong>und</strong> Werner Kissl<strong>in</strong>g


Was ist »Demenz«?<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong> <strong>und</strong> Christoph Lang<br />

3<br />

1.1 Diagnosekriterien nach ICD-10 <strong>und</strong> DSM-IV – 4<br />

1.2 Epidemiologie – 7<br />

Literatur – 9<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_1,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

1


1<br />

4 Kapitel 1 · Was ist »Demenz«?<br />

Zum Thema<br />

Demenz ist e<strong>in</strong> schwerwiegender Verlust der geistigen Leistungsfähigkeit aufgr<strong>und</strong><br />

e<strong>in</strong>er ausgeprägten <strong>und</strong> lang anhaltenden Funktionsstörung des Gehirns.<br />

1.1 Diagnosekriterien nach ICD-10 <strong>und</strong> DSM-IV<br />

Sowohl entsprechend der 10. Revision der Internationalen Krankheitsklassifi -<br />

kation (ICD-10) (Weltges<strong>und</strong>heitsorganisation 2006) als auch der 4. Revision<br />

des Diagnostischen <strong>und</strong> Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-<br />

IV) (American Psychiatric Association 1994) gelten die folgenden Merkmale<br />

für die Diagnose e<strong>in</strong>er »organisch« bed<strong>in</strong>gten psychischen Störung:<br />

4 Ursachennachweis: Objektiver Nachweis (anhand körperlicher, neurologischer<br />

<strong>und</strong> laborchemischer Untersuchungen oder der Anamnese) e<strong>in</strong>er<br />

zerebralen Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung bzw. e<strong>in</strong>er systemischen<br />

Krankheit, von der bekannt ist, dass sie e<strong>in</strong>e zerebrale Funktionsstörung<br />

verursachen kann.<br />

4 Zeitkriterium 1: E<strong>in</strong> wahrsche<strong>in</strong>licher Zusammenhang zwischen der Entwicklung<br />

(oder e<strong>in</strong>er deutlichen Verschlechterung) der zugr<strong>und</strong>e liegenden<br />

Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung <strong>und</strong> der psychischen<br />

Störung, deren Symptome gleichzeitig oder verzögert auft reten.<br />

4 Zeitkriterium 2: Rückbildung oder deutliche Besserung der psychischen<br />

Störung nach Rückbildung oder Besserung der vermutlich zugr<strong>und</strong>e liegenden<br />

Faktoren.<br />

4 Ausschlusskriterium: Ke<strong>in</strong> ausreichender <strong>und</strong> überzeugender Beleg für<br />

e<strong>in</strong>e andere (psychogene) Verursachung der psychischen Störung.<br />

Notwendig s<strong>in</strong>d also der objektive Nachweis e<strong>in</strong>er relevanten biologischen<br />

Krankheitsursache sowie e<strong>in</strong>es plausiblen Zusammenhangs zwischen der Entwicklung<br />

von biologischer Ursache <strong>und</strong> psychischer Auswirkung. Dies gel<strong>in</strong>gt<br />

bei den meisten Patienten. Das zweite Zeitkriterium ist jedoch bei z. B. chronisch<br />

degenerativ fortschreitenden Demenzformen trotz wirksamer symptomatischer<br />

Th erapiemöglichkeiten nicht immer zu erfüllen. Aff ektive <strong>und</strong><br />

schizophrene Erkrankungen des höheren Lebensalters können e<strong>in</strong>er Demenz<br />

mitunter symptomatisch ähneln <strong>und</strong> müssen diff erenzialdiagnostisch erwogen<br />

werden, ehe von e<strong>in</strong>er alle<strong>in</strong>igen Relevanz der nachgewiesenen organischen<br />

Gr<strong>und</strong>lage ausgegangen wird.


1.1 · Diagnosekriterien nach ICD-10 <strong>und</strong> DSM-IV<br />

. Tab. 1.1 Diagnosekriterien für e<strong>in</strong> Demenzsyndro m nach der 10. Revision der<br />

Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10-R, Forschungskriterien)<br />

<strong>und</strong> der 4. Revision des Diagnosemanuals psychischer Erkrankungen (DSM-IV)<br />

Merkmal ICD-10-R DSM-IV<br />

Gedächtnisstörung<br />

Andere<br />

kognitive<br />

Defizite<br />

Störungen<br />

von Erleben<br />

<strong>und</strong> Verhalten<br />

Schwellenkriterium<br />

Amnesie (objektivierbare<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigung v. a. beim<br />

Lernen neuer Informatio nen)<br />

Urteilsfähigkeit,<br />

Denkvermögen<br />

Störung von Affektkontrolle,<br />

Antrieb oder Sozialverhalten<br />

(emotionale Labilität,<br />

Reizbarkeit, Apathie,<br />

Vergröberung des Verhaltens) a<br />

Amnesie<br />

Die Diagnosekriterien für e<strong>in</strong> Demenzsyndrom werden <strong>in</strong> ICD-10 <strong>und</strong><br />

DSM-IV – mit kle<strong>in</strong>en Abweichungen – ähnlich formuliert (. Tab. 1.1).<br />

Nach der 10. Revision der Internationalen Klassifi kation psychischer Störungen<br />

(ICD-10) handelt es sich um e<strong>in</strong> Syndrom mit den <strong>in</strong> . Tab. 1.1 genannten<br />

Merkmalen.<br />

5<br />

Aphasie, Apraxie, Agnosie,<br />

dysexekutives Syndrom<br />

(Planen, Organisieren) a<br />

(. Tab. 1.2) Signifikante Bee<strong>in</strong>trächtigung<br />

der sozialen <strong>und</strong> beruflichen<br />

Leistungen (acitivities of daily<br />

liv<strong>in</strong>g, ADL)<br />

Dauer M<strong>in</strong>destens 6 Monate –<br />

Ausschluss Verwirrtheitszustand Ke<strong>in</strong>e rasch e<strong>in</strong>setzende<br />

Bewusstse<strong>in</strong>strübung<br />

(Verwirrtheitszustand), ke<strong>in</strong>e<br />

Verursachung durch andere,<br />

primär psychischen Leiden<br />

(z. B. Depression, Schizophrenie)<br />

a M<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>es der Merkmale muss erfüllt se<strong>in</strong>.<br />

–<br />

1


1<br />

6 Kapitel 1 · Was ist »Demenz«?<br />

Beim Demenzsyndrom handelt es sich also – im Gegensatz zur M<strong>in</strong>derbegabung<br />

– um e<strong>in</strong>e sek<strong>und</strong>äre Verschlechterung e<strong>in</strong>er vorher größeren geistigen<br />

Leistungsfähigkeit. Nach ICD-10 muss neben dem Gedächtnis m<strong>in</strong>destens<br />

e<strong>in</strong>e weitere <strong>in</strong>tellektuelle Funktion bee<strong>in</strong>trächtigt se<strong>in</strong> (z. B. Urteilsfähigkeit,<br />

Denkvermögen, Planen). Zur Abgrenzung gegen vorübergehende Leistungsstörungen<br />

wird e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>destdauer von e<strong>in</strong>em halben Jahr gefordert. Die<br />

geistige Leistungsfähigkeit sollte nicht etwa durch e<strong>in</strong>en passageren Verwirrtheitszustand<br />

herabgesetzt se<strong>in</strong>, der durch e<strong>in</strong>e stärkere Bee<strong>in</strong>trächtigung des<br />

»Bewusstse<strong>in</strong>s« charakterisiert ist, also durch besonders deutliche Störungen<br />

von Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Konzentration mit auff allenden Leistungsschwankungen<br />

. Neben diesen <strong>in</strong>tellektuellen Defi ziten fallen häufi g Veränderungen<br />

der Gemütslage, des Antriebs <strong>und</strong> des Sozialverhaltens auf.<br />

Im DSM-IV werden Störungen des Erlebens <strong>und</strong> Verhaltens nicht als obligate<br />

Diagnosemerkmale e<strong>in</strong>er Demenz aufgefasst, auch fehlt das <strong>in</strong> der ICD-<br />

10 geforderte Zeitkriterium von 6 Monaten.<br />

> Die Symptome müssen so schwerwiegend se<strong>in</strong>, dass sie zu e<strong>in</strong>er deutlichen<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigung der Alltagsbewältigung führen. Erst dann<br />

darf man von e<strong>in</strong>er zum<strong>in</strong>dest leichten Demenz sprechen.<br />

Die Abgrenzung der Demenzstadien nach ICD-10 ist <strong>in</strong> . Tab. 1.2 zusammengefasst.<br />

Die Schwelle zur Demenz ist überschritten, sobald e<strong>in</strong> Patient die kl<strong>in</strong>ischen<br />

Kriterien e<strong>in</strong>es leichten Stadiums erfüllt. Die Grenze zwischen leicht<br />

dement <strong>und</strong> noch altersnormal ist jedoch ke<strong>in</strong>eswegs scharf zu ziehen. In den<br />

letzten Jahren wurde verstärkt versucht, Licht <strong>in</strong> diese Grauzone zwischen<br />

e<strong>in</strong>deutig ges<strong>und</strong> <strong>und</strong> e<strong>in</strong>deutig dement zu br<strong>in</strong>gen. Der klare <strong>und</strong> leicht verständliche<br />

Begriff »leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung« (mild cognitive impairment,<br />

MCI) darf nicht als klare nosologische Krankheitse<strong>in</strong>heit verstanden<br />

werden, sondern beschreibt das gegenwärtige Stadium der Unkenntnis.<br />

Kompliziert wird die Welt der demenziellen Erkrankungen noch dadurch,<br />

dass es heute immer früher <strong>und</strong> besser gel<strong>in</strong>gt, zugr<strong>und</strong>e liegende Dispositionen<br />

<strong>und</strong> kl<strong>in</strong>isch noch stille Hirnveränderungen zu entdecken (z. B. neurodegenerative<br />

Alzheimer-Veränderungen). Auf der anderen Seite erleben<br />

durch die besseren Behandlungsmöglichkeiten immer mehr Patienten mit Erkrankungen,<br />

die bisher weniger mit Demenz assoziiert wurden, späte Stadien,<br />

<strong>in</strong> denen auch schwerwiegende kognitive Störungen auft reten können (z. B.<br />

Morbus Park<strong>in</strong>son). Damit wird die Notwendigkeit immer deutlicher, kon-


1.2 · Epidemiologie<br />

. Tab. 1.2 Schweregrade e<strong>in</strong>es Demenzsyndroms <strong>in</strong> Anlehnung an ICD-10<br />

Schweregrad Gedächtnis <strong>und</strong> andere geistige<br />

Leistungen<br />

Leicht Herabgesetztes Lernen neuen<br />

Materials, z. B. Verlegen von<br />

Gegenständen, Vergessen von<br />

Verabredungen <strong>und</strong> neuer<br />

Informationen<br />

Mittelgradig Nur gut gelerntes <strong>und</strong> vertrautes<br />

Material wird behalten<br />

Neue Informationen werden nur<br />

gelegentlich <strong>und</strong> sehr kurz<br />

er<strong>in</strong>nert<br />

Patienten s<strong>in</strong>d unfähig, gr<strong>und</strong>legende<br />

Informationen darüber,<br />

wie, wo sie leben, was sie bis vor<br />

kurzem getan haben, oder<br />

Namen vertrauter Personen zu<br />

er<strong>in</strong>nern<br />

Schwer Schwerer Gedächtnisverlust <strong>und</strong><br />

Unfähigkeit, neue Informationen<br />

zu behalten<br />

Nur Fragmente von früher<br />

Gelerntem bleiben erhalten<br />

Selbst enge Verwandte werden<br />

nicht mehr erkannt<br />

7<br />

1<br />

zeptionell zwischen dem kl<strong>in</strong>ischen Demenzsyndrom <strong>und</strong> den unterschiedlichen<br />

zugr<strong>und</strong>e liegenden Erkrankungen zu trennen. Hier hält der kl<strong>in</strong>ische<br />

Jargon nicht Schritt mit dem wissenschaft lichen Fortschritt.<br />

1.2 Epidemiologie<br />

Alltagsaktivitäten<br />

Unabhängiges Leben möglich<br />

Komplizierte tägliche<br />

Auf gaben oder Freizeitbeschäftigungen<br />

können<br />

nicht mehr ausgeführt werden<br />

Ernste Beh<strong>in</strong>derung<br />

unabhängigen Lebens:<br />

Selbstständiges E<strong>in</strong>kaufen<br />

oder Umgang mit Geld nicht<br />

mehr möglich<br />

Nur noch e<strong>in</strong>fache häusliche<br />

Tätigkeiten möglich<br />

Fehlen nachvollziehbarer<br />

Gedankengänge<br />

In der westlichen Welt leiden etwa 6–8% der Bevölkerung über 65 Jahre unter<br />

mittelschweren <strong>und</strong> schweren Demenzformen. Es wird geschätzt, dass sich


1<br />

8 Kapitel 1 · Was ist »Demenz«?<br />

. Abb. 1.1 Die Häufi gkeit der <strong>Demenzen</strong> nimmt mit dem Alter exponentiell zu. Da die<br />

höchsten Altersgruppen jedoch nur schwach besetzt s<strong>in</strong>d, ergibt sich für die tatsächliche<br />

Altersverteilung der Demenzerkrankungen <strong>in</strong> der Bevölkerung jedoch obiges Bild (s. auch<br />

7 Kap. 11). Blau Männer, weiß Frauen<br />

noch e<strong>in</strong>mal 6–8% der Altenbevölkerung <strong>in</strong> fraglichen oder leichten Demenzstadien<br />

befi nden. Derzeit s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der B<strong>und</strong>esrepublik mehr als 1 Mio. Menschen<br />

an e<strong>in</strong>er Demenz erkrankt. Mit steigender Lebenserwartung ist e<strong>in</strong> weiteres<br />

Anwachsen des Demenzproblems zu befürchten (. Abb. 1.1). Das Problem<br />

Demenz betrifft <strong>in</strong> zunehmendem Maße auch die Schwellenländer. Die<br />

ökonomische Belastung durch die wachsende Zahl dementer Patienten stellt<br />

dort noch e<strong>in</strong>e weit größere Herausforderung dar als im Westen.<br />

Die Alzheimer-Demenz (AD) gilt als häufi gste Demenzform (Dubois<br />

et al. 2009). Tatsächlich s<strong>in</strong>d aber die <strong>Demenzen</strong> mit gemischten neurodegenerativen<br />

<strong>und</strong> vaskulären Hirnveränderungen weitaus häufi ger als die »re<strong>in</strong>e«<br />

Alzheimer-Demenz – wobei die meisten älteren dementen Patienten tatsächlich<br />

erhebliche Alzheimer-Plaques <strong>und</strong> -Neurofi brillen aufweisen (Zaccai<br />

et al. 2006).


Literatur<br />

9<br />

1<br />

Selbst Experten fällt es immer wieder schwer zu unterscheiden zwischen<br />

(1) dem Demenzsyndrom , (2) der AD <strong>und</strong> (3) der Alzheimer-Krankheit<br />

(= den neurodegenerativen Alzheimer-Veränderungen) als neuropathischer<br />

Gr<strong>und</strong>lage e<strong>in</strong>er Demenz .<br />

Zahlenmäßig bedeutendster Risikofaktor der AD ist das Alter ; daraus<br />

resultiert der exponentielle altersabhängige Anstieg der <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong>sgesamt.<br />

Frühestes <strong>und</strong> zentrales kognitives Defi zit der AD <strong>und</strong> e<strong>in</strong>iger anderer Demenzformen<br />

ist die Störung des Gedächtnisses. Die anatomischen Strukturen,<br />

welche dem Gedächtnis zugr<strong>und</strong>e liegen, werden bei der AD <strong>und</strong> e<strong>in</strong>igen<br />

anderen Demenzformen besonders schwer geschädigt. In 7 Kap. 2 werden das<br />

Gedächtnis <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Gr<strong>und</strong>lagen genauer erläutert, ehe die e<strong>in</strong>zelnen Demenzerkrankungen,<br />

ihre Vorstadien <strong>und</strong> ihre Diff erenzialdiagnose dargestellt<br />

werden. Durch neue neurobiologische E<strong>in</strong>sichten <strong>und</strong> Ideen zu e<strong>in</strong>er möglichst<br />

frühzeitigen <strong>und</strong> kausalen Behandlung kommt das konventionelle Demenzkonzept<br />

<strong>in</strong>s Schwanken, so z. B. das Zeitkriterium, aber auch die zentrale<br />

Bedeutung der Gedächtnisstörung, die bei der frontotemporalen Degeneration<br />

fehlen kann (Rockwood et al. 2007).<br />

Literatur<br />

American Psychiatric Association (APA) (1994) Diagnostic and Statistical Manual of Mental<br />

Disorders, 4th revision (DSM-IV). APA, Wash<strong>in</strong>gton, DC<br />

Dubois B, Picard G, Saraz<strong>in</strong> M (2009) Early detection of Alzheimer’s disease: new diagnostic<br />

criteria. Dialogues Cl<strong>in</strong> Neurosci 11: 135–139<br />

Rockwood K, Bouchard RW, Camicioli R, Leger G (2007) Toward a revision of criteria for the<br />

dementias. Alzheimer‘s Dementia 3(4): 428–440<br />

Weltges<strong>und</strong>heitsorganisation (WHO) (2006) Internationale Klassifi kation Psychischer Störungen<br />

ICD-10, Kap. V (F) Forschungskriterien. Huber, Bern<br />

Zaccai J, Ince P, Brayne C (2006) Population-based neuropathological studies of dementia:<br />

design, methods and areas of <strong>in</strong>vestigation – a systematic review. BMC Neurology 6: 2


11 11<br />

Gedächtnisfunktionen<br />

<strong>und</strong> Gedächtnisstrukturen<br />

Pasquale Calabrese, Christoph Lang <strong>und</strong> <strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong><br />

2.1 Zeitliche Aufteilung des Gedächtnisses – 12<br />

2.2 Inhaltliche Auff ächerung des Gedächtnisses – 14<br />

2.3 Funktionelle Neuroanatomie<br />

des Gedächtnisses – 15<br />

2.<strong>3.</strong>1 Arbeitsgedächtnis, Informationsselektion<br />

<strong>und</strong> Emotionen – präfrontaler Kortex<br />

<strong>und</strong> basales Vorderhirn – 16<br />

2.4 Transfer, Konsolidierung <strong>und</strong> Ablagerung<br />

<strong>in</strong> das Langzeitgedächtnis –<br />

das mediale Temporallappensystem,<br />

das mediale dienzephale System<br />

<strong>und</strong> die besondere Rolle des Hippokampus – 19<br />

2.4.1 Der Hippokampuskomplex – 20<br />

2.5 Abruf aus dem Langzeitgedächtnis –<br />

frontotemporale Interaktion – 21<br />

2.5.1 Retrograde Amnesien – 21<br />

2.6 Nichtdeklarative Gedächtnisleistungen –<br />

Basalganglien <strong>und</strong> Kle<strong>in</strong>hirn – 22<br />

2.7 Bedeutung für die <strong>Praxis</strong> – 23<br />

Literatur – 23<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_2,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

2


2<br />

12 Kapitel 2 · Gedächtnisfunktionen <strong>und</strong> Gedächtnisstrukturen<br />

Zum Thema<br />

»Gedächtnis« ist der Oberbegriff für e<strong>in</strong>e Vielzahl sowohl zeitlich als auch <strong>in</strong>haltlich<br />

differenzierbarer Lern- <strong>und</strong> Er<strong>in</strong>nerungsleistungen . Gedächtnis erlaubt e<strong>in</strong>e<br />

Entwicklung von Wissen, e<strong>in</strong>e erfolgreiche Anpassung des Verhaltens <strong>und</strong> trägt<br />

damit zur Optimierung <strong>in</strong> Individuum <strong>und</strong> Art bei. Es ermöglicht e<strong>in</strong> zeitlich geordnetes<br />

<strong>und</strong> <strong>in</strong>haltlich kohärentes Bild von unserer Umwelt <strong>und</strong> von uns selbst.<br />

Die Bedeutung des Gedächtnisses wird durch se<strong>in</strong>e Störungen bei Hirnfunktionsstörungen<br />

verdeutlicht. Dementsprechend soll diesem kognitiven Bereich e<strong>in</strong>e<br />

eigene Darstellung gewidmet werden. Hierbei werden sowohl gr<strong>und</strong>legende<br />

Modell-, Struktur- <strong>und</strong> Funktionszusammenhänge als auch Aspekte von praktisch-diagnostischer<br />

Relevanz veranschaulicht.<br />

2.1 Zeitliche Aufteilung des Gedächtnisses<br />

Am e<strong>in</strong>fachsten lassen sich die Gedächtnisfunktionen nach der zeitlichen Abfolge<br />

unterteilen, <strong>in</strong> der e<strong>in</strong>gehende Informationen wahrgenommen, verarbeitet,<br />

gespeichert <strong>und</strong> abgerufen werden (Squire u. Kandel 2009) . So sprechen<br />

wir von Ultrakurzzeitgedächtnis (UKZG), wenn wir e<strong>in</strong>e im Bereich<br />

von Millisek<strong>und</strong>en liegende Informationsrepräsentation me<strong>in</strong>en . Diese Ebene<br />

beschreibt die früheste Stufe der Reizwahrnehmung über die Sensorik <strong>und</strong> die<br />

sich hieran anschließenden zentralen Hirnstrukturen. Hier fi nden sich Umschreibungen<br />

wie »ikonisches Gedächtnis «, »echoisches Gedächtnis « oder<br />

»akustisches Gedächtnis «, die sich zumeist an dem zugr<strong>und</strong>e liegenden sensorischen<br />

Verarbeitungsmodus orientieren.<br />

Wenngleich die Zeitspanne <strong>in</strong> Abhängigkeit von der sensorischen Modalität<br />

variiert, ermöglicht dieser <strong>in</strong>termediäre Zustand e<strong>in</strong>e Merkmalsextraktion<br />

<strong>und</strong> bereitet somit den Weg für die darauf folgende Enkodierung (d. h.<br />

die E<strong>in</strong>bettung <strong>in</strong> zeitliche <strong>und</strong>/oder räumliche <strong>und</strong>/oder semantische Relationen).<br />

Dieser Enkodierungsvorgang fi ndet im Kurzzeitgedächtnis (KZG)<br />

statt . Hierbei kann diese im Sek<strong>und</strong>enbereich liegende Behaltensleistung<br />

durch den Vorgang der <strong>in</strong>neren Wiederholung (rehearsal) zeitlich ausgedehnt<br />

<strong>und</strong> durch s<strong>in</strong>nvolle Gruppierung von E<strong>in</strong>zelelementen <strong>in</strong> sog. chunks (oder<br />

Bedeutungse<strong>in</strong>heiten) auch <strong>in</strong>haltlich erweitert werden.<br />

Die Behaltenskapazität des Kurzzeitgedächtnisses liegt bei 7 ± 2 Bedeutungse<strong>in</strong>heiten.<br />

Die erfolgreiche Überführung <strong>und</strong> langfristige Verankerung<br />

der aufgenommenen Informationen hängt vom Verarbeitungsstil ab. Gr<strong>und</strong>-


2.1 · Zeitliche Aufteilung des Gedächtnisses<br />

13<br />

2<br />

sätzlich gilt, dass e<strong>in</strong>e Information umso besser behalten wird, je »tiefer« sie<br />

enkodiert wird (so lässt sich z. B. das Wort »Zahnarzt« nach dem Kriterium<br />

»Anzahl des Buchstaben Z im Wort« = oberfl ächliche Verarbeitung, oder<br />

nach dem Kriterium »Heilberuf« = tiefe Verarbeitung enkodieren). Diese<br />

»Tiefe« der Enkodierung wird über den Aufb au räumlicher, zeitlicher <strong>und</strong> semantischer<br />

Relationen zwischen dargebotenen <strong>und</strong> bereits verfestigten Inhalten<br />

gefördert. Dies ist e<strong>in</strong>e »Arbeit«, die über e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Behaltenskapazität<br />

h<strong>in</strong>ausgeht, <strong>und</strong> erfordert somit die Erstellung <strong>in</strong>terner Beziehungen unter<br />

komb<strong>in</strong>atorisch-selektiven <strong>und</strong> assoziativen Gesichtspunkten. Diese Fähigkeit<br />

drückt sich im Konzept des Arbeitsgedächtnisses (work<strong>in</strong>g memory) aus .<br />

Hiermit ist die Fähigkeit geme<strong>in</strong>t, neue Informationen aufzunehmen <strong>und</strong><br />

gleichzeitig objektgelöst <strong>und</strong> nötigenfalls unter Beachtung von bestimmten<br />

Sequenz- <strong>und</strong> Hierarchieregeln manipulieren zu können. Hierbei kann ggf.<br />

auch die Aktivierung bereits gespeicherter Informationen (z. B. Aktualisierung,<br />

Vergleichen, Zwischensummen bilden etc.) erforderlich se<strong>in</strong>. Sowohl<br />

die Fähigkeit zur Ableitung komplexer mathematischer Formeln als auch das<br />

Verstehen von komplexen Sätzen sowie die Problemlösefähigkeit <strong>und</strong> das <strong>in</strong>tentionale<br />

Planen <strong>und</strong> Handeln hängen wesentlich von der Funktions<strong>in</strong>tegrität<br />

des Arbeitsgedächtnisses ab.<br />

Vorausplanendes Denken <strong>und</strong> Memorieren kann sich auch auf Handlungen<br />

<strong>und</strong> Handlungspläne beziehen, die erst <strong>in</strong> nächster Zukunft relevant<br />

werden. In diesem Falle spricht man von prospektivem Gedächtnis (»Er<strong>in</strong>nern,<br />

sich zu er<strong>in</strong>nern« ). Diese Fähigkeit sche<strong>in</strong>t ebenfalls eng mit der Integrität<br />

des Arbeitsgedächtnisses verknüpft zu se<strong>in</strong>, da auch hierbei unter Berücksichtigung<br />

e<strong>in</strong>er <strong>in</strong> die Zukunft reichenden chronologisch geordneten Abfolge<br />

bestimmte Verhaltenspläne zeitadäquat aktiviert werden müssen (Goldman-<br />

Rakic et al. 2000).<br />

Schließlich steht an letzter Stelle <strong>in</strong> der Chronologie der Gedächtnisbildung<br />

das Langzeitgedächtnis (LZG) . In diesen Rahmen fällt die langfristige<br />

<strong>und</strong> stabile Konsolidierung des Aufgenommenen (E<strong>in</strong>bettung der enkodierten<br />

Information <strong>in</strong> das bestehende Wissensgefüge). Bezieht man sich bei der fraglichen<br />

Information auf weit zurückliegende Ereignisse, spricht man von Altgedächtnis.<br />

E<strong>in</strong>e entlang e<strong>in</strong>er Zeitachse dargestellte Gedächtnisauft eilung<br />

fi ndet sich <strong>in</strong> . Abb. 2. 1.


2<br />

14 Kapitel 2 · Gedächtnisfunktionen <strong>und</strong> Gedächtnisstrukturen<br />

2.2 Inhaltliche Auff ächerung des Gedächtnisses<br />

Jahre<br />

. Abb. 2.1 Zeitliche Untergliederung der Gedächtnisstufe n. Die Unterscheidung zwischen<br />

Langzeitgedächtnis (LZG) <strong>und</strong> Altgedächtnis (Alt-G) ist ke<strong>in</strong>e qualitative, sondern soll zum<br />

Ausdruck br<strong>in</strong>gen, dass der letztgenannte Term<strong>in</strong>us für Ereignisse gebraucht wird, die auf<br />

der Zeitachse besonders lange (Monate bzw. Jahre) zurückliegen. UKZG Ultrakurzzeitgedächtnis,<br />

KZG Kurzzeitgedächtnis<br />

Die Tatsache, dass verschiedene Informationen unterschiedlich behalten, wiedergegeben<br />

oder vergessen werden, lässt <strong>in</strong>tuitiv vermuten, dass es neben<br />

e<strong>in</strong>er chronologischen Gedächtnisunterteilung auch e<strong>in</strong>e nach Inhalten zu<br />

bestimmende Auff ächerung geben muss.<br />

Tatsächlich wird diese Annahme durch e<strong>in</strong>e Vielzahl von Bef<strong>und</strong>en gestützt,<br />

die sowohl an hirnges<strong>und</strong>en Probanden als auch an hirngeschädigten<br />

Patienten erhoben wurden. Nach dieser <strong>in</strong>haltsorientierten Zuordnung lassen<br />

sich die Gedächtnisleistungen auch domänenspezifi sch unterteilen (. Abb.<br />

2.2).<br />

Demnach unterscheidet man zwischen<br />

4 deklarativen (oder expliziten) <strong>und</strong><br />

4 nichtdeklarativen (oder impliziten) Gedächtnisleistunge n.<br />

Während man unter deklarativen Gedächtnisleistunge n den willentlichen,<br />

bewussten Abruf von entweder räumlich-zeitlich e<strong>in</strong>geb<strong>und</strong>ener Information<br />

(episodisches Gedächtni s) oder aber kontextunabhängiger Wissens<strong>in</strong>halte<br />

(semantisches Gedächtni s oder »Wissenssystem«) versteht, werden unter


2.3 · Funktionelle Neuroanatomie des Gedächtnisses<br />

. Abb. 2.2 Inhaltliche Auff ächerung der Gedächtniskomponenten mit Angabe der hieran<br />

primär beteiligten neuronalen Substrate<br />

15<br />

2<br />

dem nichtdeklarativen Gedächtnis jene Gedächtnisleistungen erfasst, die sich<br />

<strong>in</strong> beobachtbaren <strong>und</strong>/oder messbaren Verhaltensänderungen äußern, ohne<br />

dass die Lernepisode als solche willentlich abgerufen oder er<strong>in</strong>nert werden<br />

kann.<br />

Nichtdeklarative Gedächtnisleistunge n können sich als erhöhte Wiedererkennenswahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />

von wiederholt präsentierten Merkmalen oder<br />

Merkmalseigenschaft en (sog. prim<strong>in</strong>g ) manifestieren oder sich <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er<br />

erleichterten Wiedergabe motorischer Prozeduren (sog. motorisches Lerne n)<br />

oder nichtmotorischer Fertigkeiten bei vorangehender, repetitiver E<strong>in</strong>übung<br />

darstellen. E<strong>in</strong>fache Konditionierungsvorgäng e somatoviszeraler Reaktionen<br />

<strong>und</strong> nichtassoziative Lernvorgänge s<strong>in</strong>d ebenfalls Beispiele für implizite Lernleistungen.<br />

2.3 Funktionelle Neuroanatomie des Gedächtnisses<br />

Durch die detaillierte neuropsychologische (Verhaltens-)Analyse der Testleistungen<br />

von ges<strong>und</strong>en Probanden <strong>und</strong> hirngeschädigten Patienten sowie<br />

mithilfe moderner statistischer <strong>und</strong> dynamischer bildgebender Verfahren<br />

lassen sich viel konkretere Aussagen h<strong>in</strong>sichtlich der für die verschiedenen


2<br />

16 Kapitel 2 · Gedächtnisfunktionen <strong>und</strong> Gedächtnisstrukturen<br />

Gedächtnisleistungen relevanten kortikalen <strong>und</strong> subkortikalen Strukturen ableiten<br />

(Roy u. Park 2010, Squire u. Kandel 2009 ). Nach heutigem Verständnis<br />

lassen sich auf anatomischer Ebene mehrere Subsysteme identifi zieren, die<br />

direkt oder <strong>in</strong>direkt für die E<strong>in</strong>speicher-, Konsolidierungs- <strong>und</strong> Abrufprozesse<br />

e<strong>in</strong>e herausragende Rolle spielen (. Abb. 2.3).<br />

Wichtige Subsysteme für die Informationsverarbeitung<br />

<strong>und</strong> -speicherung<br />

4 Das mediale Temporallappensyste m<br />

4 Das mediale dienzephale Syste m<br />

4 Das basale Vorderhirnsyste m<br />

4 Die präfrontale Kortexregio n<br />

Der Chronologie der Gedächtnisverarbeitun g folgend soll zunächst auf das<br />

morphologische Substrat des Arbeitsgedächtnisses e<strong>in</strong>gegangen werden. Anschließend<br />

werden die wichtigsten E<strong>in</strong>speicher- <strong>und</strong> Konsolidierungssysteme<br />

genannt. Schließlich wird am Beispiel des Abrufs aus dem Altgedächtnis die<br />

hochgradige Vernetzung dieser verschiedenen Systeme untere<strong>in</strong>ander demonstriert.<br />

2.<strong>3.</strong>1 Arbeitsgedächtnis, Informationsselektion<br />

<strong>und</strong> Emotionen – präfrontaler Kortex<br />

<strong>und</strong> basales Vorderhirn<br />

Neben der assoziativen Speicherung von Informationen müssen diese auch<br />

optional <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit dem bereits verfügbaren Wissensbestand <strong>in</strong> rascher<br />

<strong>und</strong> fl exibler, d. h. situationsangepasster Form zur Problemlösung genutzt<br />

werden können. Dies erfordert e<strong>in</strong>en ständigen Austausch <strong>und</strong> Abgleich<br />

von Bewusstse<strong>in</strong>sstrom <strong>und</strong> bereits gespeicherter Information. Während im<br />

Kurzzeitgedächtnis e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> ihrem Umfang begrenzte Menge von Informationen<br />

über e<strong>in</strong>en Zeitraum von nur wenigen Sek<strong>und</strong>en <strong>in</strong> statischer Form behalten<br />

werden kann, hebt sich das Konzept des Arbeitsgedächtnisse s <strong>in</strong>sbesondere<br />

durch die Betonung des manipulativen Aspekts hiervon ab, d. h., e<strong>in</strong>e<br />

e<strong>in</strong>treff ende Information kann hierdurch selektiert, zwischengelagert, chro-


2.3 · Funktionelle Neuroanatomie des Gedächtnisses<br />

. Abb. 2.3 Schematische Lateralansicht des Gehirns zur Darstellung der medialen limbischen<br />

Schleife (Hippokampus–Fornix–Mamillarkörper–mamillothalamischer Trakt–anteriorer<br />

Thalamus; mittelblau) <strong>und</strong> der basolateralen limbischen Schleife (Amygdala–ventrale<br />

amygdalofugale Bahn–dorsomedialer Thalamus–Septumregion–Bandaletta diagonalis;<br />

dunkelblau)<br />

17<br />

2<br />

nologisch geordnet <strong>und</strong> <strong>in</strong>tern unter Rückgriff auf bereits im Langzeitgedächtnis<br />

konsolidierte Informationen <strong>in</strong> Beziehung gesetzt, abgeglichen <strong>und</strong><br />

<strong>in</strong>tegriert bzw. fl exibel beantwortet werden. Somit ermöglicht das Arbeitsgedächtnis<br />

die Erstellung e<strong>in</strong>er mentalen Repräsentation der Außenwelt (Goldman-Rakic<br />

et al. 2000).<br />

Gleichzeitig ermöglicht die sorgfältige <strong>in</strong>haltliche <strong>und</strong> chronologische Selektion<br />

<strong>und</strong> Komb<strong>in</strong>ation von Informationen auch die Generierung von Plänen,<br />

Strategien, Ideen, Absichten <strong>und</strong> Wünschen.<br />

Kl<strong>in</strong>isch zeigt sich, dass <strong>in</strong>sbesondere Patienten mit dist<strong>in</strong>kten Schädigungen<br />

oder auch degenerativen Veränderungen der präfrontalen Kortexregio<br />

n bei Aufgabentypen mit hohen Anforderungen an das Arbeitsgedächtnis


2<br />

18 Kapitel 2 · Gedächtnisfunktionen <strong>und</strong> Gedächtnisstrukturen<br />

defi zitär abschneiden. Solche Patienten haben Schwierigkeiten, sich beim<br />

Denken von der aktuellen Situation zu lösen, verallgeme<strong>in</strong>ernde Regeln aufzustellen,<br />

ihre Perspektive zu wechseln oder ihren Aufmerksamkeitsfokus situationsadäquat<br />

auf bestimmte Aspekte zu richten. Neuropsychologisch<br />

spricht man von e<strong>in</strong>em Dysexekutivsyndro m <strong>und</strong> me<strong>in</strong>t damit die Unfähigkeit,<br />

e<strong>in</strong>em Gedankenstrom die für die Umsetzung e<strong>in</strong>es Handlungsplans notwendige<br />

Konzentration, Geradl<strong>in</strong>igkeit <strong>und</strong> Stabilität zu verleihen. Psychopathologisch<br />

äußert sich diese Unfähigkeit <strong>in</strong> der Zerfahrenhei t, Ungeordnetheit<br />

<strong>und</strong> Inkohären z des Gedankengangs <strong>und</strong> fi ndet sich beispielsweise im Konzept<br />

der schizophrenen Denkstörungen wieder. Tatsächlich fi nden sich auch<br />

bei diesen Patienten trotz nicht nachweisbarem Substanzdefekt metabolische<br />

Veränderungen <strong>in</strong> ähnlichen Hirnarealen.<br />

Aff ektiv-emotionale Ebene<br />

E<strong>in</strong>e zusätzliche Qualität, nach welcher die auf das Individuum e<strong>in</strong>strömende<br />

Information bewertet wird, stellt die aff ektiv-emotionale Eben e dar.<br />

> Im Allgeme<strong>in</strong>en gilt, dass affektiv getönte Informationen besser<br />

behalten werden als wertneutrale Inhalte (LaBar u. Cabeza 2006).<br />

Als wesentliche Schaltstation, auf welcher die emotionale Bewertung der vorverarbeiteten<br />

Information stattfi ndet, kann das basale Vorderhir n mit se<strong>in</strong>en<br />

kortikalen <strong>und</strong> nukleären Anteilen genannt werden. Hierfür ersche<strong>in</strong>t <strong>in</strong>sbesondere<br />

der mediale Anteil des basalen Vorderhirns aufgr<strong>und</strong> se<strong>in</strong>er extensiven<br />

bidirektionalen Verb<strong>in</strong>dungen zu Amygdal a <strong>und</strong> Hippokampu s besonders<br />

geeignet. Tatsächlich fi nden sich bei Patienten mit Schädigungen dieser<br />

Hirnregion Persönlichkeitsveränderunge n, die <strong>in</strong>sbesondere die aff ektivemotionale<br />

Verhaltenskontroll e betreff en. E<strong>in</strong>e schlüssige Erklärung für dieses<br />

Verhaltensdefi zit, die zugleich auf die funktionell-neuroanatomische Verschränkung<br />

von emotions- <strong>und</strong> kognitionsrelevanten Netzwerken h<strong>in</strong>weist,<br />

bietet die Hypothese der somatischen Marke r von Antonio Damasio<br />

(1995).<br />

Zusammengefasst besagt diese Hypothese, dass die emotionalen Anteile<br />

e<strong>in</strong>er Information nur langfristig verhaltensbestimmend werden können,<br />

wenn sie zum Zeitpunkt der Informationspräsentation mit den begleitenden,<br />

spezifi schen somatoviszeralen Reizantworten gekoppelt <strong>und</strong> zu e<strong>in</strong>em prospektiven,<br />

möglichen Szenario <strong>in</strong> Bezug gesetzt werden können. Ist dies der<br />

Fall, dann vermögen beispielsweise bereits stattgehabte Erfahrungen auf zu-


2.4 · Transfer, Konsolidierung <strong>und</strong> Ablagerung<br />

19<br />

2<br />

künft ige Entscheidungen sowohl im negativen als auch im positiven S<strong>in</strong>ne<br />

E<strong>in</strong>fl uss zu nehmen (also verhaltensbestimmend zu werden). Entscheidend<br />

ist, dass die begleitenden somatoviszeralen Muste r auch <strong>in</strong> der Vorstellung<br />

generiert werden <strong>und</strong> somit dieselben Empfi ndungen evozieren können, e<strong>in</strong>e<br />

Situation positiv oder negativ somatisch markieren (z. B. Erröten bei bestimmten<br />

Vorstellungsbildern). Der ventromediale Teil des Vorderhirns wird<br />

hierbei als Konvergenzzone angesehen, <strong>in</strong>nerhalb welcher dispositionale Eigenschaft<br />

en bestimmter Reizkonstellationen <strong>und</strong> deren assoziierte viszerosomatische<br />

Reaktionsmuster zusammenlaufen. Im Zusammenspiel mit der<br />

Amygdala können die zu e<strong>in</strong>er entsprechenden Reizsituation gespeicherten<br />

viszerosomatischen Antworten über die Vermittlung dieser Hirnregion reaktiviert<br />

werden. Wichtig ist, dass dieser Prozess sowohl bewusst als auch unbewusst<br />

ablaufen kann.<br />

Wenn diese Reizkopplung aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Hirnschädigung nicht realisiert<br />

werden kann, werden emotional gefärbte Informationen langfristig nicht<br />

mehr verhaltensmodifi zierend wirken. Dementsprechend können sozial relevante<br />

Situationen mit entsprechendem Handlungsbedarf nicht mehr antizipiert<br />

werden. Auf Verhaltensebene wirkt sich diese Dysregulation <strong>in</strong> Form<br />

von Fehle<strong>in</strong>schätzungen emotionaler Reize, als emotionale Inadäquatheit, Affekt-<br />

<strong>und</strong> Antriebsverfl achun g oder -steigerung bis h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong>en<br />

Enthemmung aus (Damasio 1995).<br />

2.4 Transfer, Konsolidierung <strong>und</strong> Ablagerung<br />

<strong>in</strong> das Langzeitgedächtnis – das mediale<br />

Temporallappensystem, das mediale dienzephale<br />

System <strong>und</strong> die besondere Rolle des Hippokampus<br />

Neben der für die emotionsrelevante Informationsverarbeitung wichtigen<br />

Rolle des basalen Vorderhirns (Area subcallos a, Septumkerne, Amygdala)<br />

spielen für die langfristige Abspeicherung mnestischer Informationen <strong>in</strong>sbesondere<br />

die Kern- <strong>und</strong> Faserkomplexe des medialen Temporallappens (besonders<br />

Hippokampus <strong>und</strong> entorh<strong>in</strong>aler Kortex) <strong>und</strong> des medialen Dienzephalons<br />

(besonders medialer Th alamus) e<strong>in</strong>e wichtige Roll e. Diese weitgehend<br />

dem limbischen System zuzurechnenden Hirnstrukture n bestehen aus Kernkomplexen<br />

<strong>und</strong> Fasersystemen <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d durch letztere zu neuronalen Schaltkreisen<br />

mite<strong>in</strong>ander verb<strong>und</strong>en. Als wesentliche Verarbeitungsschleifen s<strong>in</strong>d


2<br />

20 Kapitel 2 · Gedächtnisfunktionen <strong>und</strong> Gedächtnisstrukturen<br />

hier die mediale <strong>und</strong> die basolaterale limbische Schleif e zu nennen (. Abb.<br />

2.3). E<strong>in</strong>e beidhemisphärische Schädigung e<strong>in</strong>er zu diesen Verarbeitungsschleifen<br />

gehörenden Kern- oder Faserstruktur führt zu e<strong>in</strong>er Diskonnektion<br />

<strong>und</strong> hat <strong>in</strong> der Regel massive Gedächtnisstörungen zur Folge (7 Kap. 10, Wernicke-Korsakow-Syndrom).<br />

Diese beziehen sich <strong>in</strong>sbesondere auf die episodische<br />

Neugedächtnisbildun g. Während es auf dienzephaler Ebene <strong>in</strong>sbesondere<br />

die bilateralen thalamischen Infarkt e im Versorgungsgebiet der paramedianen<br />

Arterie (mediodorsaler Nukleus) s<strong>in</strong>d, welche durch Diskonnektion<br />

dieser Verarbeitungsschleifen zu persistierenden, vorwiegend anterograden<br />

Gedächtnisdefi zite n führen, verh<strong>in</strong>dern auf temporomedialer Ebene <strong>in</strong>sbesondere<br />

die degenerativ bed<strong>in</strong>gten Hirnschädigungen des hippokampalen<br />

Komplexes (Amygdala, ento- <strong>und</strong> perirh<strong>in</strong>aler Korte x <strong>und</strong> nichtentorh<strong>in</strong>aler,<br />

parahippokampaler Gyru s) e<strong>in</strong>e langfristige Konsolidierung der aufgenommenen<br />

Information.<br />

2.4.1 Der Hippokampuskomplex<br />

Durch den hohen Vernetzungsgrad des hippokampalen Komplexe s mit verschiedenen<br />

Assoziationskortizes kommt dieser Hirnstruktur e<strong>in</strong>e Schlüsselrolle<br />

als Konvergenzpunkt für vielerlei vorverarbeitete Informationen zu. Es<br />

wird angenommen, dass die Rolle des Hippokampus bei der Konsolidierung<br />

von Gedächtnis<strong>in</strong>halten zeitlich limitiert ist <strong>und</strong> dass der Konsolidierungsprozes<br />

s im Rahmen e<strong>in</strong>er ständigen kortikohippokampalen Rückkopplun g<br />

stattfi ndet. Demnach wird e<strong>in</strong>e aufgenommene, auf dieser Verarbeitungsstufe<br />

noch labile Information <strong>in</strong>nerhalb der reziproken Verb<strong>in</strong>dungen zwischen<br />

Hippokampus <strong>und</strong> Neokorte x durch wiederholte synchrone Aktivierung allmählich<br />

verfestigt <strong>und</strong> langfristig implementiert (Hebb-Regel).<br />

Wesentlich hierbei ist, dass <strong>in</strong>tr<strong>in</strong>sische hippokampale Verb<strong>in</strong>dungen <strong>und</strong><br />

deren Modifi kationen sich zwar schnell aufb auen, aber labil s<strong>in</strong>d. Dagegen<br />

können diese Verb<strong>in</strong>dungen auf kortikaler Ebene zwar nur langsam etabliert<br />

werden, sie s<strong>in</strong>d dafür dort aber wesentlich beständiger. Die verhältnismäßig<br />

schnell auf- <strong>und</strong> wiederabbaubaren hippokampalen Verb<strong>in</strong>dungen stellen<br />

e<strong>in</strong>e ideale Anpassung unseres Gehirns dar, die ständige Flut von neu e<strong>in</strong>strömenden<br />

<strong>und</strong> zu verarbeitenden Informationen zu organisieren. Die Ökonomie<br />

besteht hierbei <strong>in</strong> der <strong>in</strong> der Generierung verschiedenster reizabhängiger<br />

Feuerungsmuster im selben neuronalen Netzwerk. Stabile Verb<strong>in</strong>dungen


2.5 · Abruf aus dem Langzeitgedächtnis<br />

21<br />

2<br />

würden auf dieser Ebene die Verknüpfungsvielfalt beh<strong>in</strong>dern. Dagegen werden<br />

auf kortikaler Ebene kurzlebige Verb<strong>in</strong>dungen »konterevolutiv«, weil e<strong>in</strong><br />

solches System nur <strong>in</strong>stabile Repräsentationen se<strong>in</strong>er Umwelt zur Verfügung<br />

stellen könnte.<br />

2.5 Abruf aus dem Langzeitgedächtnis –<br />

frontotemporale Interaktion<br />

Da Läsionen <strong>in</strong>nerhalb der oben genannten Schleifensysteme im Regelfall nur<br />

zu ger<strong>in</strong>gfügigen Störungen von weiter zurückliegenden Gedächtnis<strong>in</strong>halten<br />

(sog. Altgedächtnisstörungen ) führen, ist anzunehmen, dass diese Verarbeitungsschleifen<br />

zwar für den langfristigen Transfer von Informationen wichtig<br />

s<strong>in</strong>d, jedoch nicht die »Gedächtnisspeicher« selbst darstellen. Vielmehr<br />

sche<strong>in</strong>t der Abruf solcher über die limbischen Verarbeitungsschleifen <strong>in</strong>tegrierten<br />

Informationen nach e<strong>in</strong>er längeren Konsolidierungsphase (die wohl<br />

auf über e<strong>in</strong> Jahrzehnt angesetzt wird) nicht weiter von diesen »Flaschenhalsstrukturen«<br />

abhängig zu se<strong>in</strong>. Dass diese Unabhängigkeit erst allmählich erreicht<br />

wird, zeigt sich <strong>in</strong> sog. Zeitgradienten bei Patienten mit retrograden<br />

Amnesien . E<strong>in</strong> Zeitgradient, der dem Ribotschen Gesetz (Ribot 1882) folgt<br />

(d. h., was zuletzt gespeichert wurde, wird zuerst vergessen), wird durch die<br />

Tatsache erklärt, dass die jüngst erworbenen Informationen auf neokortikaler<br />

Ebene noch nicht ausreichend verfestigt <strong>und</strong> damit noch hippokampusabhängig<br />

s<strong>in</strong>d. Weiter zurückreichende Informationen können dagegen ohne e<strong>in</strong>e<br />

hippokampale Indizierung abgerufen werden. Dies erklärt, warum jüngst erworbene<br />

Informationen von Patienten mit AD (bei denen Strukturen der hippokampalen<br />

Region besonders früh degenerieren) schlechter abgerufen werden<br />

als solche, die etwa Jahrzehnte zurückliegen.<br />

2.5.1 Retrograde Amnesien<br />

Re<strong>in</strong>e Altgedächtnisstörungen (retrograde Amnesien) treten <strong>in</strong>sbesondere im<br />

Zuge von komb<strong>in</strong>ierten Schädigungen des anterolateralen temporalen Pols<br />

<strong>und</strong> des <strong>in</strong>ferolateralen frontalen Kortex auf. Diese Regionen s<strong>in</strong>d durch die<br />

Fasern des ventralen Astes des Fasciculus unc<strong>in</strong>atus mite<strong>in</strong>ander verb<strong>und</strong>en.<br />

Parallel zum Enkodierungsprozess wird auch beim Abruf erneut die koordi-


2<br />

22 Kapitel 2 · Gedächtnisfunktionen <strong>und</strong> Gedächtnisstrukturen<br />

nierende Rolle des Frontalhirns <strong>in</strong> der Aktualisierung erworbener Informationen<br />

deutlich. Inhaltlich deuten sowohl kl<strong>in</strong>ische Studien an Hirngeschädigten<br />

als auch Untersuchungen an hirnges<strong>und</strong>en Probanden darauf h<strong>in</strong>, dass<br />

sich auch auf Altgedächtnis- bzw. Abrufebene e<strong>in</strong>e Hemisphärenspezialisierung<br />

fi nden lässt.<br />

Hierbei führen l<strong>in</strong>kshemisphärische frontotemporale Schädigungen zu<br />

Defi ziten im »Wissenssystem« bzw. im semantischen Altgedächtnis , während<br />

rechtshemisphärische Schädigungen bevorzugt zu Defi ziten im episodischen<br />

(oder autobiographischen) Altgedächtnis führen (Calabrese et al. 1996,<br />

Greenberg u. Rub<strong>in</strong> 2003). E<strong>in</strong>e komplementäre Bestätigung der Wichtigkeit<br />

der frontotemporalen Interaktion für den Abruf von Altgedächtnis<strong>in</strong>halten<br />

ergibt sich aus Untersuchungen mittels bildgebender Verfahren bei hirnges<strong>und</strong>en<br />

Probanden <strong>und</strong> Patienten mit psychogenen retrograden Amnesien<br />

ohne nachweisbaren Substanzdefekt. Hier konnten im Rahmen von Aktivierungsstudien<br />

die gleichen Regionen herausgestellt werden.<br />

2.6 Nichtdeklarative Gedächtnisleistungen –<br />

Basalganglien <strong>und</strong> Kle<strong>in</strong>hirn<br />

Da die nichtdeklarativen Gedächtnisleistungen von Hirnschädigungen <strong>in</strong>nerhalb<br />

der vorbeschriebenen Funktionskreise nicht oder kaum bee<strong>in</strong>fl usst werden,<br />

ist zu vermuten, dass deren Vermittlung an andere Hirnstrukturen geb<strong>und</strong>en<br />

ist. Tatsächlich s<strong>in</strong>d für die Verarbeitung von impliziten Gedächtnisleistungen<br />

Strukturen wie die Basalganglien , das Zerebellum , aber auch der<br />

Neokortex von Bedeutung . Die im Vergleich zu subkortikal hirngeschädigten<br />

Patienten gut erhaltenen motorischen Lernleistungen von kortikal geschädigten<br />

Individuen belegen e<strong>in</strong>erseits die unterschiedliche funktionelle Implementierung<br />

dieser Lern- <strong>und</strong> Gedächtnissysteme <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d andererseits <strong>in</strong> der<br />

<strong>Praxis</strong> von diff erenzialdiagnostischem Nutzen, beispielsweise <strong>in</strong> der Gegenüberstellung<br />

motorischer Lernleistungen von Patienten mit e<strong>in</strong>em Verdacht<br />

auf AD <strong>und</strong> solchen mit vaskulär oder degenerativ bed<strong>in</strong>gter, subkortikaler<br />

Schädigung (He<strong>in</strong>del et al. 1989).


Literatur<br />

2.7 Bedeutung für die <strong>Praxis</strong><br />

23<br />

2<br />

Da das Gedächtnis als verb<strong>in</strong>dendes Element zwischen den kognitiven Partialleistungen<br />

e<strong>in</strong>e wesentliche Rolle spielt <strong>und</strong> somit immer direkt oder <strong>in</strong>direkt<br />

an deren Ausführung beteiligt ist, s<strong>in</strong>d Gedächtnisstörungen im Rahmen<br />

von vielen Krankheitsbildern zu erwarten. Bei bestimmten Erkrankungen gelten<br />

sie als Leitsymptom bzw. defi nitorisches Merkmal (z. B. <strong>Demenzen</strong>). Die<br />

Tatsache, dass Gedächtnisleistungen aus der Interaktion hochgradig vernetzter<br />

neuronaler Subsysteme zustande kommen, erklärt deren häufi ges Auftreten<br />

im Rahmen diff user, aber auch dist<strong>in</strong>kter Hirnschädigungen (sog. strategischer<br />

Läsionen ).<br />

jFazit<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich lässt sich festhalten, dass unilaterale Hirnschädigungen zu materialspezifi<br />

schen (verbale oder nonverbale) Gedächtnisstörungen führen,<br />

während bilaterale Hirnschädigungen globale Gedächtnisstörungen nach sich<br />

ziehen (<strong>und</strong> hier <strong>in</strong>sbesondere solche, bei denen e<strong>in</strong>zelne Komponenten der<br />

genannten Schleifensysteme betroff en s<strong>in</strong>d). Wichtig ist auch, dass die bei den<br />

meisten Amnestikern (e<strong>in</strong>schließlich bei Patienten im Frühstadium e<strong>in</strong>er Demenz)<br />

erhaltene Behaltensspanne von tatsächlich bestehenden Gedächtnis(ve<br />

rarbeitungs)störungen ablenken kann. Andererseits ist zu berücksichtigen,<br />

dass auch Patienten mit Gedächtnisstörungen <strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d, auf bereits<br />

konsolidierte Wissens<strong>in</strong>halte zurückzugreifen bzw. bestimmte Lernleistungen<br />

zu erbr<strong>in</strong>gen. Dieser Umstand kann im E<strong>in</strong>zelfall von rehabilitativem Nutzen<br />

se<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>e orientierende Untersuchung der mnestischen Leistungen (e<strong>in</strong>schließlich<br />

Arbeits- <strong>und</strong> Altgedächtnis) sollte daher immer Bestandteil der<br />

psychopathologischen Bef<strong>und</strong>erhebung se<strong>in</strong>, die nötigenfalls durch e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>gehende<br />

neuropsychologische Untersuchung zu ergänzen ist.<br />

Literatur<br />

Calabrese P, Markowitsch HJ, Durwen HF et al (1996) Right temporofrontal cortex as a critical<br />

locus for the ecphory of old episodic memory. J Neurol, Neurosurg Psychiatr 61: 304–<br />

310<br />

Damasio AR (1995) On some functions of the human prefrontal cortex. In: Grafman J, Holoyak<br />

KJ, Boller F (eds) Structure and function of the human prefrontal cortex. Ann NY Acad Sci<br />

769: 241–263


2<br />

24 Kapitel 2 · Gedächtnisfunktionen <strong>und</strong> Gedächtnisstrukturen<br />

Goldman-Rakic P, O Scalaidhe SP, Chafee M (2000) Doma<strong>in</strong> specifi city <strong>in</strong> cognitive systems. In:<br />

Gazzaniga MS (ed) The new cognitive sciences. MIT, Cambridge MA, pp 733–742<br />

Greenberg DL, Rub<strong>in</strong> DC (2003) The neuropsychology of autobiographical memory. Cortex<br />

39(4–5): 687–728<br />

He<strong>in</strong>del WC, Salmon DP et al (1989) Neuropsychological evidence for multiple memory systems:<br />

a comparison of Alzheimers, Hunt<strong>in</strong>gtons and Park<strong>in</strong>sons disease patients. J Neurosci<br />

9: 582–587<br />

LaBar KS, Cabeza R (2006) Cognitive neuroscience of emotional memory. Nature Rev Neurosci<br />

7(1): 54–64<br />

Ribot T (1882) Diseases of memory. Kegan Paul, Trench, London<br />

Roy S, Park NW (2010) Dissociat<strong>in</strong>g the memory systems mediat<strong>in</strong>g complex tool knowledge<br />

and skills. Neuropsychologia 48: 3026–3036<br />

Squire L, Kandel ER (2009) Die Natur des Er<strong>in</strong>nerns, 2. Aufl . Spektrum Akademischer Verlag,<br />

Heidelberg


25<br />

»Leichte kognitive<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigung« im Alter<br />

Michael Zaudig<br />

<strong>3.</strong>1 Defi nition <strong>und</strong> Synonyma – 26<br />

<strong>3.</strong>1.1 Was ist e<strong>in</strong>e leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung? – 28<br />

<strong>3.</strong>2 Kl<strong>in</strong>ische Diagnosekriterien – 29<br />

<strong>3.</strong>2.1 Spezifi sche organische Ursachen – 29<br />

<strong>3.</strong>2.2 Frühsymptomatik e<strong>in</strong>er Alzheimer-Demenz – 32<br />

<strong>3.</strong>2.3 Nichtprogrediente <strong>und</strong> auch nicht<br />

durch spezifi sche organische Ursachen bed<strong>in</strong>gte<br />

gutartige Altersvergesslichkeit – 32<br />

<strong>3.</strong>3 Symptomatik, Diff erenzialdiagnostik<br />

<strong>und</strong> Verlauf – 35<br />

<strong>3.</strong><strong>3.</strong>1 Symptomatik – 35<br />

<strong>3.</strong><strong>3.</strong>2 Diff erenzialdiagnostik – 36<br />

<strong>3.</strong><strong>3.</strong>3 Verlauf – 37<br />

<strong>3.</strong><strong>3.</strong>4 Diagnose- <strong>und</strong> Messverfahren sowie Wertebereiche – 39<br />

<strong>3.</strong>4 Epidemiologie – 40<br />

<strong>3.</strong>5 Therapie – 41<br />

<strong>3.</strong>5.1 Pharmakotherapie – 42<br />

<strong>3.</strong>5.2 Verhaltenstherapie – 43<br />

<strong>3.</strong>5.3 Soziotherapie – 44<br />

Literatur – 44<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_3,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

3


3<br />

26 Kapitel 3 · »Leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung« im Alter<br />

Zum Thema<br />

Da mehr als 80% der gefährdeten Älteren regelmäßig ihren Hausarzt konsultieren,<br />

nimmt dieser e<strong>in</strong>e Schlüsselstellung <strong>in</strong> der Diagnostik <strong>und</strong> v. a. bei der<br />

Früherkennung demenzieller Prozesse e<strong>in</strong>. Dies trifft <strong>in</strong> besonderem Maße auf<br />

die leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung (LKB) zu, die e<strong>in</strong> besonders hohes Risiko<br />

für die Entwicklung e<strong>in</strong>er Demenz darstellt. Im angloamerikanischen Sprachraum<br />

hat sich der Begriff mild cognitive impairment (MCI) durchgesetzt.<br />

Die LKB ist e<strong>in</strong>e kognitive Störung mit besonderen Problemen im Bereich des<br />

Kurzzeitgedächtnisses, der Auffassung <strong>und</strong> Aufmerksamkeit. Die Patienten klagen<br />

darüber, ohne dass sich dies <strong>in</strong> besonderer Weise <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Bee<strong>in</strong>trächtigung<br />

der psychosozialen Kompetenz zeigt. Diese Störung im Alter muss unterschieden<br />

werden von anderen psychischen Störungen, wie z. B. der Depression oder anderen<br />

spezifischen organischen Ursachen.<br />

Die LKB ist entweder als e<strong>in</strong> Vorläuferstadium e<strong>in</strong>er sich später entwickelnden<br />

Demenz anzusehen oder als e<strong>in</strong>e gutartige, sich nicht weiter verschlechternde<br />

Altersvergesslichkeit.<br />

Die Prävalenz dieser Störung liegt bei 13–19% aller über 65-Jährigen. Patienten<br />

mit LKB haben e<strong>in</strong> Risiko von über 50%, nach 5 Jahren e<strong>in</strong>e Demenz zu entwickeln.<br />

Es gibt e<strong>in</strong>fache, auch im <strong>Praxis</strong>alltag e<strong>in</strong>setzbare Diagnoseverfahren wie das<br />

Strukturierte Interview für die Diagnose der Alzheimer-Demenz, der Multi<strong>in</strong>farktdemenz<br />

<strong>und</strong> <strong>Demenzen</strong> anderer Ätiologie nach DSM-IV <strong>und</strong> ICD-10 (SIDAM,<br />

7 Anhang A5).<br />

Bisher gibt es überwiegend kasuistische H<strong>in</strong>weise darauf, dass Antidementiva<br />

sehr effektiv <strong>in</strong> der Behandlung der LKB se<strong>in</strong> könnten. Gleiches gilt für<br />

Verhaltenstherapie.<br />

<strong>3.</strong>1 Defi nition <strong>und</strong> Synonyma<br />

Der »Übergangsbereich« der LKB wurde erst <strong>in</strong> den 1990er Jahren als e<strong>in</strong>e<br />

besonders wichtige diagnostische Gruppe erkannt, da das Risiko dieser Gruppe,<br />

später e<strong>in</strong>e Demenz zu entwickeln (über 50% <strong>in</strong> 5 Jahren) sehr hoch ist<br />

(Bickel u. Cooper 1994, Gauthier et al. 2006) .<br />

Um diese Gruppe der LKB genauer defi nieren zu können, ist zum e<strong>in</strong>en<br />

die Abgrenzung vom normalen kognitiven Altern notwendig, zum anderen


<strong>3.</strong>1 · Def<strong>in</strong>ition <strong>und</strong> Synonyma<br />

aber auch die Abgrenzung zu den frühen Stadien e<strong>in</strong>er Demenz. Die Früherkennung<br />

von Demenzprozessen ist e<strong>in</strong>e unerlässliche Voraussetzung für die<br />

Erprobung <strong>und</strong> Evaluation von therapeutischen Interventionsmaßnahmen<br />

<strong>und</strong> kann dazu beitragen, zeitig die Weichen für e<strong>in</strong>e angemessene Versorgung<br />

zu stellen (Zaudig 1999, Burns u. Zaudig 2002, Gauthier et al. 2006).<br />

Versuche, die Grenze zwischen normaler kognitiver Alterung <strong>und</strong> Demenz<br />

bzw. diesen Zwischenbereich zu beschreiben, fi nden <strong>in</strong> der Literatur<br />

viele Bezeichnungen. Bereits 1913 beschrieb Kraepel<strong>in</strong> z. B. die Presbyophrenie<br />

als e<strong>in</strong>e leichtergradige kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung, die e<strong>in</strong>erseits auch gut<br />

abgrenzbar sei von frühen Formen der Alzheimerschen Erkrankung <strong>und</strong> andererseits<br />

vom »Altersblöds<strong>in</strong>n«. Für die LKB gibt es derzeit unterschiedliche<br />

Defi nitionen <strong>und</strong> Beschreibungen. Mehr als 25 Term<strong>in</strong>i s<strong>in</strong>d vorgeschlagen<br />

worden, darunter erstmalig im deutschsprachigen Raum der Begriff »leichte<br />

kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung« (Zaudig 1995). Unter LKB werden kognitive<br />

Störungen im Alter verstanden, über die Patienten klagen, ohne dass sich dies<br />

<strong>in</strong> besonderer Weise <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Bee<strong>in</strong>trächtigung der psychosozialen Kompetenz<br />

zeigt. Psychische Störungen als Ursache s<strong>in</strong>d ausgeschlossen, z. B. Depression,<br />

ebenso spezifi sche organische Ursachen, <strong>und</strong> die Kriterien für e<strong>in</strong>e<br />

Demenz s<strong>in</strong>d nicht erfüllt. Dieses beschriebene Störungsbild ist entweder als<br />

Vorläuferstadium e<strong>in</strong>er sich später entwickelnden Demenz anzusehen oder<br />

als e<strong>in</strong>e gutartige, sich nicht weiter entwickelnde Altersvergesslichkeit (Zaudig<br />

1999).<br />

In der Allgeme<strong>in</strong>arztpraxis entsteht nicht selten folgende Problemsituation:<br />

» Herr Doktor, ich komme heute nicht wegen der Hüftschmerzen. Ich habe Angst!<br />

Angst, ich könnte ‚Alzheimer‘ bekommen. Seit Monaten habe ich verstärkt Probleme,<br />

mir Telefonnummern <strong>und</strong> Namen zu merken bzw. brauche ich oft länger, um<br />

mich an diese zu er<strong>in</strong>nern. Ich verlege häufi ger die Hausschlüssel – was früher nie<br />

der Fall war – <strong>und</strong> b<strong>in</strong> auch irgendwie weniger konzentriert, weniger aufmerksam<br />

<strong>und</strong> muss mich mehr bemühen, bei der Sache zu bleiben. Me<strong>in</strong>e Frau bemängelt<br />

dies ebenfalls. «<br />

E<strong>in</strong>e nicht ganz seltene Situation. Der Hausarzt kennt den Patienten gut <strong>und</strong><br />

lange <strong>und</strong> weiß, dass der Patient sicherlich ke<strong>in</strong>e Demenz hat. Aber ist dies,<br />

was der Patient schildert, normal oder üblich für se<strong>in</strong> Alter? Ohne Zweifel<br />

weist der Patient kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigungen auf. Der Hausarzt testet ihn<br />

mit der <strong>in</strong>zwischen sehr gebräuchlichen <strong>und</strong> verbreiteten M<strong>in</strong>i-Mental State<br />

27<br />

3


3<br />

28 Kapitel 3 · »Leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung« im Alter<br />

Exam<strong>in</strong>ation (MMSE) , <strong>und</strong> der Patient erreicht 28 von 30 möglichen Punkten,<br />

d. h. das Testergebnis ist unauff ällig! Im SIDAM-Test, der auch für LKB<br />

sensitiv ist, hat er 46 von 55 möglichen Punkten erreicht, <strong>und</strong> es wird die<br />

Diagnose e<strong>in</strong>er LKB gestellt. Aufgr<strong>und</strong> des bekannten körperlichen Bef<strong>und</strong>es<br />

sowie aktueller Laborwerte ergeben sich ke<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>weise auf e<strong>in</strong>e organische<br />

Verursachung dieser LKB.<br />

<strong>3.</strong>1.1 Was ist e<strong>in</strong>e leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung?<br />

E<strong>in</strong>en Überblick über die derzeit gebräuchlichen Term<strong>in</strong>i <strong>und</strong> Defi nitionen<br />

gibt die folgende Übersicht:<br />

Unterschiedliche Konzepte <strong>und</strong> Synonyma der leichten kognitiven<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigung im Alter (Zaudig 1999)<br />

4 Vorzeitiger Versagenszustand im Alter (Behr<strong>in</strong>ger u. Mallison 1949)<br />

4 Benign senescent forgetfulness /gutartige Altersvergesslichkeit (Kral<br />

1962)<br />

4 Limited dementia (Gurland et al. 1977, 1982)<br />

4 Questionable dementia (Hughes et al. 1982)<br />

4 Mild cognitive decl<strong>in</strong>e (Reisberg et al. 1982)<br />

4 Mild dementia (Henderson u. Huppert 1984)<br />

4 M<strong>in</strong>imal dementia (Roth et al. 1986)<br />

4 Age-associated memory impairment (AAMI, Crook et al. 1986)<br />

4 Age-consistent memory impairment (ACMI, Blackford u. LaRue 1989)<br />

4 Late-life forgetfulness (LLF, Blackford u. LaRue 1989)<br />

4 Leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung (LKB)/mild cognitive impairment<br />

(MCI, Zaudig et al. 1991, Zaudig 1992, 1995, 1999)<br />

4 Leichte Vergesslichkeit/mild forgetfulness (Cooper et al. 1992)<br />

4 Age<strong>in</strong>g-associated cognitive decl<strong>in</strong>e (AACD, Levy 1994)<br />

4 Cognitively impaired not demented (CIND, Ebly et al. 1995)<br />

4 Sub-cl<strong>in</strong>ical senescent cognitive disorder (Ritchie et al. 1996)<br />

4 Mild cognitive impairment (MCI, Petersen et al. 1999)<br />

4 Amnestic MCI (Petersen et al. 2001)


<strong>3.</strong>2 · Kl<strong>in</strong>ische Diagnosekriterien<br />

29<br />

3<br />

Auch die beiden derzeit gebräuchlichen Klassifi kationssysteme ICD-10 (Internationale<br />

Klassifi kation Psychischer Krankheiten, WHO 1992, Dill<strong>in</strong>g et al.<br />

1991) <strong>und</strong> DSM-IV-TR (Diagnostisches <strong>und</strong> Statistisches Manual Psychischer<br />

Erkrankungen, American Psychiatric Association 2000, Saß et al. 2003) tragen<br />

der Bedeutung dieser »Zwischengruppe« Rechnung, <strong>in</strong>dem sie Experimentalkategorien<br />

anbieten (. Tab. <strong>3.</strong>1).<br />

<strong>3.</strong>2 Kl<strong>in</strong>ische Diagnosekriterien<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich gibt es m<strong>in</strong>destens drei mögliche Ätiologien für die Entstehung<br />

kognitiver Bee<strong>in</strong>trächtigung im Alter (Zaudig 1999).<br />

<strong>3.</strong>2.1 Spezifi sche organische Ursachen<br />

In ICD-10, Kap. F06.7 wird die Kategorie der »leichten kognitiven Störung«<br />

beschrieben. Gefordert wird e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige organische Ätiologie sowie Reversibilität<br />

der Störung. Die Diagnose der leichten kognitiven Störung nach<br />

ICD-10 ist nicht auf das Alter beschränkt. Kognitive Störungen aufgr<strong>und</strong><br />

e<strong>in</strong>er schweren Virus<strong>in</strong>fektion, e<strong>in</strong>er dekompensierten Herz<strong>in</strong>suffi zienz, im<br />

Rahmen e<strong>in</strong>er Hypothyreose usw. fallen ebenfalls hierunter (. Abb. <strong>3.</strong>1).<br />

Nach DSM-IV-TR wird analog die Experimentalkategorie der »leichten<br />

neurokognitiven Störung« beschrieben. Es gibt e<strong>in</strong>e Ähnlichkeit zur leichten<br />

kognitiven Störung nach ICD-10 (F06.7): Die leichte neurokognitive Störung<br />

nach DSM-IV-TR wird jedoch nicht als reversibel defi niert, allerd<strong>in</strong>gs wird<br />

gefordert, dass die Störung m<strong>in</strong>destens 2 Wochen andauert. Auch bei dieser<br />

Kategorie sollten e<strong>in</strong>deutige oder objektivierbare organische Ursachen vorliegen.<br />

Ist das nicht der Fall, wird darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass die DSM-IV-TR-<br />

Diagnose des »altersbed<strong>in</strong>gten kognitiven Abbau s« (780.9) erwogen werden<br />

sollte. Hierbei handelt es sich um e<strong>in</strong>e Restkategorie, die nur dann berücksichtigt<br />

werden muss, falls es ke<strong>in</strong>e expliziten organischen Ursachen für e<strong>in</strong>en<br />

leichten kognitiven Abbau gibt.


3<br />

30 Kapitel 3 · »Leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung« im Alter<br />

. Tab. <strong>3.</strong>1 Kl<strong>in</strong>ische Konzepte der leichten kognitiven Bee<strong>in</strong>trächtigung im Alter<br />

<strong>in</strong> den Klassifikationssystemen ICD-10 <strong>und</strong> DSM-IV-TR<br />

WHO, ICD-10, F07.8b Persönlichkeits- <strong>und</strong> Verhaltensstörung<br />

aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Erkrankung, Schädigung oder<br />

Funktionsstörung des Gehirns<br />

WHO, ICD-10, F06.7 Leichte kognitive Störung (reversibel)<br />

DSM-IV-TR, 780.9 Altersbed<strong>in</strong>gter kognitiver Abbau<br />

DSM-IV-TR, 294.9 Kognitive Störung, nicht näher bezeichnet<br />

DSM-IV-TR, Experimentalkriterien Leichte neurokognitive Störung<br />

organische Ursache<br />

Therapie<br />

normal<br />

. Abb. <strong>3.</strong>1 Leichte (reversible) kognitive Störungen nach ICD-10 (F06.7) . KKB ke<strong>in</strong>e kognitive<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigung, LKB leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung, DEM Demenz, SISCO SIDAM-<br />

SCORE 0 (M<strong>in</strong>imum bis 55: Maximum)


<strong>3.</strong>2 · Kl<strong>in</strong>ische Diagnosekriterien<br />

DSM-IV-TR-Forschungskriterien für die leichte neurokognitive<br />

Störung (Saß et al. 1996)<br />

A. Das Vorhandense<strong>in</strong> von zwei (oder mehr) der folgenden<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigungen der kognitiven Funktionen, die die meiste Zeit<br />

<strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er Periode von m<strong>in</strong>destens 2 Wochen andauern (wie<br />

durch den Betroffenen oder e<strong>in</strong>e andere zuverlässige Person berichtet<br />

wird):<br />

1. Gedächtnisbee<strong>in</strong>trächtigung gekennzeichnet durch e<strong>in</strong>e reduzierte<br />

Fähigkeit beim Erlernen oder Wiedergeben von<br />

Informationen<br />

2. Störungen von Exekutivfunktionen (z. B. Planen, Organisieren,<br />

Reihenfolgen bilden, Abstrahieren)<br />

<strong>3.</strong> Störung der Aufmerksamkeit <strong>und</strong> der Informationsverarbeitungsgeschw<strong>in</strong>digkeit<br />

4. Bee<strong>in</strong>trächtigung der perzeptiven motorischen Fähigkeiten<br />

5. Bee<strong>in</strong>trächtigung der Sprache (z. B. Verstehen, Wortf<strong>in</strong>dung)<br />

B. Aufgr<strong>und</strong> der körperlichen Untersuchung oder von Laborbef<strong>und</strong>en<br />

(e<strong>in</strong>schließlich bildgebender Verfahren) besteht der objektive<br />

Nachweis e<strong>in</strong>es neurologischen oder mediz<strong>in</strong>ischen Krankheitsfaktors,<br />

der als ätiologisch für die kognitive Störung beurteilt wird.<br />

C. Aufgr<strong>und</strong> neuropsychologischer Tests oder quantifizierender kognitiver<br />

Messverfahren besteht der Nachweis e<strong>in</strong>er Abnormalität oder<br />

e<strong>in</strong>es Abfalls der Leistung.<br />

D. Die kognitiven Defizite führen zu deutlichem Leiden oder<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigungen <strong>in</strong> sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen<br />

Funktionsbereichen <strong>und</strong> stellen e<strong>in</strong>en Abfall gegenüber dem bisherigen<br />

Leistungsniveau dar.<br />

E. Die kognitive Störung erfüllt nicht die Kriterien für e<strong>in</strong> Delir (= e<strong>in</strong>en<br />

Verwirrtheitszustand), e<strong>in</strong>e Demenz oder e<strong>in</strong>e amnestische Störung<br />

<strong>und</strong> kann nicht durch e<strong>in</strong>e andere psychische Störung besser erklärt<br />

werden (z. B. e<strong>in</strong>e Störung im Zusammenhang mit psychotropen<br />

Substanzen, major depression).<br />

31<br />

3


3<br />

32 Kapitel 3 · »Leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung« im Alter<br />

<strong>3.</strong>2.2 Frühsymptomatik e<strong>in</strong>er Alzheimer-Demenz<br />

Defi nitionen, die diese »Zwischengruppe« als e<strong>in</strong> Vorstadium e<strong>in</strong>er künft igen<br />

Demenz ansehe n, s<strong>in</strong>d z. B. die von Petersen et al. mit der Bezeichnung mild<br />

cognitive impairment (MCI) (7 <strong>3.</strong>2.3). E<strong>in</strong>e Vielzahl von Studien weisen darauf<br />

h<strong>in</strong>, dass die Diagnose e<strong>in</strong>er MCI e<strong>in</strong> hohes Risiko für die Entwicklung<br />

e<strong>in</strong>er Alzheimer-Demenz (AD) darstellt (. Abb. <strong>3.</strong>2).<br />

<strong>3.</strong>2.3 Nichtprogrediente <strong>und</strong> auch nicht<br />

durch spezifi sche organische Ursachen<br />

bed<strong>in</strong>gte gutartige Altersvergesslichkeit<br />

Viktor Kral prägte 1962 den Term<strong>in</strong>us benign senescent forgetfulness (BSF, gutartige<br />

Altersvergesslichkei t ). Kral sah diese Störung als e<strong>in</strong>e nichtprogrediente<br />

<strong>und</strong> damit gutartige kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung an, die sich im Alter entwickeln<br />

kann <strong>und</strong> die sich nicht weiter zur Demenz entwickelt. Patienten mit<br />

BSF s<strong>in</strong>d schusseliger <strong>und</strong> vergesslicher, haben Probleme, unwichtige Daten<br />

<strong>und</strong> Erfahrungen aus neuerer Zeit abzurufen <strong>und</strong> zu speichern, sie s<strong>in</strong>d sich<br />

ihrer Bee<strong>in</strong>trächtigungen bewusst <strong>und</strong> versuchen Gedächtnislücken zu umschreiben<br />

<strong>und</strong> haben ke<strong>in</strong>e Probleme, sich diese auch e<strong>in</strong>zugestehen (Kral<br />

1962, . Abb. <strong>3.</strong>3).<br />

In der Nachfolge von Krals Gedanken e<strong>in</strong>er gutartigen kognitiven Störung<br />

im Alter entwickelten Crook et al. das Konzept des age-associated memory impairmen<br />

t (AAMI) <strong>und</strong> später Levy die altersassoziierte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung<br />

(age<strong>in</strong>g-associated cognitive decl<strong>in</strong>e, AACD ).<br />

Aus den o. g. Überlegungen heraus liegt e<strong>in</strong>er LKB m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e der<br />

o. g. ätiologischen Hypothesen zugr<strong>und</strong>e. Auf syndromaler Ebene ist allen<br />

Ätiologien die im Vordergr<strong>und</strong> stehende kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung geme<strong>in</strong>sam,<br />

<strong>in</strong>sbesondere die Vergesslichkeit <strong>und</strong> Schusseligkeit <strong>und</strong> ger<strong>in</strong>ge Schwierigkeiten<br />

beim Problemlösen oder mit dem Sprachverständnis.<br />

Zusammenfassend gesehen, lässt sich auch heute noch nicht zuverlässig<br />

vorhersagen, ob, wann oder welche Art e<strong>in</strong>er Demenz sich entwickeln könnte.<br />

Aufgr<strong>und</strong> der aktuellen Studienlage (Übersicht <strong>in</strong> Zaudig 2005, Gauthier et al.<br />

2006) liegt die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit für die Entwicklung e<strong>in</strong>er Demenz im Zeitraum<br />

von 5 Jahren bei 50%.


<strong>3.</strong>2 · Kl<strong>in</strong>ische Diagnosekriterien<br />

LKB Demenz<br />

. Abb. <strong>3.</strong>2 Die leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung (LKB) als Frühsymptomatik e<strong>in</strong>er<br />

Demenz. KKB ke<strong>in</strong>e kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung, DEM Demenz, SISCO SIDAM-SCORE 0<br />

(M<strong>in</strong>imum bis 55: Maximum)<br />

33<br />

LKB Demenz<br />

3<br />

. Abb. <strong>3.</strong>3 Die gutartige Altersvergesslichkeit (BSF). KKB ke<strong>in</strong>e kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung,<br />

LKB leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung, DEM Demenz, SISCO SIDAM-SCORE 0 (M<strong>in</strong>imum bis<br />

55: Maximum)<br />

BSF


3<br />

34 Kapitel 3 · »Leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung« im Alter<br />

Die derzeit im Forschungskontext am häufi gsten benutzte Defi nition der<br />

leichten kognitiven Bee<strong>in</strong>trächtigung ist die Diagnose mild cognitive impairmen<br />

t (MCI) mit mehreren Subtypen nach Petersen et al. (1999, 2001). Am<br />

häufi gsten untersucht wurde die Diagnose amnestic MC I mit folgenden Kriterien:<br />

4 subjektives Klagen über Gedächtnisbee<strong>in</strong>trächtigungen,<br />

4 objektiver Nachweis von Gedächtnisbee<strong>in</strong>trächtigung,<br />

4 generelle kognitive Funktionen <strong>in</strong>takt,<br />

4 ke<strong>in</strong>e Bee<strong>in</strong>trächtigung der Aktivitäten des täglichen Leben s,<br />

4 Ausschluss e<strong>in</strong>er Demenz.<br />

S<strong>in</strong>d neben den Gedächtnisstörungen noch andere kognitive Fähigkeiten bee<strong>in</strong>trächtigt,<br />

aber e<strong>in</strong>e Demenz kann ausgeschlossen werden, handelt es sich<br />

nach Petersen et al. (2001) um e<strong>in</strong>e multiple-doma<strong>in</strong> amnestic MC I. Unterschieden<br />

werden e<strong>in</strong> non-amnestic mild cognitive impairment unterteilt <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>gle-doma<strong>in</strong>- <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en Multiple-doma<strong>in</strong>-Typ. Inwieweit e<strong>in</strong>e derartige<br />

»Parzellierung« (Subkategorisierung) der leichten kognitiven Bee<strong>in</strong>trächtigung<br />

mehr S<strong>in</strong>n macht als e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige umfassende Defi nition der leichten<br />

kognitiven Bee<strong>in</strong>trächtigung (s. unten, Übersicht zur Diagnose e<strong>in</strong>er LKB,<br />

Zaudig 1999), ist letztlich noch nicht entschieden.<br />

Diagnostische Kriterien der leichten kognitiven Bee<strong>in</strong>trächtigung<br />

im Alter (mod. nach Zaudig 1999)<br />

A. Für die LKB wird gefordert, dass die Gedächtnisbee<strong>in</strong>trächtigung <strong>und</strong>/<br />

oder das Nachlassen der <strong>in</strong>tellektuellen Fähigkeiten objektivierbar<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

B. Das Ausmaß der kognitiven Bee<strong>in</strong>trächtigung bee<strong>in</strong>flusst die Fähigkeit,<br />

den psychosozialen Alltag zu bewältigen nur <strong>in</strong> sehr leichter Weise, ist<br />

gut kompensierbar <strong>und</strong> erfüllt nicht die Kriterien e<strong>in</strong>er ADL-Skala<br />

(activities of daily liv<strong>in</strong>g, ADL), die für <strong>Demenzen</strong> entwickelt wurde.<br />

C. E<strong>in</strong>e Verschlechterung der emotionalen Kontrolle, des Sozialverhaltens<br />

oder des Antriebs besteht nicht oder nur <strong>in</strong> sehr leichter Ausprägung.<br />

D. Der SIDAM-Score (SISCO) sollte im Bereich von 34–51 liegen oder der<br />

SIDAM-MMSE zwischen 23 <strong>und</strong> 28 <strong>und</strong>/oder sollte e<strong>in</strong> GDS-Wert von<br />

3 oder e<strong>in</strong> CDR-Wert von 0,5 bestehen. 7


<strong>3.</strong>3 · Symptomatik, Differenzialdiagnostik <strong>und</strong> Verlauf<br />

E. E<strong>in</strong>e Demenz nach ICD-10 oder DSM-IV muss ausgeschlossen werden.<br />

F. Andere psychische Störungen wie z. B. depressive Störunge n, Delir<br />

oder e<strong>in</strong>e Bewusstse<strong>in</strong>sstörung müssen ausgeschlossen se<strong>in</strong>, <strong>und</strong> es<br />

gibt ke<strong>in</strong>e objektiven H<strong>in</strong>weise auf e<strong>in</strong>e spezifische organische<br />

Ursache für die LKB.<br />

G. Niedrige Intelligenz <strong>und</strong> mangelnde Bildung s<strong>in</strong>d ausgeschlossen bzw.<br />

berücksichtigt.<br />

H. Die Störung (Kriterien A, B, C) besteht m<strong>in</strong>destens für e<strong>in</strong>en Zeitraum<br />

von 2 Wochen.<br />

<strong>3.</strong>3 Symptomatik, Diff erenzialdiagnostik <strong>und</strong> Verlauf<br />

<strong>3.</strong><strong>3.</strong>1 Symptomatik<br />

35<br />

3<br />

Subjektiv erleben die Patienten häufi g schleichend e<strong>in</strong>e Veränderung bzw.<br />

Verschlechterung ihrer Gedächtnisleistung, unwichtige Ereignisse werden<br />

nicht wieder er<strong>in</strong>nert <strong>und</strong> häufi g nicht gespeichert. Dies zeigt sich z. B. im<br />

Verlegen von Gegenstände n, Vergesse n von (meist unwichtigen) Daten, Telefonnummern,<br />

politischen Ereignissen. Nicht selten tritt e<strong>in</strong>e Verlangsamun g<br />

im kognitiven Bereich auf (Abnahme der Informationsverarbeitungsgeschw<strong>in</strong>digkeit).<br />

Angehörige <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e bemerken, dass der Betroff ene weniger<br />

aufmerksam ist, irgendwie nicht mehr richtig zuhört usw. Auch der Patient<br />

merkt dies, aber erst, wenn man ihn direkt darauf anspricht. Im Bereich<br />

der fl uiden Intelligen z, d. h. im Bereich der Abstraktionsfähigkeit, Urteilsfähigkeit,<br />

besteht häufi g ebenfalls e<strong>in</strong>e leichte Verschlechterung. Die Patienten<br />

erleben sich als ungeduldiger, aufb rausender, unkontrollierter, stimmungslabiler,<br />

auch depressiver als <strong>in</strong> früheren Episoden ihres Lebens. Konzentrationsstörunge<br />

n s<strong>in</strong>d nicht selten. Die Symptomatik manifestiert sich <strong>in</strong>sbesondere<br />

bei anspruchsvoller Tätigkeit <strong>und</strong> im gesellschaft lichen Rahmen (Zaudig<br />

1995, 1999).<br />

Diese Symptomatik wird häufi g nicht ernst genommen, <strong>und</strong> nach wie vor<br />

herrscht die verbreitete Annahme vor, kognitive Leistungse<strong>in</strong>bußen der o. g.<br />

Art seien e<strong>in</strong>e normale Folge des Alterns. Nach Ausschluss e<strong>in</strong>er spezifi schen<br />

organischen Ursache wird die Diagnose e<strong>in</strong>er LKB gestellt.


3<br />

36 Kapitel 3 · »Leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung« im Alter<br />

> Die Diagnose e<strong>in</strong>er LKB weist auf e<strong>in</strong> deutlich erhöhtes Risiko h<strong>in</strong>,<br />

im Zeitraum von 5 Jahren e<strong>in</strong>e Alzheimer-Demenz oder e<strong>in</strong>e andere<br />

Form e<strong>in</strong>er Demenz entwickeln zu können.<br />

<strong>3.</strong><strong>3.</strong>2 Diff erenzialdiagnostik<br />

Von größter Bedeutung für die Diagnose e<strong>in</strong>er LKB ist der Nachweis e<strong>in</strong>er<br />

deutlich unter der Altersnorm liegenden Gedächtnisleistung (Kurz 1999).<br />

Hierfür eignen sich besonders Gedächtnistests, die das Kurzzeitgedächtni s<br />

be<strong>in</strong>halten, die die Wortfl üssigkeit <strong>und</strong> Aufmerksamkeit prüfen. Große Bedeutung<br />

hat auch die Unterscheidung zu e<strong>in</strong>er leichten Demenz. Auch hier<br />

eignen sich Testverfahren, wie z. B. SIDAM (Zaudig u. Hiller 1996) oder<br />

Cambridge Mental Disorders of Elderly Exam<strong>in</strong>ation CAMDE X (Roth et al.<br />

1986).<br />

Wichtig ist auch e<strong>in</strong>e Unterscheidung bzw. Abgrenzung gegenüber dem<br />

prämorbiden Intelligenzniveau. E<strong>in</strong>e LKB im o. g. S<strong>in</strong>ne ist stets neu erworben<br />

<strong>und</strong> nicht Ausdruck e<strong>in</strong>er lebenslang bestehenden Intelligenzm<strong>in</strong>derung.<br />

Am besten eignet sich die E<strong>in</strong>schätzung der prämorbiden Intelligenz aufgr<strong>und</strong><br />

der Berufsausübung <strong>und</strong> Schulbildung. Als H<strong>in</strong>weis auf e<strong>in</strong>e später entstehende<br />

AD kommen mehrere biologische Krankheits<strong>in</strong>dikatoren <strong>in</strong> Betracht: Der<br />

Nachweis e<strong>in</strong>er erhöhten Konzentration des neuronalen Tau-Prote<strong>in</strong> s <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung<br />

mit e<strong>in</strong>er verm<strong>in</strong>derten Konzentration von β-Amyloi d im Liquor<br />

(Kurz 1999, Hampel et al. 2004).<br />

Die Abgrenzung zu den Frühformen e<strong>in</strong>er vaskulären Demen z ist ebenfalls<br />

notwendig <strong>und</strong> <strong>in</strong>sbesondere auch zu Depressionen im Alte r. Die Diff erenzialdiagnose<br />

zur Depression stellt sicherlich e<strong>in</strong>e der schwersten kl<strong>in</strong>ischen<br />

Aufgaben dar. Meist lässt sich e<strong>in</strong>e exakte Diff erenzierung erst durch den Verlauf<br />

der Erkrankung ermöglichen. Gr<strong>und</strong>sätzlich ist immer abzuklären, ob<br />

e<strong>in</strong>e vorübergehende, allgeme<strong>in</strong> <strong>in</strong>ternistische (z. B. Virus<strong>in</strong>fektion oder Exsikkose)<br />

Störung vorliegt oder e<strong>in</strong> spezifi scher neurologischer zerebraler<br />

Infekt (z. B. Men<strong>in</strong>gitis). Beispielsweise kann auch bei e<strong>in</strong>er schweren Virusgrippe<br />

e<strong>in</strong>e deutliche kognitive Störung auft reten, die jedoch <strong>in</strong> der Regel<br />

reversibel ist. Für diese Zustände wird nach ICD-10 der Begriff »leichte kognitive<br />

Störun g« (ICD-10, F06.7) gebraucht. Wesentliches Merkmal der leichten<br />

kognitiven Störung ist die Reversibilität im Gegensatz zur »leichten kognitiven<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigung« (ICD-10, F07.8).


<strong>3.</strong>3 · Symptomatik, Differenzialdiagnostik <strong>und</strong> Verlauf<br />

<strong>3.</strong><strong>3.</strong>3 Verlauf<br />

37<br />

3<br />

Unterschiedliche Defi nitionen von LKB erweisen sich als reliabel <strong>und</strong> valide.<br />

Typischerweise verschlechtern sich Patienten mit bereits bestehender LKB <strong>in</strong><br />

den Bereichen Orientierung, Kurz- <strong>und</strong> Langzeitgedächtni s, verbale/rechnerische<br />

Fähigkeiten, Konstruktionsfähigkeiten <strong>und</strong> Aphasi e/Apraxi e (Zaudig<br />

u. Hiller 1996). H<strong>in</strong>weisend auf die Entwicklung e<strong>in</strong>er Demenz ersche<strong>in</strong>en<br />

e<strong>in</strong>e leichte Störung der Aphasie/Apraxie, zusätzlich auch Veränderungen <strong>in</strong><br />

der Orientierthei t. Patienten mit LKB haben nach den Ergebnissen auch von<br />

Bickel u. Cooper (1994) e<strong>in</strong> hohes Risiko, e<strong>in</strong>e Demenz zu entwickeln, es wird<br />

von den Autoren empfohlen, nach 30 Monaten e<strong>in</strong>e Wiederholungsuntersuchung<br />

durchzuführen, da dies der durchschnittliche Zeitverlauf ist, <strong>in</strong> dem<br />

Patienten mit LKB e<strong>in</strong>e leichte Demenz entwickeln können. Es ist daher sowohl<br />

im ambulanten wie im stationären Bereich dr<strong>in</strong>gend zu empfehlen, diagnostische<br />

Screen<strong>in</strong>g-Instrumente, die auch den kognitiven Status quantifi zieren<br />

können, anzuwenden. Besonders geeignet dafür s<strong>in</strong>d SIDAM (Zaudig u.<br />

Hiller 1996) oder CAMDEX (Roth et al. 1986).<br />

Die meisten Verlaufsstudien der letzten Jahre zeigen, dass sich die Gruppe<br />

der LKB nach e<strong>in</strong>igen Jahren doch <strong>in</strong> Richtung Demenz entwickelt. Bowen<br />

<strong>und</strong> Mitarbeiter konnten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em 4-Jahres-Follow-up bei Patienten mit isoliertem<br />

Gedächtnisverlust bzw. -bee<strong>in</strong>trächtigung <strong>in</strong> 49% die Entwicklung e<strong>in</strong>er<br />

Demenz feststellen (. Tab. <strong>3.</strong>2). Die meisten der <strong>in</strong> . Tab. <strong>3.</strong>2 aufgeführten<br />

Verlaufsstudien zeigen e<strong>in</strong>e jährliche Progressionsrate <strong>in</strong> Richtung Demenz<br />

von durchschnittlich 10% der Patienten mit LKB/MCI. Obwohl die Diagnosedefi<br />

nitionen der LKB leicht unterschiedlich waren, weisen fast alle Untersuchungen<br />

ähnliche Veränderungsraten auf. E<strong>in</strong> weiteres Ergebnis vieler Verlaufsstudien<br />

ist auch der Bef<strong>und</strong>, dass e<strong>in</strong>e stärkere kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung<br />

schneller zur Demenz führt. Weitere Zusammenfassungen über den<br />

aktuellen Stand der Verlaufsstudien fi nden sich <strong>in</strong> Gauthier et al. (2006) <strong>und</strong><br />

Zaudig (2005). Das wichtigste Ergebnis aller Verlaufsstudien ist das hohe<br />

Konversionsrisiko von mehr als 50% nach 5 Jahren <strong>in</strong> Richtung e<strong>in</strong>er Demen<br />

z.<br />

> Aufgr<strong>und</strong> der Verlaufsdaten <strong>und</strong> vielfacher H<strong>in</strong>weise aus der Literatur<br />

ist zu fordern, dass Patienten mit LKB m<strong>in</strong>destens alle 6–12 Monate<br />

sorgfältig untersucht <strong>und</strong> getestet werden sollten, um e<strong>in</strong>e Entwicklung<br />

<strong>in</strong> Richtung Demenz frühzeitig festzustellen. Für die Testung <strong>in</strong><br />

der Allgeme<strong>in</strong>arztpraxis ersche<strong>in</strong>t das SIDAM besonders geeignet.


3<br />

38 Kapitel 3 · »Leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung« im Alter<br />

. Tab. <strong>3.</strong>2 Verlaufsstudien bei leichter kognitiver Bee<strong>in</strong>trächtigung (LKB)<br />

Autoren LKB-Def<strong>in</strong>ition Follow-up<br />

(Jahre)<br />

Tierney et al. (1996) Memory<br />

impairment<br />

<strong>Demenzen</strong>twicklung<br />

(%)<br />

2 28 14<br />

Zaudig u. Hiller (1996) CDR 0,5 1 10 10<br />

Zaudig u. Hiller (1996) GDS 3 1 11 11<br />

Bowen et al. (1997) Isolated<br />

memory loss<br />

4 48 12<br />

Wolf et al. (1998) MCI 3 20 6,7<br />

Krasucki et al. (1998) MCI 4,5 100 22<br />

Petersen et al. (1999) MCI 1 10–15 10<br />

Daly et al. (2000) MCI 3 18 6<br />

Ritchie et al. (2001) AACD 3 28,6 9,5<br />

Bozoki et al. (2001) MCI (multiple<br />

doma<strong>in</strong>s)<br />

2 50 25<br />

Morris et al. (2001) MCI 5 20–60 a 4–12<br />

Waite et al. (2001) MCI<br />

(mit EPS)<br />

(mit vaskulären<br />

Zügen)<br />

3 21<br />

34<br />

38<br />

Jährliche<br />

Konversionsrate<br />

(%)<br />

7<br />

11,3<br />

12,7<br />

Tabert (2002) MCI 2 25 12,5<br />

Palmer et al. (2002) CIND 3 35 11,7<br />

a Abhängig von der jeweiligen Def<strong>in</strong>ition.<br />

MCI mild cognitive impairment, EPS extrapyramidalmotorische Symptome, AACD ageassociated<br />

cognitive decl<strong>in</strong>e.


<strong>3.</strong>3 · Symptomatik, Differenzialdiagnostik <strong>und</strong> Verlauf<br />

<strong>3.</strong><strong>3.</strong>4 Diagnose- <strong>und</strong> Messverfahren<br />

sowie Wertebereiche<br />

39<br />

3<br />

In den meisten <strong>in</strong>ternationalen Studien wird die MMSE herangezogen, um<br />

den Grad der kognitiven Bee<strong>in</strong>trächtigung quantitativ darzustellen, zusätzlich<br />

sehr häufi g e<strong>in</strong>e Reihe neuropsychologischer Tests. Beispielsweise benutzten<br />

Welsh et al. e<strong>in</strong>e neurologische Testbatterie (Consortium to Establish a Registry<br />

for Alzheimer’s Disease, CERAD ), um die LKB besser erfassen zu können. Die<br />

Patienten mit sehr leichten kognitiven Bee<strong>in</strong>trächtigungen (<strong>in</strong> dieser Studie<br />

als mild Alzheimer’s disease bezeichnet) wurden mithilfe der MMSE quantifi -<br />

ziert, Werte von 24 <strong>und</strong> mehr wurden für die LKB zugr<strong>und</strong>e gelegt. In dieser<br />

Studie wurde u. a. belegt, dass die Erfassung des Kurzzeitgedächtnisses entscheidend<br />

ist <strong>in</strong> der Diff erenzierung »leichter kognitiver Bee<strong>in</strong>trächtigungen«<br />

von normalen Kontrollfällen. Zaudig (1995) konnte u. a. zeigen, dass für die<br />

Gruppe »0.5« e<strong>in</strong> durchschnittlicher MMSE-Wert von 25,8 vorliegt, für die<br />

»GDS-Gruppe 3« (Schweregraderfassung der Demenz anhand der Global Deterioration<br />

Scale, GDS) e<strong>in</strong> MMSE von 24,8. Für »GDS 2« wurde e<strong>in</strong> MMSE-<br />

Wert von 26,9 gef<strong>und</strong>en .<br />

Die MMSE ist das am häufi gsten benutzte quantitative Maß zur E<strong>in</strong>schätzung<br />

der kognitiven Bee<strong>in</strong>trächtigungen, aber im Allgeme<strong>in</strong>en für die Gruppe<br />

der LKB wenig brauchbar (nur im Zusammenhang mit anderen Untersuchungsverfahren<br />

wie z. B. SIDAM oder CAMDEX). Die MMSE ist nur im<br />

Bereich der Demenz reliabel.<br />

Nach Zaudig u. Hiller (1996) <strong>und</strong> Zaudig (1995) können – unter Anwendung<br />

des SIDAM (ICD-10) – folgende Wertebereiche für LKB mit MMSE<br />

<strong>und</strong> SISCO (SIDAM-Gesamt-Score) angegeben werden (. Tab. <strong>3.</strong>3):<br />

4 MMSE: 23–28 Punkte,<br />

4 SISCO: 34–51 Punkte.<br />

Für die Erfassung e<strong>in</strong>er LKB hat sich im <strong>Praxis</strong>alltag das SIDAM bzw. der<br />

Leistungsteil des SIDAM besonders bewährt. Für die Durchführung benötigt<br />

man durchschnittlich 15 M<strong>in</strong>uten (wobei der Test auch an geschulte Sprechst<strong>und</strong>enhilfen<br />

oder Pfl egekräft e delegiert werden kann).


3<br />

40 Kapitel 3 · »Leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung« im Alter<br />

. Tab. <strong>3.</strong>3 Wertebereiche für SIDAM-MMSE <strong>und</strong> SISCO (Zaudig 1995)<br />

<strong>3.</strong>4 Epidemiologie<br />

MMSE a SISCO b<br />

Ke<strong>in</strong>e kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung (KKB) 29–30 52–55<br />

Leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung (LKB) 23–28 34–51<br />

Demenz (DEM) 0–22 0–33<br />

a M<strong>in</strong>i-Mental State Exam<strong>in</strong>ation<br />

b SIDAM-Gesamtwert<br />

Die Daten zur Prävalenz der LKB s<strong>in</strong>d aufgr<strong>und</strong> unterschiedlicher Defi nitionen<br />

noch heterogen (Zaudig 2005). Im Rahmen der <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ären<br />

Langzeitstudie für Erwachsene (ILSE ) wurden die Prävalenzraten von 4 Konzepten<br />

der LKB verglichen (Kratz et al. 1998). Die Autoren fanden unterschiedliche<br />

Prävalenzraten für die AAMI (age-associated memory impairment<br />

), die ACMI (age-consistent memory impairment ), die LLF (late-life forgetfulness<br />

) <strong>und</strong> für den AACD (age<strong>in</strong>g-associated cognitive decl<strong>in</strong>e ).<br />

Aufgr<strong>und</strong> unterschiedlicher Defi nitionen schwanken entsprechend die<br />

Prävalenzzahlen für LKB zwischen 2% <strong>und</strong> 23% (Kratz et al. 1998, . Abb. <strong>3.</strong>4)<br />

<strong>und</strong> 19% <strong>und</strong> 29% bei über 85-Jährigen. Nach Häfner (1991) liegt die Prävalenz<br />

für LKB bei 14% bei den über 65-Jährigen (5% bei mittleren <strong>und</strong> schweren<br />

<strong>Demenzen</strong>).<br />

Die durchschnittliche Überlebenszeit bei Patienten nach Diagnose e<strong>in</strong>er<br />

AD beträgt weniger als 10 Jahre . Die Überlebensrate von Patienten mit jeglichem<br />

Grad e<strong>in</strong>er kognitiven Bee<strong>in</strong>trächtigung ist umgekehrt proportional<br />

zum Grad der Bee<strong>in</strong>trächtigung. Das heißt, je stärker die kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung,<br />

desto höher die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit e<strong>in</strong>er niedrigeren Überlebensrate.<br />

Dieses Ergebnis wurde <strong>in</strong> den allermeisten epidemiologischen Studien<br />

übere<strong>in</strong>stimmend gef<strong>und</strong>en (Bickel u. Cooper 1994, Zaudig 2005).<br />

Wie aus dem oben Genannten bereits hervorgeht, handelt es sich bei Patienten<br />

mit LKB um e<strong>in</strong>e ätiologisch heterogene Gruppe. Bis zu 50% (Petersen


<strong>3.</strong>5 · Therapie<br />

100<br />

80<br />

60<br />

40<br />

20<br />

0<br />

13,50%<br />

41<br />

3<br />

. Abb. <strong>3.</strong>4 Prävalenz (%) der LKB bei über 65-Jährigen (Kratz et al. 1998). AAMI age-associated<br />

memory impairment, ACMI age-consistent memory impairment, LLF late-life forgetfulness,<br />

AACD age<strong>in</strong>g-associated cognitive decl<strong>in</strong>e<br />

et al. 2001) der Patienten entwickeln <strong>in</strong>nerhalb weniger Jahre e<strong>in</strong>e AD. Damit<br />

treten auch entsprechende neurobiologische Risikofaktoren <strong>und</strong> genetische<br />

Ursachen als H<strong>in</strong>weise für die spätere Entwicklung e<strong>in</strong>er Demenz auf (Kurz<br />

1999).<br />

<strong>3.</strong>5 Therapie<br />

6,50%<br />

1,50%<br />

33,50%<br />

AAMI ACMI LLF AACD<br />

Die Pharmakotherapie der LKB im eigentlichen S<strong>in</strong>ne (d. h. wissenschaft lich<br />

gesichert) existiert noch nicht. Ohne e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige <strong>und</strong> auch auf die Ätiologie<br />

bezogene Diagnostik kann es ke<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>nvollen E<strong>in</strong>satz von Medikamenten<br />

geben. Wie bereits oben ausgeführt, ergeben sich mehrere Möglichkeiten<br />

e<strong>in</strong>er ätiologischen Zuordnung für die LKB :<br />

4 e<strong>in</strong>deutig defi nierbare körperliche Erkrankungen, die dann auch entsprechend<br />

spezifi sch behandelt werden können;<br />

4 psychische Erkrankungen, wie z. B. depressive Störungen; auch diese können<br />

spezifi sch behandelt werden;


3<br />

42 Kapitel 3 · »Leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung« im Alter<br />

4 leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigungen im Rahmen psychosozialer Probleme<br />

<strong>und</strong> niederer Intelligenz lassen sich entsprechend psycho- <strong>und</strong> soziotherapeutisch<br />

angehen.<br />

Gehen wir jedoch davon aus, dass die LKB das Vorstadium e<strong>in</strong>er neurodegenerativen<br />

Erkrankung, <strong>in</strong>sbesondere der AD, ist, ergeben sich entsprechend<br />

andere ätiologische <strong>und</strong> damit auch therapeutische Überlegungen; wobei hier<br />

konkurrierend <strong>und</strong> erschwerend noch die Frage der gutartigen Altersvergesslichkeit,<br />

also e<strong>in</strong>es altersspezifi schen Phänomens oder gar e<strong>in</strong>er eigenständigen<br />

gutartigen Erkrankung, h<strong>in</strong>zukommt. In den beiden letztgenannten Fällen<br />

taucht nun die Frage auf, ob prophylaktisch e<strong>in</strong>e beg<strong>in</strong>nende Demenz behandelt<br />

wird oder ob es sich um altersspezifi sche Veränderungen der Hirnzellen<br />

handelt <strong>und</strong> damit e<strong>in</strong>e Verzögerung des Alterns von Hirnnervenzellen<br />

erreicht werden soll (Zaudig 1995, Gauthier et al. 2006).<br />

<strong>3.</strong>5.1 Pharmakotherapie<br />

Die erste Welle kl<strong>in</strong>ischer Untersuchungen der symptomatischen Behandlung<br />

der leichten kognitiven Bee<strong>in</strong>trächtigung mit Donepezil, Galantam<strong>in</strong>, Rivastigm<strong>in</strong>,<br />

Memant<strong>in</strong> mit Behandlungszeiten von 6 Monaten bis 3 Jahren waren<br />

wenig erfolgreich (Petersen u. Morris 2005, Petersen et al. 2005). Zum<strong>in</strong>dest<br />

waren die Ergebnisse sehr heterogen <strong>und</strong> zeigten ke<strong>in</strong>e übere<strong>in</strong>stimmende<br />

Reduzierung der Progressionsrate zur Demenz. Weitere Studien über e<strong>in</strong>en<br />

längeren Follow-up s<strong>in</strong>d geplant. Kontrastierend dazu gibt es allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e<br />

große Zahl von kasuistischen Berichten über gute Eff ekte verschiedener älterer,<br />

aber auch neuerer Antidementiva bei LKB, wobei hier immer zugr<strong>und</strong>e<br />

gelegt werden muss, dass sehr oft diff use diagnostische Konzepte vorlagen.<br />

Meist wurde bei diesen Patienten e<strong>in</strong>e leichte Hirnleistungsstörung festgestellt.<br />

Selbst wenn viele kl<strong>in</strong>ische Prüfungen der 1960er <strong>und</strong> 1970er Jahre mit<br />

den entsprechenden Nootropika aus heutiger Sicht methodisch unzureichend<br />

s<strong>in</strong>d, fällt die E<strong>in</strong>heitlichkeit der positiven Ergebnisse <strong>in</strong>s Auge. Es liegt daher<br />

nahe, die Substanzgruppe der älteren Nootropika , Vitam<strong>in</strong> C <strong>und</strong> E, aber auch<br />

der neueren Antidementiva bei LKB zu erproben.


<strong>3.</strong>5 · Therapie<br />

Die wichtigsten z. Z. für die Indikation für das Demenzsyndrom<br />

zur Verfügung stehenden Antidementiva s<strong>in</strong>d (<strong>Förstl</strong> 2008):<br />

4 Donepezil ,<br />

4 Rivastigm<strong>in</strong> ,<br />

4 Galantam<strong>in</strong> ,<br />

4 Memant<strong>in</strong> .<br />

> Gr<strong>und</strong>sätzlich sollte bei Verdacht auf früh beg<strong>in</strong>nende neurodegenerative<br />

Erkrankung e<strong>in</strong>e pharmakologische Therapie e<strong>in</strong>geleitet<br />

werden.<br />

<strong>3.</strong>5.2 Verhaltenstherapie<br />

43<br />

3<br />

Neben der Pharmakotherapie der LKB gibt es e<strong>in</strong>e Reihe erfolgreicher verhaltenstherapeutischer<br />

(kognitiver) Interventionen <strong>und</strong> Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gsprogramme .<br />

Im Pr<strong>in</strong>zip ist das ganze Spektrum verhaltenstherapeutischer Methodik e<strong>in</strong>setzbar.<br />

Natürlich sollten die Akzente anders gesetzt se<strong>in</strong> als bei dementen<br />

Patienten, bei denen sich verhaltenstherapeutische Kernelemente wie Realitätsorientierung,<br />

Er<strong>in</strong>nerungstherapie <strong>und</strong> Remotivation etabliert haben.<br />

Kognitiv-verhaltenstherapeutische Th erapieverfahren sollten sich bewusst<br />

<strong>und</strong> gezielt nicht nur auf den kognitiven Anteil beziehen, sondern auch auf<br />

Emotionalität <strong>und</strong> Förderung der Kreativität der Patienten mit LKB.<br />

Leider gibt es auch <strong>in</strong> diesem Bereich noch zu wenige kontrollierte Untersuchungen,<br />

die sich speziell mit der Gruppe der LKB befasst hätten. Zusammenfassend<br />

kann hier gesagt werden, dass sich Interventionseff ekte nicht nur<br />

auf gedächtnisbezogenes Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g beziehen sollten, sondern das gesamte Umfeld<br />

des Patienten mit e<strong>in</strong>beziehen müssen im S<strong>in</strong>ne von Bewältigungsstrategien,<br />

Entspannungsverfahren, emotional aktivierenden Verfahren. Dies<br />

sche<strong>in</strong>t den besten prophylaktischen Eff ekt zu gewähren. Zu fordern bleibt<br />

genauso wie im pharmakologischen Bereich die Etablierung von Vergleichsstudien<br />

mit entsprechend langem Follow-up. Der Vergleich sollte sowohl e<strong>in</strong>e<br />

Warte- <strong>und</strong> Plazebogruppe als auch pharmakologisch behandelte Patienten<br />

mit e<strong>in</strong>beziehen (Zaudig 1999).


3<br />

44 Kapitel 3 · »Leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung« im Alter<br />

<strong>3.</strong>5.3 Soziotherapie<br />

Neben mediz<strong>in</strong>ischen, psychiatrischen <strong>und</strong> psychologischen Interventionen<br />

können soziotherapeutische Maßnahmen wichtig se<strong>in</strong> . Ähnlich wie bei <strong>Demenzen</strong><br />

können <strong>in</strong>sbesondere bei sehr frühen Formen der AD Kunst-, Musik-<br />

<strong>und</strong> Tanztherapie <strong>und</strong> psychosoziales Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g nützlich se<strong>in</strong>. Die Auswirkungen<br />

dieser Interventionen auf die Entwicklung der LKB s<strong>in</strong>d mangels<br />

Studien nicht bekannt. Aufgaben des Allgeme<strong>in</strong>arztes im Rahmen e<strong>in</strong>es soziotherapeutischen<br />

Sett<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>sbesondere stützende Gespräche (die Sorgen<br />

<strong>und</strong> Nöte des Patienten ernst zu nehmen) <strong>und</strong>, soweit vom Patienten<br />

gewünscht, E<strong>in</strong>beziehung von Angehörigen . Darüber h<strong>in</strong>aus könnten auch<br />

bei LKB Angehörigengruppen, Problemlösegruppen für Patienten <strong>und</strong> Verstärkung<br />

sozialer Aktivitäten von Nutzen se<strong>in</strong>.<br />

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62


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46 Kapitel 3 · »Leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung« im Alter<br />

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Alzheimer-Demenz<br />

47<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong>, Alexander Kurz <strong>und</strong> Tobias Hartmann<br />

4.1 Term<strong>in</strong>ologie – 48<br />

4.2 Diagnosekriterien – 49<br />

4.3 Symptomatik, Verlauf <strong>und</strong> apparative Bef<strong>und</strong>e – 52<br />

4.<strong>3.</strong>1 Vorstadium – 52<br />

4.<strong>3.</strong>2 Leichtes Demenzstadium – 52<br />

4.<strong>3.</strong>3 Mittelschweres Demenzstadium – 53<br />

4.<strong>3.</strong>4 Schweres Demenzstadium – 54<br />

4.<strong>3.</strong>5 Apparative Bef<strong>und</strong>e – 55<br />

4.4 Epidemiologie, Risikofaktoren <strong>und</strong> Genetik – 56<br />

4.4.1 Häufi gkeit – 56<br />

4.4.2 Risikofaktoren – 57<br />

4.4.3 Genetik – 57<br />

4.5 Neurobiologie der Alzheimer-Demenz – 58<br />

4.5.1 Plaques – 59<br />

4.5.2 Neurofi brillen – 61<br />

4.5.3 Synapsen- <strong>und</strong> Neuronenfunktion – 62<br />

4.5.4 Neuropathologische Aspekte – 62<br />

4.5.5 Funktionelle Neuroanatomie – 62<br />

4.6 Pharmakotherapie – Chol<strong>in</strong>esterasehemmer<br />

<strong>und</strong> Memant<strong>in</strong> – 64<br />

4.7 Kausale Interventionen – 69<br />

4.8 Psychosoziale Interventionen – 69<br />

Literatur – 71<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_4,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

4


4<br />

48 Kapitel 4 · Alzheimer-Demenz<br />

Zum Thema<br />

Die Diagnose Alzheimer-Demenz (AD) wird bei etwa zwei Dritteln der kl<strong>in</strong>isch<br />

untersuchten dementen Patienten gestellt. Bei genauerem H<strong>in</strong>sehen würde man<br />

bei vielen dieser Patienten e<strong>in</strong>e gemischte Demenz mit gleichzeitig vorhandenen<br />

vaskulären <strong>und</strong> anderen Hirnveränderungen erkennen. Die neuropathologischen<br />

Korrelate der AD – Alzheimer-Plaques, Neurofibrillen <strong>und</strong> Verlust funktions fähiger<br />

Neuronen – werden <strong>in</strong> meist ger<strong>in</strong>gerer Ausprägung auch bei anderen<br />

Demenzformen <strong>und</strong> bei nichtdementen alten Menschen nachgewiesen. Das<br />

Lebensalter ist der Hauptrisikofaktor für die Manifestation e<strong>in</strong>er AD . Die seltenen,<br />

vor dem 65. Lebensjahr auftretenden Alzheimer-Erkrankungen beruhen z. T. auf<br />

bereits bekannten autosomal-dom<strong>in</strong>anten Mutationen. Medikamentös stehen<br />

derzeit mit den »Antidementiva« symptomatisch wirksame Behandlungs möglichkeiten<br />

zur Verfügung.<br />

4.1 Term<strong>in</strong>ologie<br />

Alzheimer-Demenz, Demenz vom Alzheimer-Typ, wahrsche<strong>in</strong>liche Alzheimer-Krankheit,<br />

primär degenerative Demenz s<strong>in</strong>d gängige Bezeichnungen<br />

für die kl<strong>in</strong>ische Ersche<strong>in</strong>ungsform; Alzheimer-Krankheit bezeichnet die zugr<strong>und</strong>e<br />

liegenden Hirnveränderungen. Nicht immer werden die Hirnveränderungen<br />

term<strong>in</strong>ologisch klar von der kl<strong>in</strong>ischen Ersche<strong>in</strong>ungsform unterschieden.<br />

Alois Alzheimer beschrieb 1906 <strong>und</strong> 1907 e<strong>in</strong>e präsenile, vor dem 65. Lebensjahr<br />

auft retende degenerative Demenz mit Neurofi brillen , Alzheimer-<br />

Plaques <strong>und</strong> Nervenzellverlust . Die extrazellulären Plaques der damals bereits<br />

bekannten senilen Demenz waren schon 1898 von Redlich beschrieben worden,<br />

die <strong>in</strong>traneuronalen Neurofi brillen im Jahr 1906 von Fuller. Da ke<strong>in</strong>e<br />

überzeugende symptomatische <strong>und</strong> neurobiologische Grenze zwischen der<br />

präsenilen <strong>und</strong> der senilen degenerativen Demenz zu ziehen ist, erfuhr der<br />

Begriff Alzheimer-Demenz (AD), der ursprünglich für die kle<strong>in</strong>e Gruppe der<br />

präsenilen degenerativen <strong>Demenzen</strong> reserviert war, e<strong>in</strong>e Erweiterung auf die<br />

Gesamtgruppe der degenerativen <strong>Demenzen</strong> mit Plaques <strong>und</strong> Neurofi brillen<br />

<strong>und</strong> wurde damit zur e<strong>in</strong>heitlichen Bezeichnung für die <strong>in</strong>sgesamt häufi gste<br />

Demenzform. Ausdrücklich zu warnen ist vor der umgangssprachlich häufi<br />

gen Vermischung von Demenz (Syndrom) <strong>und</strong> AD (Diff erenzialdiagnose,<br />

Krankheitsform).


4.2 · Diagnosekriterien<br />

4.2 Diagnosekriterien<br />

Nach ICD-10 wird die AD bei Vorliegen e<strong>in</strong>es Demenzsyndroms diagnostiziert,<br />

wenn ke<strong>in</strong> ausreichender H<strong>in</strong>weis auf e<strong>in</strong>e andere relevante Ursache besteht<br />

(andere Hirnerkrankungen, systemische Erkrankungen <strong>und</strong> Alkohol-<br />

oder Drogenmissbrauch), die ebenfalls die Symptome erklären könnten.<br />

Kriterien für die kl<strong>in</strong>ische Diagnose e<strong>in</strong>er Alzheimer-Demenz<br />

(gekürzt nach den ICD-10-Forschungskriterien)<br />

1. Die allgeme<strong>in</strong>en Demenzkriterien müssen erfüllt se<strong>in</strong>.<br />

2. Anamnese <strong>und</strong> Untersuchung ergeben ke<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>weise auf andere<br />

potenzielle Demenzursachen wie Hirnerkrankungen (z. B. vaskuläre<br />

Hirnerkrankungen, HIV-Infektion, Morbus Park<strong>in</strong>son, Chorea Hunt<strong>in</strong>gton,<br />

Normaldruckhydrozephalus), systemische Erkrankungen (z. B.<br />

Hypothyreose, Vitam<strong>in</strong>-B12- oder Folsäuremangel, Hyperkalzämie) oder<br />

Alkohol- <strong>und</strong> Drogenmissbrauch.<br />

Die folgenden Fragen müssen also geklärt werden, um e<strong>in</strong>e AD kl<strong>in</strong>isch zu<br />

diagnostizieren <strong>und</strong> damit das Vorliegen e<strong>in</strong>er AD mit neuropathologisch<br />

nachweisbaren Alzheimer-Plaques, Neurofi brillen <strong>und</strong> Neuronenverlust<br />

wahrsche<strong>in</strong>lich zu machen (. Tab. 4.1).<br />

Erst wenn e<strong>in</strong> Demenzsyndrom nachgewiesen ist <strong>und</strong> alle anderen Fragen<br />

sowie CT bzw. MRT ke<strong>in</strong>en ausreichenden H<strong>in</strong>weis auf e<strong>in</strong>e andere maßgebliche<br />

Demenzursache ergeben, liegen den Störungen wahrsche<strong>in</strong>lich vorwiegend<br />

Alzheimer-Hirnveränderungen mit ihrer typischen topographischen<br />

Verteilung zugr<strong>und</strong>e. Umgekehrt ist jedoch mit ke<strong>in</strong>er kl<strong>in</strong>ischen Standarduntersuchung<br />

auszuschließen, dass bei e<strong>in</strong>em Demenzsyndrom <strong>und</strong> H<strong>in</strong>weisen<br />

auf vaskuläre oder andere Hirn- <strong>und</strong> systemische oder Abhängigkeitserkrankungen<br />

ke<strong>in</strong>e Alzheimer-Veränderungen zu den Störungen beitragen.<br />

Seit e<strong>in</strong>iger Zeit lassen sich allerd<strong>in</strong>gs mit radioaktiv markierten Farbstoffen<br />

Alzheimer-typische zerebrale β-Amyloid-Ablagerungen sowie molekulare<br />

Veränderungen <strong>in</strong> der Zerebrosp<strong>in</strong>alfl üssigkeit (β-Amyloid-Abnahme <strong>und</strong><br />

e<strong>in</strong>e Zunahme von Gesamt-Tau sowie Phospho-Tau) bei Personen nachweisen,<br />

die (noch) ke<strong>in</strong>e Symptome e<strong>in</strong>er Demenz zeigen (. Abb. 4.1). Die Alzheimer-typischen<br />

Liquorveränderungen fi nden sich bei etwa 90% der Patien-<br />

49<br />

4


4<br />

50 Kapitel 4 · Alzheimer-Demenz<br />

. Tab. 4.1 Praktisches Vorgehen zur Diagnose e<strong>in</strong>er AD nach den ICD-10-Kriterien<br />

Fragen Bef<strong>und</strong>e <strong>in</strong> Stichworten Antworten<br />

Liegt e<strong>in</strong>e Demenz vor? (Fremd-)Anamnese, Testung Ja<br />

Vaskuläre Hirnerkrankung? Anamnese, neurologische<br />

Symptome <strong>und</strong> Zeichen,<br />

CT oder MRT?<br />

Morbus Park<strong>in</strong>son? Rigor, Hypok<strong>in</strong>ese, Tremor,<br />

auffallende Bradyphrenie<br />

Ne<strong>in</strong><br />

Ne<strong>in</strong><br />

Chorea Hunt<strong>in</strong>gton? Positive Familienanamnese, Chorea Ne<strong>in</strong><br />

Normaldruckhydrozephalus? Fluktuierender Verlauf, Gangstörungen,<br />

Inkont<strong>in</strong>enz, CT oder MRT?<br />

Ne<strong>in</strong><br />

Andere Hirnerkrankungen? Infektion , Tumor etc., CT oder MRT? Ne<strong>in</strong><br />

Systemische Erkrankungen? Kl<strong>in</strong>ische H<strong>in</strong>weise?<br />

Laborprogramm: T 4 , TSH, Vitam<strong>in</strong> B 12 ,<br />

Folsäure, Elektrolyte, Glukose etc.<br />

Alkohol-, Drogen- oder<br />

Medikamentenabhängigkeit?<br />

Genaue Alkoholanamnese,<br />

Benzodiazep<strong>in</strong>e etc.<br />

Ne<strong>in</strong><br />

Ne<strong>in</strong><br />

ten mit manifester AD, bei mehr als zwei Dritteln der Patienten mit leichter<br />

kognitiver Bee<strong>in</strong>trächtigung <strong>und</strong> bei e<strong>in</strong>em Drittel älterer unbee<strong>in</strong>trächtigter<br />

Kontrollpersonen (De Meyer et al. 2010).<br />

Der neurodegenerative Prozess setzt also viele Jahre vor der Manifestation<br />

e<strong>in</strong>, <strong>und</strong> damit bestünde pr<strong>in</strong>zipiell die Chance zu e<strong>in</strong>er Früh<strong>in</strong>tervention.<br />

Diese wissenschaft lich spannenden Diagnoseverfahren s<strong>in</strong>d derzeit jedoch<br />

nicht zu e<strong>in</strong>er zuverlässigen Individualprognose geeignet – außerdem stehen<br />

noch ke<strong>in</strong>e wirksamen kausalen Th erapieverfahren zur Verfügung.<br />

Für die Diagnose e<strong>in</strong>er »Alzheimer-Krankheit« wurden neue Forschungskriterien<br />

vorgeschlagen, die von e<strong>in</strong>em traditionellen Demenzkonzept abweichen<br />

(Dubois et al. 2007, . Tab. 4.2) .<br />

Die Diagnose e<strong>in</strong>er prädemenziellen »Alzheimer-Krankheit« kann nach<br />

Dubois et al. (2007) gestellt werden, wenn entsprechende Defi zite des deklarativen<br />

Gedächtnisses vorliegen <strong>und</strong> entweder Alzheimer-typische strukturelle


4.2 · • Diagnosekriterien<br />

"<br />

Prä-Alzheimer Mel Alzheimer-Demenz<br />

a Abb. 4.1 Die blologlechen Krankheltsprozesee mit e<strong>in</strong>er fj-AmyIokI-Ablagerung Im<br />

Gehirn <strong>und</strong> molekularen Verändel\lngen Im Uquor cerebrosp<strong>in</strong>alls gehen strukturellen<br />

Hlmverändllrungen <strong>und</strong> den kl<strong>in</strong>ischen FunktlonssUlrungen um viele Jahre voraus.<br />

ADL actiYities ofdoi/y liv<strong>in</strong>g. A1llagsbewältigung, FDG-PEf Posilronenemi88ionslomogramm,<br />

MO mlfdcognltlwlmpalrmfllt, leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung, ~TQU Phospho-Tau<br />

a Tm 4.2 Forsch~ien für die »AIEheimer-Kri<strong>in</strong>kheitc.<br />

(Mod. nach Oubois It 11. 200n<br />

1. HiilUptkriterium Störung da episodischen Gedidrtni55eS<br />

2. ZU50Itzkrlterien - Mediotemporale Hlrnmophle<br />

(m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>es mU5Ii erfillit se<strong>in</strong>) - Hypoperfusion oder Hypomet


4<br />

52 Kapitel 4 · Alzheimer-Demenz<br />

> Besondere diagnostische Aufmerksamkeit erfordern Risikopersonen<br />

mit erkrankten Angehörigen ersten Grades <strong>und</strong>/oder mit leichten<br />

kognitiven Defi ziten, die noch nicht zu e<strong>in</strong>er bee<strong>in</strong>trächtigten Alltagsbewältigung<br />

geführt haben.<br />

4.3 Symptomatik, Verlauf <strong>und</strong> apparative Bef<strong>und</strong>e<br />

4.<strong>3.</strong>1 Vorstadium<br />

Schon Jahre vor der e<strong>in</strong>deutigen Entwicklung e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tellektuell bed<strong>in</strong>gten<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigung der Alltagsbewältigung zeigen die Betroff enen subtile neuropsychologische<br />

Defi zite, die jedoch nur bei e<strong>in</strong>gehender Untersuchung<br />

erkennbar <strong>und</strong> prognostisch wenig reliabel s<strong>in</strong>d: Schwierigkeiten beim Abspeichern<br />

neuer Informationen, beim planvollen Handeln oder dem Rückgriff<br />

auf semantische Gedächtnis<strong>in</strong>halte . Die Diff erenzierung zwischen e<strong>in</strong>er<br />

beg<strong>in</strong>nenden AD <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er reversiblen Störung (z. B. Demenzsyndrom der<br />

Depression ) bzw. e<strong>in</strong>em benignen, nichtprogredienten Gedächtnisdefi zit ist<br />

unzuverlässig. Patienten können <strong>in</strong> diesem Stadium Gedächtnisstützen <strong>und</strong><br />

andere supportive Strategien zum Ausgleich ihrer Schwierigkeiten nutzen, sodass<br />

sich die leichten Defi zite nur bei anspruchsvolleren Aufgaben bemerkbar<br />

machen. Retrospektiv wird oft deutlich, dass sich die Patienten schon Jahre<br />

vor der Ausprägung e<strong>in</strong>deutiger Defi zite verstimmt zurückziehen, Herausforderungen<br />

meiden, Alltagsaufgaben nachlässiger bearbeiten <strong>und</strong> versuchen,<br />

Probleme zu kaschieren. Dies kann dazu verleiten, den Patienten e<strong>in</strong>e typische<br />

»Alzheimer-Persönlichkeit« zu unterstellen.<br />

4.<strong>3.</strong>2 Leichtes Demenzstadium<br />

Schwierigkeiten mit dem Lernen <strong>und</strong> der Er<strong>in</strong>nerung prägen bei den meisten<br />

Patienten das kl<strong>in</strong>ische Bild im Stadium e<strong>in</strong>er leichten AD . Im Vergleich zum<br />

Neugedächtnis s<strong>in</strong>d das Ultrakurzzeitgedächtnis (Immediatgedächtnis), das<br />

Kurzzeitgedächtnis (»Behaltensspanne 7 Sek<strong>und</strong>en, 7 Bedeutungse<strong>in</strong>heiten«)<br />

sowie sehr alte deklarative Gedächtnis<strong>in</strong>halte <strong>und</strong> das implizite Gedächtnis<br />

weit weniger bee<strong>in</strong>trächtigt. Die kognitiven Defi zite machen sich nun auch bei<br />

alltäglichen Aufgaben bemerkbar, die planvolles Handeln, organisatorisches


4.3 · Symptomatik, Verlauf <strong>und</strong> apparative Bef<strong>und</strong>e<br />

53<br />

4<br />

Geschick <strong>und</strong> vernünft iges Urteil erfordern. Das Vokabular nimmt ab, die<br />

Sprache wird stockend <strong>und</strong> weniger präzise, selbst wenn die Patienten oberfl<br />

ächlich immer noch e<strong>in</strong>en beredten E<strong>in</strong>druck erwecken. In e<strong>in</strong>fachen neuropsychologischen<br />

Untersuchungen können Wortfi ndungsstörungen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Abnahme <strong>in</strong> der freien Wiedergabe von Wortlisten nachgewiesen werden.<br />

Konstruktive Schwierigkeiten können bei speziellen Zeichenaufgaben demonstriert<br />

werden. Die bee<strong>in</strong>trächtigte räumliche Orientierung stört das<br />

Fahrverhalten , weil die Patienten immer weniger imstande s<strong>in</strong>d, Abstände<br />

<strong>und</strong> Geschw<strong>in</strong>digkeiten e<strong>in</strong>zuschätzen. In diesem Stadium können die Patienten<br />

noch fähig se<strong>in</strong>, viele St<strong>und</strong>en alle<strong>in</strong> zurechtzukommen oder alle<strong>in</strong> zu<br />

leben. Bei anspruchsvolleren organisatorischen Aufgaben (Behördengängen,<br />

Geldgeschäft en) benötigen sie jedoch Unterstützung. Sogenannte »nichtkognitive<br />

Störungen «, wie etwa depressive Symptome, können <strong>in</strong> diesem leichten<br />

Stadium große Bedeutung gew<strong>in</strong>nen. Im Allgeme<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>d diese Störungen<br />

wechselhaft <strong>und</strong> leicht. Ausgeprägt depressive Episoden können jedoch gelegentlich<br />

auft reten <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d teilweise als nachvollziehbare emotionale Reaktionen<br />

auf die e<strong>in</strong>geschränkte Leistungsfähigkeit zu verstehen (. Abb. 4.2).<br />

4.<strong>3.</strong>3 Mittelschweres Demenzstadium<br />

E<strong>in</strong> mittelschweres Demenzstadium entwickelt sich durchschnittlich 3 Jahre<br />

nach Diagnosestellung. Das Neugedächtnis ist nunmehr schwerwiegend bee<strong>in</strong>trächtigt,<br />

auch Störungen des logischen Denkens, Planens <strong>und</strong> Handelns,<br />

Wortfi ndungsstörungen, Paraphasien etc. nehmen deutlich zu. Jährlich ist <strong>in</strong><br />

dieser Phase im Mittel e<strong>in</strong>e Verschlechterung von 3–4 Punkten im sog. M<strong>in</strong>i-<br />

Mental-State-Test (M<strong>in</strong>i-Mental State Exam<strong>in</strong>ation, MMSE) bzw. 7–9 Punkten<br />

im sog. ADAS-cog.-Test (Alzheimer Disease Assessment Scale, kognitiver<br />

Testteil) zu erwarten. Bei 10–20% der Patienten kann zeitweise e<strong>in</strong> Stillstand<br />

oder sogar e<strong>in</strong>e leichte spontane Verbesserung beobachtet werden. Die Patienten<br />

s<strong>in</strong>d im Allgeme<strong>in</strong>en stärker ablenkbar <strong>und</strong> verlieren die E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong><br />

ihre Störung. Komplexere Handlungsabläufe wie Aufgaben im Haushalt, die<br />

Fähigkeit, sich anzuziehen oder zu essen, gehen verloren. Die räumliche Desorientierung<br />

nimmt zu, optische <strong>und</strong> akustische Umgebungsreize werden<br />

häufi g verkannt. Etwa 20% der Patienten entwickeln vorwiegend optische<br />

Halluz<strong>in</strong>ationen. Die emotionale Kontrolle leidet, <strong>und</strong> Ausbrüche verbaler<br />

oder physischer Aggression können auft reten. Ziel- <strong>und</strong> ruheloses Umher-


4<br />

54 Kapitel 4 · Alzheimer-Demenz<br />

. Abb. 4.2 Bee<strong>in</strong>trächtigungen von Antrieb, Stimmung <strong>und</strong> Leistungsfähigkeit sowie das<br />

Auftreten von Störungen des Erlebens <strong>und</strong> Verhaltens (behavioral and psychological symptoms<br />

of dementia, BPSD) s<strong>in</strong>d stadienabhängig. ADL activities of daily liv<strong>in</strong>g, Alltagsbewältigung,<br />

MCI mild cognitive impairment, leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung<br />

wandern, Sammeln <strong>und</strong> Sortieren s<strong>in</strong>d zu beobachten. In diesem Demenzstadium<br />

können die Patienten nicht mehr ohne umfassende Supervision alle<strong>in</strong>e<br />

überleben. Nur durch e<strong>in</strong> engmaschiges System sozialer Hilfen kann die Aufnahme<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Krankenhaus oder Pfl egeheim vermieden oder verzögert werden.<br />

In dieser Erkrankungsphase ist der Druck, bed<strong>in</strong>gt durch die Störungen<br />

des Verhaltens <strong>und</strong> die vielfältigen körperlichen Beschwerden des Patienten,<br />

auf die pfl egenden Angehörigen oder andere Pfl egekräft e am höchsten. Aggressivität<br />

, Ruhelosigkeit , Desorientierung <strong>und</strong> Inkont<strong>in</strong>enz s<strong>in</strong>d die häufi gsten<br />

Ursachen für e<strong>in</strong> Zusammenbrechen der häuslichen Pfl ege <strong>und</strong> damit Risikofaktoren<br />

für e<strong>in</strong>e Heimaufnahme.<br />

4.<strong>3.</strong>4 Schweres Demenzstadium<br />

Im Mittel 6 Jahre nach Diagnosestellung befi nden sich die Patienten mit AD<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em schweren Stadium mit ausgeprägter Bee<strong>in</strong>trächtigung aller kognitiver<br />

Funktionen . Es s<strong>in</strong>d auch frühe Er<strong>in</strong>nerungen kaum mehr abrufb ar, die<br />

Sprache ist reduziert auf simple Phrasen oder e<strong>in</strong>fache Wörter. Die e<strong>in</strong>fachs-


4.3 · Symptomatik, Verlauf <strong>und</strong> apparative Bef<strong>und</strong>e<br />

55<br />

4<br />

ten Bedürfnisse können nicht mehr artikuliert werden. Emotionale Signale<br />

jedoch werden von den Patienten weiterh<strong>in</strong> wahrgenommen. Sie s<strong>in</strong>d vollkommen<br />

abhängig von e<strong>in</strong>er umfassenden Pfl ege. Aggressive Reaktionen<br />

treten möglicherweise auf, wenn die Patienten sich durch Pfl egehandlungen<br />

bedroht fühlen. E<strong>in</strong> Teil der Patienten behält stereotype motorische Abläufe<br />

bei (Schreien, Umherwandern). Neben e<strong>in</strong>er tiefgreifenden Störung der zirkadianen<br />

Rhythmik , die sich bei den Patienten <strong>in</strong>sbesondere durch e<strong>in</strong>e vermehrte<br />

Unruhe <strong>in</strong> den frühen Abendst<strong>und</strong>en bemerkbar macht (sog. s<strong>und</strong>own<strong>in</strong>g<br />

), können Rastlosigkeit <strong>und</strong> Aggressivität auch Ausdruck von Schmerz<br />

se<strong>in</strong>, den der Patient nicht mehr adäquat auszudrücken vermag. Die Patienten<br />

brauchen <strong>in</strong>tensive Unterstützung bei e<strong>in</strong>fachsten Handlungen, z. B. bei der<br />

Essensaufnahme. Harn- <strong>und</strong> Stuhl<strong>in</strong>kont<strong>in</strong>enz treten <strong>in</strong> zunehmendem Maße<br />

auf. Neurologische Störungen (Myoklonie , epileptische Anfälle , park<strong>in</strong>sonoider<br />

Rigor ) können auft reten. Aufgr<strong>und</strong> der jetzt vielfach e<strong>in</strong>setzenden Bettlägerigkeit<br />

entwickeln die Patienten Kontrakturen <strong>und</strong> Dekubitalgeschwüre<br />

sowie sek<strong>und</strong>äre Muskelatrophien <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e negative Elektrolytbilanz . Das<br />

Th rombose- <strong>und</strong> Embolie-Risiko ist deutlich erhöht. Die häufi gsten Todesursachen<br />

s<strong>in</strong>d Pneumonie , gefolgt von Myokard<strong>in</strong>farkt <strong>und</strong> Sepsis . Die Lebenserwartung<br />

der Patienten mit AD ist nach der kl<strong>in</strong>ischen Diagnosestellung um<br />

e<strong>in</strong> Drittel reduziert, dies entspricht e<strong>in</strong>er mittleren Lebenserwartung von<br />

weiteren 5–8 Jahren . Die Mortalität wird verständlicherweise durch längere<br />

Krankheitsdauer, spätes Krankheitsstadium, hohes Alter <strong>und</strong> physische Erkrankungen<br />

erhöht.<br />

4.<strong>3.</strong>5 Apparative Bef<strong>und</strong>e<br />

E<strong>in</strong> »Normalbef<strong>und</strong>« oder die Feststellung e<strong>in</strong>er »altersassoziierten Hirnatrophie«<br />

im kranialen Computertomogra mm (cCT) oder Magnetresonanztomogra<br />

mm (MRT) ist mit der kl<strong>in</strong>ischen Diagnose e<strong>in</strong>er AD vere<strong>in</strong>bar. Radiologen<br />

s<strong>in</strong>d nicht immer ambitioniert genug, um spezifi schere Hirnveränderungen,<br />

etwa im Bereich des Mediotemporallappe ns, herauszuarbeiten. F<strong>in</strong>det<br />

sich ke<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis auf andere spezifi sche <strong>und</strong> ausreichende Demenzursachen<br />

(Hirn<strong>in</strong>far kt, Subduralhämat om, Normaldruckhydrozephal us, Hirntrau<br />

ma, Tum or, Lobäratroph ie, z. B. Morbus Pi ck), kann aus radiologischer<br />

Sicht der kl<strong>in</strong>ische Verdacht auf e<strong>in</strong>e AD nicht zurückgewiesen werden. Auch<br />

ausgeprägte Marklagerveränderung en (Leukoaraiose) s<strong>in</strong>d mit e<strong>in</strong>er AD ver-


4<br />

56 Kapitel 4 · Alzheimer-Demenz<br />

e<strong>in</strong>bar. E<strong>in</strong> sorgfältiger neuroradiologischer Bef<strong>und</strong> kann jedoch auch verraten,<br />

dass sich neben anderen z. B. vaskulären Veränderungen auch H<strong>in</strong>weise<br />

auf e<strong>in</strong>e AD-typische Hippokampusatroph ie bzw. Temporalhornaufweitu ng<br />

zeigen.<br />

In der funktionellen Bildgebung mit der S<strong>in</strong>gle-Photon-Emission Computed<br />

Tomograp hy (SPECT) oder der Positronenemissionstomograph ie (PET)<br />

fi nden sich bei e<strong>in</strong>er typischen AD asymmetrische temporoparietale Veränderungen<br />

von Perfusion oder Metabolismus, die im Verlauf der Erkrankung zunehmen.<br />

Im Elektroenzephalogra mm (EEG) nimmt während des Krankheitsverlaufs<br />

die normale α-Aktivität ab <strong>und</strong> die langsamere θ- <strong>und</strong> δ-Aktivität zu.<br />

Schwere EEG-Veränderungen im frühen oder mittleren Stadium e<strong>in</strong>er Demenz<br />

sprechen gegen e<strong>in</strong>e AD bzw. für das zusätzliche Vorliegen e<strong>in</strong>er anderen<br />

metabolischen oder Hirnerkrankung.<br />

Welche neueren Entwicklungen E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> die Rout<strong>in</strong>ediagnostik der AD<br />

fi nden werden, muss sich zeigen: Dies wären z. B. Messungen von EEG-Kohärenz<br />

<strong>und</strong> -Synchronizität, der Corpus-callosum-Stärke, des Metabolismus im<br />

posterioren Gyrus c<strong>in</strong>guli, der Acetylchol<strong>in</strong>esteraseaktivit ät im Kortex, der<br />

Acetylchol<strong>in</strong>rezeptordich te, der Chol<strong>in</strong>konzentration oder auch der <strong>in</strong>travitalen<br />

Ablagerung von β-Amyloid-Plaques im Gehirn .<br />

4.4 Epidemiologie, Risikofaktoren <strong>und</strong> Genetik<br />

4.4.1 Häufi gkeit<br />

Derzeit gibt es <strong>in</strong> der B<strong>und</strong>esrepublik etwa 1 Mio. manifest Demenzkranker.<br />

Bei 70–90% der Erkrankten wird angenommen, dass der Demenz Alzheimer-<br />

Veränderungen zugr<strong>und</strong>e liegen, die zum Teil durch andere pathologische<br />

Hirnveränderungen überlagert werden. Bei mehr als der Hälft e der Patienten<br />

mit AD werden weitere Demenzerkrankungen <strong>in</strong> der Familie gef<strong>und</strong>en. E<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>deutig dom<strong>in</strong>anter Erbgang kann allerd<strong>in</strong>gs nur selten nachgewiesen werden:<br />

Dies gel<strong>in</strong>gt bei weit weniger als 5% der Patienten .


4.4 · Epidemiologie, Risikofaktoren <strong>und</strong> Genetik<br />

4.4.2 Risikofaktoren<br />

57<br />

4<br />

Risikofaktor Nummer e<strong>in</strong>s für die Mehrzahl der Patienten ist das Lebens alter,<br />

mit dem die altersbezogene Prävalenz der <strong>Demenzen</strong> exponentiell anstei gt.<br />

Die geschätzte Verteilung der jährlichen Anzahl von Neuerkrankungen an<br />

Demenz allgeme<strong>in</strong> <strong>und</strong> AD im Besonderen zeigt . Abb. 4.<strong>3.</strong> Daneben wird<br />

e<strong>in</strong>e Reihe anderer Faktoren diskutiert, wie etwa e<strong>in</strong>e Vorschädigung des Gehirns<br />

durch z. B. Schädel-Hirn-Trauma ta sowie somatische Störungen, z. B.<br />

e<strong>in</strong>e Hypothyreo se, Östrogenmang el, Hypercholester<strong>in</strong>äm ie oder psychische<br />

Erkrankungen, z. B. e<strong>in</strong>e Depressi on. In den Überlegungen der Kl<strong>in</strong>iker <strong>und</strong><br />

<strong>in</strong> der bisherigen Forschung wird die Risikosteigerung durch andere, z. B. vaskuläre<br />

Hirnerkrankung en, die zu e<strong>in</strong>em Diagnosewechsel führen <strong>und</strong> daher<br />

nicht als Risikofaktor für die frühere Manifestation e<strong>in</strong>er AD verstanden werden,<br />

vernachlässigt. E<strong>in</strong> frühzeitiger Aufb au kognitiver Reserven, etwa durch<br />

e<strong>in</strong>e bessere Schulbildung <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e anspruchsvolle Berufstätigkeit mit vielen<br />

sozialen Kontakten, kann möglicherweise das Auft reten e<strong>in</strong>er Demenz verzögern,<br />

jedoch können diese Eigenschaft en auch mit e<strong>in</strong>er bestimmten genetischen<br />

Ausstattung assoziiert se<strong>in</strong>.<br />

4.4.3 Genetik<br />

E<strong>in</strong>e belastete Familienanamnese mit weiteren neurodegenerativen Erkrankungen<br />

(Morbus Park<strong>in</strong>s on, AD) oder Mongolism us erhöht das statistische<br />

Erkrankungsrisi ko.<br />

Etwa 15% der Allgeme<strong>in</strong>bevölkerung s<strong>in</strong>d Träger von Apolipoprote<strong>in</strong>-E4-<br />

Allelen (ApoE4) auf Chromosom 19. Dieser häufi ge Polymorphismus führt<br />

bei Heterozygotie (e<strong>in</strong> ApoE4-Allel) zu e<strong>in</strong>em etwa 3-fachen, bei Homozygotie<br />

(zwei ApoE4-Allele) zu e<strong>in</strong>em etwa 10-fachen Risiko, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten<br />

Alter an e<strong>in</strong>er AD zu erkranken. Etwa 60% der Patienten mit kl<strong>in</strong>isch<br />

diagnostizierter AD s<strong>in</strong>d hetero- oder homozygote ApoE4-Träger. ApoE4<br />

führt zu e<strong>in</strong>er stärkeren Amyloidablagerung (Grimmer et al. 2010) <strong>und</strong> ist<br />

zusätzlich e<strong>in</strong> Risikofaktor für Gefäßkrankheiten, also auch für vaskuläre<br />

Hirnveränderungen, für die es jedoch weder e<strong>in</strong>e notwendige noch e<strong>in</strong>e h<strong>in</strong>reichende<br />

Voraussetzung darstellt. Dies gilt <strong>in</strong> gleichem Maß für die degenerativen<br />

Hirnerkrankungen. Vermutlich werden <strong>in</strong> den nächsten Jahren noch<br />

weitere relevante Polymorphismen entdeckt.


4<br />

58 Kapitel 4 · Alzheimer-Demenz<br />

. Abb. 4.3 Geschätzte Verteilung der jährlichen Anzahl von Neuerkrankungen (Inzidenz)<br />

an Demenz im Allgeme<strong>in</strong>en <strong>und</strong> Alzheimer-Demenz im Besonderen; blau Demenzsyndrom,<br />

weiß Alzheimer-Demenz. (Mod. nach Bickel et. al. 2006)<br />

Bei e<strong>in</strong>em Teil der Patienten mit familiärer, meist präsenil auft retender<br />

AD konnten autosomal-dom<strong>in</strong>ante Mutation en mit hoher Manifestationsrate<br />

(Penetranz) identifi ziert werden (. Tab. 4.3). Bisher waren <strong>in</strong>ternational<br />

bei über 100 Familien <strong>in</strong>sgesamt mehr als 100 Mutationen im Bereich des Präsenil<strong>in</strong>-1-Ge<br />

ns auf Chromosom 14 nachzuweisen <strong>und</strong> bei über 10 Familien<br />

Mutation en im Bereich des Präsenil<strong>in</strong>-2-Gens auf Chromosom 1. Mutationen<br />

im Gen für das Amyloidvorläuferprote <strong>in</strong> (Amyloidvorläuferprote<strong>in</strong>, APP)<br />

auf Chromosom 21 fanden sich bei mehr als 20 Familien. Diese bisher bekannten<br />

Mutationen fördern die Überproduktion von β-Amyloid aus APP,<br />

dem aus 42 Am<strong>in</strong>osäuren bestehenden Gr<strong>und</strong>bauste<strong>in</strong> der Alzheimer-Plaques.<br />

4.5 Neurobiologie der Alzheimer-Demenz<br />

Das Membranprote<strong>in</strong> APP wird zum überwiegenden Teil <strong>in</strong>nerhalb der β-<br />

Amyloid-Sequenz gespalten . Im ungünstigen Fall entsteht entweder durch<br />

e<strong>in</strong>e höhere Gendosis, wie bei der Trisomie 21 (Morbus Down), oder durch


4.5 · Neurobiologie der Alzheimer-Demenz<br />

. Tab. 4.3 Missense-Mutation en als Ursachen <strong>und</strong> Polymorphism en als Risikofaktoren<br />

e<strong>in</strong>er Alzheimer-Demenz<br />

59<br />

4<br />

e<strong>in</strong>e vermehrte Spaltung der APP an den Enden des 42 Am<strong>in</strong>osäuren langen<br />

Amyloidbereichs zusätzliches β-Amyloid. Die ursprünglich nur vermuteten<br />

APP-spaltenden Sekretasen wurden <strong>in</strong>zwischen teilweise identifi ziert (. Abb.<br />

4.4). β-Amyloid entfaltet se<strong>in</strong>e toxische Wirkung vermutlich bereits <strong>in</strong>nerhalb<br />

der Neurone <strong>und</strong> ist extraneuronal weitgehend unschädlich. Die physiologische<br />

Funktion des APP <strong>und</strong> der Amyloid-Peptide ist weitgehend ungeklärt.<br />

Die Abwesenheit von APP führt im Tiermodell zu e<strong>in</strong>er verstärkten Cholester<strong>in</strong>bildung,<br />

<strong>und</strong> dies weist auf ganz andere metabolische Wirkungen von APP<br />

<strong>und</strong> β-Amyloid h<strong>in</strong>, die nicht direkt mit Hirnfunktion <strong>und</strong> Neurodegeneration<br />

zu tun haben.<br />

4.5.1 Plaques<br />

Chromosom Risiko Relevanz<br />

Autosomal-dom<strong>in</strong>ante (Missense-)Mutationen Sehr selten!<br />

Amyloidvorläuferprote<strong>in</strong><br />

21 Nahe 100% Familiäre, meist präsenile<br />

Erkrankungen a<br />

Präsenil<strong>in</strong> 1 14 Nahe 100%<br />

Präsenil<strong>in</strong> 2 1 Nahe 100% a<br />

Polymorphismen Sehr häufig<br />

ApoE-<br />

Polymorphismus<br />

19 Relative<br />

Risiko steigerung<br />

α 2 -Makroglobul<strong>in</strong> 12 Relative<br />

Risiko steigerung<br />

a Diese Erkrankungen können sich auch im Senium manifestieren.<br />

Vor allem sporadische <strong>und</strong><br />

senile Erkrankungen<br />

Plaques (»senile Drusen«) bestehen zum großen Teil aus extrazellulär aggregiertem<br />

β-Amyloid sowie Apolipoprote<strong>in</strong> E, Präsenil<strong>in</strong> , Ubiquit<strong>in</strong> <strong>und</strong> ande-


4<br />

60 Kapitel 4 · Alzheimer-Demenz<br />

Golgi-<br />

Vesikel<br />

. Abb. 4.4 Spaltung des Amyloidvorläuferprote<strong>in</strong>s (APP) durch die α- oder β- <strong>und</strong> γ-Sekretase<br />

im Golgi-Apparat , ER endoplasmatisches Retikulum<br />

ren Bauste<strong>in</strong>en. Sie s<strong>in</strong>d als diff use Ablagerungen bereits Jahrzehnte vor E<strong>in</strong>treten<br />

e<strong>in</strong>er Demenz <strong>in</strong> der Großhirnr<strong>in</strong>de nachzuweisen. Diff use Plaques<br />

konnten auch akut nach Hirntraumata gezeigt werden. Im Verlauf des degenerativen<br />

Krankheitsprozesses fi nden sich <strong>in</strong> den Plaques vermehrt dystrophe<br />

Neuriten, also Ausläufer degenerativ veränderter Neurone. Volumen <strong>und</strong><br />

Dichte der Plaques nehmen zu. Der Randbereich neuritischer Plaques besteht<br />

aus aktivierter Mikroglia <strong>und</strong> Astrozyten sowie molekularen Entzündungs<strong>in</strong>dikatoren<br />

(Zytok<strong>in</strong>e , C-reaktives Prote<strong>in</strong> <strong>und</strong> andere). Amyloid lagert sich<br />

nicht ausschließlich <strong>in</strong> Form der Plaques ab, sondern bei fast allen Patienten<br />

mit AD auch perivaskulär. Diese Gefäßamyloidose (kongophile Angiopathie)<br />

kann zu neuroradiologisch darstellbaren Marklagerveränderungen (Leukoaraiose)<br />

beitragen.


4.5 · Neurobiologie der Alzheimer-Demenz<br />

4.5.2 Neurofi brillen<br />

61<br />

4<br />

Neurofi brillen stellen sich elektronenmikroskopisch als paarige, helikale<br />

Strukturen dar (paired helical fi laments , PHF) <strong>und</strong> bestehen v. a. aus dem hyperphosphorylierten<br />

Tau-Prote<strong>in</strong> , e<strong>in</strong>em pathologisch veränderten, mikrotubulären<br />

Transporteiweiß. Neurofi brillen treten sowohl bei der AD als auch bei<br />

zerebrovaskulären Erkrankungen, der Boxerdemenz <strong>und</strong> der subakut sklerosierenden<br />

Panenzephalitis (SSPE) auf. Die Ausbreitung der neurofi brillären<br />

Veränderungen folgt bei der AD meist e<strong>in</strong>em typischen Muster, das von Braak<br />

u. Braak (1991) akribisch beschrieben wurde <strong>und</strong> von großer Bedeutung für<br />

das Verständnis der kl<strong>in</strong>ischen Symptomatik ist . In den präkl<strong>in</strong>ischen Stadien<br />

I <strong>und</strong> II s<strong>in</strong>d die <strong>in</strong>traneuronalen Neurofi brillen auf die Regio transentorh<strong>in</strong>alis<br />

begrenzt; <strong>in</strong> den Stadien III <strong>und</strong> IV s<strong>in</strong>d die Regio ento- <strong>und</strong> transentorh<strong>in</strong>alis<br />

noch stärker verändert, während der Prozess zusätzlich weitere<br />

Teile des limbischen Systems erfasst. Messbare kl<strong>in</strong>ische Defi zite treten erst <strong>in</strong><br />

den Stadien V <strong>und</strong> VI auf, sobald über den Allokortex h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong>e Neurofi brillenablagerung<br />

auch <strong>in</strong> den Assoziationsarealen der Großhirnr<strong>in</strong>de erfolgt.<br />

Kognitive Defi zite s<strong>in</strong>d also meist erstens mit e<strong>in</strong>er Neurofi brillenablagerung<br />

im Bereich der polymodalen neokortikalen Assoziationsareale verb<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> zweitens mit e<strong>in</strong>em Nachweis weniger streng lokalisierter Amyloid-Plaques.<br />

Neurofi brillen s<strong>in</strong>d nach dem Absterben <strong>und</strong> der Aufl ösung der Neuronen<br />

noch als schwer lösliche Filamente im Neuropil zu erkennen (ghost<br />

tangles ).<br />

4.5.3 Synapsen- <strong>und</strong> Neuronenfunktion<br />

Synapsen- <strong>und</strong> Neuronenfunktion s<strong>in</strong>d unmittelbar entscheidend für die <strong>in</strong>tellektuelle<br />

Leistung. Dementsprechend eng s<strong>in</strong>d die Korrelationen zwischen<br />

reduzierter Synapsendichte <strong>und</strong> abnehmender Testleistung bzw. zunehmendem<br />

Demenzstadium. Die Beziehungen zwischen Lokalisation der Hirnveränderungen<br />

<strong>und</strong> kl<strong>in</strong>ischer Symptomatik s<strong>in</strong>d gut belegt. Die Kausalkette<br />

<strong>und</strong> die Vernetzungen zwischen β-Amyloid, β-Amyloid-Plaques, hyperphosphoryliertem<br />

Tau, Neurofi brillen <strong>und</strong> neuronaler Funktion s<strong>in</strong>d im Detail<br />

noch zu klären.


4<br />

62 Kapitel 4 · Alzheimer-Demenz<br />

4.5.4 Neuropathologische Aspekte<br />

Neuropathologisch ist die kl<strong>in</strong>ische Verdachtsdiagnose e<strong>in</strong>er AD mit operationalisierten<br />

Kriterien post mortem angeblich bei mehr als 80% der Patienten<br />

zu bestätigen. In neueren neuropathologischen Diagnosekriterien wird klargestellt,<br />

dass es sich bei der neuropathologischen Validierung ebenfalls nur<br />

um e<strong>in</strong>e Wahrsche<strong>in</strong>lichkeitsaussage <strong>und</strong> nicht um e<strong>in</strong>e kategoriale Richtig-<br />

Falsch-Entscheidung handeln kann (Hyman u. Trojanowski 1997, . Tab. 4.4) .<br />

In jüngster Zeit mehren sich die H<strong>in</strong>weise darauf, dass bei dieser Betrachtung<br />

die Komorbidität mit anderen Hirnerkrankungen meist unterschätzt wurde;<br />

Plaques <strong>und</strong> Neurofi brillen waren zwar <strong>in</strong> ausreichender Zahl vorhanden, um<br />

die Verdachtsdiagnose e<strong>in</strong>er AD weiter zu erhärten, jedoch wurden andere<br />

vaskuläre oder degenerative Veränderungen meist nicht dokumentiert.<br />

4.5.5 Funktionelle Neuroanatomie<br />

Funktionell führen diese ausgeprägten Hirnveränderungen)<br />

1. zu e<strong>in</strong>er De-Aff erenzierung <strong>und</strong> -Eff erenzierung des limbischen Systems ,<br />

2. zu e<strong>in</strong>er nachhaltigen Schädigung neokortikaler Feedforward- <strong>und</strong> Feedback-Systeme<br />

(Verschaltungen von niedrigeren zu höheren Assoziationsarealen<br />

<strong>und</strong> zurück),<br />

<strong>3.</strong> zu e<strong>in</strong>er chol<strong>in</strong>ergen Denervation des Neokortex (Teipel et al. 2006).<br />

Der chol<strong>in</strong>erge Nucleus basalis Meynert des basalen Vorderhirns ist verantwortlich<br />

für die chol<strong>in</strong>erge Versorgung des gesamten Neokortex , des Nucleus<br />

amygdalae <strong>und</strong> des Nucleus reticularis thalami . Die Nuclei des diagonalen<br />

Bandes (Broca) <strong>und</strong> des Septums liefern die chol<strong>in</strong>erge Versorgung des Hippokampus<br />

. Im Neokortex führt Acetylchol<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>er Reduktion des Kaliumruhepotenzials<br />

<strong>und</strong> damit zu e<strong>in</strong>er höheren neuronalen Erregbarkeit. Gleichzeitig<br />

wird die Aktivität GABAerger Interneurone gesteigert <strong>und</strong> damit die<br />

kortikale Exzitation stärker fokussiert. Überdies dämpft Acetylchol<strong>in</strong> die Aktivität<br />

thalamischer Schrittmacherneurone . Diese drei Eff ekte erleichtern e<strong>in</strong>e<br />

geordnete neokortikale Verarbeitung sensorischer oder endogener Exzitation,<br />

<strong>und</strong> sie erhöhen die Aufmerksamkeit. Die chol<strong>in</strong>ergen Kerngruppen des basalen<br />

Vorderhirns können damit als prom<strong>in</strong>enter Teil des aufsteigenden retikulären<br />

aktivierenden Systems (ARAS) angesehen werden. Acetylchol<strong>in</strong> trägt


4.5 · Neurobiologie der Alzheimer-Demenz<br />

. Tab. 4.4 Neuropathologische Kriterien zur E<strong>in</strong>schätzung der Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />

für das Vorliegen e<strong>in</strong>er Alzheimer-Demenz. (Mod nach Hyman u. Trojanowski 1997)<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />

für das Vor liegen<br />

e<strong>in</strong>er AD<br />

Dichte der<br />

Plaques<br />

Dichte der<br />

Neurofibrillen<br />

63<br />

Braak-Stadium: Ausbreitung<br />

der Neurofibrillen<br />

Ger<strong>in</strong>g + + I/II: (trans)entorh<strong>in</strong>aler Kortex<br />

Mittel ++ ++ III/IV: limbisches System<br />

Hoch +++ +++ V/VI: Neokortex<br />

4<br />

wesentlich zu den Resonanzeigenschaft en jener ausgedehnten hippokamponeokortikalen<br />

Schw<strong>in</strong>gkreise bei, die für Abspeichern <strong>und</strong> Abruf von Gedächtnis<strong>in</strong>halten<br />

verantwortlich s<strong>in</strong>d. Bei der AD <strong>und</strong> anderen degenerativen<br />

Hirnerkrankungen, etwa dem Morbus Park<strong>in</strong>son , erleiden der Nucleus basalis<br />

Meynert <strong>und</strong> andere chol<strong>in</strong>erge Zellverbände des basalen Vorderhirns e<strong>in</strong>en<br />

erheblichen Zelluntergang von bis zu 80%, der durch <strong>in</strong>tensive, aber aberrante<br />

dendritische Sprossungsprozesse unzureichend kompensiert wird. Neben<br />

dem Nucleus basalis Meynert s<strong>in</strong>d jedoch e<strong>in</strong>e Reihe wichtiger am<strong>in</strong>erger<br />

Kerngebiete des Hirnstamms betroff en <strong>und</strong> weisen e<strong>in</strong>en erheblichen Neuronenverlust<br />

auf (. Abb. 4.5). Veränderungen im dopam<strong>in</strong>ergen, noradrenergen<br />

<strong>und</strong> serotonergen System tragen möglicherweise zu den Störungen von<br />

Antrieb <strong>und</strong> Aff ekt bei.<br />

4.6 Pharmakotherapie – Chol<strong>in</strong>esterasehemmer<br />

<strong>und</strong> Memant<strong>in</strong><br />

Derzeit zielt die Pharmakotherapie der AD auf die Ebene der Neurotransmitter,<br />

<strong>und</strong> zwar v. a. auf die Kompensation e<strong>in</strong>es chol<strong>in</strong>ergen Defi zits <strong>und</strong> die<br />

Modulation der glutamatergen Neurotransmission. Im Stadium der manifesten<br />

Demenz s<strong>in</strong>d jedoch zahlreiche weitere Neurotransmittersysteme betroffen<br />

.<br />

Während durch die neurodegenerative Schädigung der chol<strong>in</strong>ergen Kerngebiete<br />

die Acetylchol<strong>in</strong>produktion beim Übergang von leichten kognitiven<br />

Störungen zur manifesten Demenz zurückgeht, wird das noch vorhandene


4<br />

64 Kapitel 4 · Alzheimer-Demenz<br />

Hippokampus<br />

Thalamus<br />

Basales Vorderhirn<br />

(Nucleus basalis Meynert)<br />

Neurotransmitter: Acetylchol<strong>in</strong><br />

Neuronenverlust: bis zu 80%<br />

Locus coeruleus<br />

Neurotransmitter: Noradrenal<strong>in</strong><br />

Neuronenverlust: 50–70%<br />

Raphe-Kerne<br />

Neurotransmitter: Seroton<strong>in</strong><br />

Neuronenverlust: 20–40%<br />

. Abb. 4.5 Schematische Darstellung der subkortikalen chol<strong>in</strong>ergen, noradrenergen <strong>und</strong><br />

serotonergen Kerngebiete, die mit ihren langen Axonen den Neokortex <strong>und</strong> das limbische<br />

System <strong>in</strong>nervieren <strong>und</strong> die bei der Alzheimer-Demenz von ausgeprägten neurodegenerativen<br />

Veränderungen betroff en s<strong>in</strong>d. (Mod. nach Arendt 1999)<br />

Acetylchol<strong>in</strong> im synaptischen Spalt durch unverm<strong>in</strong>dert leistungsfähige<br />

Chol<strong>in</strong>esterasen gespalten. Die Aktivität dieser Chol<strong>in</strong>esterasen wird durch<br />

Chol<strong>in</strong>esterase<strong>in</strong>hibitoren reduziert. Die drei wichtigsten, zur Behandlung<br />

der leichten <strong>und</strong> mittelschweren AD zugelassenen, Chol<strong>in</strong>esterasehemmstoff e<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> . Tab. 4.5 aufgeführt. Memant<strong>in</strong> ist e<strong>in</strong> Modulator der glutamatergen<br />

Neurotransmission <strong>und</strong> für die Behandlung der mittelschweren <strong>und</strong> schweren<br />

AD zugelassen (. Tab. 4.5).<br />

Chol<strong>in</strong>esterasehemmer <strong>und</strong> Memant<strong>in</strong> führen zu e<strong>in</strong>er Parallelverschiebung<br />

der Symptome um mehrere Monate (. Abb. 4.6). Dabei ist der »natürliche«<br />

Symptomverlauf e<strong>in</strong>es unbehandelten Patienten <strong>in</strong>dividuell nicht vorherzusagen.<br />

Das Fortschreiten des neurodegenerativen Prozesses mit e<strong>in</strong>er<br />

resultierenden kl<strong>in</strong>ischen Verschlechterung darf nicht mit der Unwirksamkeit<br />

der Medikamente verwechselt werden. Deshalb ist die Unterscheidung von<br />

verme<strong>in</strong>tlichen »Respondern«, die auf die Th erapie ansprechen, <strong>und</strong> »Non-<br />

Respondern« <strong>in</strong> der <strong>Praxis</strong> nicht s<strong>in</strong>nvoll. Umso wichtiger ist es angesichts der<br />

im E<strong>in</strong>zelfall nur unzuverlässig nachweisbaren, »fühlbaren« Wirkung mit gro-


4.6 · Pharmakotherapie<br />

65<br />

4<br />

ßer Sorgfalt auf Kontra<strong>in</strong>dikationen, Interaktionen <strong>und</strong> Nebenwirkungen zu<br />

achten (. Ta b. 4 . 5).<br />

Bei den Chol<strong>in</strong>esterasehemmern <strong>und</strong> Memant<strong>in</strong> gibt es e<strong>in</strong>e Reihe mehr<br />

oder weniger günstiger Voraussetzungen dafür, dass die Substanzen ihre<br />

pharmakologische Wirkung zeigen können.<br />

Bed<strong>in</strong>gungen für e<strong>in</strong>e pharmakologische Wirksamkeit<br />

von Antidementiva<br />

Vorteilhaft s<strong>in</strong>d:<br />

4 Adhärenz<br />

4 Zuverlässige Betreuungsperson<br />

4 Wahrsche<strong>in</strong>liche Alzheimer-Demenz (mit möglichst ger<strong>in</strong>ger<br />

Komorbidität)<br />

4 Mittelschweres Stadium (hier s<strong>in</strong>d Veränderungen meist deutlicher<br />

wahrzunehmen <strong>und</strong> zu messen)<br />

4 Bisher rasche Verschlechterung<br />

4 Rasches subjektives Ansprechen<br />

4 »Chol<strong>in</strong>opathie-Merkmale« (vorteilhaft bei der Gabe von<br />

Chol<strong>in</strong>esterasehemmern: Aufmerksamkeitsstörungen, fluktuierender<br />

Verlauf, visuelle Halluz<strong>in</strong>ationen, Verwirrtheitszustände; für wissenschaftliche<br />

Zwecke: allgeme<strong>in</strong>verändertes quantitatives EEG, schmächtiger<br />

Nucleus basalis Meynert)<br />

4 Apolipoprote<strong>in</strong> E4


4<br />

66 Kapitel 4 · Alzheimer-Demenz<br />

. Tab. 4.5 Symptomatisch wirksame Antidementiva – Chol<strong>in</strong>esterasehemmer <strong>und</strong><br />

Memant<strong>in</strong><br />

Donepezil Galantam<strong>in</strong> Rivastigm<strong>in</strong> Memant<strong>in</strong><br />

Chemie Piperid<strong>in</strong> Phenanthrenalkaloloid<br />

Phenylcarbamat<br />

Am<strong>in</strong>oadamant<strong>in</strong><br />

Pr<strong>in</strong>zip Chol<strong>in</strong>esterasehemmer Glutamatmodulator<br />

Reversibler,<br />

selektiver<br />

AChE-I mit<br />

regional<br />

unterschiedlicher<br />

G1- bis<br />

G4-Aff<strong>in</strong>ität<br />

Rezeptoren � Noradrenal<strong>in</strong>-<br />

<strong>und</strong><br />

Dopam<strong>in</strong>verfügbarkeit<br />

Anfangsdosis<br />

(mg/Tag)<br />

Zieldosis<br />

(mg/Tag)<br />

Darreichungsform<br />

Präsynaptisch<br />

nikot<strong>in</strong>erger<br />

Agonist,<br />

steigert ACh-<br />

Freisetzung;<br />

spezifischer<br />

AchE-I<br />

Allosterische<br />

Nikot<strong>in</strong>rezeptorstimulation<br />

Pseudoirreversibler<br />

BuChE-I<br />

> AChE-I mit<br />

höherer Aff<strong>in</strong>ität<br />

zur G1-<br />

Form der ChE<br />

Ke<strong>in</strong>e<br />

Interaktionen<br />

5 8 3/4,6 10<br />

10 24 12 20<br />

Tbl. Tbl., Lösung Tbl., Lösung,<br />

Pflaster<br />

Zulassung AD, l + m AD, l + m AD, l + m<br />

PDD<br />

Kontra<strong>in</strong>dikationen<br />

Bioverfügbarkeit<br />

Plasmaeiweißb<strong>in</strong>dung<br />

Bradykardie, Sick-S<strong>in</strong>us-Syndrom, AV-Block,<br />

kardiale Reizleitungsstörungen<br />

Asthma, chronisch-obstruktive Atemwegserkrankung,<br />

Emphysem, Magenulkus, Prostatahyperplasie,<br />

zerebrale Anfälle<br />

Allergie auf die jeweilige Substanz<br />

Nichtkompetitiver<br />

NMDA-<br />

Antagonismus<br />

Antioxidativ,<br />

steigert BDNF-<br />

Produktion<br />

s. oben<br />

Tbl., Lösung<br />

AD, m + s<br />

99% 90% 40% 100%<br />

96% 18% 40% 45%<br />

Schwere Nie ren<strong>in</strong><br />

suffi zienz,<br />

Harnwegs<strong>in</strong>fekt,<br />

tubuläre Azidose,<br />

zerebrale Anfälle<br />

Memant<strong>in</strong>-Über -<br />

empf<strong>in</strong>d lich keit


4.6 · Pharmakotherapie<br />

. Tab. 4.5 Fortsetzung<br />

Symptomatisch wirksame Antidementiva – Chol<strong>in</strong>esterasehemmer <strong>und</strong><br />

Memant<strong>in</strong><br />

Metabolisierung,<br />

hepatisch<br />

Elim<strong>in</strong>ation,<br />

renal<br />

Elim<strong>in</strong>ationshalbwertszeit<br />

Donepezil Galantam<strong>in</strong> Rivastigm<strong>in</strong> Memant<strong>in</strong><br />

CYP2D6, CYP3A4, Glukuronidierung<br />

67<br />

Kaum Kaum<br />

60% 20% 97% 99%<br />

70 h 7 h 1,5 h/12 h a 60–100 h<br />

Interaktionen Chol<strong>in</strong>ergika <strong>und</strong> Antichol<strong>in</strong>ergika<br />

Kardiaka (kardiale Reizleitungsstörungen!)<br />

Nichtsteroidale Antirheumatika (Ulkus!);<br />

Carbamazep<strong>in</strong>, Erythromyc<strong>in</strong>, Ketoconazol,<br />

Kortison, Paroxet<strong>in</strong>, Phenobarbital, Phenyto<strong>in</strong>,<br />

Qu<strong>in</strong>id<strong>in</strong>, Rifampiz<strong>in</strong> (Cytochromoxidasen!)<br />

Neuroleptika (vermehrte EPMS)<br />

Internistische<br />

Nebenwirkungen<br />

Intoxikationen<br />

Appetitlosigkeit, Erbrechen, Diarrhö/Obstipation,<br />

Dehydrierung, Schw<strong>in</strong>del, Muskelkrämpfe,<br />

Erschöpfung, Herzrhythmusstörungen,<br />

Hypotonie, Nykturie<br />

Chol<strong>in</strong>erges Syndrom mit Übelkeit, Erbrechen,<br />

Schwitzen, Bradykardie, AV-Block, Synkopen<br />

Antidot: Atrop<strong>in</strong> i.v.<br />

4<br />

Amantad<strong>in</strong>, Dextromethorphan,<br />

Ketam<strong>in</strong> (NMDA-<br />

Rezeptorantagonisten);Triamteren,<br />

Cimetid<strong>in</strong>,<br />

Nikot<strong>in</strong>, Ranitid<strong>in</strong>,<br />

Qu<strong>in</strong>id<strong>in</strong>,<br />

Natriumbikarbonat<br />

(Konkurrenz<br />

bei tubulärer<br />

Exkretion <strong>und</strong><br />

Alkalisierung)<br />

Hypertonus,<br />

Ödeme,<br />

Schw<strong>in</strong>del,<br />

Kopfschmerzen<br />

Halluz<strong>in</strong>ationen,<br />

Verwirrtheit,<br />

Bewusstse<strong>in</strong>sverlust<br />

Therapie: Azidifi -<br />

zierung des Ur<strong>in</strong>s<br />

a Hier ist es mit dem Pflaster <strong>und</strong> se<strong>in</strong>en pharmakok<strong>in</strong>etischen Vorteilen gelungen, das<br />

Präparat weit besser verträglich <strong>und</strong> damit erst richtig anwendbar zu machen.<br />

Ach Acetylchol<strong>in</strong>, AchE-I Acetylchol<strong>in</strong>esterasehemmer, BuChE-I Butyrylchol<strong>in</strong>esterasehemmer,<br />

BDNF bra<strong>in</strong>-derived neurotrophic factor, AD Alzheimer-Demenz, l leicht,<br />

m mittelschwer, s schwer, PDD Demenz bei Morbus Park<strong>in</strong>son, CYP Cytochromoxidasen,<br />

EPMS extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen.


4<br />

68 Kapitel 4 · Alzheimer-Demenz<br />

Kognitive Leistung<br />

Alltagsbewältigung<br />

Monate<br />

. Abb. 4.6 Der »natürliche« Symptomverlauf e<strong>in</strong>er unbehandelten AD ist <strong>in</strong>dividuell heterogen<br />

<strong>und</strong> nicht vorherzusagen. Wie <strong>in</strong> den Zulassungsstudien nachgewiesen, kann im Vergleich<br />

von großen Patientengruppen e<strong>in</strong>e Parallelverschiebung der Symptome um mehrere<br />

Monate durch die Antidementiva erreicht werden. Der durchschnittliche Verlauf der kognitiven<br />

oder lebenspraktischen Fähigkeiten lässt sich meist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er sigmoiden Kurve darstellen;<br />

<strong>in</strong> dieser Abbildung s<strong>in</strong>d auch die <strong>in</strong>dividuellen Entwicklungen über jeweils etwa e<strong>in</strong> Jahr<br />

als Striche skizziert. Daraus ist ersichtlich, dass sich <strong>in</strong>dividuell die Eff ekte e<strong>in</strong>er Intervention<br />

(Response versus Non-Reponse) nicht zuverlässig abschätzen <strong>und</strong> nicht messen lassen<br />

Bed<strong>in</strong>gungen für e<strong>in</strong>e pharmakologische Wirksamkeit<br />

von Antidementiva<br />

Nachteilig s<strong>in</strong>d:<br />

4 Zerstörte Hoffnung<br />

4 Depression<br />

4 Fehlende Krankheitse<strong>in</strong>sicht (auch von Angehörigen <strong>und</strong> Behandlern)<br />

4 Somatische <strong>und</strong> zerebrale Multimorbidität (Ausnahme:<br />

Doppelpathologie von Alzheimer- <strong>und</strong> Park<strong>in</strong>son-Veränderungen, also<br />

die sog. Demenz mit Lewy-Körperchen, bei der Chol<strong>in</strong>esterasehemmer<br />

aufgr<strong>und</strong> des besonders ausgeprägten Acetylchol<strong>in</strong>mangels überdurchschnittlich<br />

helfen)<br />

7


4.8 · Psychosoziale Interventionen<br />

4 Polypharmazie, v. a. mit antichol<strong>in</strong>erg wirksamen Substanzen<br />

4 Unübersichtliche Verordnung<br />

4 Unregelmäßige Medikamentene<strong>in</strong>nahme<br />

4 Und selbstverständlich Kontra<strong>in</strong>dikationen <strong>und</strong> schwerwiegende<br />

Nebenwirkungen<br />

69<br />

4<br />

Empfehlungen zur Behandlung der AD mit Antidementiva s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> . Tab. 4.6<br />

zusammengefasst.<br />

4.7 Kausale Interventionen<br />

Kausale Th erapie- oder Präventionsverfahren werden derzeit mit großem<br />

Nachdruck entwickelt (aktive <strong>und</strong> passive Immunisierung, Sekretase-Modulatoren<br />

u. v. a.) <strong>und</strong> haben teilweise bereits ihre neurobiologische Wirksamkeit<br />

gezeigt (z. B. Holmes et al. 2008). Die Nebenwirkungen waren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen<br />

Studien erheblich <strong>und</strong> die symptomatischen Eff ekte bei Patienten mit manifester<br />

AD bisher wenig überzeugend. Möglicherweise wird es <strong>in</strong> 20 Jahren<br />

gel<strong>in</strong>gen, nichtdemente Risikopersonen zuverlässig <strong>und</strong> rechtzeitig zu identifi<br />

zieren, die dann e<strong>in</strong>er vertretbaren kausalen Früh<strong>in</strong>tervention zugeführt<br />

werden können.<br />

4.8 Psychosoziale Interventionen<br />

Die »nichtpharmakologische« Förderung <strong>und</strong> Unterstützung der Patienten<br />

mit AD s<strong>in</strong>d selbstverständlich notwendig, <strong>und</strong> <strong>in</strong> den letzten Jahren wurden<br />

zahlreiche Versuche unternommen, diese Verfahren wissenschaft lich weiterzuentwickeln<br />

<strong>und</strong> zu untersuchen. Noch s<strong>in</strong>d die vorhandenen Daten nicht<br />

annähernd so robust wie die Evidenz für die Eff ektivität pharmakologischer<br />

Behandlungsansätze aus randomisierten, doppelt verbl<strong>in</strong>deten, fallkontrollierten<br />

Studien (RDC). Persönliche Interventionen s<strong>in</strong>d nicht verbl<strong>in</strong>dbar.<br />

Gerade weil es methodisch so schwierig ist <strong>und</strong> weil <strong>in</strong> diesem Bereich die<br />

wissenschaft liche Arbeit bisher grob vernachlässigt wurde, besteht hier e<strong>in</strong><br />

besonders hoher Forschungsbedarf (Kurz et al. 2008; Rieckmann et al. 2009).


4<br />

70 Kapitel 4 · Alzheimer-Demenz<br />

. Tab. 4.6 Empfehlungen zur Behandlung der Alzheimer-Demenz mit Antidementiva<br />

nach der deutschen S3-Leitl<strong>in</strong>ie <strong>Demenzen</strong> (DGPPN u. DGN, 2009) <strong>und</strong> dem<br />

Konsensus-Statement der österreichischen Alzheimer-Gesellschaft (Schmidt et al.<br />

2010)<br />

Antidementivum D AU<br />

Chol<strong>in</strong>esterasehemmer<br />

Leichtes <strong>und</strong> mittelschweres Stadium B 1a, A<br />

Schweres Stadium – Donepezil 1b, B 1b, A<br />

Schweres Stadium – Galantam<strong>in</strong> 1b, B –<br />

Absetzen der Therapie im schweren Demenzstadium ist<br />

abzulehnen<br />

– 1a, A<br />

Tägliche E<strong>in</strong>malgabe vorteilhaft – 1a, A<br />

Höchste Dosis soll angestrebt werden 1a, A –<br />

Fortlaufende Gabe bei guter Verträglichkeit B 2a, A<br />

Therapieunterbrechungen s<strong>in</strong>d zu vermeiden – 2b, A<br />

Ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Überlegenheit e<strong>in</strong>es bestimmten Präparats B 1b, B<br />

Versuch e<strong>in</strong>es Präparatewechsels bei Unverträglichkeit empfohlen 2b, B A<br />

Versuch e<strong>in</strong>es Präparatewechsels bei Zweifeln an Wirksamkeit – C<br />

Bei ungünstigem Verhältnis Wirkung/Nebenwirkungen Absetzversuch<br />

erwägen<br />

Memant<strong>in</strong><br />

B –<br />

Im mittelschweren <strong>und</strong> schweren Stadium 1a, B 1a, B<br />

Tägliche E<strong>in</strong>malgabe vorteilhaft – 1b, A<br />

Bei Unverträglichkeit von Chol<strong>in</strong>esterasehemmern im leichten<br />

Stadium<br />

Bei v. a. Unwirksamkeit von Chol<strong>in</strong>esterasehemmern im leichten<br />

Stadium<br />

– 1a, B<br />

– 2b, B


Literatur<br />

. Tab. 4.6 Fortsetzung<br />

Antidementivum D AU<br />

Komb<strong>in</strong>ation von Chol<strong>in</strong>esterasehemmern <strong>und</strong> Memant<strong>in</strong><br />

Bei mittelschwerer <strong>und</strong> schwerer Demenz anzustreben – 1b, A<br />

Bei v. a. mangelnder Wirksamkeit von Chol<strong>in</strong>esterasehemmern – 2b, B<br />

Im schweren Stadium der Monotherapie überlegen 1b, C –<br />

Bei der derzeitigen Unsicherheit pharmakoökonomischer Modelle<br />

ist es unverantwortlich, Entscheidungen über die Erstattung von <strong>in</strong><br />

qualitativ hochwertigen Studien als wirksam ausgewiesenen<br />

Antidementiva auf der Basis von ökonomischen Argumenten zu<br />

treffen, die auf Vermutungen basieren<br />

Literatur<br />

71<br />

– A<br />

D Deutsche S3-Leitl<strong>in</strong>ie <strong>Demenzen</strong>, AU Konsensus-Statement der österreichischen<br />

Alzheimer-Gesellschaft.<br />

Evidenzgrade: 1a mehrere randomisierte Studien, 1b e<strong>in</strong>e randomisierte Studie, 2a<br />

kontrollierte Studie, 2b quasi-experimentelle Studie, 3 Beobachtungsstudie.<br />

Empfehlungsstärke: A »soll«, B »sollte«, C »kann«.<br />

4<br />

Arendt T (1999) Pathologische Anatomie der Alzheimer-Krankheit. In: <strong>Förstl</strong> H, Bickel H, Kurz<br />

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4<br />

72 Kapitel 4 · Alzheimer-Demenz<br />

Egert S, Wagenpfeil S, <strong>Förstl</strong> H (2007) Chol<strong>in</strong>esterase-Inhibitoren <strong>und</strong> Alzheimer Demenz:<br />

Metaanalyse zu Wirksamkeitsnachweis, Ursprung <strong>und</strong> Ergebnisverzerrung <strong>in</strong> publizierten<br />

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with the apolipoprote<strong>in</strong> E4 genotype <strong>in</strong> Alzheimer’s disease. Biol Psychiat 15: 879–<br />

884<br />

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Discov 1: 119–127


73<br />

Alzheimer-Demenz<br />

mit präsenilem Beg<strong>in</strong>n –<br />

Besonderheiten <strong>in</strong> Diagnostik,<br />

Therapie <strong>und</strong> Management<br />

Bianca Natale, Doris Wohlrab, Bett<strong>in</strong>a Förtsch, <strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong>,<br />

Alexander Kurz <strong>und</strong> Jan<strong>in</strong>e Diehl-Schmid<br />

5.1 E<strong>in</strong>führung – 74<br />

5.2 Epidemiologie – 75<br />

5.3 Genetische <strong>und</strong> kl<strong>in</strong>ische Aspekte – 76<br />

5.4 Kl<strong>in</strong>ische Fallbeispiele – 77<br />

5.4.1 Fallbeispiel 1 – 77<br />

5.4.2 Fallbeispiel 2 – 80<br />

5.5 Besonderheiten <strong>in</strong> der Diagnostik<br />

der präsenilen Alzheimer-Demenz – 84<br />

5.6 Besonderheiten <strong>in</strong> Therapie <strong>und</strong> Management – 88<br />

5.6.1 Pharmakotherapie – 88<br />

5.6.2 Nichtmedikamentöse Therapie – 89<br />

5.7 Diskussion – 91<br />

Literatur – 92<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_5,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

5


5<br />

74 Kapitel 5 · Alzheimer-Demenz mit präsenilem Beg<strong>in</strong>n<br />

Zum Thema<br />

Die präsenile Demenz bei Alzheimer-Krankheit, bei der Patienten vor dem<br />

65. Lebensjahr an e<strong>in</strong>er Alzheimer-Demenz erkranken, ist <strong>in</strong>sgesamt vergleichsweise<br />

selten, nimmt aber <strong>in</strong> Spezialambulanzen doch e<strong>in</strong>en Anteil von ca. 30%<br />

aller Alzheimer-<strong>Demenzen</strong> e<strong>in</strong>. Präsenile <strong>und</strong> senile Demenz bei Alzheimer-<br />

Krankheit unterscheiden sich nicht nur ätiologisch <strong>und</strong> vermutlich auch pathophysiologisch,<br />

sondern auch kl<strong>in</strong>isch. Betroffene mit präseniler Demenz <strong>und</strong><br />

deren Angehörige haben zudem ganz besondere Bedürfnisse, denen man im<br />

Rahmen des therapeutischen Managements gerecht werden muss.<br />

5.1 E<strong>in</strong>führung<br />

Alois Alzheimer et al. beschrieben 1906 <strong>und</strong> 1907 mehrere Patienten mit e<strong>in</strong>er<br />

präsenilen, vor dem 65. Lebensjahr auft retenden, degenerativen Demenz mit<br />

Neurofi brillen, Plaques <strong>und</strong> Nervenzellverlust. Etwa zur gleichen Zeit wurden<br />

auch <strong>in</strong> den Gehirnen älterer, dementer Patienten Plaques <strong>und</strong> Neurofi brillen<br />

nachgewiesen. Die von Alzheimer beschriebene präsenile Demenz wurde <strong>in</strong><br />

der Folge als Erkrankung – als »Alzheimer-Krankheit« – angesehen, wogegen<br />

die »senile Demenz« als normaler Alterungsprozess betrachtet wurde.<br />

Erst <strong>in</strong> der 2. Hälft e des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts wurde mehr <strong>und</strong> mehr off enk<strong>und</strong>ig,<br />

dass die senile Deme nz als »normale Altersersche<strong>in</strong>ung« zu wenig<br />

Beachtung erfuhr. Mit der steigenden Lebenserwartung hatte die Prävalenz<br />

der senilen Demenz deutlich zugenommen, <strong>und</strong> es war off ensichtlich geworden,<br />

dass diese – sei sie nun e<strong>in</strong> normaler Alterungsprozess oder e<strong>in</strong>e Erkrankung<br />

– die Lebensqualität der Betroff enen stark e<strong>in</strong>schränkt <strong>und</strong> dementsprechend<br />

als Krankheit anzusehen ist.<br />

Mit diesen Erkenntnissen <strong>und</strong> der Auff assung, dass sich letztlich ke<strong>in</strong>e<br />

überzeugende symptomatische oder neurobiologische Grenze zwischen der<br />

präsenilen <strong>und</strong> der senilen degenerativen Demenz ziehen lässt, erfuhr der Begriff<br />

»Alzheimer-Krankheit«, der ursprünglich für die kle<strong>in</strong>e Gruppe der präsenilen<br />

Erkrankungen reserviert war, e<strong>in</strong>e Erweiterung auf die Gesamtgruppe<br />

der präsenilen <strong>und</strong> senilen degenerativen <strong>Demenzen</strong> mit Plaques <strong>und</strong> Neurofi<br />

brillen.<br />

Mittlerweile wird h<strong>in</strong>sichtlich Diagnostik <strong>und</strong> medikamentöser Behandlung<br />

<strong>in</strong> der kl<strong>in</strong>ischen <strong>Praxis</strong> auch längst nicht mehr zwischen präseniler <strong>und</strong><br />

seniler Demenz unterschieden – obwohl das <strong>in</strong> Deutschland üblicherweise


5.2 · Epidemiologie<br />

75<br />

5<br />

angewendete Diagnoseklassifi kationssystem Internationale statistische Klassifi<br />

kation der Krankheiten <strong>und</strong> verwandter Ges<strong>und</strong>heitsprobleme (ICD-10)<br />

der Weltges<strong>und</strong>heitsorganisation e<strong>in</strong>e Unterscheidung zwischen Alzheimer-<br />

Krankheit mit frühem (ICD-10-Nr. F00.1) <strong>und</strong> spätem Beg<strong>in</strong>n (ICD-10-Nr.<br />

F00.2) vorsieht.<br />

5.2 Epidemiologie<br />

Im Gegensatz zu den häufi g auft retenden senilen <strong>Demenzen</strong>, die weltweit Gegenstand<br />

e<strong>in</strong>er großen Zahl von epidemiologischen Studien waren, ist über<br />

das Vorkommen <strong>und</strong> die Verteilung der präsenilen <strong>Demenzen</strong> immer noch<br />

sehr wenig bekan nt. E<strong>in</strong>e große Untersuchung <strong>in</strong> den USA kam zu dem Ergebnis,<br />

dass die Prävalenz der präsenilen <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> der Altersgruppe zwischen<br />

45 <strong>und</strong> 64 Jahren etwa 80–100 von 100.000 beträgt, dies entspricht etwa<br />

0,1% der 45- bis 64-jährigen Bevölkerung. Die Prävalenz jenseits des 65. Lebensjahres<br />

ist dagegen erheblich höher mit ungefähr 1,5% zwischen dem 66.<br />

<strong>und</strong> dem 75. Lebensjahr bzw. 3% zwischen dem 76. <strong>und</strong> dem 85. Lebensjahr.<br />

E<strong>in</strong>e Untersuchung, <strong>in</strong> der Konsultations<strong>in</strong>zidenz <strong>und</strong> Krankheitscharakteristika<br />

der präsenilen Demenz <strong>in</strong> Memory-Kl<strong>in</strong>iken/Gedächtnissprechst<strong>und</strong>en<br />

<strong>in</strong> München <strong>und</strong> Umland untersucht wurden, zeigte sich, dass die Alzheimer-Demenz<br />

(AD) mit 67% die am häufi gste diagnostizierte Ursache für e<strong>in</strong>e<br />

vor dem 65. Lebensjahr beg<strong>in</strong>nende Demenzerkrankung ist, gefolgt von der<br />

frontotemporalen Demenz mit 13,5%. Zu den seltenen Nicht-Alzheimer-<strong>Demenzen</strong><br />

mit Beg<strong>in</strong>n vor dem 65. Lebensjahr zählen die vaskuläre Deme nz<br />

<strong>und</strong> die Alkoholdeme nz. M. Park<strong>in</strong>son <strong>und</strong> Chorea Hunt<strong>in</strong>gton als Ursachen<br />

e<strong>in</strong>er früh beg<strong>in</strong>nenden Demenz s<strong>in</strong>d ausgesprochen selten.<br />

Die meisten Neuerkrankungen vor dem 65. Lebensjahr traten <strong>in</strong> dieser<br />

Untersuchung <strong>in</strong> der Altersgruppe der 60- bis 64-Jährigen auf, das mittlere<br />

Erkrankungsalter betrug 58,4 Jahre (Bickel et al. 2006). Im Zentrum für Kognitive<br />

Störungen an der Psychiatrischen Kl<strong>in</strong>ik der TU München, e<strong>in</strong>er der<br />

größten Gedächtnisambulanzen Deutschlands, stellten sich <strong>in</strong> den Jahren<br />

2007 <strong>und</strong> 2008 350 Patienten mit der Diagnose e<strong>in</strong>er Demenz bei Alzheimer-<br />

Krankheit ambulant vor. Bei 249 (71%) hatten die ersten Symptome nach dem<br />

65. Lebensjahr begonnen, bei 101 Patienten (29%) waren die ersten Symptome<br />

vor dem 65. Lebensjahr aufgetreten (Diehl-Schmid, unveröff entlichte<br />

Daten). Dieser hohe Anteil der präsenilen AD erklärt sich aus der Tatsache,


5<br />

76 Kapitel 5 · Alzheimer-Demenz mit präsenilem Beg<strong>in</strong>n<br />

dass gerade diese Patienten zur Diagnostik <strong>und</strong> Weiterbehandlung an spezialisierte<br />

Zentren überwiesen werden.<br />

5.3 Genetische <strong>und</strong> kl<strong>in</strong>ische Aspekte<br />

Trotz der seit 1976 angestrebten E<strong>in</strong>heit von präsenilen <strong>und</strong> senilen Formen<br />

der AD weist die präsenile Variante sowohl genetische als auch kl<strong>in</strong>ische Besonderheiten<br />

auf.<br />

Bei der präsenilen AD fi nden sich genetische Ursachen viel häufi ger als<br />

bei der senilen AD. Es handelt sich dabei um autosomal-dom<strong>in</strong>ante Mutationen<br />

mit e<strong>in</strong>er hohen Manifestationsrate (Penetranz) des Präsenil<strong>in</strong>-1-Ge ns<br />

(PSEN1) auf Chromosom 14 bzw. seltener des Präsenil<strong>in</strong>-2-Gens (PSEN2)<br />

auf Chromosom 1. Weitere Mutationen fi nden sich im Gen für das Amyloidvorläuferprote<br />

<strong>in</strong> (APP) auf Chromosom 21. Alle bislang bekannten Mutationen<br />

fördern die Bildung von toxischem β-Amyloid aus APP, dem aus 42<br />

Am<strong>in</strong>osäuren bestehenden Gr<strong>und</strong>bauste<strong>in</strong> der Alzheimer-Plaques.<br />

Das Auft reten der senilen AD unterliegt dagegen anderen genetischen<br />

E<strong>in</strong>fl üssen: die ApoE4-Allelform des Apolipoprote<strong>in</strong>-E(ApoE)-Ge ns auf<br />

Chromosom 19 erhöht die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit des Auft retens e<strong>in</strong>er AD (Kim<br />

et al. 2009).<br />

H<strong>in</strong>sichtlich der kl<strong>in</strong>ischen Symptomatik konnten mehrere Studien Unterschiede<br />

zwischen präseniler <strong>und</strong> seniler AD nachweis en. Patienten mit präseniler<br />

AD zeigen neben ihren mnestischen Defi ziten eher Störungen von<br />

Sprache, konstruktiver <strong>Praxis</strong> <strong>und</strong> Exekutivfunktionen. Die Erkrankung ist<br />

bei den jüngeren Patienten rascher progredient (Van der Vlies et al. 2009). Bei<br />

der senilen AD stehen vor allen D<strong>in</strong>gen Gedächtnisprobleme im Vordergr<strong>und</strong><br />

(Sh<strong>in</strong>agawa et al. 2007). Wahnhaft e Symptome s<strong>in</strong>d bei der präsenilen AD<br />

wiederum seltener als bei der senilen AD (Toyota et al. 2007). Zudem ist der<br />

Verlauf bei Patienten mit präseniler AD rascher progredient als bei den älteren<br />

Patienten (Van der Vlies et al. 2009). Andererseits leiden weniger Patienten<br />

mit präseniler AD an den typischen Begleiterkrankungen älterer Patienten<br />

wie arteriellem Hypertonus oder Diabetes <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d seltener multimorbid.


5.4 · Kl<strong>in</strong>ische Fallbeispiele<br />

5.4 Kl<strong>in</strong>ische Fallbeispiele<br />

In der kl<strong>in</strong>ischen <strong>Praxis</strong> zeigt sich ganz e<strong>in</strong>deutig, dass sich bei Patienten mit<br />

präseniler AD nicht nur besondere Probleme im diagnostischen Prozess ergeben<br />

können, sondern vor allem, dass Patienten mit präseniler Demenz <strong>und</strong><br />

deren Angehörige ganz besondere Bedürfnisse haben, denen man im therapeutischen<br />

Umgang gerecht werden muss. Diese Besonderheiten sollen im<br />

Folgenden am Beipsiel von zwei Patienten erläutert werden. Die Patientennamen<br />

s<strong>in</strong>d anonymisiert. Beide Patienten gaben im Vorfeld die <strong>in</strong>formierte Zustimmung<br />

zur Veröff entlichung ihrer Krankheitsgeschichte .<br />

5.4.1 Fallbeispiel 1<br />

Herr B., 55 Jahre, stellte sich <strong>in</strong> unserer Memory-Kl<strong>in</strong>ik ambulant auf Veranlassung<br />

des behandelnden Arztes e<strong>in</strong>er psychosomatischen Kl<strong>in</strong>ik vor, <strong>in</strong> welcher<br />

der Patient wegen e<strong>in</strong>er Depression <strong>und</strong> e<strong>in</strong>es psychovegetativen Syndroms<br />

behandelt worden war.<br />

Zum Zeitpunkt der Erstvorstellung war er Berufsschullehrer, sei 6 Monaten<br />

arbeitsunfähig geschrieben, verheiratet, zwei Töchter (22 <strong>und</strong> 25 Jahre).<br />

Außer zahlreichen Sportverletzungen, e<strong>in</strong>em Bandscheibenprolaps LWK4/5<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Helicobacter-positiven Gastritis mit Eradikationstherapie <strong>in</strong> der<br />

Vorgeschichte waren ke<strong>in</strong>e somatischen Erkrankungen bekannt. Er nahm bei<br />

Erstvorstellung ke<strong>in</strong>e Medikamente e<strong>in</strong>.<br />

Herr B. gab an, dass er sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beruf als Berufsschullehrer für Mathematik<br />

<strong>und</strong> Physik immer sehr engagiert habe. Seit 1982 sei er Fachbereichsleiter.<br />

Er habe sich aber <strong>in</strong> letzter Zeit der Belastung nicht mehr gewachsen<br />

gefühlt. Seit 4 Jahren bemerke er e<strong>in</strong>e schleichend zunehmende E<strong>in</strong>schränkung<br />

der Konzentration <strong>und</strong> des Gedächtnisses sowie e<strong>in</strong>e ausgeprägte<br />

Ermüdbarkeit. Er könne den Inhalt von Zeitungsartikeln meistens nicht behalten<br />

<strong>und</strong> habe Schwierigkeiten, sich Namen <strong>und</strong> Telefonnummern zu merken.<br />

Ihm fi elen im Gespräch manchmal nicht die richtigen Worte e<strong>in</strong> oder er<br />

verdrehe sie. Des Weiteren sei ihm aufgefallen, dass er längere Zeit brauche,<br />

um die Zeit von se<strong>in</strong>er Armbanduhr abzulesen. Die geschilderten Probleme<br />

seien nach e<strong>in</strong>em Zusammenbruch am Ende des letzten Schuljahres vor e<strong>in</strong>em<br />

halben Jahr aufgetreten. Er habe zuvor unter großem Druck gestanden <strong>und</strong> sei<br />

dann e<strong>in</strong>es Tages plötzlich bewusstlos vom Stuhl gekippt. Zuletzt habe er im<br />

77<br />

5


5<br />

78 Kapitel 5 · Alzheimer-Demenz mit präsenilem Beg<strong>in</strong>n<br />

Unterricht Formeln an der Tafel nicht mehr zu Ende br<strong>in</strong>gen können, Fremdwörter<br />

nicht mehr richtig ausgesprochen. Zudem habe er Existenzängste entwickelt<br />

<strong>und</strong> darunter gelitten, dass er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Funktion als Lehrer nicht die<br />

volle Leistung habe erbr<strong>in</strong>gen können. Er sei zunehmend reizbar geworden,<br />

was zu familiären Problemen geführt habe. Weiterh<strong>in</strong> habe er unter Schlafstörungen<br />

mit nächtlichem Beklemmungsgefühl, Schwitzen, Früherwachen <strong>und</strong><br />

Magenkrämpfen gelitten.<br />

Auch die Ehefrau bestätigt die Angaben des Patienten über se<strong>in</strong>e zunehmenden<br />

kognitiven E<strong>in</strong>schränkungen, die vor 4 Jahren begonnen hätten.<br />

Mittlerweile sei er überfordert mit bürokratischen Angelegenheiten. Se<strong>in</strong> Arbeitszimmer<br />

sei nicht mehr so ordentlich wie früher. Unter Druck werde er<br />

rasch nervös, er könne er sich auch nicht auf mehrere D<strong>in</strong>ge gleichzeitig konzentrieren.<br />

Zur psychiatrischen Vorgeschichte war zu erfahren, dass Herr B. seit<br />

6 Monaten <strong>in</strong> ambulanter Psychotherapie bei e<strong>in</strong>em niedergelassenen Facharzt<br />

für Psychiatrie, Neurologie <strong>und</strong> psychotherapeutische Mediz<strong>in</strong> sei mit<br />

der Diagnose e<strong>in</strong>er »mittelschweren depressiven Episode mit ausgeprägter<br />

Denkhemmung« <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em »schweren, chronifi zierten psychovegetativen<br />

Erschöpfungssyndrom«. Deswegen sei e<strong>in</strong>e vierwöchige, stationäre Behandlung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er psychosomatischen Kl<strong>in</strong>ik veranlasst worden.<br />

Während des Aufenthalts <strong>in</strong> der psychosomatischen Kl<strong>in</strong>ik sei e<strong>in</strong>e kraniale<br />

Kernsp<strong>in</strong>tomographie durchgeführt worden, die als unauff ällig bef<strong>und</strong>et<br />

worden war.<br />

Zur Familienanamnese gab Herr B. an, dass se<strong>in</strong> 8 Jahre älterer Bruder<br />

bereits an e<strong>in</strong>em Pankreaskarz<strong>in</strong>om verstorben sei. Dieser sei bis zu se<strong>in</strong>em<br />

Tod kognitiv ges<strong>und</strong> gewesen. Der Vater sei 65-jährig an Magenkrebs verstorben,<br />

die Mutter 72-jährig an Darmkrebs. E<strong>in</strong>e Großmutter habe möglicherweise<br />

im hohen Alter an e<strong>in</strong>er Demenz gelitten.<br />

Er habe noch nie geraucht, tr<strong>in</strong>ke täglich etwa 0,25 l Bier zum Abendessen,<br />

habe noch nie Drogen e<strong>in</strong>genommen.<br />

Diagnostik<br />

In der körperlichen Untersuchung <strong>in</strong> unserer Ambulanz zeigten sich ke<strong>in</strong>e<br />

Auff älligkeiten .<br />

In der neuropsychologischen Untersuchung mittels Consortium to Establish<br />

a Registry for Alzheimer’s Disease – Neuropsychologische Testbatterie<br />

(CERAD-NP) erreichte Herr B. durchschnittliche Ergebnisse (<strong>in</strong>nerhalb 1,5


5.4 · Kl<strong>in</strong>ische Fallbeispiele<br />

Standardabweichungen vom Mittelwert des Normkollektivs) <strong>in</strong> den Subtests<br />

4 Benennen (14 von 15),<br />

4 Visuokonstruktion (10 von 11),<br />

4 Figuren Abruf (10 von 11),<br />

4 Wortliste verzögerter Abruf (8 von 10).<br />

Unterdurchschnittlich waren die Leistungen <strong>in</strong> den Subtests<br />

4 Wortfl üssigkeit (18 Tiere),<br />

4 M<strong>in</strong>i-Mental State Exam<strong>in</strong>ation (MMS E) (26 von 30),<br />

4 Wortliste lernen (17 von 30; Lernkurve 4-6-7),<br />

4 Wortliste wiedererkennen (17 von 20).<br />

Im Beck-Depressions-Invent ar (BDI) erreichte Herr B. 7 Punkte, was gegen<br />

das Vorliegen signifi kanter depressiver Symptomatik spricht.<br />

Die Rout<strong>in</strong>elaboruntersuchung <strong>in</strong>klusive Vitam<strong>in</strong> B 12 , Folsäure, TSH basal,<br />

Lyme-Serologie, TPHA, HbA 1c , Homocyste<strong>in</strong> zeigte ke<strong>in</strong>e Abweichungen<br />

von der Norm.<br />

Die Neurodegerationsparameter im Liquor waren h<strong>in</strong>gegen diskret auffällig<br />

:<br />

4 Tau-Prote <strong>in</strong>: 362 ng/l (Referenz < 252),<br />

4 Aβ42: 659 ng/l (Referenz > 643) .<br />

In der kranialen 18-FDG-Positronenemissionstomographie zeigte sich e<strong>in</strong><br />

Hypometabolismus beidseitig parietal sowie beidseits temporal <strong>und</strong> frontal<br />

sowie e<strong>in</strong> Hypometabolismus im posterioren Z<strong>in</strong>gulum beidseits.<br />

jDiagnose<br />

Alle erhobenen Bef<strong>und</strong>e sprachen für das Vorliegen e<strong>in</strong>er leichtgradigen Demenz<br />

bei Alzheimer-Krankheit mit frühem Beg<strong>in</strong>n.<br />

Therapeutisches Vorgehen<br />

Nach Abschluss der Diagnostik erfolgte zunächst e<strong>in</strong>e behutsame Aufk lärung<br />

des Patienten über die Diagnose im Beise<strong>in</strong> der Ehefr au. Sowohl Patient als<br />

auch Ehefrau reagierten sehr betroff en, wobei beide angaben, im Vorfeld<br />

geahnt zu haben, dass e<strong>in</strong>e Demenzerkrankung vorliege. Der Patient selbst<br />

verspürte e<strong>in</strong>e gewisse Erleichterung darüber, e<strong>in</strong>e Erklärung für se<strong>in</strong>e »Fehlleistungen«<br />

gef<strong>und</strong>en zu haben. Im Rahmen e<strong>in</strong>er Wiedervorstellung nach<br />

79<br />

5


5<br />

80 Kapitel 5 · Alzheimer-Demenz mit präsenilem Beg<strong>in</strong>n<br />

wenigen Tagen wirkte er auch wieder sehr gefasst <strong>und</strong> vergleichsweise guter<br />

D<strong>in</strong>ge, während se<strong>in</strong>e Ehefrau nach wie vor sehr bestürzt war.<br />

Nach der Durchführung e<strong>in</strong>es EKG wurde bei unauff älligem Bef<strong>und</strong> e<strong>in</strong>e<br />

pharmakologische Th erapie mit e<strong>in</strong>em Chol<strong>in</strong>esterasehemm er begonnen,<br />

wobei das Ehepaar hier über die realistischen Ziele der Th erapie, nämlich <strong>in</strong><br />

erster L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong>e vorübergehende Stabilisierung, aufgeklärt wurde.<br />

Weiterh<strong>in</strong> erfolgte e<strong>in</strong>e ausführliche Beratung im H<strong>in</strong>blick auf fi nanzielle<br />

<strong>und</strong> rechtliche Angelegenheiten. Es wurde zum Abschluss e<strong>in</strong>er umfassenden<br />

Vorsorgevollmacht geraten. Ferner erfolgte die Empfehlung, e<strong>in</strong>en Antrag auf<br />

Frühberentung zu stellen. Allerd<strong>in</strong>gs sollte dies h<strong>in</strong>ausgezögert werden, sodass<br />

so lange wie möglich e<strong>in</strong>e Krankschreibung erfolgen könnte, um den Bezug<br />

von Krankengeld zu ermöglichen. Weiterh<strong>in</strong> wurde dem Patienten die<br />

Teilnahme an e<strong>in</strong>er multizentrischen Studie empfohlen, die den Eff ekt e<strong>in</strong>er<br />

kognitiv-verhaltenstherapeutischen, ressourcenorientierten Th erapie bei Patienten<br />

mit sehr leichtgradiger Demenz (KORDI AL) untersuchte, woran der<br />

Patient schließlich auch teilnahm.<br />

Schließlich wurde der Kontakt zur Alzheimer-Gesellschaft München hergestellt.<br />

Weitere Hilfsmaßnahmen schienen entbehrlich. Herr B. hatte nach<br />

der Diagnosestellung angegeben, nun zusammen mit se<strong>in</strong>er Ehefrau se<strong>in</strong>er<br />

Sportleidenschaft , <strong>in</strong>sbesondere dem Wandern, frönen zu wollen, wofür es<br />

aus unserer Sicht ke<strong>in</strong>e Kontra<strong>in</strong>dikation gab.<br />

5.4.2 Fallbeispiel 2<br />

Frau D., 49 Jahre, stellte sich <strong>in</strong> der Ambulanz wegen seit 2 Jahren zunehmender<br />

Schwierigkeiten mit der Merkfähigkeit vor. Sie verlege häufi g Gegenstände.<br />

Sie sei meist weder zum Datum noch zum Wochentag orientiert. Sie<br />

habe sich sogar schon <strong>in</strong> bekannter Umgebung verlaufen. Die Alltagsaktivitäten,<br />

<strong>in</strong>sbesondere der Haushalt, bereiteten zunehmend Schwierigkeiten. Die<br />

fi nanziellen Angelegenheiten <strong>und</strong> die Große<strong>in</strong>käufe habe der Ehemann übernommen.<br />

Beim Kochen habe sie Schwierigkeiten, da sie mehr <strong>und</strong> mehr die<br />

Rezepte vergesse. Auch das Bedienen von Herd, Mikrowelle <strong>und</strong> anderen<br />

technischen Geräten sei erschwert. Sie habe bis 2006 die Buchhaltung für die<br />

Geschwister übernommen, dies habe sie dann aber aufgr<strong>und</strong> ihrer Vergesslichkeit<br />

aufgegeben. Sie habe die Programme am PC nicht mehr bedienen <strong>und</strong><br />

nicht mehr rechnen können.


5.4 · Kl<strong>in</strong>ische Fallbeispiele<br />

Vom Ehemann ist zu erfahren, dass se<strong>in</strong>e von jeher »psychisch labile« Gatt<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> der letzten Zeit noch empfi ndlicher geworden sei. Aus Scham wegen<br />

ihrer Gedächtnisbee<strong>in</strong>trächtigung habe sie sich aus sozialen Kontakten zunehmend<br />

zurückgezogen.<br />

Frau D. ist verheiratet, Mutter e<strong>in</strong>er 10-jährigen Tochter. Der Ehemann<br />

arbeitet als Schre<strong>in</strong>er. Nach Abschluss der mittleren Reife hatte sie e<strong>in</strong>e Lehre<br />

zur Steuergehilfi n absolviert <strong>und</strong> bis zur Geburt der Tochter (künstliche Befruchtung)<br />

<strong>in</strong> diesem Beruf gearbeitet. An Vorerkrankungen s<strong>in</strong>d bekannt:<br />

e<strong>in</strong>e Hyperlipoprote<strong>in</strong>ämie, e<strong>in</strong>e 40%ige Arteria-carotis-<strong>in</strong>terna-Stenose <strong>und</strong><br />

e<strong>in</strong> Schädel-Hirn-Trauma vor 27 Jahren mit folgender kurzer Bewusstlosigkeit<br />

über wenige Sek<strong>und</strong>en.<br />

Bei Erstvorstellung nahm die Patient<strong>in</strong> Acetylsalicylsäure 100 mg sowie<br />

Escitalopram 30 mg e<strong>in</strong>.<br />

Zur psychiatrischen Vorgeschichte ist zu erfahren, dass Frau D. sich vor<br />

3 Jahren erstmalig ambulant vorgestellt hatte, da sie bei sich Probleme mit<br />

dem Gedächtnis festgestellt hatte. Damals hatte sie angegeben, <strong>in</strong> letzter Zeit<br />

zunehmend vergesslich zu se<strong>in</strong>, dabei auch traurig. Sie habe große Angst, an<br />

e<strong>in</strong>er Demenz zu erkranken. Sie habe bis zum letzten Jahr ihre demenzkranke<br />

Mutter gepfl egt, die vor e<strong>in</strong>em Jahr verstorben sei. Mittels CERAD-NP war<br />

e<strong>in</strong>e kognitive Störung vor 3 Jahren ausgeschlossen worden. Es wurde e<strong>in</strong>e<br />

leichte depressive Episode diagnostiziert. Knapp 2 Jahre später erfolgte e<strong>in</strong>e<br />

stationäre psychosomatische Behandlung. Bei Aufnahme berichtete die Patient<strong>in</strong><br />

über starke Gedächtnis-, Aufmerksamkeits- <strong>und</strong> Orientierungsstörungen<br />

sowie deutlich reduzierten Antrieb. Sie sei rascher erschöpft <strong>und</strong> leide<br />

unter Stimmungsschwankungen. Sie schaff e die Hausarbeit <strong>und</strong> die Betreuung<br />

ihrer Tochter kaum noch. Es wurde e<strong>in</strong>e schwere depressive Episode diagnostiziert,<br />

die sich unter Th erapie gebessert habe. Während des stationären<br />

Aufenthalts erfolgte e<strong>in</strong>e ausführliche kognitive Testung. Es wurde die Diagnose<br />

e<strong>in</strong>er leichten kognitiven Störung gestellt, wie sie im Rahmen der depressiven<br />

Symptomatik gesehen wird. Als mögliche (Mit-)Ursache wurde e<strong>in</strong>e<br />

jahrzehntelange sexuelle Belästigung durch e<strong>in</strong>en entfernten Angehörigen angesehen.<br />

Im Entlassbericht wurde e<strong>in</strong>e weitere neurologische Abklärung der<br />

Gedächtnisstörungen empfohlen.<br />

Die Mutter von Frau D. verstarb 74-jährig an e<strong>in</strong>er Demenz, die etwa ab<br />

dem 65. Lebensjahr begonnen hatte. Frau D. hat 5 Geschwister ohne Gedächtnisprobleme,<br />

e<strong>in</strong>e Schwester leide an Epilepsie. Der Vater sei noch am Leben<br />

<strong>und</strong> kognitiv ges<strong>und</strong>. E<strong>in</strong> Onkel habe sich suizidiert, zwei Tanten mütterlicherseits<br />

seien im höheren Lebensalter dement gewesen.<br />

81<br />

5


5<br />

82 Kapitel 5 · Alzheimer-Demenz mit präsenilem Beg<strong>in</strong>n<br />

Diagnostik<br />

In der körperlichen Untersuchung fanden sich bee<strong>in</strong>trächtigte posturale Refl<br />

exe <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e leicht ausgeprägte Bradydysdiadochok<strong>in</strong>ese beider Hände, ansonsten<br />

ke<strong>in</strong>e weiteren Auff älligkeiten. Der Blutdruck war mit 160/95 mmHg<br />

auff allend erhöht, sodass e<strong>in</strong>e weitere Abklärung veranlasst wurde, die zu der<br />

Diagnose e<strong>in</strong>er arteriellen Hypertonie führte.<br />

In der neuropsychologischen Untersuchung mittels der CER AD-NAB erreichte<br />

Frau D. durchschnittliche Ergebnisse (<strong>in</strong>nerhalb 1,5 Standardabweichungen<br />

vom Mittelwert des Normkollektivs) <strong>in</strong> den Subtests<br />

4 Benennen (5 von 15)<br />

4 Wiedererkennen (19 von 20).<br />

Unterdurchschnittlich waren die Leistungen <strong>in</strong> den Subtests<br />

4 Wortfl üssigkeit (12 Tiere),<br />

4 M<strong>in</strong>i-Mental State Exam<strong>in</strong>ation (MMS E) (19 von 30),<br />

4 Wortliste lernen (13 von 30; Lernkurve 3-5-5,<br />

4 Visuokonstruktion (6 von 11),<br />

4 Wortliste verzögerter Abruf (2 von 10),<br />

4 Visuokonstruktion Abruf (1 von 11).<br />

Der Uhrentest war pathologisch, Frau D. war nicht <strong>in</strong> der Lage, die Ziff ern<br />

korrekt e<strong>in</strong>zuzeichnen.<br />

Die Rout<strong>in</strong>elaboruntersuchung (Blutbild, Serumchemie) sowie TSH, Vitam<strong>in</strong><br />

B 12, Lyme- <strong>und</strong> TPHA-Serologie ergab ke<strong>in</strong>e von der Norm abweichenden<br />

Bef<strong>und</strong>e.<br />

Die Liquordiagnost ik ergab h<strong>in</strong>sichtlich Zellzahl, Glukose, Prote<strong>in</strong>en, oligoklonalen<br />

Banden <strong>und</strong> Lyme-Serologie e<strong>in</strong> unauff älliges Ergebnis.<br />

Neurodegerationsparameter:<br />

4 Das Tau-Prote<strong>in</strong> war mit 279 ng/l leicht erhöht (Referenz: < 252),<br />

4 Aβ42 mit 341 ng/l erniedrigt (Referenz: > 643)<br />

In der kranialen Kernsp<strong>in</strong>tomographie zeigte sich e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>ge, temporal betonte,<br />

generalisierte Hirnatrophie sowie bihemisphärisch ausgeprägte T2-hyper<strong>in</strong>tense,<br />

punktförmige Marklagerläsionen im peri- <strong>und</strong> paraventrikulären<br />

Marklager sowie subkortikal <strong>und</strong> subenpendymal, vere<strong>in</strong>bar mit e<strong>in</strong>er Mikroangiopathie.


5.4 · Kl<strong>in</strong>ische Fallbeispiele<br />

In der kranialen 18-FDG-Positronenemissionstomographie fand sich e<strong>in</strong><br />

Hypometabolismus beidseitig parietal sowie weniger ausgeprägt beidseits<br />

temporal <strong>und</strong> frontal sowie im posterioren Z<strong>in</strong>gulum beidseits.<br />

jDiagnose<br />

Die vorliegenden Bef<strong>und</strong>e sprachen für das Vorliegen e<strong>in</strong>er Alzheimer-Krankheit<br />

mit gleichzeitiger vaskulärer Pathologie (»Alzheimer-Krankheit, gemischte<br />

Form« nach ICD-10).<br />

Therapeutisches Vorgehen<br />

Es erfolgte e<strong>in</strong>e vorsichtige Aufk lärung der Patient<strong>in</strong> <strong>und</strong> mit ihrem E<strong>in</strong>verständnis<br />

auch des Ehemannes <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Sitzung . Sowohl die Patient<strong>in</strong> wie auch<br />

der Ehepartner waren tief bestürzt, we<strong>in</strong>ten. Beide hatten mit dieser Diagnose<br />

nicht gerechnet, v. a. der Ehemann war überzeugt gewesen, die Gedächtnisstörungen<br />

seien durch Depressionen bzw. im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Belastungsreaktion<br />

<strong>in</strong>folge der sexuellen Belästigung durch e<strong>in</strong>en Familienangehörigen verursacht<br />

worden.<br />

Wir behandelten die Patient<strong>in</strong> mit e<strong>in</strong>em Chol<strong>in</strong>esterasehemmer , nachdem<br />

e<strong>in</strong> EKG durchgeführt <strong>und</strong> als unauff ällig bef<strong>und</strong>et wurde.<br />

Bei e<strong>in</strong>er Wiedervorstellung nach wenigen Tagen wirkte der Ehemann<br />

dann aber – wenn auch betroff en – sehr gefasst. Er berichtete von e<strong>in</strong>er Zunahme<br />

der depressiven Symptomatik bei der Ehefrau mit Schlafstörungen,<br />

Grübelneigung <strong>und</strong> We<strong>in</strong>en, sodass beschlossen wurde, die antidepressive<br />

medikamentöse Th erapie zu verändern. Wir stellten von Escitalopram auf Citalopram<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Dosis von 20 mg/Tag um. E<strong>in</strong>e verhaltenstherapeutisch orientierte<br />

Psychotherapie, welche die Patient<strong>in</strong> im Vorfeld der Vorstellung bei<br />

uns gemacht hatte, wurde von dem Ehepaar als <strong>in</strong>effi zient erlebt, sodass die<br />

Patient<strong>in</strong> die Empfehlung e<strong>in</strong>er weiteren Psychotherapie nicht annahm.<br />

Von den Ehepartnern kam die Bitte, dass auch die 10-jährige Tochter<br />

durch e<strong>in</strong>en Arzt aufgeklärt werden solle, da das Ehepaar sich dies nicht zutrauen<br />

würde. Die Tochter habe durchaus bemerkt, dass es der Mutter nicht<br />

gut gehe. Es habe im Vorfeld mehrfach Konfl ikte gegeben, da die Tochter geklagt<br />

habe, dass ihr die Mutter nicht ausreichend bei den Hausaufgaben habe<br />

helfen können. Die Tochter erhielt im Beise<strong>in</strong> der Eltern e<strong>in</strong>e sehr e<strong>in</strong>fach<br />

gehaltene Aufk lärung dah<strong>in</strong>gehend, dass bei der Mutter Veränderungen des<br />

Gehirns nachweisbar seien <strong>und</strong> dass das Gehirn daher nicht mehr so gut arbeiten<br />

könne wie zuvor. Für die Tochter schien dies gut nachvollziehbar, e<strong>in</strong>e<br />

83<br />

5


5<br />

84 Kapitel 5 · Alzheimer-Demenz mit präsenilem Beg<strong>in</strong>n<br />

ausgeprägte emotionale Reaktion war nicht spürbar. Angesprochen wurde,<br />

dass die Tochter nun aber nicht <strong>in</strong> der Pfl icht sei, ständig Rücksicht auf die<br />

»kranke Mutter« zu nehmen, sondern dass sie das Recht habe, »Tochter« zu<br />

se<strong>in</strong> <strong>und</strong> ihre Bedürfnisse klar formulieren solle, dass die Mutter trotz ihrer<br />

Erkrankung durchaus konfl iktfähig sei. Dem Vater, der sich gewünscht hatte,<br />

die Tochter kotherapeutisch e<strong>in</strong>zusetzen, z. B. <strong>in</strong>dem sie mit der Mutter zusammen<br />

die Hausaufgaben machen sollte, um die Mutter geistig zu aktivieren,<br />

wurde hiervon abgeraten.<br />

Der Familie wurden die Kontaktdaten e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>der- <strong>und</strong> Jugendpsychotherapeuten<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Familienberatungsstelle gegeben, an die sie sich bei<br />

Bedarf wenden sollte. Es wurde Kontakt mit dem zuständigen Jugendamt aufgenommen<br />

wegen »Hilfe zur Erziehung« nach dem Sozialgesetzbuch (z. B.<br />

Hausaufgabenbetreuung) <strong>in</strong> krankheitsbed<strong>in</strong>gter Notsituation. Der Antrag<br />

auf F<strong>in</strong>anzierung e<strong>in</strong>er Haushaltshilfe durch die Krankenkasse wurde abgelehnt<br />

mit der Begründung, dass dies bei chronischen Erkrankungen nicht<br />

möglich sei. Das Ehepaar wurde zudem an die regionale Alzheimer-Gesellschaft<br />

verwiesen. Weitere konkrete Hilfsangebote (z. B. ehrenamtlicher Helfer,<br />

Tagesstrukturierung durch Kunst, Sport, Musik etc.) wurden abgelehnt.<br />

5.5 Besonderheiten <strong>in</strong> der Diagnostik<br />

der präsenilen Alzheimer-Demenz<br />

Bis zur korrekten Diagnose e<strong>in</strong>er Alzheimer-Demenz bei jungen Patienten,<br />

die unter kognitiven Bee<strong>in</strong>trächtigungen leiden, vergehen – so zum<strong>in</strong>dest<br />

zeigt es die kl<strong>in</strong>ische <strong>Praxis</strong> – mehrere Jahre . Der Zeitraum zwischen Auft reten<br />

der ersten Symptome <strong>und</strong> Konsultation e<strong>in</strong>es Arztes ist bei präsenilen <strong>Demenzen</strong><br />

signifi kant länger als bei senilen <strong>Demenzen</strong> (Sh<strong>in</strong>agawa et al. 2007).<br />

Ursächlich ist hierfür, dass jüngere Betroff ene <strong>und</strong> deren Angehörige kognitive<br />

Symptome nicht im Kontext e<strong>in</strong>er Erkrankung e<strong>in</strong>ordnen, sondern sie<br />

suchen, wie im Fallbeispiel 1 (7 5.4.1), Erklärungen wie Überarbeitung oder<br />

führen die Symptome auf außergewöhnliche Belastungen wie e<strong>in</strong>en Hausbau,<br />

e<strong>in</strong>en Aufstieg im Beruf, fi nanzielle Schwierigkeiten oder Eheprobleme zurück.<br />

Die lange diagnostische Latenz ergibt sich auch dadurch, dass v. a.<br />

Nichtfachärzte bei vergleichsweise jungen Patienten nicht an die Möglichkeit<br />

e<strong>in</strong>er demenziellen Erkrankung als Ursache der Beschwerden denken <strong>und</strong> daher<br />

ke<strong>in</strong>e dah<strong>in</strong>gehend weiterführende Diagnostik e<strong>in</strong>leiten.


5.5 · Besonderheiten <strong>in</strong> der Diagnostik<br />

85<br />

5<br />

> Dabei muss e<strong>in</strong>e weiterführende Diagnostik immer durchgeführt werden,<br />

wenn e<strong>in</strong> Patient über anhaltende kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigungen<br />

klagt, selbst wenn die Betroffenen <strong>in</strong> Demenz-Screen<strong>in</strong>g-Tests, z. B.<br />

MMSE, unauffällig abschneiden.<br />

Zur Diagnostik gehört obligat e<strong>in</strong>e ausführliche Erhebung von Anamnese <strong>und</strong><br />

Fremdanamnese möglichst von e<strong>in</strong>er Bezugsperson des Patienten, e<strong>in</strong>e neurologische<br />

<strong>und</strong> neuropsychiatrische Untersuchung sowie e<strong>in</strong>e neuropsychologische<br />

Testung mit geeigneten Tests, z. B. CERAD-NP. Weiterh<strong>in</strong> werden Laboruntersuchungen<br />

durchgeführt (Blutbild, Serumchemie, Schilddrüsenparameter,<br />

Vitam<strong>in</strong> B 12 , Folsäure, Borrelien- <strong>und</strong> Syphilis-Serologie), <strong>und</strong> es<br />

wird nach vaskulären Risikofaktoren gesucht (Cholester<strong>in</strong>spiegel, Blutdruck,<br />

Diabetes mellitus, z. B. Hb A 1c , Homocyste<strong>in</strong>-Spiegel).<br />

E<strong>in</strong>e strukturelle Bildgebung sollte bei jedem Patienten mit kognitiven Bee<strong>in</strong>trächtigungen,<br />

deren Ursache nicht e<strong>in</strong>deutig festgestellt werden kann,<br />

durchgeführt werden. E<strong>in</strong>ige Studien konnten zeigen, dass bei Patienten mit<br />

präseniler AD e<strong>in</strong>e stärker ausgeprägte kortikale Atrophie nachweisbar ist,<br />

vor allen D<strong>in</strong>gen im parietalen Kortex, im posterioren Z<strong>in</strong>gulum <strong>und</strong> im<br />

Praecuneus (Ishii et al. 2006). Andererseits kann e<strong>in</strong>e präsenile AD vorliegen,<br />

obwohl <strong>in</strong> der strukturellen kranialen Bildgebung ke<strong>in</strong>erlei Auff älligkeiten<br />

nachweisbar s<strong>in</strong>d, wie im Fallbeispiel 1 (7 5.4.1). Zur Diagnostik bei jungen<br />

Patienten zählen, wenn die bislang erhobenen Bef<strong>und</strong>e nicht zu e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>deutigen<br />

Ergebnis geführt haben, Verfahren der funktionellen Bildgebung<br />

(PET oder SPECT). Bei Patienten mit präseniler AD ist <strong>in</strong> der PET e<strong>in</strong>e stärkere<br />

Reduktion des zerebralen Stoff wechsels frontal, temporal <strong>und</strong> parietal<br />

nachweisbar verglichen mit Patienten mit seniler AD (McMurtray et al.<br />

2008).<br />

E<strong>in</strong>e Liquordiagnostik muss gerade bei jungen Patienten nicht nur mit der<br />

Bestimmung von β-Amyloid, Gesamt-Tau <strong>und</strong> Phospho-Tau, sondern auch<br />

im H<strong>in</strong>blick auf möglicherweise vorliegende entzündliche, <strong>in</strong>fektiöse Prozesse<br />

oder ggf. auch paraneoplastisches Geschehen erfolgen, die ggf. die demenzielle<br />

Symptomatik verursachen könnten.<br />

Sollte dieses Assessment die Kapazitäten des niedergelassenen Facharztes<br />

übersteigen, muss frühzeitig e<strong>in</strong>e Überweisung an e<strong>in</strong>e spezialisierte Gedächtnisambulanz<br />

erfolgen, wo im Zweifelsfall noch ausführlichere, meist zeitaufwendige<br />

neuropsychologische Tests wie z.B. der California Verbal Learn<strong>in</strong>g<br />

Test (CVLT) oder spezifi sche Sprachtests wie der Aachener Aphasie-Test


5<br />

86 Kapitel 5 · Alzheimer-Demenz mit präsenilem Beg<strong>in</strong>n<br />

(AAT) durchgeführt werden können. Solche Tests können nötig werden,<br />

wenn beispielsweise die Leistungen <strong>in</strong> der CERAD-NP (nahezu) unauff ällig<br />

oder aber bestimmte Teilleistungen, wie z. B. Sprache, vornehmlich betroff en<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

Häufi gste Fehldiagnosen, die bei Patienten mit präseniler AD<br />

im Vorfeld gestellt werden<br />

4 Psychovegetative Erschöpfung bzw. Burnout-Syndrom wie im<br />

Fallbeispiel 1 (7 5.4.1)<br />

4 Depression wie im Fallbeispiel 2 (7 5.4.2)<br />

4 Anpassungsstörung<br />

4 Dysthymie<br />

Hierbei handelt es sich häufi g nicht um Fehldiagnosen im engeren S<strong>in</strong>ne, sondern<br />

es wird beispielsweise e<strong>in</strong>e vorhandene Depression diagnostiziert, das<br />

demenzielle Syndrom aber übersehen, da die kognitiven Bee<strong>in</strong>trächtigungen<br />

mit der Depression erklärt werden. Depressive Störungen zählen zu den frühen<br />

Symptomen der AD bzw. können als Reaktion auf e<strong>in</strong>e ständige Überforderung<br />

<strong>und</strong> auf Fehlleistungen entstehen. Gerade berufl iche Belastung bei<br />

gleichzeitig nachlassenden kognitiven Fähigkeiten kann zu e<strong>in</strong>em Burnout-<br />

Syndrom führen, das dann wiederum Alkoholabusus oder Beruhigungsmittelmissbrauch<br />

nach sich zieht.<br />

> Die differenzialdiagnostische Abgrenzung zwischen Depression <strong>und</strong><br />

Demenz erweist sich (nicht nur bei jungen Patienten) <strong>in</strong> der <strong>Praxis</strong> oft<br />

als schwierig.<br />

In der Abgrenzung zu re<strong>in</strong> aff ektiven Erkrankungen ist hilfreich, die exakte<br />

Abfolge der Symptome zu rekonstruieren. In der ersten Kasuistik (7 5.4.1)<br />

hatten bei dem Patienten ganz e<strong>in</strong>deutig zunächst Störungen der Konzentration<br />

<strong>und</strong> des Gedächtnisses vorgelegen, erst im späteren Verlauf entwickelte<br />

sich e<strong>in</strong> Burnout-Syndrom, wohl <strong>in</strong>folge der ständigen Anstrengungen des<br />

Betroff enen, zu kompensieren.<br />

In der Diff erenzialdiagnose zwischen AD <strong>und</strong> Depression ist auch e<strong>in</strong>e<br />

Analyse der E<strong>in</strong>zelleistungen oft mals erhellend. Das deklarative, <strong>in</strong>sbesondere<br />

episodische Gedächtnis , die Visuokonstruktion <strong>und</strong> die Sprachsemantik s<strong>in</strong>d


5.5 · Besonderheiten <strong>in</strong> der Diagnostik<br />

87<br />

5<br />

<strong>in</strong> der Abgrenzung von Depression <strong>und</strong> Demenz von diff erenzialdiagnostischer<br />

Relevanz. In diesen Bereichen s<strong>in</strong>d Patienten mit Depression also allenfalls<br />

leichtgradig bee<strong>in</strong>trächtigt, Patienten mit AD dagegen deutlich. Anders<br />

verhält es sich bei exekutiven Funktionen <strong>und</strong> Aufmerksamkeit, diese Fähigkeiten<br />

können auch bei Patienten mit Depressionen deutlich e<strong>in</strong>geschränkt<br />

se<strong>in</strong>. In der <strong>Praxis</strong> bedeutet dies, dass z. B. Probleme beim Abzeichnen e<strong>in</strong>es<br />

Würfels oder beim Zeichnen des Ziff erblatts e<strong>in</strong>er Uhr oder auch das gehäuft e<br />

Auft reten semantischer Paraphasien mit der Verdachtsdiagnose e<strong>in</strong>er »re<strong>in</strong>en«<br />

Depression nicht vere<strong>in</strong>bar s<strong>in</strong>d. In seltenen Fällen, bei denen weder die Bef<strong>und</strong>e<br />

der strukturellen <strong>und</strong> funktionellen Bildgebung noch die Ergebnisse<br />

der Liquoruntersuchung richtungweisend s<strong>in</strong>d, muss e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive Behandlung<br />

der aff ektiven Störung erfolgen. Sollten nach deutlicher Besserung der<br />

aff ektiven Symptome immer noch signifi kante kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigungen<br />

vorliegen, fällt die Diagnostik leichter.<br />

> Die Wichtigkeit e<strong>in</strong>er raschen Abklärung kann nur betont werden.<br />

Noch mehr als bei älteren ist es bei jungen Patienten wichtig, rasch<br />

die richtige Diagnose zu stellen. Die kognitiven Bee<strong>in</strong>trächtigungen<br />

führen nicht nur zu e<strong>in</strong>er Überforderung, sondern Fehler im Beruf<br />

oder bei fi nanziellen Angelegenheiten können schwerwiegende Folgen<br />

haben.<br />

Die im Anschluss an die abgeschlossene Diagnostik erfolgende Aufk lärung<br />

des Patienten <strong>und</strong> – mit E<strong>in</strong>verständnis des Patienten – auch des Angehörigen,<br />

ist oft e<strong>in</strong> sehr schwieriges Th ema. Unserer kl<strong>in</strong>ischen Erfahrung nach ist<br />

die Diagnose e<strong>in</strong>er AD bei jungen Patienten <strong>und</strong> deren Angehörigen mit ungleich<br />

stärkeren Emotionen verb<strong>und</strong>en als bei Patienten im fortgeschrittenen<br />

Alter. Nur manche Patienten ahnen im Vorfeld selbst, welche Erkrankung<br />

vorliegen könnte, s<strong>in</strong>d schon vorbereitet <strong>und</strong> erhalten dann die Bestätigung.<br />

Die meisten Patienten <strong>und</strong> v. a. deren Angehörigen s<strong>in</strong>d von der Diagnose<br />

aber zumeist schockiert. Sie realisieren die Bedeutung e<strong>in</strong>er solchen Diagnose<br />

mit allen Konsequenzen. Häufi g wird von Patienten <strong>und</strong> Angehörigen aber<br />

auch berichtet, dass sich mit der Stellung der Diagnose e<strong>in</strong>e Art »Erleichterung«<br />

e<strong>in</strong>stellt, dass sich familiäre Konfl ikte <strong>und</strong> die Anspannung der Betroffenen<br />

reduzieren, wenn der Gr<strong>und</strong> für die Veränderungen bekannt ist.<br />

> Trotz der Konsequenzen e<strong>in</strong>er Aufklärung ist diese gerade bei jungen<br />

Patienten von extremer Wichtigkeit. E<strong>in</strong>e Aufklärung, <strong>in</strong> der auch dargelegt<br />

wird, dass es sich um e<strong>in</strong>e fortschreitende Erkrankung handelt,


5<br />

88 Kapitel 5 · Alzheimer-Demenz mit präsenilem Beg<strong>in</strong>n<br />

ist Voraussetzung dafür, dass die Patienten bzw. ihre Familien rechtzeitig<br />

ihre Angelegenheiten erledigen, z. B. im Beruf die notwendigen<br />

Konsequenzen ziehen oder fi nanzielle D<strong>in</strong>ge regeln.<br />

5.6 Besonderheiten <strong>in</strong> Therapie <strong>und</strong> Management<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich umfasst die Behandlung der Demenz – unabhängig vom Alter<br />

des Betroff enen – mehrere Elemente . An erster Stelle muss e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>mediz<strong>in</strong>ische<br />

Basistherapie stehen. Dazu gehören die Behandlung von körperlichen<br />

systemischen Erkrankungen <strong>und</strong> die Prävention von Risikofaktoren,<br />

v. a. e<strong>in</strong>e regelmäßige Kontrolle <strong>und</strong> konsequente E<strong>in</strong>stellung des Blutdrucks.<br />

Die spezifi sche Demenztherapie umfasst medikamentöse <strong>und</strong> nichtmedikamentöse<br />

Strategien ebenso wie die Betreuung der Angehörigen.<br />

5.6.1 Pharmakotherapie<br />

Unabhängig davon, ob die AD im Präsenium oder im Senium beg<strong>in</strong>nt, wird<br />

nach den gültigen Leitl<strong>in</strong>ien e<strong>in</strong>e antidementive Medikation empfohlen, im<br />

leichtgradigen Stadium mit e<strong>in</strong>em Chol<strong>in</strong>esterasehemmer . Bislang gibt es ke<strong>in</strong>e<br />

Analysen dah<strong>in</strong>gehend, ob die Art der Wirkung oder auch die Art <strong>und</strong><br />

Schwere der Nebenwirkungen <strong>in</strong> der Gruppe der Patienten mit präseniler Demenz<br />

andersartig ist als bei älteren Patienten. Zumeist gestaltet sich die Medikation<br />

mit e<strong>in</strong>em Chol<strong>in</strong>esterasehemmer bei jüngeren Patienten problemloser,<br />

da weniger Komorbiditäten vorliegen. Dies gilt auch für die medikamentöse<br />

Th erapie von depressiver Verstimmung oder Verhaltensauff älligkeiten.<br />

Zudem haben die jüngeren Patienten meist weniger Komedikation,<br />

sodass es zu weniger Wechselwirkungen kommt. H<strong>in</strong>sichtlich der Teilnahme<br />

an Medikamentenstudien der Phasen II–IV zeigt sich <strong>in</strong> unserer Ambulanz,<br />

dass die Beteiligung von Patienten mit präseniler Demenz überproportional<br />

groß ist. So waren z. B. zum Stichtag Ende August 2009 von allen <strong>in</strong> unserem<br />

Zentrum <strong>in</strong> Medikamentenstudien e<strong>in</strong>geschlossenen Patienten über die Hälfte<br />

präsenil erkrankt. Jüngere Patienten <strong>und</strong> deren Angehörige s<strong>in</strong>d off ensichtlich<br />

eher geneigt, sämtliche Angebote zu nutzen, die e<strong>in</strong>e Besserung bewirken<br />

könnten. Zudem leiden sie seltener unter somatischen Begleiterkrankungen,<br />

die e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>dernis für den E<strong>in</strong>schluss <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Medikamentenstudie darstellen


5.6 · Besonderheiten <strong>in</strong> Therapie <strong>und</strong> Management<br />

89<br />

5<br />

könnten. Zudem s<strong>in</strong>d junge Patienten <strong>und</strong> die meist ebenfalls jüngeren Angehörigen<br />

schlicht mobiler. Auf der anderen Seite stellt sich bei den jüngeren<br />

Patienten allerd<strong>in</strong>gs das Problem, dass e<strong>in</strong>igen Patienten ke<strong>in</strong>e Teilnahme an<br />

Medikationsstudien angeboten werden kann, da ihr junges Alter e<strong>in</strong> Ausschlusskriterium<br />

darstellt oder da die Postmenopause noch nicht e<strong>in</strong>gesetzt<br />

hat.<br />

5.6.2 Nichtmedikamentöse Therapie<br />

> Gerade die nichtmedikamentöse Therapie muss die besondere<br />

Situation jüngerer Patienten mit Demenz <strong>und</strong> deren Angehöriger<br />

berücksichtigen.<br />

Im frühen Stadium der Erkrankung kann es s<strong>in</strong>nvoll se<strong>in</strong>, dass Erkrankte – je<br />

nach Symptomatik – an e<strong>in</strong>er neuropsychologischen oder psychosomatischen<br />

Rehabilitationsmaßnahme teilnehmen, <strong>in</strong> der sie beim Aufb au von Gedächtnishilfen<br />

oder bei der emotionalen Bewältigung der Krankheit Unterstützung<br />

fi nden. Manchmal kann auch e<strong>in</strong>e psychologische E<strong>in</strong>zeltherapie bei e<strong>in</strong>em<br />

spezialisierten Psychotherapeuten hilfreich se<strong>in</strong>, der nicht nur bei der Krankheitsverarbeitung<br />

zur Seite steht, sondern den Patienten auch alltagsnah begleitet.<br />

Die Inanspruchnahme e<strong>in</strong>er ambulanten Ergotherapie hat sich bewährt,<br />

um beispielsweise den E<strong>in</strong>satz von Gedächtnishilfen zu erlernen. Außerdem<br />

kann die Aufrechterhaltung alltagspraktischer Fähigkeiten, wie z. B.<br />

E<strong>in</strong>kaufen, Orientierung im Stadtviertel, gefördert werden. Da die meisten<br />

Patienten spätestens mit Stellung der Diagnose nicht mehr arbeiten, sollte mit<br />

ihnen e<strong>in</strong>e realistische Abschätzung der Ressourcen getätigt werden <strong>und</strong> entsprechend<br />

ihrer Neigungen der Versuch unternommen werden, Hobbys zu<br />

fi nden oder zu reaktivieren, die zum e<strong>in</strong>en helfen, den Tag zu strukturieren,<br />

zum anderen die soziale E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung bzw. geistige <strong>und</strong> körperliche Aktivität<br />

gewährleisten. Bei Patienten mit Störungen der sprachlichen Fähigkeiten sollte<br />

frühzeitig e<strong>in</strong>e logopädische Th erapie erfolgen.<br />

Anders als <strong>in</strong> angloamerikanischen Ländern gilt hierzulande e<strong>in</strong>e Demenzerkrankung<br />

nach wie vor als »Angehörigenkrankheit«, bei der v. a. die Angehörigen<br />

vielfältigen Belastungen ausgesetzt s<strong>in</strong>d. Die Betroff enen, so die häufi<br />

ge Me<strong>in</strong>ung, litten selbst gar nicht so sehr unter ihrer Erkrankung, da sie<br />

selbst nichts von der Erkrankung mitbekämen. Zur Unterstützung von Ange-


5<br />

90 Kapitel 5 · Alzheimer-Demenz mit präsenilem Beg<strong>in</strong>n<br />

hörigen wurden deshalb bereits viele Angebote entwickelt, z. B. Angehörigensem<strong>in</strong>are,<br />

-gruppen , Beratungsstellen für pfl egende Angehörige, Pfl egekurse.<br />

Für Angehörige gibt es <strong>in</strong> vielen Städten Angehörigensem<strong>in</strong>are oder -gruppen,<br />

manchmal auch speziell für Angehörige jüngerer Erkrankter. Hier fi nden<br />

Angehörige Verständnis für ihre Situation, sie erhalten Informationen <strong>und</strong><br />

können sich über hilfreiche Tipps im Umgang mit den Erkrankten austauschen.<br />

Fühlen sich Angehörige sehr stark belastet, können sie auch psychologische<br />

Unterstützung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>zeltherapie erhalten.<br />

Spezielle Angebote für K<strong>in</strong>der von Patienten mit Demenz s<strong>in</strong>d äußerst<br />

selten. Um K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendliche <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er solchen Situation zu unterstützen,<br />

können Familienberatungsstellen <strong>und</strong> K<strong>in</strong>derpsychologen e<strong>in</strong>bezogen werden.<br />

An e<strong>in</strong>igen psychiatrischen Kl<strong>in</strong>iken gibt es spezielle Angebote für K<strong>in</strong>der<br />

von psychisch Kranken, wie z. B. Kunsttherapie, die möglicherweise für<br />

betroff ene K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendliche geeignet se<strong>in</strong> könnten. Gesetzlich verankert<br />

(§ 20 SGB VIII) ist die »Hilfe zur Erziehung«, die e<strong>in</strong>e Stabilität der Erziehung<br />

<strong>in</strong> krankheitsbed<strong>in</strong>gten Notsituationen gewährleisten soll <strong>und</strong> sich nach<br />

dem Bedarf im E<strong>in</strong>zelfall richtet.<br />

Wichtige Informationen, z. B. bezüglich Möglichkeiten des Verbleibs am<br />

Arbeitsplatz, Schwerbeh<strong>in</strong>dertenausweis, E<strong>in</strong>bezug von Integrationsfachdiensten,<br />

Krankengeldbezug, Erwerbsm<strong>in</strong>derungsrente, Vorsorgevollmacht,<br />

Patientenverfügung, Pfl egeversicherung, Rehabilitationsmaßnahmen <strong>und</strong><br />

weiteren Unterstützungsmöglichkeiten erhalten Betroff ene <strong>und</strong> Angehörige<br />

bei verschiedenen Beratungsstellen, z. B. Sozialdiensten an Kl<strong>in</strong>iken, Alzheimer-Gesellschaft<br />

en, Beratungsstellen für pfl egende Angehörige, VdK oder<br />

Integrationsfachdiensten.<br />

Im frühen Stadium der Erkrankung s<strong>in</strong>d die Betroff enen <strong>in</strong> der Regel körperlich<br />

nicht pfl egebedürft ig, erhalten folglich auch ke<strong>in</strong>e Pfl egestufe. Es kann<br />

jedoch e<strong>in</strong> Antrag auf Leistungen bei erhöhtem Betreuungsbedarf nach § 45a/<br />

b SGB XI gestellt werden (Pfl egestufe 0). Mit diesen Geldern kann beispielsweise<br />

der E<strong>in</strong>satz ehrenamtlicher Begleiter fi nanziert werden, die es beispielsweise<br />

Betroff enen mit Orientierungsschwierigkeiten ermöglichen, Ausfl üge<br />

ohne ihre Angehörigen zu unternehmen.


5.7 · Diskussion<br />

5.7 Diskussion<br />

91<br />

5<br />

Die präsenile <strong>und</strong> die senile Demenz unterscheiden sich nicht nur im H<strong>in</strong>blick<br />

auf Ätiologie <strong>und</strong> Pathophysiologie. Auch die Diagnostik <strong>und</strong> v. a. die<br />

Th erapie muss die Besonderheiten, die sich aus dem jungen Alter der Betroffenen<br />

ergeben, berücksichtigen.<br />

E<strong>in</strong>e Zusammenfassung der präsenilen <strong>und</strong> der senilen Demenz ersche<strong>in</strong>t<br />

nicht nur <strong>in</strong> der kl<strong>in</strong>ischen <strong>Praxis</strong> fragwürdig, sondern stellt e<strong>in</strong> echtes H<strong>in</strong>dernis<br />

für die Forschung dar. Erst die gezielte Untersuchung der Pathophysiologie<br />

der präsenilen AD – mit <strong>und</strong> ohne genetische Ursache – unter Berücksichtigung<br />

der Umwelte<strong>in</strong>fl üsse wird das Verständnis der Ursachen von Demenzerkrankungen<br />

ermöglichen.<br />

Im H<strong>in</strong>blick auf die Entwicklung kausal wirkender Medikamente dürft e<br />

die strikte Unterscheidung präseniler <strong>und</strong> seniler Fälle auch von entscheidender<br />

Wichtigkeit se<strong>in</strong>: Aufgr<strong>und</strong> der Ergebnisse zahlreicher Untersuchungen<br />

an Patienten mit familiärer AD, also an Patienten mit Mutation im<br />

PSEN1-, PSEN2-, oder APP-Gen, ist davon auszugehen, dass die präsenile AD<br />

primär e<strong>in</strong>e »Amyloidose« darstellt, d. h., es wird durch Fehler <strong>in</strong> der Amyloid-Kaskade<br />

zu viel β-Amyloid im Gehirn abgelagert, das dann wiederum<br />

zum Neuronenuntergang führt. Diese Ergebnisse wurden relativ kritiklos auf<br />

die senile AD übertragen. Allerd<strong>in</strong>gs wird von e<strong>in</strong>igen Forschern vermutet,<br />

dass bei der senilen AD der Weg umgekehrt abläuft , dass dort nämlich e<strong>in</strong>e<br />

altersbed<strong>in</strong>gte Neurodegeneration (oxidativer Stress, mitochondriale Dysfunktion)<br />

sek<strong>und</strong>är zur Ablagerung der Amyloid-Plaques führt. Folglich sollten<br />

kausal wirkende Medikamente, die <strong>in</strong> die Amyloid-Kaskade e<strong>in</strong>greifen,<br />

wie z. B. die aktive oder passive Amyloid-Immunisierung, eher bei Patienten<br />

mit präseniler Demenz eff ektiv se<strong>in</strong>, während bei der senilen Demenz Mechanismen<br />

erfolgreich se<strong>in</strong> dürft en, die den Alterungsprozess bee<strong>in</strong>fl ussen können<br />

(z. B. Antioxidanzien).<br />

Da die Prävalenz der präsenilen AD vergleichsweise ger<strong>in</strong>g ist, können<br />

nur <strong>in</strong> multizentrischen Studien größere Patientenkollektive zusammengestellt<br />

werden, an denen sich die drängenden Fragen der Forschung beantworten<br />

lassen werden.


5<br />

92 Kapitel 5 · Alzheimer-Demenz mit präsenilem Beg<strong>in</strong>n<br />

Literatur<br />

Bickel H, Bürger K, Hampel H et al (2006) Präsenile Demenz <strong>in</strong> Gedächtnissprechst<strong>und</strong>en.<br />

Nervenarzt 77: 1079–1085<br />

Ishii K, Soma T, Kono AK et al (2006) Automatic volumetric measurement of segmented bra<strong>in</strong><br />

structures on magnetic resonance imag<strong>in</strong>g. Radiat Med 24(6): 422–430<br />

Kim J, Basak JM, Holtzman DM (2009) The role of apolipoprote<strong>in</strong> E <strong>in</strong> Alzheimer‘s disease.<br />

Neuron 63: 287–303<br />

McMurtray AM, Licht E, Yeo T et al (2008) Positron emission tomography facilitates diagnosis<br />

of early-onset Alzheimer’s disease. Eur Neurol 59(1–2): 31–37<br />

Sh<strong>in</strong>agawa S, Ikeda M, Toyota Y et al (2007) Frequency and cl<strong>in</strong>ical characteristics of earlyonset<br />

dementia <strong>in</strong> consecutive patients <strong>in</strong> a memory cl<strong>in</strong>ic. Dement Geriatr Cogn Disord<br />

24: 42–47<br />

Toyota Y, Ikeda M, Sh<strong>in</strong>agawa S et al (2007) Comparison of behavioral and psychological<br />

symptoms <strong>in</strong> early-onset and late-onset Alzheimer’s disease. Int J Geriatr Psychiatry<br />

22(9): 896–901<br />

Van der Vlies AE, Koedam EL, Pijnenburg YA et al (2009) Most rapid cognitive decl<strong>in</strong>e <strong>in</strong> APOE<br />

espilon4 negative Alzheimer’s disease with early onset. Psychol Med 39: 1907–1911


93<br />

Morbus B<strong>in</strong>swanger<br />

<strong>und</strong> andere vaskuläre <strong>Demenzen</strong><br />

Roman L. Haberl<br />

6.1 Defi nition – 94<br />

6.1.1 Erläuterungen zu den Diagnosekriterien<br />

»vaskuläre Demenz« – 94<br />

6.2 Epidemiologie – 95<br />

6.3 Kl<strong>in</strong>ische Symptomatik – 96<br />

6.4 Unterformen vaskulärer <strong>Demenzen</strong> – 96<br />

6.4.1 Große hirnzuführende Arterien – 96<br />

6.4.2 Kle<strong>in</strong>e Arteriolen <strong>und</strong> Kapillaren – 100<br />

6.5 Diagnostik – 105<br />

6.5.1 Kognitive Screen<strong>in</strong>g-Tests – 105<br />

6.5.2 Zerebrale Bildgebung – 107<br />

6.6 Diff erenzialdiagnosen – 107<br />

6.6.1 Alzheimer-Demenz – 107<br />

6.6.2 Hypertensive Enzephalopathie – 108<br />

6.6.3 Normaldruckhydrozephalus – 108<br />

6.7 Therapeutische Pr<strong>in</strong>zipien – 109<br />

6.7.1 Symptomatische Pharmakotherapie – 109<br />

Literatur – 111<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_6,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

6


6<br />

94 Kapitel 6 · Morbus B<strong>in</strong>swanger <strong>und</strong> andere vaskuläre <strong>Demenzen</strong><br />

Zum Thema<br />

Nach der Alzheimer-Demenz (AD) s<strong>in</strong>d zerebrale Durchblutungsstörungen die<br />

zweithäufigste Demenzursache <strong>in</strong> Europa. Aufgr<strong>und</strong> der Heterogenität des<br />

Krankheitsbildes s<strong>in</strong>d die E<strong>in</strong>ordnung <strong>und</strong> die Klassifikation une<strong>in</strong>heitlich.<br />

Begriffe wie chronische zerebrovaskuläre Insuffizienz, B<strong>in</strong>swanger-Erkrankung<br />

oder Multi<strong>in</strong>farktsyndrom werden ohne klare Abgrenzung verwendet.<br />

6.1 Defi nition<br />

Unter dem zuletzt weitgehend anerkannten Oberbegriff »vaskuläre Demenz«<br />

(VD) werden unter Berücksichtigung kl<strong>in</strong>ischer, radiologischer, neuropathologischer<br />

<strong>und</strong> genetischer Kriterien im Folgenden alle demenziellen Syndrome,<br />

die auf Erkrankungen der Hirngefäße basieren, zusammengefasst.<br />

Angelehnt an die NINDS-AIREN-Kriterien (Román et al. 1993) stützt<br />

sich die hier angewandte Defi nition der vaskulären Demenz auf drei Hauptpunkte:<br />

Kriterien zur Diagnose e<strong>in</strong>er vaskulären Demenz<br />

1. Vorhandense<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es demenziellen Syndroms nach ICD-10-Kriterien<br />

2. Anamnestischer, kl<strong>in</strong>ischer oder radiologischer Nachweis e<strong>in</strong>er zerebrovaskulären<br />

Erkrankung<br />

<strong>3.</strong> Zeitlicher Zusammenhang von 1. <strong>und</strong> 2.<br />

6.1.1 Erläuterungen zu den Diagnosekriterien<br />

»vaskuläre Demenz«<br />

Nach der ICD-10-Klassifi kation erfordert die Diagnose Demenz das Vorliegen<br />

e<strong>in</strong>er alltagsrelevanten Abnahme von Gedächtnisleistung <strong>und</strong> kognitiven<br />

Fähigkeiten, die durch Anamnese <strong>und</strong>/oder neuropsychologische Testung verifi<br />

ziert werden kann. Bei dem Verdacht auf e<strong>in</strong>e VD müssen delirante Syndrome,<br />

Bewusstse<strong>in</strong>sveränderungen jeglicher Ursache sowie Aphasien, die<br />

ke<strong>in</strong>e zuverlässige Beurteilung erlauben, ausgeschlossen werden.


6.2 · Epidemiologie<br />

95<br />

6<br />

Nach NINDS-AIREN-Kriterien müssen neben Störungen der mnestischen<br />

Funktionen m<strong>in</strong>destens zwei der folgenden kognitiven Bereiche betroffen<br />

se<strong>in</strong>: Orientierung, Aufmerksamkeit, Sprache <strong>und</strong> Ausdruck, visuospatiale<br />

Funktionen, Kalkulation, exekutive Funktionen, Motorik, Abstraktion <strong>und</strong><br />

Urteilsvermögen.<br />

Die Diagnose e<strong>in</strong>er zerebrovaskulären Erkrankung wird zum e<strong>in</strong>en kl<strong>in</strong>isch<br />

durch das plötzliche Auft reten fokalneurologischer Zeichen wie Hemiparese<br />

oder zentrale Fazialisparese gestellt. Zum anderen weist e<strong>in</strong>e positive<br />

Anamnese für Schlaganfälle sowie der Nachweis ischämischer oder hämorrhagischer<br />

Läsionen <strong>in</strong> der zerebralen Bildgebung auf das Vorliegen e<strong>in</strong>er zerebrovaskulären<br />

Erkrankung h<strong>in</strong>.<br />

E<strong>in</strong> zeitlicher Zusammenhang (3 Monate) zwischen zerebrovaskulären<br />

Ereignissen <strong>und</strong> demenzieller Entwicklung macht e<strong>in</strong>e vaskuläre Genese<br />

wahrsche<strong>in</strong>lich. Zusätzlich sollte bei e<strong>in</strong>er plötzlichen <strong>und</strong>/oder schubförmigen<br />

Verschlechterung kognitiver Fähigkeiten ohne kl<strong>in</strong>isch manifesten<br />

Schlaganfall diff erenzialdiagnostisch auch e<strong>in</strong>e vaskuläre Erkrankung berücksichtigt<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>e zerebrale Bildgebung veranlasst werden.<br />

6.2 Epidemiologie<br />

Aufgr<strong>und</strong> der Heterogenität des Krankheitsbildes sowie une<strong>in</strong>heitlicher Diagnosekriterien<br />

s<strong>in</strong>d epidemiologische Daten zu den VD nur e<strong>in</strong>geschränkt<br />

verfügbar <strong>und</strong> valide .<br />

In Europa <strong>und</strong> Nordamerika stehen zerebrale Durchblutungsstörungen<br />

als Ursache e<strong>in</strong>er demenziellen Entwicklung mit 10–30% an zweiter Stelle, <strong>in</strong><br />

Asien mit mehr als 50% angeblich an der Spitze. E<strong>in</strong>e breit angelegte europäische<br />

Studie zeigte e<strong>in</strong>e kont<strong>in</strong>uierliche Zunahme der Prävalenz vaskulärer<br />

demenzieller Syndrome mit fortschreitendem Alter. Jenseits des 80. Lebensjahres<br />

liegt sie zwischen 3% <strong>und</strong> 16%. Die Inzidenz wird auf 1–7 Neuerkrankungen<br />

pro 1000 Personen pro Jahr geschätzt. Im Gegensatz zur AD s<strong>in</strong>d<br />

Männer <strong>in</strong> fast allen Altersklassen häufi ger betroff en als Frauen (Román et al.<br />

1993).<br />

> Die Prognose ist <strong>in</strong>dividuell <strong>und</strong> je nach Gr<strong>und</strong>erkrankung verschieden,<br />

<strong>in</strong>sgesamt liegt die durchschnittliche Überlebensdauer bei den<br />

VD aber deutlich unter der von Patienten mit AD.


6<br />

96 Kapitel 6 · Morbus B<strong>in</strong>swanger <strong>und</strong> andere vaskuläre <strong>Demenzen</strong><br />

Der weit verbreitete angloamerikanische Term<strong>in</strong>us mixed dementia bzw.<br />

»gemischte Demenz« beschreibt e<strong>in</strong> demenzielles Syndrom, das sich aus<br />

Komponenten e<strong>in</strong>er neurodegenerativen (z. B. AD) <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er zerebrovaskulären<br />

Erkrankung zusammensetzt (Gorelick 1997).<br />

6.3 Kl<strong>in</strong>ische Symptomatik<br />

Trotz der verschiedenen Subtypen der VD mit unterschiedlicher Pathogenese<br />

gibt es gruppenübergreifende charakteristische kl<strong>in</strong>ische Merkmale (Caplan<br />

1995, Román et al. 1993; 7 6.4.1).<br />

6.4 Unterformen vaskulärer <strong>Demenzen</strong><br />

Vaskuläre <strong>Demenzen</strong> entstehen durch Infarkte im Versorgungsgebiet großer<br />

hirnzuführender Arterien oder im Rahmen e<strong>in</strong>er Mikroangiopathie . Die Ursachen<br />

dieser Infarkte, <strong>und</strong> damit die ursächlich bezogene Th erapie, s<strong>in</strong>d unterschiedlich<br />

(. Tab. 6.1) .<br />

6.4.1 Große hirnzuführende Arterien<br />

Multiple kortikale Infarkte (»Multi<strong>in</strong>farktdemenz«)<br />

Multiple kortikale Hirn<strong>in</strong>farkte können e<strong>in</strong>e Demenz verursache n. Die Diagnose<br />

wird durch das kraniale Computertomogramm (cCT) gestellt (multiple<br />

Territorial<strong>in</strong>farkte mit kortikaler, keilförmiger Lokalisation). Typische Ursachen<br />

für multiple Hirngefäßverschlüsse s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e persistierende kardiale<br />

Emboliequell e (z. B. unbehandeltes Vorhoffl immer n, Herzwandaneurysm a,<br />

rheumatische Klappenerkrankun g, Mitralstenos e, Vorhofmyxo m, Endocarditis<br />

lent a) oder e<strong>in</strong>e arterioarterielle Emboliequelle (hochgradige Karotisstenose<br />

n, v. a. wenn beidseits vorhanden). Multiple kortikale Infarkte kommen<br />

auch bei Ger<strong>in</strong>nungsstörunge n (Prote<strong>in</strong>-S- oder Prote<strong>in</strong>-C-Mangel, Antithromb<strong>in</strong>mangel,<br />

aktivierte Prote<strong>in</strong>-C-Resistenz bei Faktor-V-Leiden, Kardiolip<strong>in</strong>-IgG-Antikörpersyndrom)<br />

vor. Kl<strong>in</strong>isch zeigen sich <strong>in</strong> Abhängigkeit<br />

von der Lokalisation kortikale Funktionsstörungen wie Aphasi e, Apraxi e oder<br />

verschiedene Neglekt-Syndrom e.


6.4 · Unterformen vaskulärer <strong>Demenzen</strong><br />

. Tab. 6.1 Unterformen vaskulärer <strong>Demenzen</strong><br />

Läsionsort Große Arterien Kle<strong>in</strong>e Arterien<br />

Infarkttyp Multiple<br />

territoriale<br />

Infarkte<br />

Pathogenese<br />

Therapiepr<strong>in</strong>zip<br />

Kardiale<br />

Embolie<br />

Arterioarterielle<br />

Embolie<br />

Karotisstenose<br />

Antikoagulation<br />

Operation<br />

Strategische<br />

territoriale<br />

Infarkte<br />

Arterioarterielle<br />

Embolie<br />

Kardiale<br />

Embolie<br />

In-situ-<br />

Thrombose<br />

ThrombozytenfunktionshemmerAntikoagulation<br />

Operation<br />

Charakteristische kl<strong>in</strong>ische Merkmale der vaskulären Demen z<br />

1. Plötzliches Auftreten von kognitiven Störungen im zeitlichen<br />

Zusammenhang mit e<strong>in</strong>er zerebrovaskulären Erkrankung <strong>und</strong> im<br />

Verlauf fluktuierender oder schubförmiger Ausprägung, weist auf e<strong>in</strong>e<br />

vaskuläre Genese h<strong>in</strong>, ist jedoch ke<strong>in</strong>e notwendige Bed<strong>in</strong>gung.<br />

2. Schon im frühen Krankheitsstadium kommt es zu Gangstörungen<br />

mit kle<strong>in</strong>schrittige m, engbasigem, teilweise schlurfendem oder auch<br />

spastischem Gangbild mit gehäuften Stürze n.<br />

<strong>3.</strong> Miktionsstörungen im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Frequenzzunahme, vermehrter<br />

Urge-Symptomatik bis h<strong>in</strong> zur Drang<strong>in</strong>kont<strong>in</strong>enz s<strong>in</strong>d Frühsymptom e.<br />

4. In der kl<strong>in</strong>isch-neurologischen Untersuchung f<strong>in</strong>den sich fokalneurologische<br />

Zeichen, die je nach Lokalisation der Ischämie bzw. vaskulärem<br />

Subtyp variieren können:<br />

6<br />

97<br />

Strategische<br />

lakunäre<br />

Infarkte<br />

Hyal<strong>in</strong>ose<br />

Amyloidose<br />

Vaskulitis<br />

Antihypertensiva<br />

Antidiabetika<br />

Immunsuppressiva<br />

Multiple<br />

lakunäre<br />

Infarkte<br />

6<br />

M. B<strong>in</strong>swanger<br />

CADASIL<br />

Antihypertensiva<br />

Antidiabetika<br />

CADASIL zerebrale autosomal-dom<strong>in</strong>ante Arteriopathie mit subkortikalen Infarkten<br />

<strong>und</strong> Leukenzephalopathie


6<br />

98 Kapitel 6 · Morbus B<strong>in</strong>swanger <strong>und</strong> andere vaskuläre <strong>Demenzen</strong><br />

4 Typisch s<strong>in</strong>d pyramidale Symptome wie Hemipares e <strong>und</strong>/oder<br />

zentrale Fazialispares e mit positivem Bab<strong>in</strong>ski-Zeiche n sowie extrapyramidale<br />

Symptom e mit Tonussteigerun g <strong>und</strong> Ak<strong>in</strong>es e. Häufig<br />

kommt es zum Auftreten e<strong>in</strong>es pseudobulbären Syndrom s, das<br />

durch Sprech- <strong>und</strong> Schluckstörungen sowie affektive Labilitä t mit<br />

pathologischem We<strong>in</strong>en <strong>und</strong> Lache n gekennzeichnet ist.<br />

5. In der neuropsychologischen Beurteilung s<strong>in</strong>d v. a. Veränderungen des<br />

Antriebs <strong>und</strong> der Affektivität im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es Frontalhirnsyndrom s<br />

auffällig. Die Patienten wirken zurückgezogen, teilnahmslos <strong>und</strong><br />

gleichgültig. Es kommt vermehrt zu Stimmungsschwankungen mit<br />

depressiv gefärbter Gr<strong>und</strong>stimmun g.<br />

4 Inwieweit bestimmte kognitive Symptome im Vordergr<strong>und</strong> stehen,<br />

hängt von der Lokalisation, Größe, Anzahl <strong>und</strong> Ursache der vaskulären<br />

Läsionen ab.<br />

4 Kortikale vaskuläre <strong>Demenzen</strong>, meist Folge von atherothrombotischen<br />

oder kardiogen-embolischen Schlaganfällen, s<strong>in</strong>d durch<br />

plötzlich auftretende Lähmungen, sensible Störungen <strong>und</strong> aphasische<br />

Syndrome charakterisiert.<br />

4 Subkortikale vaskuläre <strong>Demenzen</strong> dagegen bieten Pseudobulbärhirnsymptome,<br />

isolierte Pyramidenbahnzeiche n, Haltungs- <strong>und</strong><br />

Tonusanomalien sowie Frontalhirnsyndrome mit Verlangsamun g,<br />

Interessenverarmun g, Perseveratione n <strong>und</strong> Aufmerksamkeitsstörunge<br />

n.<br />

Strategische E<strong>in</strong>zel<strong>in</strong>farktdemenz<br />

An entsprechender Stelle lokalisiert können auch e<strong>in</strong>zelne ischämische Infarkte<br />

e<strong>in</strong> demenzielles Syndrom verursachen. Folgende Lokalisationen s<strong>in</strong>d<br />

beschriebe n:<br />

4 Gyrus-angularis-Infarkt e (h<strong>in</strong>terer Mediateil<strong>in</strong>farkt der dom<strong>in</strong>anten Hemisphäre),<br />

4 A.-cerebri-posterior-Infarkt e mit Beteiligung des medialen Temporallappens,<br />

4 mediale frontale Infarkte (A. cerebri anterior) ,<br />

4 Ischämie im Bereich des Nucleus caudatu s, v. a. l<strong>in</strong>ksseitig,<br />

4 bilaterale oder l<strong>in</strong>ksseitige paramediane Th alamus<strong>in</strong>farkt e (. Abb. 6.1���


6.4 · Unterformen vaskulärer <strong>Demenzen</strong><br />

. Abb. 6.1 Computertomogram m mit bilateralen paramedianen Thalamus<strong>in</strong>farkten als<br />

Ursache für e<strong>in</strong>e Demenz durch strategisch gelegene Hirn<strong>in</strong>farkte<br />

99<br />

6<br />

4 Diese Th alamusanteile werden z. T. unpaarig, d. h. beidseits durch e<strong>in</strong>e<br />

Arterie aus dem Gabelungsbereich der A. basilari s versorgt, sodass e<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>zelner Gefäßverschluss (meist e<strong>in</strong>e Basilariskopft hrombos e) e<strong>in</strong>en<br />

beidseitigen Infarkt <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Demenz häufi g mit amnestischem Syndrom<br />

(»thalamische Demenz«) verursachen kan n.<br />

Ursache dieser strategisch ungünstig gelegenen Infarkte können Arterioskleros<br />

e (In-situ-Th rombos e), arterioarterielle Embolien oder kardiale Embolien<br />

se<strong>in</strong>.<br />

Grenzzonenischämien<br />

Infarkte im sog. Grenzzonengebiet zwischen zwei Hirnarterien können e<strong>in</strong><br />

demenzielles Syndrom verursachen, v. a. wenn sie bilateral <strong>und</strong> im vorderen<br />

Grenzzonengebiet (zwischen dem Versorgungsgebiet der vorderen <strong>und</strong> mittleren<br />

Hirnarterie) auft reten. Ursache s<strong>in</strong>d hochgradige Stenosen oder Verschlüsse<br />

der A. carotis <strong>in</strong>tern a mit unzureichender Kollateralversorgun g.


6<br />

100 Kapitel 6 · Morbus B<strong>in</strong>swanger <strong>und</strong> andere vaskuläre <strong>Demenzen</strong><br />

6.4.2 Kle<strong>in</strong>e Arteriolen <strong>und</strong> Kapillaren<br />

Häufi ger werden vaskuläre <strong>Demenzen</strong> durch e<strong>in</strong>e Erkrankung der kle<strong>in</strong>en<br />

<strong>und</strong> kle<strong>in</strong>sten Hirngefäße verursacht, v. a. der Endabschnitte langer penetrierender<br />

Marklagerarterie n.<br />

Multiple lakunäre Infarkte<br />

Durch den Verschluss kle<strong>in</strong>er zerebraler Endarterien entstehen sog. Lakune n,<br />

d. h. kle<strong>in</strong>e, r<strong>und</strong>e oder ovaläre Infarkte bis zu 1,5 cm Durchmesser <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er<br />

bevorzugten Lokalisation <strong>in</strong> den Stammganglie n (v. a. <strong>in</strong>nere Kapsel), <strong>in</strong> Th alamu<br />

s, Brück e <strong>und</strong> periventrikulärem Marklage r. Lakunen werden durch das<br />

CT <strong>und</strong> weitaus sensitiver durch das MRT (Magnetresonanztomogramm)<br />

diagnostizier t. Sie verlaufen z. T. asymptomatisch oder aber werden kl<strong>in</strong>isch<br />

durch sog. lakunäre Syndrom e erkennbar:<br />

4 Paresen ohne sensible Beteiligung (pure motor strok e),<br />

4 Sensibilitätsstörungen e<strong>in</strong>es Armes <strong>und</strong>/oder Be<strong>in</strong>es ohne Lähmung (pure<br />

sensory stroke) ,<br />

4 Hemiballismu s,<br />

4 Artikulationsstörunge n mit Fe<strong>in</strong>motorikstörungen (»Dysarthria-clumsyhand-Syndro<br />

m«) oder halbseitige Zeigeataxien mit nur ger<strong>in</strong>ger Armparese<br />

(atactic hemiparesi s).<br />

E<strong>in</strong>e demenzielle Entwicklung beg<strong>in</strong>nt häufi g erst dann, wenn Lakunen konfl<br />

uieren (»Status lacunari s«) <strong>und</strong> sich <strong>in</strong> der zerebralen Bildgebung als periventrikuläre,<br />

fl eckige Dichtem<strong>in</strong>derungen darstellen (<strong>in</strong> der T2-gewichteten<br />

Sequenz s<strong>in</strong>d dies hyper<strong>in</strong>tense, d. h. helle Marklagerläsione n, die auch als<br />

»Leukoaraiose« bezeichnet werden). Patienten mit Lakunen haben meist<br />

mehrere vaskuläre Risikofaktoren, v. a. arterielle Hypertoni e > 140/90 mmHg<br />

<strong>und</strong> Diabetes mellitu s.<br />

Morbus B<strong>in</strong>swanger (Synonym: Subkortikale<br />

arteriosklerotische Enzephalopathie, SAE)<br />

Dieses 1894 erstmals beschriebene Syndrom stellt e<strong>in</strong>e Sonderform e<strong>in</strong>er mikroangiopathischen<br />

vaskulären Demenz da r, deren Eigenständigkeit <strong>und</strong> Abgrenzbarkeit<br />

zu multiplen lakunären Infarkten nicht allgeme<strong>in</strong> anerkannt ist.<br />

Die Patienten haben e<strong>in</strong>e schleichend beg<strong>in</strong>nende, chronisch progrediente<br />

Symptomatik mit kognitiver Bee<strong>in</strong>trächtigung, Frontalhirnzeichen wie An-


6.4 · Unterformen vaskulärer <strong>Demenzen</strong><br />

101<br />

6<br />

triebsverlust <strong>und</strong> Verlangsamun g, Gangstörunge n, Blasen<strong>in</strong>kont<strong>in</strong>en z <strong>und</strong><br />

Zeichen der Pseudobulbärparalys e (Caplan 1995). In der Bildgebung – am<br />

sensitivsten ist die Kernsp<strong>in</strong>tomographie – zeigen sich periventrikuläre Dichtem<strong>in</strong>derungen<br />

(»Leukoaraiose«) sowie e<strong>in</strong>e Erweiterung der Ventrikel. Die<br />

kl<strong>in</strong>ische Abgrenzung zum Status lacunaris, manchmal auch zum Normaldruckhydrozephalu<br />

s (Trias Demenz, Gangstörung, Blasen<strong>in</strong>kont<strong>in</strong>enz) ist<br />

unscharf.<br />

> Die kernsp<strong>in</strong>tomographisch darstellbaren Marklagerveränderungen<br />

s<strong>in</strong>d unspezifi sch <strong>und</strong> können <strong>in</strong> ähnlicher Weise altersbed<strong>in</strong>gt ohne<br />

neurologische Symptome, bei lakunären Infarkten mit oder ohne<br />

Demenz, bei CADASIL (s. unten), bei zerebralen Vaskulitiden oder bei<br />

Entmarkungskrankheite n (z. B. multiple Skleros e, Leukodystrophie n<br />

oder Neuroborrelios e im Stadium III) auftreten.<br />

Pathologisch zeigen sich ischämische Läsionen im periventrikulären Grenzzonenbereich,<br />

mit Erweiterung der perivaskulären Räume, Elongation der<br />

medullären Arteriolen, Arteriolosklerose <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>ären Demyel<strong>in</strong>isierungsherde<br />

n.<br />

Patienten mit der B<strong>in</strong>swanger-Erkrankung haben meist vaskuläre Risikofaktore<br />

n. Besonders ungünstig waren langfristig erhöhte Blutdruckwerte, hypertensive<br />

Krise n <strong>und</strong> das Fehlen des zirkadianen nächtlichen Blutdruckabfalls.<br />

Bei manchen Patienten mit B<strong>in</strong>swanger-Erkrankung wurden erhöhte<br />

Fibr<strong>in</strong>ogenwerte im Blut, Hyperviskositä t, Th rombozytenaggregatio n oder<br />

e<strong>in</strong>e Aktivierung der Ger<strong>in</strong>nungskaskade während der Krankheitsprogres sion<br />

festgestellt – e<strong>in</strong>e der theoretischen Gr<strong>und</strong>lagen für Behandlungsversuche<br />

mit Substanzen wie Pentoxifylli n oder Propentofylli n.<br />

CADASIL (zerebrale autosomal-dom<strong>in</strong>ante Arteriopathie<br />

mit subkortikalen Infarkten <strong>und</strong> Leukenzephalopathie)<br />

E<strong>in</strong>e Demenz bei jüngeren Patienten (ab 30–40 Jahre) ohne vaskuläre Risikofaktoren<br />

mit kernsp<strong>in</strong>tomographischen Charakteristika des M. B<strong>in</strong>swanger<br />

sollte an CADASI L denken lassen. Seit der erstmaligen Beschreibung als<br />

genetisch bed<strong>in</strong>gte Krankheitsentität 1993 s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Deutschland etwa<br />

100 CADASIL-Fälle bekannt geworden, die Prävalenz liegt vermutlich jedoch<br />

viel höher. Es handelt sich um e<strong>in</strong>e autosomal-dom<strong>in</strong>ant vererbte (Chromosom<br />

19p1<strong>3.</strong>1, Mutation im Notch-3-Ge n), nichtarteriosklerotische Erkrankung<br />

der leptomen<strong>in</strong>gealen <strong>und</strong> penetrierenden Mikrogefäße im Gehirn ohne


6<br />

102 Kapitel 6 · Morbus B<strong>in</strong>swanger <strong>und</strong> andere vaskuläre <strong>Demenzen</strong><br />

Amyloidablagerungen. Möglicherweise liegt e<strong>in</strong>e Schädigung der elastischen<br />

Fasern der Gefäßwände zugr<strong>und</strong>e. Die jungen Patienten fallen kl<strong>in</strong>isch durch<br />

episodisch auft retende aff ektive Störungen (30%) z. T. mit Wah n <strong>und</strong> Halluz<strong>in</strong>atione<br />

n, Migräneattacke n mit Aura (40%), epileptische Anfälle (10%) <strong>und</strong><br />

im Verlauf progrediente Demenz (Benisty et al. 2008) auf. Kernsp<strong>in</strong>tomographisch<br />

zeigen sich <strong>in</strong> der T2-gewichteten Sequenz bei allen symptomatischen<br />

Genträgern konfl uierende Dichtem<strong>in</strong>derungen periventrikulär, im Marklager<br />

<strong>und</strong> später im gesamten Hirn unter Aussparung des Kortex <strong>und</strong> des Kle<strong>in</strong>hirns<br />

(. Abb. 6.2). Die Krankheit schreitet langsam fort <strong>und</strong> ist bislang nicht<br />

behandelbar. Zur Diagnosesicherung eignet sich neben der direkten DNS-<br />

Analys e e<strong>in</strong>e Hautbiopsi e, da elektronenmikroskopisch <strong>in</strong> der Basalmembran<br />

der Haut charakteristische osmophile Granula nachgewiesen werden können.<br />

Amyloidangiopathie<br />

<strong>Demenzen</strong> bei älteren, nichthypertensiven Patienten können auch auf e<strong>in</strong>er<br />

Amyloidangiopathi e beruhen. Amyloidablagerunge n <strong>in</strong> zerebralen Gefäßen<br />

führen e<strong>in</strong>erseits zu <strong>in</strong>trazerebralen Blutungen wie Mikro- <strong>und</strong> Lobärhämatomen,<br />

andererseits auch zu ischämischen Mikro<strong>in</strong>farkten mit konsekutiver<br />

demenzieller Entwicklung. Betroff en s<strong>in</strong>d (im Gegensatz zu M. B<strong>in</strong>swanger<br />

<strong>und</strong> CADASIL) die Arteriolen <strong>und</strong> Kapillaren von Leptomen<strong>in</strong>ge n <strong>und</strong> zerebralem<br />

Kortex – nur <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>gem Maße auch von Marklagerarterien. Durch<br />

fi br<strong>in</strong>oide Nekrosen <strong>und</strong> Gefäßverschlüsse führt dies zu kle<strong>in</strong>en, kortikal gelegenen<br />

Ischämien. Ätiologisch unterscheidet man sporadische von autosomal-dom<strong>in</strong>ant<br />

vererbten Formen (isländischer oder holländischer Typ).<br />

Zerebrale Vaskulitiden<br />

Multiple Hirn<strong>in</strong>farkte im Rahmen von Vaskulitide n mit zerebraler Beteiligung<br />

können ebenfalls e<strong>in</strong> demenzielles Syndrom bed<strong>in</strong>gen: beispielsweise im<br />

Rahmen von Kollagenose n (v. a. Lupus erythematode s, seltener Panarteriitis<br />

nodos a, Wegenersche Granulomatos e), der Arteriitis cranialis B<strong>in</strong>g Horto n,<br />

e<strong>in</strong>iger <strong>in</strong>fektiöser Gefäßentzündungen (z. B. Lues cerebrosp<strong>in</strong>ali s, Heubnersche<br />

Endarteriiti s bei Tuberkulos e, Herpes zoste r, Lyme-Borrelios e) oder als<br />

paraneoplastisches Syndro m. Die entsprechenden serologischen Tests gehören<br />

zum erweiterten diagnostischen Repertoire vaskulärer Demenze n<br />

(ant<strong>in</strong>ukleäre Antikörper, Anti-DNS-Antikörper, antizytoplasmatische Antikörper,<br />

Komplementkomponenten C3 <strong>und</strong> C4, Blutsenkung, TPHA (Trepone-


6.4 · Unterformen vaskulärer <strong>Demenzen</strong><br />

103<br />

6<br />

. Abb. 6.2 Kernsp<strong>in</strong>tomogram m e<strong>in</strong>es Patienten mit zerebraler autosomal-dom<strong>in</strong>anter<br />

Arteriopathie mit subkortikalen Infarkten <strong>und</strong> Leukenzephalopathie (CADASIL). Ähnlich wie<br />

bei M. B<strong>in</strong>swanger zeigen sich <strong>in</strong> der T2-gewichteten Sequenz multiple periventrikuläre<br />

Dichtem<strong>in</strong>derungen<br />

ma-pallidum-Hämagglut<strong>in</strong>ations-Assay), Lyme- <strong>und</strong> Zoster-Antikörper <strong>in</strong><br />

Serum <strong>und</strong> Liquor, Liquorpunktion). Größere diagnostische Schwierigkeiten<br />

bereitet die »isolierte Angiitis des zentralen Nervensystems «. Diese immer<br />

wieder sporadisch auft retende Vaskulitis ausschließlich der kle<strong>in</strong>en leptomen<strong>in</strong>gealen<br />

<strong>und</strong> kortikalen parenchymatösen Hirngefäße verursacht e<strong>in</strong>e rasch<br />

progrediente Demenz, typischerweise ohne alle o. g. Laborauff älligkeiten. Die<br />

angiographische Gefäßdarstellung ist meist normal, Computertomogramm<br />

<strong>und</strong> Kernsp<strong>in</strong>tomogramm zeigen unspezifi sche, subkortikal gelegene Infarkte.<br />

Zur Diagnosesicherung wird e<strong>in</strong>e leptomen<strong>in</strong>geale <strong>und</strong> kortikale Hirnbiopsi e<br />

benötigt, die <strong>in</strong> Anbetracht der therapeutischen Konsequenz – mit Remissionen<br />

unter Kortikosteroide n <strong>und</strong> Cyclophosphami d – auch immer dann


6<br />

104 Kapitel 6 · Morbus B<strong>in</strong>swanger <strong>und</strong> andere vaskuläre <strong>Demenzen</strong><br />

durchgeführt werden sollte, wenn e<strong>in</strong>e anderweitig ungeklärte, rasch progrediente<br />

Demenz mit zusätzlichen, plötzlichen fokalneurologischen Zeichen<br />

auft ritt.<br />

Mitochondriale Enzephalopathien (MELAS)<br />

Mitochondrial encephalopathy with lactic acidosis and stroke-like episodes<br />

(MELAS) ist e<strong>in</strong>e z. T. maternal vererbte, z. T. sporadisch auft retende enzymatische<br />

Funktionsstörung der Mitochondrien <strong>und</strong> stellt e<strong>in</strong>e seltene Ursache<br />

für <strong>in</strong> der K<strong>in</strong>dheit oder bei jungen Erwachsenen beg<strong>in</strong>nende <strong>Demenzen</strong> da r.<br />

Die Erkrankung verursacht Sehstörunge n (Hemianopsie, kortikale Bl<strong>in</strong>dhei t)<br />

durch okzipitale Infarkte, epileptische Anfälle <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e progrediente Demenz<br />

– seltener Ataxien, Ophthalmoplegi e <strong>und</strong> Ret<strong>in</strong>itis pigmentos a. Der<br />

Verdacht entsteht durch e<strong>in</strong>e positive Familienanamnese, die Symptomenkonstellation<br />

Sehstörungen, Epilepsi e <strong>und</strong> Demenz sowie erhöhte Laktatspiegel<br />

<strong>in</strong> Ruhe <strong>und</strong> schließlich den mikroskopischen Nachweis von ragged red<br />

fi ber s <strong>in</strong> der Muskelbiopsie. Der Verdacht kann durch Nachweis e<strong>in</strong>er Punktmutation<br />

im mitochondrialen Genom mittlerweile aus Blutproben molekulargenetisch<br />

bestätigt werden.<br />

Gemischte Demenz (mixed dementia)<br />

Seit langem ist bekannt, dass viele Patienten vor Ausbruch e<strong>in</strong>er AD entweder<br />

kl<strong>in</strong>isch stumme oder auch symptomatische Schlaganfälle hatte n. Bis zu 60%<br />

der Patienten mit AD haben kernsp<strong>in</strong>tomographisch oder autoptisch periventrikuläre<br />

Marklagerläsionen wie bei M. B<strong>in</strong>swanger. Nach e<strong>in</strong>em Schlaganfall<br />

<strong>in</strong> jungen Jahren verdoppelt sich das Risiko, <strong>in</strong>nerhalb der nächsten<br />

25 Jahre e<strong>in</strong>e A D zu bekommen (Pasquier u. Leys 1997). Diese tritt dann<br />

meist früher auf als ohne vorangegangene vaskuläre Ereignisse, was zu der<br />

Hypothese geführt hat, dass die Prävention von Schlaganfälle n auch e<strong>in</strong>en<br />

Schutz vor AD darstellt.<br />

Es stellt sich die Frage, warum nur e<strong>in</strong> Teil von Patienten mit multiplen<br />

kortikalen oder subkortikalen Hirn<strong>in</strong>farkten e<strong>in</strong>e Demenz entwickelt <strong>und</strong><br />

viele andere mit dem gleichen Bildbef<strong>und</strong> asymptomatisch bleiben. Als demenzbegünstigender<br />

Faktor wird neben dem Lebensalter immer wieder e<strong>in</strong><br />

niedriges Ausbildungsniveau diskutiert. Biologische <strong>und</strong> v. a. genetische Faktoren<br />

werden vermutet, s<strong>in</strong>d jedoch noch nicht identifi ziert. Obwohl das Apolipoprote<strong>in</strong><br />

E (ApoE) sowohl mit Arteriosklerose als auch mit AD assoziiert<br />

ist, konnte bislang ke<strong>in</strong> Zusammenhang zwischen Trägern der Isoform ApoE


6.5 · Diagnostik<br />

105<br />

6<br />

<strong>und</strong> der Ausbildung e<strong>in</strong>er VD hergestellt werden. Ebenso ungesichert ist, ob<br />

bestimmte Diätforme n e<strong>in</strong>en schützenden Eff ekt haben. Sicher sche<strong>in</strong>t nur zu<br />

se<strong>in</strong>, dass das Risiko für e<strong>in</strong>e VD mit der Zahl der Schlaganfälle, dem Volumen<br />

des <strong>in</strong>farzierten Hirngewebes <strong>und</strong> der daraus resultierenden zerebralen<br />

Atrophie steigt (Gorelick 1997, Ott et al. 1998, Ross et al. 1999).<br />

6.5 Diagnostik<br />

E<strong>in</strong>en diagnostischen Algorithmus be<strong>in</strong>haltet . Abb. 6.3, der die meisten der<br />

<strong>in</strong> . Tab. 6.1 aufgeführten vaskulären Demenzformen erfasst.<br />

6.5.1 Kognitive Screen<strong>in</strong>g-Tests<br />

Der weit verbreitete M<strong>in</strong>i-Mental-State-Test (M<strong>in</strong>i-Mental State Exam<strong>in</strong>ation,<br />

MMSE) ) ist bei ausreichender Spezifi tät <strong>und</strong> Sensitivität zur Schweregrade<strong>in</strong>schätzung<br />

<strong>und</strong> Verlaufsbeurteilung wertvoll. Leichtere Demenzformen werden<br />

jedoch übersehen oder schwerere Aphasien fehlklassifi ziert. Daher ist er<br />

für e<strong>in</strong>e erste Screen<strong>in</strong>g-Untersuchung nicht zu empfehlen. Das strukturierte<br />

Interview zur Diagnose der Alzheimer- <strong>und</strong> Multi<strong>in</strong>farktdemenz (SIDAM)<br />

stellt h<strong>in</strong>gegen e<strong>in</strong>en guten Screen<strong>in</strong>g-Test da r. Mit der Dementia Rat<strong>in</strong>g Scale<br />

(DRS) nach Mattis können vaskuläre <strong>und</strong> nicht vaskuläre Demenzformen<br />

recht zuverlässig unterschieden werden) ). Der ursprünglich zur Abgrenzung<br />

vaskulärer von degenerativen Demenzformen entwickelte Hach<strong>in</strong>ski-Ischämie-Score<br />

(HIS ) sollte zur Gewährleistung e<strong>in</strong>er ausreichenden Trennschärfe<br />

nur noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er modifi zierten Form (z. B. nach Loeb u. Gandolfo 1983) angewandt<br />

werden.<br />

Zur genaueren Klassifi zierung neuropsychologischer Defi zite s<strong>in</strong>d spezielle<br />

Testsysteme, beispielsweise der Aachener-Aphasie-Test (AAT) , erforderlich.<br />

Wesentlich ist, dass gerade e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>zeltest e<strong>in</strong>em demenziellen Syndrom<br />

nicht <strong>in</strong> allen Aspekten gerecht werden kann, <strong>in</strong>sbesondere bei dem komplexen<br />

Bild der VD (7 Kap. 19).


6<br />

106 Kapitel 6 · Morbus B<strong>in</strong>swanger <strong>und</strong> andere vaskuläre <strong>Demenzen</strong><br />

Kortikale territoriale Infarkte<br />

Echokardiographie<br />

transthorakal<br />

transösophageal<br />

Neuropsychologische Testung<br />

Bildgebung (CT/MR/ggf. Diffusions-MR)<br />

Grenzzonen-/<br />

Endstrom<strong>in</strong>farkte<br />

Doppler/Duplex<br />

extra/transkraniell<br />

Multiple periventrikuläre<br />

Lakunen/Leukoaraiose<br />

Kardiale Embolie Karotisstenosen Morbus<br />

B<strong>in</strong>swanger<br />

Arterio-arterielle<br />

Embolie<br />

In-situ-<br />

Thrombosen<br />

bei jungen Patienten sowie bislang<br />

negativer Diagnostik:<br />

APC-Resistenz, Prote<strong>in</strong> C, Prote<strong>in</strong> S,<br />

Cardiolip<strong>in</strong>-IgG-Antikörper<br />

Demenz mit<br />

1) alltagsrelevanter Gedächtnisstörung<br />

2) Z.n. Hirndurchblutungsstörung<br />

3) zeitlicher Zusammenhang von 1) <strong>und</strong> 2)<br />

Familienanamnese<br />

Risikofaktoren (Hypertonie,<br />

Diabetes, Homocyste<strong>in</strong>)<br />

Hautbiopsie<br />

Muskelbiopsie<br />

DNA-Untersuchung<br />

CADASIL<br />

MELAS<br />

. Abb. 6.3 Diagnostische Pr<strong>in</strong>zipien bei vaskulärer Demen z<br />

Multiple subkortikale<br />

Infarkte<br />

Liquoruntersuchung<br />

Vaskulitisparameter<br />

Serologie<br />

Kollagenosen<br />

<strong>in</strong>fektassoziierte<br />

Vaskulitiden<br />

wenn negativ:<br />

leptomen<strong>in</strong>geale<br />

Biopsie<br />

Isolierte ZNS-Vaskulitis


6.6 · Differenzialdiagnosen<br />

6.5.2 Zerebrale Bildgebung<br />

107<br />

6<br />

Die verschiedenen Unterformen VD erfordern zur diagnostischen E<strong>in</strong>ordnung<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich e<strong>in</strong>e zerebrale Bildgebung, besonders dr<strong>in</strong>glich dann,<br />

wenn<br />

4 herdneurologische Symptome akut oder früher aufgetreten s<strong>in</strong>d,<br />

4 die Demenz akut e<strong>in</strong>setzt, schubförmig, fl uktuierend oder rasch progredient<br />

verläuft ,<br />

4 e<strong>in</strong>e positive Familienanamnese vorliegt.<br />

Aufgr<strong>und</strong> der höheren Sensitivität bei mikroangiopathischen <strong>und</strong> demyel<strong>in</strong>isierenden<br />

Prozessen ist das MRT dem CT überlegen – wenn auch für ke<strong>in</strong>e<br />

der genannten Erkrankungen spezifi sch. Durch diff usionsgewichtete Aufnahmen<br />

ist es zudem <strong>in</strong> der Lage, zwischen neu aufgetretenen (1–2 Wochen alten)<br />

<strong>und</strong> älteren Läsionen zu unterscheiden. Die sog. FFE- oder T2*-gewichteten<br />

Sequenzen s<strong>in</strong>d sensitiv für Blutungen, <strong>in</strong>sbesondere auch für die auf dem<br />

Computertomogramm nicht erkennbaren Mikroblutungen, die bei subkortikaler<br />

vaskulärer Demenz häufi g zu fi nden s<strong>in</strong>d (Seo et al. 2007)<br />

Zusätzlich dient die zerebrale Bildgebung dem Ausschluss anderer Hirnerkrankungen,<br />

die sich kl<strong>in</strong>isch mit dem Bild e<strong>in</strong>er VD manifestieren können<br />

(z. B. langsam wachsende Hirntumore wie Men<strong>in</strong>geome oder niedermaligne<br />

Astrozytome , chronisch subdurale Hämatome oder e<strong>in</strong> Normaldruckhydrozephalus<br />

) . E<strong>in</strong>e funktionelle Bildgebung durch PET (Positronenemissionstomographie)<br />

<strong>und</strong>/oder SPECT (S<strong>in</strong>gle-Photon Emission Computed Tomography),<br />

über die Aussagen zum regionalen zerebralen Blutfl uss <strong>und</strong> zum Glukoseverbrauch<br />

gemacht werden können, s<strong>in</strong>d nicht Bestandteil der Basisdiagnostik<br />

<strong>und</strong> sollten nur unter gleichzeitiger Berücksichtigung der strukturellen<br />

Bildgebung speziellen Zentren vorbehalten bleiben.<br />

6.6 Diff erenzialdiagnosen<br />

6.6.1 Alzheimer-Demenz<br />

Bei den degenerativen Demenzformen muss v. a. die AD diff erenzialdiagnostisch<br />

abgegrenzt werden. Diese zeichnet sich kl<strong>in</strong>isch durch e<strong>in</strong>en meist<br />

schleichenden Beg<strong>in</strong>n ohne manifeste fokalneurologische Defi zite aus . Es


6<br />

108 Kapitel 6 · Morbus B<strong>in</strong>swanger <strong>und</strong> andere vaskuläre <strong>Demenzen</strong><br />

kommt schon im Frühstadium zu Gedächtnisstörungen bei meist fehlender<br />

Krankheitse<strong>in</strong>sicht. Patienten mit e<strong>in</strong>em vaskulären demenziellen Syndrom<br />

zeigen dagegen e<strong>in</strong> recht gut erhaltenes Langzeitgedächtnis mit im Vordergr<strong>und</strong><br />

stehender Störung exekutiver Funktionen. CT <strong>und</strong> MRT bei AD zeigen<br />

neben periventrikulären Marklagerläsionen im Verlauf auch e<strong>in</strong>e Hirnatrophie<br />

mit Zunahme der <strong>in</strong>neren <strong>und</strong> äußeren Liquorräume. Wie bereits beschrieben,<br />

s<strong>in</strong>d Mischformen e<strong>in</strong>er vaskulären Demenz mit e<strong>in</strong>er AD (sog.<br />

mixed-dementia) mit sich überlagernder Symptomatik häufi g (Looi et al.<br />

1999) .<br />

6.6.2 Hypertensive Enzephalopathie<br />

Bei der hypertensiven Enzephalopathie kommt es im Rahmen von Blutdruckspitzen<br />

zum Versagen der zerebrovaskulären Autoregulation mit perivaskulärem<br />

Flüssigkeits- <strong>und</strong> Eiweißaustritt, die sich <strong>in</strong> der Bildgebung als<br />

diff use oder fokale Marklagerveränderungen demarkieren. Kl<strong>in</strong>isch kann es<br />

neben Kopfschmerzen, Übelkeit <strong>und</strong> Erbrechen auch zu kognitiven, mit<br />

e<strong>in</strong>em demenziellen Syndrom zu vere<strong>in</strong>barenden Störungen kommen. Im Gegensatz<br />

zur VD erfolgt im Rahmen e<strong>in</strong>er Blutdrucknormalisierung eher rasch<br />

e<strong>in</strong>e Rückbildung der kl<strong>in</strong>ischen <strong>und</strong> radiologischen Veränderungen.<br />

6.6.3 Normaldruckhydrozephalus<br />

Diff erenzialdiagnostisch ebenfalls berücksichtigt werden muss der Normaldruckhydrozephalus<br />

. Die klassische kl<strong>in</strong>ische Trias ist gekennzeichnet durch<br />

Gangstörungen , Inkont<strong>in</strong>enz <strong>und</strong> e<strong>in</strong> demenzielles Syndrom. In der Bildgebung<br />

zeigt sich e<strong>in</strong>e überproportionale Erweiterung der <strong>in</strong>neren Liquorräume<br />

bei nur ger<strong>in</strong>ger äußerer Atrophie. Etwa 50% der Patienten – <strong>in</strong> der Mehrheit<br />

s<strong>in</strong>d Männer betroff en – profi tieren von e<strong>in</strong>er Shunt-Anlage. E<strong>in</strong> positiver Liquorablassversuch,<br />

d. h. Besserung des Gangbildes oder der kognitiven Leistung<br />

e<strong>in</strong>ige St<strong>und</strong>en nach Ablassen von 30–50 ml Liquor, unterstützt die Indikation<br />

zur operativen Shunt-Anlage.


6.7 · Therapeutische Pr<strong>in</strong>zipien<br />

6.7 Therapeutische Pr<strong>in</strong>zipien<br />

109<br />

6<br />

Aufgr<strong>und</strong> der Heterogenität der VD (. Tab. 6.1) mit verschiedensten Subtypen<br />

lässt sich ke<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>gültiges Behandlungsschema ableiten. Pr<strong>in</strong>zipiell<br />

kann man jedoch zwischen e<strong>in</strong>er Primärprophylaxe, die gruppenübergreifend<br />

ist <strong>und</strong> <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie die Verh<strong>in</strong>derung kardiovaskulärer Risikofaktoren<br />

bedeutet, <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>ärprophylaktischen Maßnahmen, die z. T. von<br />

dem zugr<strong>und</strong>e liegenden vaskulären Subtyp abhängig s<strong>in</strong>d, unterscheiden.<br />

6.7.1 Symptomatische Pharmakotherapie<br />

Chol<strong>in</strong>esterasehemmer (Donepezil , Galantam<strong>in</strong> ) <strong>und</strong> Memant<strong>in</strong> haben <strong>in</strong><br />

kl<strong>in</strong>ischen Studien e<strong>in</strong>e gewisse Wirksamkeit gegen die Progredienz kognitiver<br />

Defi zite bei leichter bis mittelschwerer VD <strong>und</strong> positive Eff ekte auf Verhalten<br />

<strong>und</strong> Aktivitäten des täglichen Lebens gezeigt (Erk<strong>in</strong>juntti et al. 2004,<br />

Malouf u. Birks 2004, Areosa et al. 2004) . Fortgeschrittene Stadien der vaskulären<br />

Demenz <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Behandlungsdauer über 24 Monate wurden bislang<br />

noch nicht ausreichend untersucht. Es liegt ke<strong>in</strong>e spezifi sche Zulassung dieser<br />

Medikamente für den gezielten E<strong>in</strong>satz bei VD vor. Da gemischte <strong>Demenzen</strong>,<br />

also <strong>Demenzen</strong> mit vaskulären <strong>und</strong> degenerativen Anteilen, auch <strong>in</strong> diesen<br />

Studienkollektiven häufi g s<strong>in</strong>d, ist ungeklärt, ob die genannten Substanzen auf<br />

den degenerativen oder den vaskulären Anteilen der Demenz wirken. Mischdemenzen<br />

werden wie e<strong>in</strong>e AD kodiert <strong>und</strong> können entsprechend mit Chol<strong>in</strong>esterasehemmern<br />

oder Memant<strong>in</strong> behandelt werden.<br />

Primärprophylaxe bei vaskulären <strong>Demenzen</strong><br />

4 Optimierung der Blutdrucke<strong>in</strong>stellung mit Zielwerten < 140 mmHg<br />

systolisch <strong>und</strong> < 90 mmHg diastolisch. Gestützt wird diese Annahme<br />

durch neue Studien, <strong>in</strong> denen medikamentöse Blutdrucksenkung nicht<br />

nur zu e<strong>in</strong>er 40%igen Reduktion der Schlaganfälle führte, sondern das<br />

Neuauftreten e<strong>in</strong>er AD um 50% (von 7,7 auf 3,8 Fälle pro 1000 Patienten<br />

über 5 Jahre Behandlungszeit) verr<strong>in</strong>gerte (Forette et al. 1998)<br />

4 Diätetische <strong>und</strong> medikamentöse Senkung erhöhter Blutfette mit<br />

LDL-Cholester<strong>in</strong>werten zwischen 100 mg/dl <strong>und</strong> 150 mg/dl 6


6<br />

110 Kapitel 6 · Morbus B<strong>in</strong>swanger <strong>und</strong> andere vaskuläre <strong>Demenzen</strong><br />

4 Nikot<strong>in</strong>abst<strong>in</strong>enz<br />

4 Optimierung der Diabetese<strong>in</strong>stellung anhand von HbA 1c -Verlaufskontrollen<br />

(< 7%)<br />

4 Vitam<strong>in</strong>substitution: E<strong>in</strong>e große asiatische Studie hat gezeigt, dass die<br />

tägliche E<strong>in</strong>nahme von Vitam<strong>in</strong> E <strong>und</strong> Vitam<strong>in</strong> C die Ausbildung e<strong>in</strong>er<br />

VD reduzieren kann. Bestätigende Studien stehen allerd<strong>in</strong>gs bislang<br />

noch aus (Ross et al. 1999). Die Substitution von Folsäure <strong>und</strong><br />

Vitam<strong>in</strong> B 12 hat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Studie ke<strong>in</strong>e Verbesserung der kognitiven<br />

Funktionen erbracht (McMahon et al. 2006). In e<strong>in</strong>er anderen Studie<br />

verbesserte die tägliche Gabe von 800 μg Folsäure Teilbereiche der<br />

kognitiven Funktionen bei älteren Patienten (Durga et al. 2007).<br />

Sek<strong>und</strong>ärprophylaxe bei vaskulären <strong>Demenzen</strong><br />

Je nach zugr<strong>und</strong>e liegendem Infarkttyp werden unterschiedliche Behandlungsstrategien<br />

angewandt:<br />

4 Kardiogene Embolien : Bei fortbestehendem Risiko für Embolien, z. B.<br />

Vorhofflimmern oder Klappenfehlern , sollte antikoaguliert werden.<br />

4 Arteriosklerotische Makroangiopathie: Symptomatische <strong>und</strong> hochgradige<br />

(> 70% E<strong>in</strong>engung) extrakranielle Karotisstenosen werden<br />

operiert; ansonsten s<strong>in</strong>d Thrombozytenaggregationshemmer <strong>und</strong><br />

(bei LDL > 100 mg/dl) Stat<strong>in</strong>e <strong>in</strong>diziert.<br />

4 Zerebrale Mikroangiopathie e<strong>in</strong>schließlich M. B<strong>in</strong>swanger: Priorität hat<br />

die Normalisierung des Blutdrucks. Zusätzlich werden Thrombozytenaggregationshemmer,<br />

Stat<strong>in</strong>e <strong>und</strong> Antidiabetika angewandt . Studien<br />

mit dem Ziel, die bei M. B<strong>in</strong>swanger erhöhte Plasmaviskosität zu senken<br />

(beispielsweise mit der Protease Ancrod ), zeigten ke<strong>in</strong>e<br />

Wirksamkeit.<br />

4 Amyloidangiopathie : Auf Thrombozytenaggregationshemmer sollte<br />

wegen der Hirnblutungsgefahr verzichtet werden. Nootropika <strong>und</strong><br />

Kalziumantagonisten s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e Option ohne gesicherten Effizienznachweis.<br />

7


Literatur<br />

4 Hereditäre Mikroangiopathien: E<strong>in</strong>e kausale Therapie für CADASIL oder<br />

MELAS existiert nicht . Im Vordergr<strong>und</strong> steht die symptomatische<br />

Behandlung von Komplikationen.<br />

4 Zerebrale Vaskulitiden : E<strong>in</strong>e Vaskulitis im Rahmen e<strong>in</strong>er Kollagenose<br />

erfordert e<strong>in</strong>e spezifische Therapie . Bei unbekannter Zuordnung oder<br />

isolierter ZNS-Vaskulitis wird e<strong>in</strong>e Remission durch Steroide (z. B.<br />

100 mg Methylprednisolon über 5 Tage mit anschließender schrittweiser<br />

Dosisreduktion) – ggf. ergänzt durch Cyclophosphamid-<br />

Therapie – angestrebt.<br />

111<br />

6<br />

Depressive Störungen sollten vorsichtig e<strong>in</strong>schleichend an Verhaltensauff älligkeiten<br />

orientiert mit Antidepressiva behandelt werden. Funktionelle Verfahren<br />

wie Krankengymnastik , Ergo- <strong>und</strong> Logotherapie spielen neben psychosozialer<br />

Patienten- <strong>und</strong> Angehörigenbegleitung e<strong>in</strong>e wesentliche Rolle.<br />

Literatur<br />

Areosa SA, McShane R, Sheriff F (2004) Memant<strong>in</strong>e for dementia. Cochrane Database Syst.<br />

Rev. 18, CD 003154<br />

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Malouf R, Birks J (2004) Donezepil for vascular cognitive impairment. Cochrane Database Syst<br />

Rev 18, CD 004395


6<br />

112 Kapitel 6 · Morbus B<strong>in</strong>swanger <strong>und</strong> andere vaskuläre <strong>Demenzen</strong><br />

McMahon JA, Green TJ, Skeaff CM et al (2006) A controlled trial of homocyste<strong>in</strong>e lower<strong>in</strong>g<br />

and cognitive performance. New Engl J Med 354: 2764–2772<br />

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dementia. Stroke 38: 1949–1951


113<br />

»Park<strong>in</strong>son Plus«/Demenz<br />

mit Lewy-Körperchen,<br />

Chorea Hunt<strong>in</strong>gton<br />

<strong>und</strong> andere <strong>Demenzen</strong><br />

bei Basalganglienerkrankungen<br />

Adolf We<strong>in</strong>dl<br />

7.1 Das Syndrom der subkortikalen Demenz – 114<br />

7.1.1 Neuronale Substrate der subkortikalen Demenz – 114<br />

7.1.2 Frontosubkortikale Schaltkreise – 116<br />

7.1.3 Symptomatik – 117<br />

7.2 Überwiegend hypok<strong>in</strong>etische Störungen<br />

<strong>und</strong> Demenz – 118<br />

7.2.1 Morbus Park<strong>in</strong>son – 118<br />

7.2.2 »Park<strong>in</strong>son-Plus-Syndrome« mit Demenz – 127<br />

7.2.3 Park<strong>in</strong>sonismus-Demenz <strong>und</strong> Motoneuronerkrankungen – 129<br />

7.2.4 Sek<strong>und</strong>ärer Park<strong>in</strong>sonismus – 132<br />

7.3 (Überwiegend) hyperk<strong>in</strong>etische Bewegungsstörungen<br />

mit Demenz – 138<br />

7.<strong>3.</strong>1 Chorea Hunt<strong>in</strong>gton – 138<br />

7.<strong>3.</strong>2 Dentatorubropallido-Luysiane-Atrophie (DRPLA) – 139<br />

7.<strong>3.</strong>3 Choreoakanthozytose/McLeod-Syndrom – 139<br />

7.<strong>3.</strong>4 Rett-Syndrom – 140<br />

7.<strong>3.</strong>5 Morbus Wilson, hepatolentikuläre Degeneration – 140<br />

7.<strong>3.</strong>6 Neurodegeneration mit Eisenablagerung im Gehirn<br />

(neurodegeneration with bra<strong>in</strong> iron accumulation, NBIA),<br />

frühere Bezeichnung M. Hallervorden-Spatz – 141<br />

7.<strong>3.</strong>7 Thalamusdegenerationen – 142<br />

Literatur – 143<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_7,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

7


7<br />

114 Kapitel 7 · »Park<strong>in</strong>son Plus«/Demenz mit Lewy-Körperchen, Chorea Hunt<strong>in</strong>gton<br />

Zum Thema<br />

Bei Basalganglienerkrankunge n stehen Bewegungsstörungen im Vordergr<strong>und</strong><br />

der Symptomatik. Obwohl <strong>in</strong>itial meist weniger ausgeprägt, treten im Verlauf<br />

zunehmend psychische Veränderungen auf. Diese umfassen neben kognitiven<br />

(exekutive Funktionen, Gedächtnis, Sprache, räumlich-visuelle Funktion, Praxie)<br />

auch andere psychische Störungen (Depression, Manie, Persönlichkeitsveränder<br />

ungen, Zwangsstörungen, Angst, Schlaf- <strong>und</strong> Sexualstörungen), deren kl<strong>in</strong>ische<br />

Bedeutung <strong>in</strong> den letzten Jahren zunehmend besser erkannt wurde.<br />

7.1 Das Syndrom der subkortikalen Demenz<br />

Demenz bei Basalganglienerkrankungen wird im Gegensatz zur kortikalen<br />

Demen z bei der Alzheimer-Demenz (AD) als subkortikal bezeichnet. Trotz<br />

Kontroversen h<strong>in</strong>sichtlich kortikaler <strong>und</strong> subkortikaler Demenz hat sich diese<br />

Unterteilung zur Unterscheidung kl<strong>in</strong>ischer Phänomene als nützlich erwiesen.<br />

Unter Berücksichtigung der Bee<strong>in</strong>trächtigung der drei nichtmotorischen<br />

kortiko-striato-thalamo-kortikalen Schaltkreis e (. Abb. 7.1) bei Basalganglienerkrankungen<br />

wurde auch der Begriff frontosubkortikale Demen z (Demenz<br />

vom dysexekutivem Ty p) vorgeschlagen. Exekutive Dysfunktio n betrifft<br />

die Bee<strong>in</strong>trächtigung von Umstellungsfähigkeit, Aufmerksamkeit <strong>und</strong> planerischem<br />

Denken.<br />

7.1.1 Neuronale Substrate der subkortikalen Demenz<br />

Neuronale Aktivitätsänderungen subkortikokortikaler Projektionen kortikostriato-pallido-subthalamo-thalamo-kortikaler<br />

Schaltkreise werden als Substrat<br />

der bei Basalganglienerkrankungen auft retenden Bewegungsstörunge n<br />

<strong>und</strong> subkortikalen Demenz angesehen. Das Striatu m erhält exzitatorische<br />

glutamaterge Projektionen von nahezu allen Kortexarealen. Von Caudatu m<br />

<strong>und</strong> Putame n projizieren <strong>in</strong>hibitorische GABA-/Substanz-P-Neurone zu Globus<br />

pallidus <strong>in</strong>ternus/Substantia nigra pars reticulat a (direkter Pfad) <strong>und</strong> <strong>in</strong>hibitorische<br />

GABA-/Enkephal<strong>in</strong>-Neuron e zum Globus pallidus externu s. Von<br />

dort projizieren <strong>in</strong>hibitorische GABA-Neurone zum Nucleus subthalamicu s.<br />

Dessen exzitatorische glutamaterge Neurone projizieren zu <strong>in</strong>hibitorischen<br />

GABA-Neuronen <strong>in</strong> Globus pallidus <strong>in</strong>ternus/Substantia nigra pars reticulata


7.1 · Das Syndrom der subkortikalen Demenz<br />

Dorsolateraler<br />

präfrontaler Kortex<br />

Caudatum<br />

(dorsolateral)<br />

GPi (lat. dorsomedial)<br />

SN (rostral)<br />

Thalamus<br />

(VA <strong>und</strong> MD)<br />

Lateraler orbitaler<br />

Kortex<br />

Caudatum<br />

(ventromedial)<br />

GPi (med. dorsomedial)<br />

SN (rostromedial)<br />

. Abb. 7.1 Schema der drei nichtmotorischen, verhaltensrelevanten frontosubkortikalen<br />

Schaltkreis e. Indirekter Pfad von Globus pallidus externus/Nucleus subthalamicus (Gpe/STN)<br />

zu Globus pallidus <strong>in</strong>ternus/Substantia nigra (GPi/SN). MD Nucleus mediodorsalis, VA Nucleus<br />

ventralis anterior des Thalamu s. (Mod. nach Alexander u. Crutcher 1990)<br />

(<strong>in</strong>direkter Pfad). Diese hemmen exzitatorische glutamaterge Projektionsneurone<br />

im Th alamus (Nucleus ventrolaterali s VL, Nucleus ventralis anterio r VA,<br />

Centrum medianu m), die zu supplementärmotorischer Are a, prämotorischem<br />

<strong>und</strong> motorischem Korte x ziehen <strong>und</strong> je nach Grad der exzitatorischen<br />

Aktivität Hyper- bzw. Hypok<strong>in</strong>esen über unterschiedliche Aktivierung der<br />

Pyramidenbahnneurone bewirken. Zum Neostriatum projizierende dopa m<strong>in</strong>erge<br />

Substantia-nigra-Neurone hemmen über Dopam<strong>in</strong>-2-Rezeptore n striatale<br />

Enkephal<strong>in</strong>-/GABA-Neurone des <strong>in</strong>direkten Pfades <strong>und</strong> aktivieren über<br />

Dopam<strong>in</strong>-1-Rezeptoren GABA-/Substanz-P-Neurone des direkten Pfades.<br />

Weitere dopam<strong>in</strong>erge Neurone der ventralen tegmentalen Are a von Tsai projizieren<br />

zu zahlreichen Arealen von Neokorte x <strong>und</strong> limbischem Syste m. Ihre<br />

Degeneration bei Morbus Park<strong>in</strong>son (MP) führt zu kognitiven <strong>und</strong> anderen<br />

psychischen Veränderungen. Putamenläsione n werden wegen Verb<strong>in</strong>dungen<br />

überwiegend zu motorischen R<strong>in</strong>denarealen mit Bewegungsstörunge n, Caudatumläsione<br />

n h<strong>in</strong>gegen wegen Verb<strong>in</strong>dungen zum Frontalhirn mit neuropsychiatrischen,<br />

kognitiven <strong>und</strong> demenziellen Veränderungen korreliert. Das<br />

Modell des direkten <strong>und</strong> <strong>in</strong>direkten Pfades wurde erweitert durch Erkenntnisse,<br />

die u. a. durch therapeutische Stimulation des Nucleus subthalamicu s<br />

gewonnen wurden. Dieser Kern hat außer dem dorsolateralen sensomoto-<br />

115<br />

Cortex<br />

c<strong>in</strong>guli anterior<br />

Nucleus<br />

accumbens<br />

GPe/STN GPe/STN GPe/STN<br />

Thalamus<br />

(VA <strong>und</strong> MD)<br />

GPi (rostrolateral)<br />

SN (rostrodorsal)<br />

Thalamus<br />

(MD)<br />

7


7<br />

116 Kapitel 7 · »Park<strong>in</strong>son Plus«/Demenz mit Lewy-Körperchen, Chorea Hunt<strong>in</strong>gton<br />

rischen e<strong>in</strong>en medialen limbischen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en ventrolateralen kognitiv-assoziativen<br />

Anteil mit zahlreichen striatalen <strong>und</strong> extrastriatalen Verb<strong>in</strong>dungen,<br />

wobei dem kortiko-subthalamo-pallidalen hyperdirekten Pfad besondere Bedeutung<br />

zukommt.<br />

7.1.2 Frontosubkortikale Schaltkreise<br />

Neuroanatomisch <strong>und</strong> funktionell lassen sich 5 kortiko-striato-thalamo-kortikale<br />

Schaltkreise unterscheiden. Neben dem beschriebenen motorischen<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>em okulomotorischen wurden 3 frontosubkortikale Schaltkreise beschrieben,<br />

deren Bee<strong>in</strong>trächtigung bei Basalganglienerkrankungen für kognitive<br />

<strong>und</strong> andere psychische Veränderungen als verantwortlich angesehen<br />

wird: dorsolateraler präfrontaler, lateraler orbitopräfrontaler <strong>und</strong> anteriorer<br />

z<strong>in</strong>gulärer frontosubkortikaler Schaltkreis (. Abb. 7.1). Diese Schaltkreise erhalten<br />

noch weitere Aff erenzen von anderen Kortexarealen.<br />

jDorsolateraler<br />

präfrontaler Schaltkreis<br />

Er zieht von der Konvexität des Frontallappens <strong>und</strong> Parietallappens zum dorsolateralen<br />

Caudatumkopf, von dort zu lateralen Anteilen von dorsomedialem<br />

Globus pallidus <strong>in</strong>ternus <strong>und</strong> rostraler Substantia nigr a; deren Neurone projizieren<br />

zu Th alamusneuronen (VA, Nucleus mediodorsali s, MD) <strong>und</strong> diese<br />

zurück zum präfrontalen Korte x. E<strong>in</strong>e Bee<strong>in</strong>trächtigung dieses Schaltkreises<br />

führt zum Syndrom des dorsolateralen präfrontalen Korte x mit Störung exekutiver<br />

Funktionen, des Arbeitsgedächtnisses <strong>und</strong> komplexer motorischer<br />

Programme. Solche Patienten zeigen Schwierigkeiten im Beibehalten <strong>und</strong><br />

Wechsel von Reaktionsbereitschaft , im Entwickeln von Strategien, im Wiedererkennen<br />

sowie reduzierten Wortfl uss. Zur Testung geeignet ist der Wiscons<strong>in</strong>-Card-Sort<strong>in</strong>g-Tes<br />

t (WCST). Dieses Syndrom wird bei Chorea Hunt<strong>in</strong>gto<br />

n mit primärer Beteiligung des Nucleus caudatus <strong>und</strong> bei MP, besonders<br />

bei Bee<strong>in</strong>trächtigung medialer Projektionen von Substantia nigra zum Nucleus<br />

caudatu s, beobachtet.<br />

jLateraler<br />

orbitofrontaler Schaltkreis<br />

Er führt vom <strong>in</strong>ferolateralen präfrontalen Kortex zum ventromedialen Nucleus<br />

caudatus, über dorsomedialen Globus pallidus <strong>in</strong>ternus <strong>und</strong> rostromediale<br />

Substantia nigra <strong>und</strong> über den Th alamus (VA, MD) zurück zum orbito


7.1 · Das Syndrom der subkortikalen Demenz<br />

frontalen Korte x. In Striatum <strong>und</strong> Pallidum liegen diese Strukturen medial zu<br />

denen des dorsolateralen präfrontalen Schaltkreises. Der Schaltkreis ist wichtig<br />

für die Steuerung von Aff ekten, die Aufrechterhaltung von Antwortunterdrückung<br />

<strong>und</strong> Selbstkontrolle. Läsionen führen zu ausgeprägten Persönlichkeitsveränderungen<br />

mit im Vordergr<strong>und</strong> stehender Enthemmung <strong>und</strong> Reizbarkeit,<br />

z. B. <strong>in</strong> Frühstadien von Chorea Hunt<strong>in</strong>gton (mediale Caudatumatrophie).<br />

Bei Patienten mit ventralen Caudatumläsionen wurde Enthemmun g,<br />

Euphorie <strong>und</strong> unangemessenes Verhalten beobachtet. Ähnliche Veränderungen<br />

zeigten sich bei Caudatumläsionen <strong>in</strong>folge idiopathischer Basalganglienverkalkunge<br />

n oder Choreoakanthozytos e.<br />

jAnteriorer<br />

z<strong>in</strong>gulärer mediofrontal-limbischer Schaltkreis<br />

Projektionen von limbischen Strukturen <strong>in</strong>klusive Hippokampu s, Amygdal a,<br />

ento- <strong>und</strong> perirh<strong>in</strong>alem Korte x, C<strong>in</strong>gulu m anterius, medialem orbitofrontalem<br />

<strong>und</strong> temporalem Kortex ziehen zum ventralen (limbischen) Striatum<br />

(Nucleus accumben s, Tuberculum olfactorium). Im Nucleus accumbens werden<br />

vermehrt Dopam<strong>in</strong>-3-Rezeptoren gef<strong>und</strong>en mit gutem Ansprechen auf<br />

atypische Neuroleptika , z. B. Clozapi n. Vom ventralen Striatum ziehen Fasern<br />

zu ventralem <strong>und</strong> rostrolateralem Pallidum <strong>und</strong> rostrodorsaler Substantia<br />

nigra. Deren Neurone projizieren zu paramedianen Bereichen des Nucleus<br />

mediodorsalis thalam i, von dort projizieren Neurone zum Gyrus c<strong>in</strong>guli anterior.<br />

Läsionen führen zum Syndrom des medialen Frontalhirns <strong>und</strong> ante rioren<br />

C<strong>in</strong>gulum mit Apathie, Motivations- <strong>und</strong> Antriebsm<strong>in</strong>derung. Bei bilateralen<br />

Gyrus-c<strong>in</strong>guli-anterior-Läsione n tritt ak<strong>in</strong>etischer Mutismu s mit schwerer<br />

Apathi e auf. Störung des anterioren C<strong>in</strong>gulum <strong>und</strong> orbitofrontalen Schaltkreises<br />

wird <strong>in</strong> Zusammenhang gebracht mit Zwangsverhalte n <strong>und</strong> Apathie<br />

bei e<strong>in</strong>er Reihe von Bewegungsstörungen.<br />

7.1.3 Symptomatik<br />

Literaturangaben über die Häufi gkeit von Demenz bei Basalganglienerkrankungen<br />

variieren sehr stark, da motorische Störungen häufi g die <strong>in</strong>tellektuellen<br />

Defi zite maskieren <strong>und</strong> der Demenzaspekt häufi g e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>seitigen<br />

neurologischen Betrachtung zum Opfer fällt.<br />

Entscheidende Aspekte der subkortikalen Demenz s<strong>in</strong>d psychomotorische<br />

Verlangsamun g, Aufmerksamkeit, Reizbarkeit, reduziertes Wiederer<strong>in</strong>nern,<br />

117<br />

7


7<br />

118 Kapitel 7 · »Park<strong>in</strong>son Plus«/Demenz mit Lewy-Körperchen, Chorea Hunt<strong>in</strong>gton<br />

reduzierte Informationsverarbeitung, Veränderungen von Stimmung, Persönlichkeit<br />

<strong>und</strong> Sprechen. Aphasie, Apraxie, Agnosie <strong>und</strong> Amnesie fehlen <strong>in</strong><br />

der Regel. Patienten können e<strong>in</strong>zelne Aspekte e<strong>in</strong>er Aufgabe korrekt lösen,<br />

scheitern aber bei der Integration aller erforderlichen Schritte <strong>und</strong> Komponenten.<br />

Aff ekt- <strong>und</strong> Persönlichkeitsstörunge n betreff en am häufi gsten Depressio<br />

n <strong>und</strong> Mangel an Motivation oder Initiative. Kognitive E<strong>in</strong>schränkungen<br />

bzw. <strong>Demenzen</strong> treten bei klassischen Basalganglienerkrankungen<br />

auf (z. B. MP, Park<strong>in</strong>son-plus-Syndrom e, Chorea Hunt<strong>in</strong>gton) <strong>und</strong> zeigen die<br />

Merkmale e<strong>in</strong>er subkortikalen Demenz. Zusätzlich zur subkortikalen Demenz<br />

kann auch e<strong>in</strong>e gemischte kortikale-subkortikale Demenz bei Bewegungsstörungen<br />

beobachtet werden. Beispielsweise ist MP assoziiert mit verschiedenen<br />

Demenztypen,<br />

4 der typischen subkortikalen Demen z,<br />

4 der kortikalen Demen z, kl<strong>in</strong>isch <strong>und</strong> neurologisch nicht abgrenzbar von<br />

der AD,<br />

4 e<strong>in</strong>er Störung, die als Demenz mit Lewy-Körperche n (Synonyme: diff use<br />

Lewy-Körperchen-Krankheit, Lewy-Körperchen-Variante der Alzheimer-<br />

Demenz, kortikale Lewy-Körperchen-Demenz) bezeichnet wird,<br />

4 der frontotemporalen Demen z, Demenz bei M. Pic k <strong>und</strong> Demenz ohne<br />

spezifi sche histologische Veränderungen (dementia lack<strong>in</strong>g dist<strong>in</strong>ct histology,<br />

DLD H; . Abb. 7.2). Mit verbesserter immunhistochemischer Ubiquiti<br />

n-Nachweistechnik konnte e<strong>in</strong> großer Teil von DLDH-Fällen als<br />

frontotemporale Degeneration erkannt werden.<br />

7.2 Überwiegend hypok<strong>in</strong>etische Störungen<br />

<strong>und</strong> Demenz<br />

E<strong>in</strong>en Überblick über Bewegungsstörungen <strong>und</strong> Demenz geben . Tab. 7.1<br />

<strong>und</strong> die Zusammenfassung hypok<strong>in</strong>etischer Bewegungsstörungen (7 7.2.4).<br />

7.2.1 Morbus Park<strong>in</strong>son<br />

Bei Morbus Park<strong>in</strong>son (MP; Synonym: Park<strong>in</strong>son-Krankheit, idiopathisches<br />

Park<strong>in</strong>son-Syndrom) degenerieren pigmentierte melan<strong>in</strong>haltige Dopam<strong>in</strong>neurone<br />

der Substantia nigra , die zu Putamen <strong>und</strong> Nucleus caudatus projizie-


7.2 · Überwiegend hypok<strong>in</strong>etische Störungen<br />

IPS<br />

Park<strong>in</strong>sonismus<br />

Subkortikale Lewy-Körperchen vorhanden<br />

MPD<br />

AD/MP<br />

DLK<br />

AD<br />

119<br />

Demenz<br />

Demenz vorhanden<br />

Kortikale Lewy-Körperchen vorhanden<br />

7<br />

. Abb. 7.2 Demenz mit Park<strong>in</strong>sonismu s. Nicht durch Alzheimer-Demenz (AD) verursachter<br />

Park<strong>in</strong>sonismus tritt auf bei idiopathischem Park<strong>in</strong>son-Syndro m (IPS), Demenz mit Lewy-<br />

Körperchen (DLK), progressiver supranukleärer Pares e (PSP) <strong>und</strong> kortikobasaler Degeneratio<br />

n (CBD). Bei IPS, PSP <strong>und</strong> Chorea Hunt<strong>in</strong>gto n zeigt die Demenz e<strong>in</strong> subkortikales Muster.<br />

Bei anderen Formen ist der Kortex beteiligt (Amnesie <strong>und</strong> Apraxie stehen im Vordergr<strong>und</strong>).<br />

Die meisten <strong>Demenzen</strong> mit Park<strong>in</strong>sonismus s<strong>in</strong>d verursacht durch IPS, AD, DLK oder e<strong>in</strong>e<br />

Komb<strong>in</strong>ation dieser Erkrankungen. 30–50% der AD-Patienten haben leicht ausgeprägte<br />

extrapyramidale Zeichen. Neuropathologisch haben 20–25% der AD-Patienten subkortikale<br />

Veränderungen charakteristisch für IPS, <strong>und</strong> bis zu 20% zusätzlich kortikale Lewy-Körperchen.<br />

Bei AD-Patienten ohne diese Veränderungen s<strong>in</strong>d die extrapyramidalen Zeichen<br />

durch die AD bed<strong>in</strong>gt. 20–40% von IPS-Patienten entwickeln Demenz ohne Überlagerung<br />

durch Alzheimer-Pathologie oder kortikale Lewy-Körperche n. E<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>ge Zahl kortikaler<br />

Lewy-Körperchen tritt bei vielen IPS-Fällen auf. DLK ist gekennzeichnet durch Lewy-Körperchen<br />

<strong>in</strong> kortikalen Neuronen <strong>und</strong> ist gewöhnlich assoziiert mit subkortikalen Lewy-Körperchen<br />

<strong>und</strong> mäßigem Park<strong>in</strong>sonismus mit Ansprechen auf L-DOPA. Lewy-Körperchen können<br />

parallel zu NFT (neurofi brillary tangle s) <strong>und</strong> senilen Plaque s auftreten, ohne dass deren Anzahl<br />

für die Diagnosestellung AD ausreicht. Diese Überlappung pathologischer Veränderungen<br />

von DLK mit AD hat zu Begriff sverwirrungen wie »senile Demenz vom Lewy-Körperchen-Typ«<br />

oder »Lewy-Körperchen-Variante der AD« geführt; die derzeit bevorzugte Bezeichnung<br />

ist Demenz mit Lewy-Körperchen; MPD M. Park<strong>in</strong>son mit Demenz. (Mod. nach<br />

Grabowski u. Damasio 1998)


7<br />

120 Kapitel 7 · »Park<strong>in</strong>son Plus«/Demenz mit Lewy-Körperchen, Chorea Hunt<strong>in</strong>gton<br />

. Tab. 7.1 Die wichtigsten mit Demenz verb<strong>und</strong>enen Bewegungsstörungen<br />

I. Hypok<strong>in</strong>etische Bewegungsstörungen mit Demenz<br />

M. Park<strong>in</strong>son mit<br />

Demenz<br />

Demenz mit Lewy-<br />

Körperchen<br />

(Kosaka Syndrom)<br />

Pick-Komplex<br />

(frontotemporale<br />

Lobärdegeneration )<br />

Zunehmende Gedächtnisstörungen <strong>und</strong> Frontallappensymptome<br />

mit oder ohne visuospatiale Störungen bei länger<br />

bestehender Erkrankung<br />

DAT-Scan, Dopam<strong>in</strong>transporter-SPECT: Signalm<strong>in</strong>derung im<br />

Striatum<br />

IBZM-SPECT, Racloprid-PET: postsynaptische Dopam<strong>in</strong>rezeptorb<strong>in</strong>dung<br />

im Striatum erhöht<br />

Therapie: L-DOPA , Dopam<strong>in</strong>rezeptoragonisten<br />

MP-Patienten ohne Demenz können frontale kognitive<br />

Störungen, z. B. verm<strong>in</strong>derten Wortfluss, Umstellungsschwierigkeiten<br />

zeigen<br />

Früh visuelle Halluz<strong>in</strong>ationen, therapieunabhängig; kortikale<br />

<strong>und</strong> subkortikale Demenz; Neuroleptikaüberempf<strong>in</strong>dlichkeit;<br />

Fluktuationen <strong>in</strong> Vigilanz <strong>und</strong> Kognition, Park<strong>in</strong>sonismus,<br />

Stürze<br />

PET: Glukosehypometabolismus okzipital; DAT-Scan:<br />

Signalm<strong>in</strong>derung im Striatum (<strong>Förstl</strong> et al. 2008)<br />

Therapie: Acetylchol<strong>in</strong>esterasehemmer, L-DOPA<br />

Bestehend aus:<br />

4 Frontotemporaler Demenz (FTD): Atrophie des Frontallappens<br />

Progrediente schwere frontale Verhaltensbee<strong>in</strong>trächtigung,<br />

Veränderung von Persönlichkeit, Sozialverhalten<br />

(Gleichgültigkeit, Takt-, Distanzlosigkeit, Fehle<strong>in</strong>schätzung,<br />

verm<strong>in</strong>derte Impulskontrolle, Enthemmung,<br />

Hyperphagie, Echolalie, Überaktivität, Unruhe, Antriebsmangel,<br />

Interesselosigkeit, Schwierigkeiten <strong>in</strong> Planung<br />

<strong>und</strong> Umstellung, stereotypes, perseverierendes, auch<br />

vermehrt stimulusabhängiges Verhalten. Primitivreflexe,<br />

Inkont<strong>in</strong>enz<br />

MRT: asymmetrische Frontal-/Temporallappen-, oft auch<br />

Caudatum- <strong>und</strong> Putamenatrophie<br />

FDG-PET: Hypometabolismus<br />

Seltene Sonderform: Komb<strong>in</strong>ation mit amyotropher<br />

Lateralsklerose


7.2 · Überwiegend hypok<strong>in</strong>etische Störungen<br />

121<br />

. Tab. 7.1 Die Fortsetzung wichtigsten mit Demenz verb<strong>und</strong>enen Bewegungsstörungen<br />

Pick-Komplex<br />

(frontotemporale<br />

Lobärdegeneration )<br />

Progrediente<br />

supranukleäre<br />

(Blick-)Parese<br />

7<br />

4 Primär progressiver Aphasie (PPA): Atrophie der<br />

moto rischen Sprachregion l<strong>in</strong>ks<br />

Erschwerte Sprachproduktion, stockende Ausdrucksweise,<br />

phonologische <strong>und</strong> grammatikalische Fehler, verm<strong>in</strong>derte<br />

Wortflüssigkeit, Wortf<strong>in</strong>dungsstörung. Übergang zu FTD<br />

4 Semantischer Demenz (SD): Bilaterale Temporallappenatrophie<br />

Progredienter Wissensverlust über Bedeutung von<br />

Wörtern, Gegenständen, Gesichtern. Familiäre Häufung<br />

(autosomal-dom<strong>in</strong>ant)<br />

4 Frontotemporaler Demenz mit Park<strong>in</strong>son-Syndrom mit<br />

pallidopontonigraler Degeneration (PPND) bei Chromosom-17-Mutation<br />

(FTD-P17) (früheres Synonym:<br />

hereditäre dysphasische Demenz): neben frontalen<br />

Defiziten Park<strong>in</strong>sonismus, psychotische Symptome<br />

4 Kortikobasaler Degeneration (CBD): Beg<strong>in</strong>n um 60. Lebensjahr.<br />

Hochgradige Gliose, ballonierte achromatische<br />

Neurone, Tau-positive filamentöse E<strong>in</strong>schlüsse (H1-Tau-<br />

Haplotyp) <strong>in</strong> Neuronen <strong>und</strong> Glia, oligodendrogliale coiled<br />

bodies <strong>in</strong> frontalem, parietalem Kortex <strong>und</strong> Basalganglien<br />

Frontale <strong>und</strong> parietale Hirnleistungsschwäche, ak<strong>in</strong>etischrigides<br />

Syndrom, ke<strong>in</strong>e Besserung durch L-DOPA, Beg<strong>in</strong>n<br />

e<strong>in</strong>seitig, verm<strong>in</strong>derte Stellreflexe, Hypom<strong>in</strong>ie, hypophone<br />

Dysarthrie, Arm-Dystonie, Tremor irregulär (6–8 Hz),<br />

Myoklonus -Überlagerung, ideomotorische <strong>und</strong>/oder<br />

ideatorische Apraxie, Alien-hand/limb-Phänomen,<br />

progrediente Aphasie, sensorischer <strong>und</strong> visueller Neglekt,<br />

Astereognosie, supranukleäre Blickparese, Pyramidenbahnzeichen<br />

MRT: asymmetrische frontoparietale Atrophie<br />

Progrediente schwere frontale kognitive Störung, z. B.<br />

verm<strong>in</strong>derter Wortfluss, erschwerte Umstellungsfähigkeit,<br />

Planung, Durchführung sequenzieller Aufgaben, Verhaltensstörungen<br />

(z. B. Apathie, Enthemmung), Bradyphrenie mit<br />

oder ohne leichte Gedächtnis- oder visuospatiale Störung,<br />

frühes Auftreten, posturale Instablilität mit Stürzen, axiale<br />

Dystonie, axialer Park<strong>in</strong>sonismus, Pseudobulbärparalyse,<br />

supranukleäre vertikale Blickparese<br />

CT, MRT: Mittelhirnatrophie (»Mickey-Mouse-Zeichen« )


7<br />

122 Kapitel 7 · »Park<strong>in</strong>son Plus«/Demenz mit Lewy-Körperchen, Chorea Hunt<strong>in</strong>gton<br />

. Tab. 7.1 Die Fortsetzung<br />

wichtigsten mit Demenz verb<strong>und</strong>enen Bewegungsstörungen<br />

Vaskuläre Demenz Schrittweises Auftreten fokaler kognitiver <strong>und</strong> motorischer<br />

Defizite, Schlaganfälle <strong>in</strong> der Vorgeschichte<br />

CT, MRT: multiple Infarkte <strong>und</strong>/oder Lakunen<br />

Subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie (SAE):<br />

Gangstörung, Pseudopark<strong>in</strong>sonismus der Be<strong>in</strong>e (lower body<br />

park<strong>in</strong>sonism ) mit erhaltenem Armschw<strong>in</strong>gen, »Magnetoder<br />

Bügeleisengang«, Dysarthrie , Pyramiden- <strong>und</strong><br />

Kle<strong>in</strong>hirn zeichen, Demenz, Bluthochdruck<br />

CT, MRT: Leukoaraiose, Lakunen<br />

Differenzialdiagnose: Normaldruckhydrozephalus (NDH)<br />

Therapie der vaskulären Risikofaktoren<br />

Creutzfeldt-Jakob-<br />

Erkrankung<br />

Subakute spongiforme Enzephalopathie <strong>in</strong> Folge Prionenerkrankung<br />

(Mutation auf Codon 178 des PRNP-Gens bei<br />

familiärer Form 15%), ferner sporadisches Auftreten,<br />

iatrogene Übertragung sowie Variante CJD<br />

Demenz mit raschem Beg<strong>in</strong>n <strong>und</strong> Verlauf über Monate, selten<br />

Jahre, durchschnittliche Dauer 4,5 Monate bei sporadischer,<br />

20,5 Monate bei familiärer Form<br />

Park<strong>in</strong>sonismus nicht häufig, jedoch Myoklonien, Ataxie,<br />

Gang-, Kle<strong>in</strong>hirn- <strong>und</strong> Sehstörungen, ak<strong>in</strong>etischer Mutismus<br />

EEG: scharfe <strong>und</strong> triphasische Potenziale<br />

CT, MRT: Signaländerungen früh <strong>in</strong> Basalganglien, Thalamus<br />

(Pulv<strong>in</strong>ar), später <strong>in</strong> Großhirnr<strong>in</strong>de<br />

Liquor: Nachweis Prote<strong>in</strong> 14–3-3<br />

Alzheimer-Demenz Progrediente anterograde Gedächtnis-, Sprach-, Sehstörungen,<br />

Apraxie; nach Ausschluss anderer relevanter Erkrankungen<br />

e<strong>in</strong>schließlich Delir, Park<strong>in</strong>sonismus kann <strong>in</strong> späten<br />

Stadien auftreten<br />

Neuropathologie: extrazelluläre Ablagerung von Aβ-Prote<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> Amyloid-Plaques , auch <strong>in</strong> Gefäßwänden (Amyloid-<br />

Angiopathie). Neurofibrillenbündel (paarige helikale<br />

Filamente aus phosphorylierten Tau-Prote<strong>in</strong>)<br />

Bei familiärer Form bisher Gene auf Chromosom 21, 14, 1, 12<br />

sowie 19 (Suszeptibilitätsgen) gef<strong>und</strong>en<br />

CT, MRT: Atrophie von Assoziationskortex, Hippokampus<br />

Therapie: zentrale Chol<strong>in</strong>esterasehemmer


7.2 · Überwiegend hypok<strong>in</strong>etische Störungen<br />

123<br />

. Tab. 7.1 Die Fortsetzung wichtigsten mit Demenz verb<strong>und</strong>enen Bewegungsstörungen<br />

Normaldruckhydrozephalus<br />

(Synonym:<br />

kommunizierender<br />

oder chronischer<br />

Hydrozephalus)<br />

Trias: subkortikale Demenz, Inkont<strong>in</strong>enz, apraktische<br />

Gangstörung<br />

Gang<strong>in</strong>itiierungshemmung, «magnetische Ataxie«<br />

CT, MRT: Ventrikelerweiterung, temporal betont, verengte<br />

Sulci im Vertexbereich<br />

Therapie: ventrikuloatrialer, ventrikuloperitonealer Shunt<br />

II. (Überwiegend) hyperk<strong>in</strong>etische Störungen mit Demenz<br />

Chorea Hunt<strong>in</strong>gton Choreatische Hyperk<strong>in</strong>esen, subkortikale Demenz mit früh<br />

auftretenden Persönlichkeits-<strong>und</strong> Stimmungsänderungen,<br />

Depression, Angst, sozialen Rückzugstendenzen, zunehmend<br />

kognitive Störungen (Wiederer<strong>in</strong>nern, exekutive Funktionen),<br />

verlangsamte Kognition, Antriebsstörung,<br />

später kortikale Demenzzeichen<br />

CT, MRT: zunehmende Atrophie von Caudatum <strong>und</strong><br />

vorwiegend frontalem, okzipitalem <strong>und</strong> <strong>in</strong>sulärem Kortex,<br />

Bicaudatum-Index < 1,8<br />

FDG-PET: kaudataler <strong>und</strong> frontaler Hypometabolismus<br />

Gentest: CAG-Triplet-Expansion > 36 auf Chromosom 4p16.3<br />

bei autosomal-dom<strong>in</strong>antem Erbgang<br />

Therapie: Sulpirid, Tetrabenaz<strong>in</strong>e, Tiaprid, Alprazolam<br />

Dentatorubropallido-Luysiane-<br />

Atrophie (DRPLA)<br />

7<br />

Bei juvenilem Beg<strong>in</strong>n: Myoklonus-Epilepsie , Ataxie, Chorea,<br />

Demenz<br />

Bei adultem Beg<strong>in</strong>n: Ataxie, Chorea, ferner Wahn <strong>und</strong><br />

Halluz<strong>in</strong>ationen, Sakkadenverm<strong>in</strong>derung, Dysk<strong>in</strong>esien, Rigor,<br />

Bradyphrenie, Hyperreflexie<br />

Vorwiegend <strong>in</strong> Japan auftretend<br />

Gentest: CAG-Repeat-Verlängerung auf Chromosom 12p1<strong>3.</strong>3<br />

bei autosomal-dom<strong>in</strong>antem Erbgang<br />

McLeod-Syndrom Defekt des XK-Gens auf X-Chromosom Xp21; defektes<br />

XK-Prote<strong>in</strong> (Membranprote<strong>in</strong>) mit Kell-Prote<strong>in</strong> verb<strong>und</strong>en,<br />

das Endothel<strong>in</strong> spaltet


7<br />

124 Kapitel 7 · »Park<strong>in</strong>son Plus«/Demenz mit Lewy-Körperchen, Chorea Hunt<strong>in</strong>gton<br />

. Tab. 7.1 Die Fortsetzung<br />

wichtigsten mit Demenz verb<strong>und</strong>enen Bewegungsstörungen<br />

McLeod-Syndrom Multisystemerkrankung: Erythrozytenmembranprote<strong>in</strong>störung,<br />

Erythrozytenüberlebenszeit verkürzt, Akanthozytose,<br />

hämolytische Anämie, Myopathie, Muskelatrophien<br />

(CK erhöht), Kardio myopathie, axonale Neuropathie,<br />

motorische Unruhe, häufiger Haltungswechsel, Schulterzucken,<br />

Bl<strong>in</strong>zeln (»Zappeligkeit«), später Chorea, Anfälle,<br />

gesteigerte Angst, Depressionen, subkortikale Demenz<br />

MRT: Caudatum- <strong>und</strong> Putamenatrophie<br />

FDG-PET: Glukosehypometabolismus im Striatum<br />

M. Wilson<br />

(hepatolentikuläre<br />

Degeneration )<br />

Hyperk<strong>in</strong>esen (Flügelschlagtremor, Asterixis, Dystonie,<br />

Dysarthrie, Dysphonie, Dysphagie, Chorea), Park<strong>in</strong>sonismus,<br />

kognitive Störungen, <strong>in</strong>tellektuelle Bee<strong>in</strong>trächtigung mild,<br />

Persönlichkeitsveränderungen treten früh auf<br />

Bei juvenilem Beg<strong>in</strong>n Schulschwierigkeiten, Er<strong>in</strong>nerungsvermögen<br />

verm<strong>in</strong>dert, Konzentrations störungen, Besserung<br />

unter Kupferelim<strong>in</strong>ation<br />

Autosomal-rezessive Vererbung, Gendefekt auf Chromosom<br />

13q14.3 , Defekt der kupfertransportierenden ATPase<br />

(ATP7B)<br />

Kayser-Fleischer-Kornealr<strong>in</strong>g, pathologische Leberveränderungen<br />

MRT: T2-Hyper<strong>in</strong>tensität <strong>in</strong> Nucleus lentiformis, Thalamus,<br />

Hirnstamm, Kle<strong>in</strong>hirn<br />

Differenzialdiagnose: hepatische Enzephalopathie bei<br />

Leberzirrhose<br />

Therapie: D-Penicillam<strong>in</strong>, Triethylentetram<strong>in</strong>, Z<strong>in</strong>ksulfat/<br />

-acetat, kupferarme Diät<br />

ren, pigmentierte noradrenerge Neurone des Locus coeruleus , Neurone des<br />

dorsalen Vaguskerns , serotonerge Neurone des dorsalen Raphekerns. Ferner<br />

degenerieren dopam<strong>in</strong>erge Neurone der ventralen tegmentalen Area von Tsai,<br />

die zu zahlreichen kortikalen Regionen projizieren. Der dadurch verursachte<br />

Dopam<strong>in</strong>mangel im Striatum <strong>und</strong> <strong>in</strong> kortikalen Arealen wirkt sich <strong>in</strong> kognitiven<br />

<strong>und</strong> aff ektiven Störungen aus.<br />

Demenz bei MP wird bei durchschnittlich 40%, bei zunehmender Krankheitsdauer<br />

bis 80% der Patienten beschrieben. Die Entwicklung e<strong>in</strong>er Demenz<br />

bei Patienten mit MP <strong>in</strong>nerhalb von 3–5 Jahren ist etwa 4-mal häufi ger als bei


7.2 · Überwiegend hypok<strong>in</strong>etische Störungen<br />

125<br />

7<br />

altersgleichen Kontrollen. Dom<strong>in</strong>ierender Rigor <strong>und</strong> später Krankheitsbeg<strong>in</strong>n<br />

s<strong>in</strong>d Risikofaktoren für die Entwicklung e<strong>in</strong>er Demenz bei MP. Depression<br />

<strong>und</strong> Angst werden bei 40% der MP-Patienten beschrieben. Th erapie: zentrale<br />

Chol<strong>in</strong>esterasehemmer (Mollenhauer et al. 2010).<br />

Kl<strong>in</strong>ische Subtypen<br />

Kl<strong>in</strong>ische Subtypen von MP mit Demenz korrelieren mit unterschiedlichen<br />

neuropathologischen Veränderungen . Leichte kognitive Veränderungen s<strong>in</strong>d<br />

bei MP nahezu immer vorhanden. Demenz bei MP ist meist leicht bis mäßig<br />

ausgeprägt mit reduzierter Informationsverarbeitungsgeschw<strong>in</strong>digkeit<br />

(Bra dyphrenie ), bee<strong>in</strong>trächtigtem Wiederer<strong>in</strong>nern, Aufmerksamkeitsstörung,<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigung von Wechsel <strong>und</strong> Aufrechterhaltung e<strong>in</strong>es Musters, Perseveration,<br />

Störung <strong>in</strong>tern generierter Handlungspläne, Störungen bei<br />

Sequenzierungs- <strong>und</strong> Zeitgitteraufgaben, Problemlösen, verm<strong>in</strong>derter räumlich-visueller<br />

Funktion, verr<strong>in</strong>gerter Leistung bei Wortlistenaufgaben <strong>und</strong><br />

betonten Stimmungsveränderungen. Stärker ausgeprägte Demenz bei MP<br />

kann auft reten bei Fehlen von AD-typischen Veränderungen <strong>in</strong> Nucleus basalis<br />

Meynert oder Cortex cerebri. E<strong>in</strong>e Komb<strong>in</strong>ation von MP- <strong>und</strong> AD-Pathologie<br />

tritt je nach neuropathologischen Untersuchungen <strong>in</strong> 10–60% auf <strong>und</strong><br />

zeigt die Merkmale subkortikaler <strong>und</strong> kortikaler Demenz.<br />

Demenz bei MP korreliert mit dem Grad des Neuronenverlusts der medialen<br />

Substantia nigra. E<strong>in</strong>e Komb<strong>in</strong>ation dopam<strong>in</strong>erger <strong>und</strong> chol<strong>in</strong>erger<br />

Defi zite ist wahrsche<strong>in</strong>lich von Relevanz; weitere Neurotransmitter sche<strong>in</strong>en<br />

jedoch e<strong>in</strong>e Rolle zu spielen.<br />

E<strong>in</strong> weiterer Typ von Demenz bei MP ist die Demenz mit Lewy-Körperchen<br />

(Kosaka-Syndrom, Demenz mit kortikalen Lewy-Körperchen, diff use<br />

Lewy-Körperchen-Erkrankung). Durch die Anwendung von Anti-Ubiquit<strong>in</strong> -<br />

Färbungen zum Lewy-Körperchen-Nachweis im Kortex s<strong>in</strong>d die <strong>Demenzen</strong><br />

mit Lewy-Körperchen die zweithäufi gsten nach AD (15–25%). Mit dieser<br />

Technik ließen sich Lewy-Körperchen subkortikal bei 100% der Patienten mit<br />

MP nachweisen. Als weitere Kriterien wurden REM-Schlaf-Verhaltensstörung<br />

, Depression <strong>und</strong> α-Synukle<strong>in</strong>-Nachweis <strong>in</strong> Lewy-Körperchen vorgeschlagen<br />

(McKeith et al.1999, 2000, 2005). Das Auft reten von Demenz <strong>in</strong>nerhalb<br />

e<strong>in</strong>es Jahres nach Beg<strong>in</strong>n der Park<strong>in</strong>son-Symptome spricht für Demenz<br />

mit Lewy-Körperchen. Auch wenn e<strong>in</strong> Konsens zwischen neuropathologischen<br />

<strong>und</strong> kl<strong>in</strong>ischen Bef<strong>und</strong>en für die <strong>Demenzen</strong> mit Lewy-Körperchen<br />

aussteht, legt die kl<strong>in</strong>ische Charakterisierung zwei Typen nahe:


7<br />

126 Kapitel 7 · »Park<strong>in</strong>son Plus«/Demenz mit Lewy-Körperchen, Chorea Hunt<strong>in</strong>gton<br />

1. »Re<strong>in</strong>e« Demenz mit Lewy-Körperchen ohne Alzheimer-Pathologie, die<br />

kl<strong>in</strong>isch ausgeprägten Rigor <strong>und</strong> erst <strong>in</strong> späteren Phasen Demenz zeigt.<br />

Beg<strong>in</strong>n meist nach dem 70. Lebensjahr, Gedächtnisstörungen zu Beg<strong>in</strong>n<br />

oft diskret, starke Vigilanz- <strong>und</strong> Aufmerksamkeitsschwankungen, detaillierte<br />

optische Halluz<strong>in</strong>ationen, früh Park<strong>in</strong>sonismus, unerklärliche Stürze<br />

oder Synkopen, schwere autonome Dysfunktion, Neuroleptikaüberempfi<br />

ndlichkei t, Depressio n. EEG: Gr<strong>und</strong>rhythmusverlangsamung.<br />

FP-CIT-SPECT: verm<strong>in</strong>derte Dopam<strong>in</strong>transporterb<strong>in</strong>dung. Lewy-Körperchen<br />

<strong>in</strong> Substantia nigra, entorh<strong>in</strong>alem Kortex, C<strong>in</strong>gulum, Hippokampus,<br />

Amygdala, Frontal- <strong>und</strong> Temporalkortex.<br />

2. »Gewöhnliche« Demenz mit Lewy-Körperchen mit Alzheimer-Pathologie<br />

(Amyloid-Plaque s, Neurofi brillenbünde l), kognitiven <strong>und</strong> neuropsychiatrischen<br />

Veränderungen sowie milderen, jedoch e<strong>in</strong>deutigen Be wegungsstörungen<br />

(30–90%). Kl<strong>in</strong>ische Kriterien zur Unterscheidung von Demenz<br />

mit Lewy-Körperchen <strong>und</strong> AD s<strong>in</strong>d fl uktuierendes kognitives Defi zit, psychotische<br />

Symptome mit komplexen optischen Halluz<strong>in</strong>ationen <strong>und</strong> paranoiden<br />

Wahnvorstellungen, spontane extrapyramidalmotorische Zeiche n<br />

(EPMS), ausgeprägte Neuroleptikaüberempfi ndlichkeit <strong>und</strong> Stürz e ungeklärter<br />

Genese. Diese Veränderungen treten jedoch nicht bei allen <strong>Demenzen</strong><br />

mit Lewy-Körperchen auf. Die näheren Beziehungen zu AD <strong>und</strong><br />

MP <strong>und</strong> die Rolle der Lewy-Körperchen bei kognitiven Störungen bedürfen<br />

weiterer Untersuchungen. Th erapie: zentrale Chol<strong>in</strong>esterasehemme r.<br />

Es wird diskutiert, dass Demenz mit Lewy-Körperchen, M. Park<strong>in</strong>son <strong>und</strong><br />

M. Park<strong>in</strong>son mit Demenz wahrsche<strong>in</strong>lich der gleichen Krankheitsentität<br />

(Lewy-Körperchen-Krankhei t) angehören.<br />

7.2.2 »Park<strong>in</strong>son-Plus-Syndrome« mit Demenz<br />

Neurodegenerative Formen<br />

Alzheimer-Demenz (AD) <strong>und</strong> Demenz mit Lewy-Körperchen<br />

(DLK, diff use Lewy-Körperchen-Krankheit)<br />

Neuropathologisch zeigt AD abnormes Tau-Prote <strong>in</strong> <strong>und</strong> Amyloidablagerungen.<br />

Kl<strong>in</strong>isch kann AD nicht nur kognitive, sondern auch EPMS-Symptome<br />

<strong>in</strong> späteren Phasen hervorrufen. Schwierigkeiten bestehen, AD von DLK<br />

zu unterscheiden, da beide nebene<strong>in</strong>ander auft reten können <strong>und</strong> DLK auch<br />

ohne Park<strong>in</strong>sonismus vorkommt .


7.2 · Überwiegend hypok<strong>in</strong>etische Störungen<br />

Morbus Pick<br />

(7 Kap. 9)<br />

127<br />

7<br />

Progrediente supranukleäre Parese (PSP),<br />

supranukleäre Blickparese, Steele-Richardson-Olszewski-Syndrom<br />

Die progrediente supranukleäre Pare se ist e<strong>in</strong> Beispiel für e<strong>in</strong>e Erkrankung<br />

mit re<strong>in</strong> subkortikalen Veränderungen, die zu e<strong>in</strong>er Demenz führen. PSP<br />

führt früh zu posturaler Instabilität <strong>und</strong> Stürzen nach h<strong>in</strong>ten, breitbasigem,<br />

langsamem <strong>und</strong> unsicherem Gang, symmetrischer Bradyk<strong>in</strong>e se, axial betontem<br />

Rigor, Hyperextension im Nacken, Pseudobulbärparaly se (leise Dysarthr<br />

ie <strong>und</strong> Dysphagie), supranukleärer vertikaler, später auch horizontaler<br />

Blickparese, verlangsamten vertikalen Sakkaden, starrem erstauntem Blick<br />

(Oberlid retrahiert, Cowper-Zeichen), Blepharospasmus, Lidöff nungsapraxie,<br />

Doppelbildern, Schluckstörungen <strong>und</strong> Frontallappensymptomen. Neuropathologisch<br />

fi nden sich neurofi brilläre Knäuel (neurofi brillary tangles, NFT)<br />

<strong>und</strong> Fäden im Neuropil von Basalganglien <strong>und</strong> Hirnstamm mit Ablagerung<br />

e<strong>in</strong>er Tau-Isoform (4-Repeat-H1-Tau-Haplotyp). Die meisten Patienten entwickeln<br />

ausgeprägte kognitive Defi zite <strong>und</strong> Persönlichkeitsveränderungen.<br />

Alle drei frontosubkortikalen Schaltkreise s<strong>in</strong>d betroff en. Kognitive Defekte<br />

bei PSP zeigen verlangsamte Informationsverarbeitung, verm<strong>in</strong>derten Wortfl<br />

uss, verm<strong>in</strong>dertes konkretes Denken, verm<strong>in</strong>dertes Urteilsvermögen, mangelnde<br />

E<strong>in</strong>sicht, Schwierigkeiten des Wiederer<strong>in</strong>nerns oder der Aufmerksamkeitsaufrechterhaltung,<br />

gestörte Ausführung von Sequenzaufgaben <strong>und</strong> Umstellungsschwierigkeiten.<br />

Das Verhalten ist mehr von der Umgebung als vom<br />

eigenen mentalen Zustand abhängig. Bei etwa 60% der Patienten werden<br />

3 Jahre nach Krankheitsbeg<strong>in</strong>n die Kriterien e<strong>in</strong>er Demenz erfüllt. Exekutive<br />

Funktionsstörungen <strong>und</strong> verlangsamte Informationsverarbeitung treten früh<br />

auf <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d relativ schwer; sie s<strong>in</strong>d hilfreich bei der Diff erenzialdiagnose.<br />

Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Gedächtnis s<strong>in</strong>d ger<strong>in</strong>ger betroff en. Diese kognitiven<br />

Defi zite werden auf frontale Deaff erenzierung <strong>in</strong>folge subkortikaler Läsionen<br />

zurückgeführt. Es werden jedoch auch präfrontale, frontale <strong>und</strong> hippokampale<br />

Läsionen beschrieben. PSP-Patienten zeigen ferner Apathie, e<strong>in</strong> Drittel<br />

mäßige bis schwere Enthemmung. Depression ist nur ger<strong>in</strong>g ausgeprägt. Glukosehypometabolismus<br />

im FDG-PET ist e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis auf Demenz <strong>in</strong>folge<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigung frontosubkortikaler Schaltkreise. Im MRT zeigt sich die<br />

charakteristische Mittelhirnatrophie (Mickey-Mouse-Zeich en, Kolibri-Zeich<br />

en sowie frontale Atrophie.). L-DOPA ist ger<strong>in</strong>g wirksam.


7<br />

128 Kapitel 7 · »Park<strong>in</strong>son Plus«/Demenz mit Lewy-Körperchen, Chorea Hunt<strong>in</strong>gton<br />

Von der klassischen PSP, auch als Richard-Syndr om (PSP-RS) bezeichnet,<br />

werden die PSP vom Park<strong>in</strong>son-Typ (PSP-P) <strong>und</strong> die weniger häufi gen PSP mit<br />

purer Ak<strong>in</strong>esie <strong>und</strong> Gang-Freez<strong>in</strong>g (PSP-PAGF), PSP mit kortikobasalem<br />

Syndrom (PSP-CBS) sowie PSP mit progredienter nichtfl üssiger Aphasie<br />

(PSP-PNFA) abgegrenzt (Respondek et al. 2010). Bei der vaskulären PSP <strong>in</strong>folge<br />

im MR nachweisbarer vaskulären Läsionen <strong>in</strong> Basalganglien <strong>und</strong> Th alamus <strong>und</strong><br />

H 2 -Tau-Haplotyp-Ablagerungen s<strong>in</strong>d die Symptome asymmetrisch; Stürze<br />

treten erst im 2. Jahr a uf.<br />

Multisystematrophie (MSA)<br />

Diese umfassen striatonigrale Degenerati on (SND, M RT: paradoxe Eisenablageru<br />

ng <strong>in</strong> Striatum <strong>und</strong> Pallidum mit Hypo<strong>in</strong>tensität im dorsolateralen Putamen,<br />

hyper<strong>in</strong>tensem Randsaum zwischen Putamen <strong>und</strong> Claustrum), Dysautonom<br />

ie (Shy-Drager-Syndr om) <strong>und</strong> olivopontozerebelläre Atroph ie (OPCA<br />

<strong>und</strong> Hot-cross-Bun-Zeichen im MRT) <strong>und</strong> Pyramidenbahndysfunktion. Derzeit<br />

werden MSA-P (80%) mit Überwiegen von Park<strong>in</strong>son-Symptomatik <strong>und</strong><br />

MSA-C (20%) mit Überwiegen von Kle<strong>in</strong>hirnsymptomatik unterschieden. Familiäres<br />

Auft reten von OPCA liegt den autosomal-dom<strong>in</strong>anten sp<strong>in</strong>ozerebellären<br />

Ataxien (SCA 1–30) zugr<strong>und</strong>e, bei denen unterschiedlich weitere Symptome<br />

auft reten, z. B. bei SCA 3 mit CAG-Expansion auf Chromosom 14q32,<br />

Dystonie, Spastik, Polyneuropath ie, Park<strong>in</strong>son-Demenz vom subkortikalen<br />

Typ. Die Park<strong>in</strong>son-Symptomatik spricht nur bei ca. 30% auf L-DOPA an.<br />

Dysautonomie zeigt sich bei ca. 40% <strong>in</strong> Impotenz bei Männern, verm<strong>in</strong>derter<br />

genitaler Erregbarkeit bei Frauen, Harn<strong>in</strong>kont<strong>in</strong>enz, orthostatischer Hypotonie<br />

mit Schw<strong>in</strong>del, Synkopen beim Aufrichten. Ferner kommt es zu früher<br />

Gangunsicherheit, häufi gen Stürzen, ausgeprägter hypophoner Dysarthrie,<br />

Dystonie (Antecollis, Extremitätendystonie), atypischem irregulärem Ruhe-,<br />

Halte-/Aktionstremor, stimulussensitivem Myoklon us, Schlafstörungen<br />

(REM-Schlaf-Verhaltensstöru ng), Temperaturregulierungsstörung, <strong>in</strong>spiratorischem<br />

Stridor, Schmerzen, Depression. Frontallappendysfunktion (verlangsamte<br />

Informationsverarbeitung, Apathie, exekutive Funk tionsstörung, verm<strong>in</strong>derte<br />

visuokonstruktive Leistungen, emotionale Inkont<strong>in</strong>enz) wurden<br />

beschrieben. Kognitive E<strong>in</strong>bußen s<strong>in</strong>d leichter als bei PSP <strong>und</strong> ähnlich denen<br />

bei MP <strong>in</strong> frühen Stadien <strong>und</strong> erfüllen die Kriterien e<strong>in</strong>er Demenz meist nicht.<br />

Neuropathologisch werden Neuronenverlust <strong>und</strong> Gliose <strong>in</strong> Striatum, Globus<br />

pallidus, Substantia nigra bei MSA-P, <strong>in</strong> den unteren Oliven, pont<strong>in</strong>en Kernen,<br />

im Zerebellum bei MSA-C, <strong>in</strong> der <strong>in</strong>termediolateralen Zellsäule, im Nucleus


7.2 · Überwiegend hypok<strong>in</strong>etische Störungen<br />

129<br />

7<br />

Onuf des Rückenmarks, im pont<strong>in</strong>en Miktionszentrum bei Dysautonomie beschrieben.<br />

Oligodendrozyten <strong>und</strong> Neurone enthalten α-Synukle<strong>in</strong>-, Ubiquit<strong>in</strong>-,<br />

Tau-positive gliale zystoplasmatische E<strong>in</strong>schlüsse (Papp-Lantos-Körperch en).<br />

PET/SPECT: Im Striatum s<strong>in</strong>d Glukosemetabolismus, L-DOPA-Aufnahme<br />

<strong>und</strong> Dopam<strong>in</strong>-2-Rezeptorb<strong>in</strong>dung verm<strong>in</strong>dert. Th erapie: Park<strong>in</strong>sonismus<br />

wird mit L-DOPA, Amantad<strong>in</strong>, Dystonie mit Botul<strong>in</strong>umtox<strong>in</strong>, orthostatische<br />

Hypotonie mit Midodr<strong>in</strong>, Fludrocortison, Etilefr<strong>in</strong>, Blasen<strong>in</strong>kont<strong>in</strong>enz mit<br />

Oxybutyn<strong>in</strong>, erektile Dysfunktion mit Yohimb<strong>in</strong>, Sildenafi l behandelt.<br />

7.2.3 Park<strong>in</strong>sonismus-Demenz<br />

<strong>und</strong> Motoneuronerkrankungen<br />

Park<strong>in</strong>son-Demenz-ALS-Komplex von Guam, M. Lytico-Bodig<br />

Diese endemische neurodegenerative Erkrankung der e<strong>in</strong>geborenen Chamorros<br />

auf Guam manifestiert sich im Allgeme<strong>in</strong>en <strong>in</strong> der 5.–7. Dekade. Kl<strong>in</strong>isch<br />

können Park<strong>in</strong>sonismus-Demenz (M. Bod ig) oder ALS (amyotrophe Lateralsklero<br />

se, M. Lyti co) im Vordergr<strong>und</strong> steh en. Die Bodig-Variante manifestiert<br />

sich mit Bradyk<strong>in</strong>esie, Rigor, Tremor, kle<strong>in</strong>schrittigem Gang mit Fest<strong>in</strong>ation,<br />

Pyramidenbahnzeichen, supranuklärer Blickparese. Ret<strong>in</strong>ale Pigmentepitheliopathie<br />

tritt <strong>in</strong> 56% der Fälle auf. Detaillierte Untersuchungen über die Demenz<br />

liegen nicht vor. Neuropathologisch fi nden sich sehr viele NFT (3R- <strong>und</strong><br />

4R-Tau) ähnlich wie bei AD, jedoch ke<strong>in</strong>e Amyloid-Plaques. Die NFT-Verteilung<br />

gleicht der bei PSP. Auch wenn N-Methylam<strong>in</strong>o-L-Alan<strong>in</strong> aus Cycas circ<strong>in</strong>al<br />

is als Neurotox<strong>in</strong> postuliert wurde, ist die exakte Ursache noch ungeklärt.<br />

Die Prävalenz von ALS <strong>und</strong> Park<strong>in</strong>sonismus, nicht die von Demenz bei älteren<br />

Frauen nimmt ab.<br />

Multisystem-hereditäre Tauopathien (MHT),<br />

Dis<strong>in</strong>hibition-Demenz-Park<strong>in</strong>sonismus-Amyotrophie-<br />

Komplex (DDPAC)<br />

Die unterschiedlichen MHT s<strong>in</strong>d charakterisiert durch e<strong>in</strong> «Park<strong>in</strong>son-Demenz-plus-Syndro<br />

m«. Rasch progredienter autosomaler Park<strong>in</strong>sonismus <strong>und</strong><br />

Demenz mit pallidopontonigraler Degeneration (PPND) <strong>und</strong> Dis<strong>in</strong>hibition-<br />

Demenz-Park<strong>in</strong>sonismus-Amyotrophie-Komp lex (DDPAC) s<strong>in</strong>d unterschiedliche<br />

Erkrankungen mit unterschiedlichen Mutationen e<strong>in</strong>es Gendefekts<br />

auf Chromosom 17q21–22.


7<br />

130 Kapitel 7 · »Park<strong>in</strong>son Plus«/Demenz mit Lewy-Körperchen, Chorea Hunt<strong>in</strong>gton<br />

Wilhelmsen-Lynch-Krankheit<br />

Die Wilhelmsen-Lynch-Krankh eit ist e<strong>in</strong>e hereditäre Tauopat hie mit den kl<strong>in</strong>ischen<br />

Merkmalen Frontallappendemenz, Park<strong>in</strong>sonismus <strong>und</strong> Amyotrophie.<br />

Durchschnittlicher Krankheitsbeg<strong>in</strong>n liegt bei 45 Jahren, die Dauer bei<br />

13 Jahren. Das volle kl<strong>in</strong>ische Bild entwickelt sich <strong>in</strong>nerhalb von 5–10 Jahren.<br />

Enthemmung, Rückzugstendenzen, Hyperphagie s<strong>in</strong>d Frühsymptome <strong>und</strong><br />

treten später bei den meisten Patienten auf. Neuropsychologische Tests zeigen<br />

Gedächtnism<strong>in</strong>derung, Anomie, konstruktive Apraxie mit anfangs erhaltener<br />

Orientiertheit, Sprache <strong>und</strong> Rechenvermögen. Alle Patienten entwickeln Park<strong>in</strong>sonismus<br />

(Ri gor, Bradyk<strong>in</strong> ese), gewöhnlich L-DOPA-resistent, <strong>und</strong> posturale<br />

Instabilität, <strong>in</strong> späteren Stadien Amyotrophie. Neuropathologisch zeigen<br />

sich schwere frontotemporale Atrophie, spongiforme Veränderungen, Neuronenverlust<br />

<strong>und</strong> Gliose <strong>in</strong> Substantia ni gra <strong>und</strong> Amygd ala, jedoch ke<strong>in</strong>e<br />

NFT, Lewy-Körperchen oder Amyloid-Plaques. Diese Erkrankung unterscheidet<br />

sich von familiärem Park<strong>in</strong>sonismus, Demenz mit NFT, familiärer<br />

Multisystem-Tauopathie mit präseniler Demenz <strong>und</strong> ab<strong>und</strong>anten neuronalen<br />

<strong>und</strong> glialen Tau-Filamenten, fakultativ mit supranukleärer Blickparese.<br />

Familiäre Park<strong>in</strong>sonismus-Demenz mit NFT<br />

Familiäre Park<strong>in</strong>sonismus-Dem enz mit NFT ist gekennzeichnet durch frühen<br />

Beg<strong>in</strong>n (<strong>3.</strong> Dekade), Augenmuskelparesen, L-DOPA-resisten ten Park<strong>in</strong>sonismus<br />

(Bradyk<strong>in</strong>ese, Rigor, fe<strong>in</strong>er posturaler Tre mor), posturale Instabilität,<br />

Frontallappendemenz (Schweigsamkeit, Bradyphre nie), Pseudobulbärparalyse<br />

(Dysarthrie <strong>und</strong> -phagie), vertikale supranukleäre Blickpar ese, stimulus<strong>in</strong>duzierten<br />

Blepharospasmus, okulogyre Kri sen, Pyramidenbahnzeichen.<br />

Neuropathologisch zeigen sich NFT <strong>in</strong> Hippokampus, Pallidum, Substantia<br />

nigra, periaquäduktalem Grau, Augenmuskelkernen, Nucleus ru ber, Locus<br />

coerul eus, dorsalem Vagusk ern <strong>und</strong> medialem retikulärem Grau. Neuronenverlust<br />

<strong>und</strong> Gliose nur <strong>in</strong> Substantia nigra, periaquäduktalem Grau <strong>und</strong><br />

Colliculi superiores. Putamen, Caudatum <strong>und</strong> Nucleus subthalamicus s<strong>in</strong>d<br />

unverändert. Neuritische Plaques <strong>und</strong> Lewy-Körperchen fehlen.<br />

Pallidopontonigrale Degeneration, frontotemporale Demenz<br />

mit Park<strong>in</strong>son Syndrom bei Mutation auf Chromosom 17<br />

(FTD-P17)<br />

Pallidopontonigrale Degenerat ion ist e<strong>in</strong>e autosomal-dom<strong>in</strong>ante rasch fortschreitende<br />

Erkrankung, gekennzeichnet durch Park<strong>in</strong>son-Demenz, Dysto-


7.2 · Überwiegend hypok<strong>in</strong>etische Störungen<br />

131<br />

7<br />

nie, Pyramidenbahnzeichen <strong>und</strong> okuläre Störungen. Der durchschnittliche<br />

Krankheitsbeg<strong>in</strong>n liegt im 4<strong>3.</strong> Lebensjahr, die durchschnittliche Dauer beträgt<br />

8,6 Jahre. Die Patienten zeigen zuerst entweder Park<strong>in</strong>sonismus (asymmetrische<br />

Extremitätenbradyk<strong>in</strong>ese <strong>und</strong> -rigor) oder frontale Demenz, später<br />

posturale Instabilität, axialen Ri gor, gelegentlich leichten Tremor, ferner Dysarthrie<br />

<strong>und</strong> -phagie, Augenbewegungsstörungen (vertikale supranukleäre<br />

Blickparese), Lidapraxie <strong>und</strong> im Spätstadium Dystonie. Neuropathologisch<br />

zeigen sich Neuronenverlust <strong>und</strong> Gliose <strong>in</strong> Substantia nigra, Pallidum, Pons,<br />

Mesenzephalon, ke<strong>in</strong>e NFT, Plaques oder Lewy-Körperchen. Diff erenzialdiagnostisch<br />

unterscheidet sich das Krankheitsbild von PSP durch das familiäre<br />

Auft reten, frühen Beg<strong>in</strong>n, axialen <strong>und</strong> Extremitätenpark<strong>in</strong>sonismus.<br />

Kortikobasale Degeneration (CBD)<br />

CBD, e<strong>in</strong>e Tauopathie (Prävalenz des H1-Tau-Haplotyps stark erhöht), tritt <strong>in</strong><br />

der klassischen, überwiegend ak<strong>in</strong>etisch-rigiden Variante <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er M. Pickähnlichen<br />

Variante mit Sprech-, Verhaltensänderungen <strong>und</strong> Demenz auf. Die<br />

ak<strong>in</strong>etisch-rigide Verlaufsform manifestiert sich um das 60.–65. Lebensjahr<br />

<strong>in</strong>itial mit Ungeschicklichkeit, Steifh eit, kortikalen sensorischen Störungen<br />

e<strong>in</strong>es Arms, später mit gestörten Stellrefl exen, Gangstörung, Hypomimie, hypophoner<br />

Dysarthrie, Dystonie (Flexion von Hand, Unterarm, Adduktion des<br />

Oberarms), irregulärem Aktionstremor überlagert von stimulussensitiven<br />

Myokloni, Phänomen der fremden Hand/Gliedm aße, ideomotorischer <strong>und</strong><br />

ideatorischer Apraxie, hemispatialen Defi ziten, Astereognosie, progredienter<br />

Aphasie, Zeichen e<strong>in</strong>er frontotemporalen Demenz, supranukleärer Blickparese,<br />

Pyramidenbahnzeichen. Im MR-Bild frontotemporal <strong>und</strong> parietal betonte<br />

asymmetrische Atrophie. Neuropathologisch werden achromatische, ballonierte<br />

Neurone, oligodendrogliale Tau-positive coiled bodies (α-Synukle<strong>in</strong>negativ),<br />

astrozytäre Plaques (Amyloid-negativ) gef<strong>und</strong>en <strong>in</strong> Kortex, Basalganglien,<br />

Th alamus, Amygdala, Nucleus subthalamicus, Substantia nigra,<br />

Nucleus ruber, Nucleus denta tus, Hirnstamm. Th erapie: Versuch mit L-DOPA<br />

(1000 mg/d), Clonazepam bei Myoklonien, Physiotherapie.<br />

Idiopathische Kalzifi kation der Basalganglien (ICBG)<br />

Diese Erkrankung tritt familiär auf ohne begleitende Kalzium- <strong>und</strong> Phosphat-<br />

Serumveränderungen, manifestiert sich mit choreatischen oder Park<strong>in</strong>son-<br />

Symptomen, bei früher Manifestation mit Psychose, bei späterer Manifestation<br />

(etwa 50. Lebensjahr) mit Bewegungsstörungen Ataxie, Dysarthrie <strong>und</strong>


7<br />

132 Kapitel 7 · »Park<strong>in</strong>son Plus«/Demenz mit Lewy-Körperchen, Chorea Hunt<strong>in</strong>gton<br />

subkortikaler Demenz (Wiederer<strong>in</strong>nerungsdefi zite <strong>und</strong> Konzentrationsstörungen),<br />

epileptischen Anfäl len. Basalganglien-, Th alamus-, zerebelläre<br />

(Nucleus dentatus) <strong>und</strong> subkortikale Marklagerverkalkungen (M. Fahr) wurden<br />

bei e<strong>in</strong>er Familie mit autosomal-dom<strong>in</strong>antem Erbgang (Chromosom<br />

4q1<strong>3.</strong>1.2 1.1) gef<strong>und</strong>en. Es besteht genetische Heterogenität. Als weitere Ursache<br />

kommen <strong>in</strong> Betracht idiopathischer Hyperparathyreoidismus, Mitochondriopathien,<br />

Intoxikationen (Blei, CO, Zyanide, Methanol, Methotrexat),<br />

Strahlentherapie, Infektionen (Herpes, EBV, AIDS), Lupus erythematodes.<br />

7.2.4 Sek<strong>und</strong>ärer Park<strong>in</strong>sonismus<br />

Infektiöse <strong>und</strong> post<strong>in</strong>fektiöse Ursachen<br />

Sek<strong>und</strong>ärer Park<strong>in</strong>sonismus nach HIV-Infektion<br />

Demenz sek<strong>und</strong>är nach HIV-Infektion zeigt frontale kognitive (Vergesslichkeit,<br />

Verlangsamung, Konzentrationsstörungen, erschwertes Problemlösen)<br />

<strong>und</strong> Verhaltensstörungen (Apathie, sozialer Rückzug). Zusätzlich kann Park<strong>in</strong>sonismus<br />

auft reten (Tremor, Bradyk<strong>in</strong>ese, Rigor) <strong>und</strong> posturale Imbalance,<br />

Ataxie, Hypertonie, Hyperrefl exie, positives frontales Release-Phänomen,<br />

Sakkaden <strong>und</strong> Augenfolgestörungen. Im Liquor fi ndet sich leicht erhöhtes<br />

Prote<strong>in</strong> <strong>und</strong> leichte Lymphozytose mit HIV-Nachweis. Opportunistische Infektionen<br />

(z. B. Toxoplasmose , Zytomegalievirus , Kryptokokkose , Tuberkulose<br />

, Syphilis ) oder Tumoren (z. B. primäres ZNS-Lymphom) können mit Park<strong>in</strong>son-Demenz-Syndrom<br />

bei HIV auft reten <strong>und</strong> müssen ausgeschlossen<br />

werden. Neuropathologisch zeigen sich diff use multifokale Läsionen der weißen<br />

Substanz <strong>und</strong> subkortikale Läsionen.<br />

Morbus Whipple<br />

Dies ist e<strong>in</strong>e seltene Multisystemerkrankung, die durch den gramnegativen<br />

Bazillus Tropheryma whipelii hervorgerufen wird, der häufi g wandernde Polyarthralgien,<br />

gastro<strong>in</strong>test<strong>in</strong>ale Störungen (Diarrhö), Lymphadenopathie <strong>und</strong><br />

unklares Fieber erzeugt. ZNS-Beteiligung tritt <strong>in</strong> Frühphasen (5%) auf, <strong>in</strong>sgesamt<br />

<strong>in</strong> 43% der Fälle mit kognitiven <strong>und</strong> Bewegungsstörungen (Myoklonus ,<br />

Ataxie, okulomastikatorische <strong>und</strong> okulofazioskeletale Myorrhythmien ), selten<br />

Park<strong>in</strong>sonismus, ferner supranukleäre Blicklähmung, Bewusstse<strong>in</strong>sstörung,<br />

obere Motoneuronzeichen, hypothalamische Störungen, Insomnie,<br />

Hirnnervenanomalien, Anfälle, Sensibilitätsstörungen, progrediente Demenz.


7.2 · Überwiegend hypok<strong>in</strong>etische Störungen<br />

133<br />

7<br />

Die Diagnosesicherung geschieht mittels Darmbiopsie <strong>und</strong> PCR, Liquor. Die<br />

Th erapie umfasst Tetrazykl<strong>in</strong>e, Trimethoprim-Sulfmethoxazol, Chloramphenicol,<br />

Ceft riaxon.<br />

Postenzephalitischer Park<strong>in</strong>sonismus<br />

Der postenzephalitische Park<strong>in</strong>sonismus kann sich als Park<strong>in</strong>sonismus <strong>und</strong><br />

Frontallappensyndrom manifestieren; e<strong>in</strong>e Demenz wurde nicht berichtet.<br />

Die akute Phase (Encephalitis lethargica ) dauert gewöhnlich mehrere Wochen<br />

<strong>und</strong> kann starke Somnolenz, Fieber, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Augenmuskellähmungen<br />

<strong>und</strong> Verwirrtheit verursachen. Weniger häufi g treten Brady-,<br />

Dysk<strong>in</strong>esie oder Myoklonien auf. Das Infl uenza-A-Virus wird als Erreger diskutiert.<br />

Monate oder Jahre später treten Park<strong>in</strong>son-Syndrom, Frontallappenstörungen,<br />

psychiatrische Störungen, okulogyre Krisen , Augenlähmungen,<br />

Bulbärparalyse, Standataxie <strong>und</strong> Stürze auf. Neuropathologisch fi nden sich<br />

NFT, Neuropilfäden <strong>in</strong> Basalganglien <strong>und</strong> Hirnstamm ähnlich wie bei PSP.<br />

Optomotorischer Komplex <strong>und</strong> Brückenfuß enthalten weniger, Kortex <strong>und</strong><br />

Hippokampus mehr NFT als bei PSP.<br />

Prionenerkrankung (Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung,<br />

Gerstmann-Sträussler-Sche<strong>in</strong>ker-Syndrom, 7 Kap. 8)<br />

Vaskuläre Ursachen<br />

Subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie (SAE, 7 Kap. 5)<br />

Patienten mit vaskulärer Demenz können e<strong>in</strong>en vorwiegend auf die Be<strong>in</strong>e beschränkten<br />

Pseudopark<strong>in</strong>sonismus zeigen . Zusätzlich zu Gangstörungen<br />

(kle<strong>in</strong>schrittig, freez<strong>in</strong>g , jedoch mit erhaltenem Armschw<strong>in</strong>gen) <strong>und</strong> posturaler<br />

Instabilität können Pseudobulbärparalyse, Dysarthrie, Demenz, Pyramidenbahn-<br />

<strong>und</strong> Kle<strong>in</strong>hirnzeichen auft reten, Ruhetremor fehlt. In e<strong>in</strong>er »Lowerbody-park<strong>in</strong>sonism-Untersuchung«<br />

waren ältere Frauen mehr betroff en mit<br />

kürzerer Dauer der Symptomatik, höherer Pfl egebedürft igkeit, L-DOPA-Resistenz<br />

, höherem Blutdruck als bei MP, jedoch ohne progrediente Demenz .<br />

Patienten mit lakunären Infarkten können e<strong>in</strong>e progrediente Demenz zeigen,<br />

fokale Zeichen vom frontalen Typ mit oder ohne vorangegangenen Schlaganfall.<br />

Patienten mit multiplen Infarkten haben e<strong>in</strong>e schrittweise Progredienz<br />

motorischer <strong>und</strong> kognitiver Symptome. M. B<strong>in</strong>swanger (Marklagerläsionen )<br />

kann Demenz <strong>und</strong> Park<strong>in</strong>sonismus der unteren Extremitäten verursachen,<br />

auch wenn bilaterale Pyramidenbahnzeichen häufi g s<strong>in</strong>d. Wegen der Häufi g-


7<br />

134 Kapitel 7 · »Park<strong>in</strong>son Plus«/Demenz mit Lewy-Körperchen, Chorea Hunt<strong>in</strong>gton<br />

keit vaskulärer ZNS-Läsionen können zusätzlich AD <strong>und</strong> MP gef<strong>und</strong>en werden.<br />

Neuropathologisch fi nden sich e<strong>in</strong>e Lipohyal<strong>in</strong>ose kle<strong>in</strong>er Arterien, im<br />

MRT white matter lesions (Leukoaraiose), Lakunen. Th erapieversuch mit L-<br />

DOPA, Amantad<strong>in</strong>, Stat<strong>in</strong>en.<br />

Toxische Ursachen<br />

Mangan<strong>in</strong>toxikation führte bei Berg- <strong>und</strong> Fabrikarbeitern zu ak<strong>in</strong>etischem<br />

Park<strong>in</strong>sonismus mit Tremor, Dystonie, posturaler Instabilität, leichter Demenz.<br />

Früh traten Reizbarkeit, Zwangshandlungen, aff ektive Instabilität, Halluz<strong>in</strong>ationen<br />

<strong>und</strong> Illusionen auf. MRT: T1-Hyper<strong>in</strong>tensität im Pallidum.<br />

Chronische oder akute Zyanidvergift ung führt u. a. zu e<strong>in</strong>em Park<strong>in</strong>son-<br />

Demenz-Syndrom.<br />

Medikamentöse Ursachen<br />

Pharmakologisch <strong>in</strong>duzierte Park<strong>in</strong>son-Demenz-Syndrome werden meist<br />

durch Medikamente zur Behandlung des Park<strong>in</strong>sonismus ausgelöst.<br />

4 Antichol<strong>in</strong>ergika <strong>in</strong>duzieren oder verstärken Verwirrtheit <strong>und</strong> Gedächtnisstörungen<br />

bei MP, verschlechtern Gang <strong>und</strong> Gedächtnis bei PSP; sie<br />

sollten daher vermieden werden.<br />

4 Neuroleptika, Antiemetika können bei AD Park<strong>in</strong>sonismus hervorrufen.<br />

4 Lithium, Maprotil<strong>in</strong> können e<strong>in</strong> Creutzfeld-Jakob-Erkrankung-artiges<br />

Bild mit kognitiven Störungen, Myoklonus <strong>und</strong> Park<strong>in</strong>sonismus hervorrufen.<br />

Metabolische Ursachen<br />

Park<strong>in</strong>sonismus <strong>und</strong> Demenz treten nach Hypoxie, bei hepatozerebraler Degeneration<br />

, z. B. bei portocavalem Shunt <strong>und</strong> Parathormonstörungen auf.<br />

Tumore<br />

Sowohl primäre (Lymphom, Men<strong>in</strong>geom, Gliom) als auch sek<strong>und</strong>äre Tumore<br />

(Metastasen) sowie Abszesse <strong>und</strong> chronische Subduralhämatome können e<strong>in</strong><br />

Park<strong>in</strong>son-Demenz-Syndrom verursachen.<br />

Hydrozephalus<br />

Normaldruckhydrozephalus (NDH), auch als chronischer Hydrozephalus<br />

bezeichnet, manifestiert sich kl<strong>in</strong>isch <strong>in</strong> der Trias von Gangstörung, subakuter<br />

leichter Demenz (verm<strong>in</strong>derte Aufmerksamkeit, Konzentration, psycho-


7.2 · Überwiegend hypok<strong>in</strong>etische Störungen<br />

135<br />

7<br />

motorische Verlangsamung, dysexekutives Syndrom) <strong>und</strong> Inkont<strong>in</strong>enz. Es<br />

besteht ke<strong>in</strong> typischer Park<strong>in</strong>sonismus. Die Gangstörung wird als apraktisch<br />

oder als magnetische Ataxie beschrieben. Kl<strong>in</strong>isch lassen sich Gangstörungen<br />

verschiedener Ursache e<strong>in</strong>schließlich NDH, AD mit park<strong>in</strong>sonartigen Aspekten<br />

nicht immer e<strong>in</strong>deutig abgrenzen. In CT <strong>und</strong> MRT fi nden sich Ventrikelerweiterung<br />

(<strong>in</strong>sbesondere Temporalhörner), Hyper<strong>in</strong>tensitäten an den<br />

Ventrikelpolen (transependymale Liquordiapedese) sowie verengte Sulci im<br />

Vertexbereich. E<strong>in</strong>e Besserung nach Liquorablassversuch <strong>und</strong> 24-St<strong>und</strong>en-<br />

Liquordruckmessung s<strong>in</strong>d Voraussetzung für e<strong>in</strong>e Shunt-Implantation.<br />

Lyme-Borreliose kann e<strong>in</strong> NDH-artiges Bild mit Gangstörung, Harn<strong>in</strong>kont<strong>in</strong>enz,<br />

Demenz vortäuschen durch Bee<strong>in</strong>trächtigung des subarachnoidalen<br />

Liquorfl usses (Danek et al. 1996). Lymphozytose im Liquor <strong>und</strong><br />

<strong>in</strong>trathekale Borrelia-burgdorferi -Antikörper s<strong>in</strong>d nachweisbar. Th erapie:<br />

Antibiose (Ceft riaxon).<br />

E<strong>in</strong> obstruktiver Hydrozephalus kann ausgeprägten Park<strong>in</strong>sonismus mit<br />

oder ohne kognitive Störungen verursachen.<br />

Trauma<br />

E<strong>in</strong>e Demenz nach Kopft rauma ist gewöhnlich nicht progredient <strong>und</strong> nicht<br />

mit Park<strong>in</strong>sonismus assoziiert. Falls nach Schädeltrauma zunehmende kognitive<br />

Störungen auft reten, ist e<strong>in</strong> weiterer Prozess, z. B. e<strong>in</strong> Hydrozephalus, auszuschließen.<br />

Wiederholte Schädeltraumata z. B. beim Boxen können zu e<strong>in</strong>er<br />

progredienten Demenz (Dementia pugilistica ) mit Park<strong>in</strong>sonismus, Kle<strong>in</strong>hirn-<br />

<strong>und</strong> Pyramidenbahnzeichen führen. Neuropathologisch fi nden sich<br />

Fenestration des Cavum septi pellucidi, Atrophie von Fornix <strong>und</strong> Mamillarkörpern,<br />

narbige Kle<strong>in</strong>hirntonsillen, Gliose der Substantia nigra, NFT <strong>in</strong><br />

Hippokampus <strong>und</strong> medialem Temporallappen. NFT s<strong>in</strong>d bei Dementia pugilistica<br />

<strong>in</strong> oberfl ächlichen, bei AD <strong>in</strong> tiefen Kortexschichten lokalisiert.


7<br />

136 Kapitel 7 · »Park<strong>in</strong>son Plus«/Demenz mit Lewy-Körperchen, Chorea Hunt<strong>in</strong>gton<br />

Zusammenfassung<br />

Hypok<strong>in</strong>etische Bewegungsstörungen (kursiv mit Demenz)<br />

4 Park<strong>in</strong>son-Krankheit, idiopathisches Park<strong>in</strong>son-Syndrom, idiopathischer<br />

(Lewy-Körperchen-) Park<strong>in</strong>sonismus<br />

4 »Park<strong>in</strong>son-plus-Syndrome«<br />

4 Neurodegenerativ: Park<strong>in</strong>sonismus bei <strong>Demenzen</strong> (M. Alzheimer,<br />

Demenz mit Lewy-Körperchen, M. Pick, frontotemporale Demenz,<br />

DLDH (dementia lack<strong>in</strong>g dist<strong>in</strong>ct histology)<br />

4 Progressive supranukleäre Parese (PSP), Steele-Richardson-Olszewki-<br />

Syndrom (SRO)<br />

4 Multiple Systematrophie (MSA) mit den Varianten<br />

– MSA-P (striatonigrale Degeneration, Dysautonomie)<br />

– MSA-C (sporadische olivopontozerebelläre Degeneration,<br />

sOPCA)<br />

4 Park<strong>in</strong>sonismus-Demenz <strong>und</strong> Motoneuronerkrankung<br />

4 Park<strong>in</strong>son-Demenz-ALS-Komplex auf Guam, M. Lytico-Botig<br />

4 Multisystem-hereditäre Tauopathien (MHT)<br />

4 Dis<strong>in</strong>hibition-Demenz-Park<strong>in</strong>sonismus-Amyotrophie-Komplex (DDPAC)<br />

4 Wilhelmsen-Lynch-Krankheit<br />

4 Familiäre Park<strong>in</strong>sonismus-Demenz mit NFT<br />

4 Familiäre Multisystem-Tauopathie mit präseniler Demenz <strong>und</strong> ab<strong>und</strong>anten<br />

neuronalen <strong>und</strong> glialen Tau-Filamenten<br />

4 Pallidopontonigrale Degeneration (FTD-P17)<br />

4 Kortikobasale Degeneration (CBD)<br />

4 Idiopathische Basalganglienverkalkung<br />

4 Heredodegenerativ (z. T. mit Hyperk<strong>in</strong>esien)<br />

4 M. Wilson<br />

4 NBIA (neurodegeneration with bra<strong>in</strong> iron accumulation, ehemals<br />

M. Hallervorden-Spatz)<br />

4 Chorea Hunt<strong>in</strong>gton (Westphal-Variante)<br />

4 Dentatorubropallido-Luysian-Atrophie (DRPLA)<br />

4 Lubag (Filip<strong>in</strong>o-X-l<strong>in</strong>ked-dystonia-Park<strong>in</strong>sonismus)<br />

4 M. Machado-Joseph (SCA 3)<br />

4 Aromatischer Am<strong>in</strong>osäuredecarboxylase-Mangel 7


7.2 · Überwiegend hypok<strong>in</strong>etische Störungen<br />

4 Autosomal-rezessiver juveniler Park<strong>in</strong>sonismus<br />

4 Dom<strong>in</strong>ant-hereditäre Apathie, Hypoventilation <strong>und</strong> Park<strong>in</strong>sonismus<br />

4 Dom<strong>in</strong>ant-hereditärer früh beg<strong>in</strong>nender Park<strong>in</strong>sonismus<br />

4 Familiäres L-DOPA-responsives pallidopyramidales Park<strong>in</strong>son-<br />

Syndrom, Kufor-Rakeb-Syndrom (Gendefekt auf Chromosom 1p36;<br />

PARK 9)<br />

4 Familiäre progressive subkortikale Gliose<br />

4 Hereditäre sensorimotorische Neuropathie mit Park<strong>in</strong>sonismus<br />

4 Rasch e<strong>in</strong>setzender Dystonie-Park<strong>in</strong>sonismus<br />

4 X-l<strong>in</strong>ked-rezessiver Park<strong>in</strong>sonismus <strong>und</strong> mentale Retardierung<br />

4 Thalamus-Demenzsyndrom<br />

4 Sek<strong>und</strong>ärer Park<strong>in</strong>sonismus<br />

4 nfektiös: AIDS (HIV, PML, Toxoplasmose), Kryptokokken-<br />

Men<strong>in</strong>goenzephalitis, Zystikerzose, Herpes-simplex-Enzephalitis,<br />

Japanische-B-Enzephalitis, Malaria, Mykoplasmen, St.-Louis-<br />

Enzephalitis, subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE), Pilze,<br />

Syphilis, Tuberkulose, postvakz<strong>in</strong>aler Park<strong>in</strong>sonismus, M. Whipple<br />

4 Postenzephalitisch: Encephalitis lethargica, andere Enzephalitiden,<br />

Prionen-Erkrankungen: Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung, M. Gerstmann-<br />

Sträussler-Sche<strong>in</strong>ker<br />

4 Vaskulär: subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie (SAE) bei<br />

Bluthochdruck (lower body park<strong>in</strong>sonism), multiple Infarkte<br />

4 Toxisch: MPTP (1-Methyl-4-phenyl-1,2,3,6-Tetrahydropyrid<strong>in</strong>),<br />

Kohlenmonoxid, Mangan, Zyanid, Methanol, Kohlenstoffdioxid,<br />

-disulfid, Disulfiram, Paraquat, Diquat, n-Hexan, Quecksilber,<br />

Organophosphate<br />

4 Medikamenten<strong>in</strong>duziert: Dopam<strong>in</strong>rezeptorenblocker (Neuroleptika,<br />

Antiemetika), malignes Neuroleptika-(Park<strong>in</strong>sonismus-Hyperpyrexie-)<br />

Syndrom, dopam<strong>in</strong>freisetzende Substanzen (Reserp<strong>in</strong>, Tetrabenaz<strong>in</strong>),<br />

Lithium, Flunariz<strong>in</strong>,C<strong>in</strong>nariz<strong>in</strong>, Diltiazem, u. a.<br />

4 Metabolisch: hypokalzämischer Park<strong>in</strong>sonismus (Basalganglienverkal<br />

kung), chronische hepatozerebrale Degeneration, M. Wilson, Hypoxie,<br />

Ceroidlipofusz<strong>in</strong>ose, zerebrotend<strong>in</strong>öse Xanthomatose, Folatmangel,<br />

GM1-Gangliosidose, hereditäre Hämochromatose, Hypothyreose,<br />

M. Niemann-Pick, M. Gaucher, Hitzschlag 6<br />

137<br />

7


7<br />

138 Kapitel 7 · »Park<strong>in</strong>son Plus«/Demenz mit Lewy-Körperchen, Chorea Hunt<strong>in</strong>gton<br />

4 Mitochondriale Enzephalomyopathien<br />

4 Hemiatrophie-Hemipark<strong>in</strong>sonismus<br />

4 Syr<strong>in</strong>gomesenzephalie<br />

4 Intranukleäre Hyal<strong>in</strong>körperkrankheit<br />

4 Hydrozephalus (Normaldruckhydrozephalus NDH, nichtkommunizierender<br />

Hydrozephalus)<br />

4 Tumoren<br />

4 Paraneoplastischer Park<strong>in</strong>sonismus<br />

4 Traumatisch (Boxer-Enzephalopathie, Encephalopathia pugilistica)<br />

4 Psychogen<br />

7.3 (Überwiegend) hyperk<strong>in</strong>etische<br />

Bewegungsstörungen mit Demenz<br />

7.<strong>3.</strong>1 Chorea Hunt<strong>in</strong>gton<br />

Hierbei handelt es sich um e<strong>in</strong>e autosomal-dom<strong>in</strong>ante Erkrankung (CAG-<br />

Repeat-Expansio n > 36 auf Chromosom 4p16. 3) mit durchschnittlicher<br />

Manifestation um das 35. Lebensjahr, gekennzeichnet durch choreatische<br />

Hyperk<strong>in</strong>esen, kognitive <strong>und</strong> aff ektive Störungen. Im Vordergr<strong>und</strong> der Degeneration<br />

stehen striatale GABAerge Projektionsneurone zu Pallidum externum<br />

<strong>und</strong> Nucleus subthalamicus; dadurch entsteht e<strong>in</strong> Ungleichgewicht<br />

zwischen direktem <strong>und</strong> <strong>in</strong>direktem Pfad, der zuerst degeneriert, mit choreatischen<br />

Hyperk<strong>in</strong>esen bei Krankheitsbeg<strong>in</strong>n. Charakteristisch ist e<strong>in</strong>e früh<br />

auft retende <strong>und</strong> rasch fortschreitende Atrophie von Caudatumkop f (Bicaudatum-Index<br />

< 1,8) <strong>und</strong> Frontalhirn. Neben aff ektiven Störungen <strong>und</strong> choreatischen<br />

Hyperk<strong>in</strong>esen ist Demenz e<strong>in</strong> Kard<strong>in</strong>alsymptom; sie ist vom subkortikalen<br />

Typ mit früh auft retenden Persönlichkeits- <strong>und</strong> Stimmungsänderungen,<br />

mit oder ohne psychotische Veränderungen; später treten kognitive<br />

Störungen wie <strong>in</strong>sbesondere Wiederer<strong>in</strong>nerungsdefi zite, Störung exekutiver<br />

Funktionen, Antriebsm<strong>in</strong>derung, verm<strong>in</strong>derte Umstellungsfähigkeit <strong>und</strong><br />

Entscheidungsfähigkeit, <strong>und</strong> verlangsamte Kognition h<strong>in</strong>zu. Defi zite höherer<br />

kortikaler Funktionen (Aphasie, Agnosie <strong>und</strong> Apraxie) fehlen. Die zunehmende<br />

<strong>in</strong>tellektuelle Bee<strong>in</strong>trächtigung wird begleitet von Caudatumkopfatro-


7.3 · Hyperk<strong>in</strong>etische Bewegungsstörungen<br />

139<br />

7<br />

phie <strong>in</strong> CT <strong>und</strong> MRT sowie caudatalem <strong>und</strong> frontalem Glukosehypometabolismus<br />

im FDG-PET. Die Defi zite bei Chorea Hunt<strong>in</strong>gton gleichen denen bei<br />

Patienten mit Frontalhirnläsionen. Die Th erapie umfasst Sulpirid, Tetrabenaz<strong>in</strong>,<br />

Tiaprid, Alprazolam.<br />

Bei der Westphal-Variante mit juvenilem Beg<strong>in</strong>n (paternale Transmission,<br />

CAG meist > 60) stehen Park<strong>in</strong>sonismus <strong>und</strong> Demenz im Vordergr<strong>und</strong>. Als<br />

Th erapie wird L-DOPA e<strong>in</strong>gesetzt.<br />

7.<strong>3.</strong>2 Dentatorubropallido-Luysiane-Atrophie<br />

(DRPLA)<br />

Dies ist e<strong>in</strong>e vorwiegend <strong>in</strong> Japan auft retende autosomal-dom<strong>in</strong>ant vererbte<br />

Erkrankung <strong>in</strong> Folge CAG-Repeat-Verlängerung auf Chromosom 12p1<strong>3.</strong> 3 im<br />

Atroph<strong>in</strong>-1-Gen. Sie manifestiert sich bei juvenilem Beg<strong>in</strong>n mit Myoklonus-<br />

Epilepsie, Demenz, Ataxie, Chorea, bei adultem Beg<strong>in</strong>n mit Ataxie, Chorea,<br />

Demenz, ferner Wahn <strong>und</strong> Halluz<strong>in</strong>ationen, Sakkadenverlangsamung, Dysk<strong>in</strong>esien,<br />

Rigor, Bradyphrenie, Hyperrefl exie. In CT <strong>und</strong> MRT fi nden sich<br />

degenerative Veränderungen <strong>in</strong> Nucleus dentatu s, Nucleus rube r, Nucleus<br />

subthalamicu s <strong>und</strong> Pallidu m sowie im Marklager.<br />

7.<strong>3.</strong>3 Choreoakanthozytose/McLeod-Syndrom<br />

Die Bezeichnung Neuroakanthozytose wurde ersetzt seit dem Nachweis unterschiedlicher<br />

Gendefekte für Choreoakanthozytos e <strong>und</strong> McLeod-Syndro m.<br />

Choreoakanthozytose ist bed<strong>in</strong>gt durch e<strong>in</strong>en autosomal-rezessiven Defekt<br />

auf Chromosom 9q21. Das CHAC-Gen kodiert Chore<strong>in</strong>. Früher Beg<strong>in</strong>n<br />

mit Stand- <strong>und</strong> Gangataxie, Dystonie, Chorea, oromandibulären Dysk<strong>in</strong>esie n<br />

(feed<strong>in</strong>g dystonia) mit Mutilationen, seltener ak<strong>in</strong>etisch rigides Syndrom <strong>und</strong><br />

Anfälle. Gewichtsabnahme, Kachexie, axonale Polyneuropathie mit Muskelatrophien<br />

(CK erhöht), Arefl exie, Persönlichkeits- <strong>und</strong> Verhaltensänderungen,<br />

Apathie, vermehrte Reizbarkeit, Enthemmung, Zwangs-, Angst-,<br />

Wahnstörungen, Aggressivität, Suizidalität, Demenz mit exekutiven <strong>und</strong><br />

mnestischen Störungen. Akanthozyten im Blutausstrich. MRT: Striatumatrophie;<br />

PET: Glukosehypometabolismus <strong>und</strong> Dopam<strong>in</strong>-2-Rezeptor-Verm<strong>in</strong>derung<br />

im Striatum.


7<br />

140 Kapitel 7 · »Park<strong>in</strong>son Plus«/Demenz mit Lewy-Körperchen, Chorea Hunt<strong>in</strong>gton<br />

McLeod-Syndrom. Durch Defekt des XK-Gens auf dem X-Chromoso m<br />

(Xp21) wird e<strong>in</strong> defektes Membranprote<strong>in</strong> (XK-Prote<strong>in</strong>) kodiert; dies ist verb<strong>und</strong>en<br />

mit dem Kell-Prote<strong>in</strong>, das Endothel<strong>in</strong> spaltet. Multisystemerkrankung:<br />

Erythrozytenmembranprote<strong>in</strong>störung, verkürzte Erythrozytenüberlebenszeit,<br />

Akanthozytose, hämolytische Anämie, Myopathie, Muskelatrophien<br />

mit CK-Erhöhung, Kardiomyopathie, axonale Neuropathie. Motorische Unruhe,<br />

häufi ger Haltungswechsel, Schulterzucken, Bl<strong>in</strong>zeln (»Zappeligkeit«),<br />

später Chorea, Anfälle, gesteigerte Angst, Depressionen, subkortikale Demenz.<br />

MRT: Caudatum- <strong>und</strong> Putamenatrophie; PET: Glukosehypometabolismus<br />

im Striatum.<br />

7.<strong>3.</strong>4 Rett-Syndrom<br />

Das Rett-Syndro m tritt bei Mädchen auf <strong>und</strong> wird nur vom Vater an die Tochter<br />

weitergegeben. Mutation des Gens »MeCP« (methyl CpG-b<strong>in</strong>d<strong>in</strong>g prote<strong>in</strong><br />

2, e<strong>in</strong> Transkriptionsfaktor) auf Xq28. Im 7. Lebensmonat bis zum 2. Lebensjahr<br />

Verlust erlernter Fähigkeiten (Sprechen, Gebrauch der Hand),<br />

Handstereotypien (Waschbewegung), Autismus, Ataxie, Apraxie, Sprach- <strong>und</strong><br />

Bewegungsstörung (Park<strong>in</strong>sonismus), Schlafstörungen, mentale Retardierung,<br />

Anfälle.<br />

Bei Defekt des Gens CDKL5 (cycl<strong>in</strong>-dependent k<strong>in</strong>ase-like 5) auf Xq28<br />

früherer Beg<strong>in</strong>n (<strong>3.</strong> Lebensmonat), schwerer Verlauf <strong>und</strong> Anfälle.<br />

7.<strong>3.</strong>5 Morbus Wilson, hepatolentikuläre Degeneration<br />

Dies ist e<strong>in</strong>e autosomal-rezessive Erkrankung mit Gendefekt auf Chromosom<br />

13p14. 3 mit defi zienter kupfertransportierender ATPase. Im Wilson-Gen<br />

(ATP7B) s<strong>in</strong>d > 250 Mutationen bekannt; dies wird als Ursache unterschiedlicher<br />

Verläufe angesehen. Es kommt zu abnormen Kupferablagerunge n <strong>in</strong><br />

Leber, Kornea (Kayser-Fleischer-R<strong>in</strong> g), L<strong>in</strong>se (Sonnenblumenkatarakt <strong>in</strong> 20–<br />

30%) <strong>und</strong> Gehirn (Nucleus lentiformi s), ferner zu Dysfunktionen von Niere,<br />

Knochen, Haut <strong>und</strong> hämatopoetischem System. Es werden primär hepatische<br />

<strong>und</strong> primär extrahepatische Verläufe unterschieden. Hyperk<strong>in</strong>esen (Flügelschlagtremo<br />

r, Dystonie, Chorea), Park<strong>in</strong>sonismus <strong>und</strong> kognitive Störungen<br />

s<strong>in</strong>d die wesentlichen neurologischen Symptome. Die <strong>in</strong>tellektuelle Bee<strong>in</strong>-


7.3 · Hyperk<strong>in</strong>etische Bewegungsstörungen<br />

141<br />

7<br />

trächtigung ist bei M. Wilson mild im Vergleich zu MP <strong>und</strong> Chorea Hunt<strong>in</strong>gton.<br />

Persönlichkeitsveränderungen treten früh auf, oft vor kognitiven <strong>und</strong><br />

neurologischen Störungen. Schulschwierigkeiten zeigen sich bei jugendlichem<br />

Beg<strong>in</strong>n. Neuropsychologische Bef<strong>und</strong>e betreff en das Er<strong>in</strong>nerungsvermögen<br />

beim Wechsler-Test, IQ-M<strong>in</strong>derung <strong>und</strong> Konzentrationsstörungen. Die kognitiven<br />

Störungen können sich mit der Kupferelim<strong>in</strong>ation bessern. Systematische<br />

Untersuchungen über kognitive, neuropathologische <strong>und</strong> -radiologische<br />

Untersuchungen liegen <strong>in</strong> der Literatur nicht vor. Im MRT fi nden sich gliosebed<strong>in</strong>gte<br />

Signalveränderungen im Nucleus lentiformis (T2-Hyper<strong>in</strong>tensität),<br />

später auch <strong>in</strong> Th alamus, Caudatum, Substantia nigra, Kle<strong>in</strong>hirn, Hirnstamm,<br />

Kortex. Im Serum s<strong>in</strong>d Caeruloplasm<strong>in</strong> <strong>und</strong> Kupfer verm<strong>in</strong>dert, im Ur<strong>in</strong><br />

Kupfer erhöht. Th erapie: D-Penicillam<strong>in</strong>, Triethylentetram<strong>in</strong>hydrochlorid;<br />

Z<strong>in</strong>kacetat, -sulfat; evtl. Lebertransplantation.<br />

7.<strong>3.</strong>6 Neurodegeneration mit Eisenablagerung im Gehirn<br />

(neurodegeneration with bra<strong>in</strong> iron accumulation,<br />

NBIA), frühere Bezeichnung M. Hallervorden-Spatz<br />

Bei NBIA ist e<strong>in</strong>e neurodegenerativ bed<strong>in</strong>gte Eisenablagerun g <strong>in</strong> Pallidum <strong>in</strong>ternum,<br />

Substantia nigra pars reticulata <strong>und</strong> mittels MRT (T2*-Hypo<strong>in</strong>tensität)<br />

<strong>in</strong> vivo nachweisbar. Der NBIA liegen unterschiedliche Ursachen zugr<strong>und</strong>e,<br />

mit <strong>und</strong> ohne Defekt im Pantothenk<strong>in</strong>ase-2-Gen. Die autosomal-rezessive<br />

Pantothenk<strong>in</strong>ase-assoziierte Neurodegeneration (PKAN) beruht auf e<strong>in</strong>er<br />

Mutation des Pantothenk<strong>in</strong>ase-2-Gen s auf Chromosom 20p12.3–13, e<strong>in</strong>es<br />

Schlüsselenzyms der Coenzym-A-Synthese (Pantothensäure = Vitam<strong>in</strong> B 5).<br />

Es kommt zur Anreicherung von Cyste<strong>in</strong>, das Eisen b<strong>in</strong>det. Eisenablagerung<br />

führt zu oxidativem Stress <strong>und</strong> Neurodegeneration vorwiegend <strong>in</strong> Ret<strong>in</strong>a,<br />

Substantia nigra <strong>und</strong> Pallidum. Mehrere Gruppen werden unterschieden:<br />

4 Frühk<strong>in</strong>dliche (klassische) Form mit rascher Progredienz (PKAN; bei<br />

2 Nullmutationen): Beg<strong>in</strong>n um das <strong>3.</strong> Lebensjahr mit Dystonie, Rigor,<br />

Choreoathetose, Mobilitätsverlust nach ca. 15 Jahren, zwei Drittel der Fälle<br />

mit Ret<strong>in</strong>adegeneration, z. T. mit kognitiven Defi ziten.<br />

4 Späte (atypische) PKAN mit langsamer Progredienz: Beg<strong>in</strong>n um das<br />

1<strong>3.</strong>–14. Lebensjahr. Dysarthrie, Dystonie, Rigor, seltener Spastik; Mobilitätsverlust<br />

tritt später e<strong>in</strong>. Ret<strong>in</strong>adegeneration seltener. Bei ca. e<strong>in</strong>em Drittel<br />

der Fälle emotionale Labilität, impulsives Verhalten, Demenz.


7<br />

142 Kapitel 7 · »Park<strong>in</strong>son Plus«/Demenz mit Lewy-Körperchen, Chorea Hunt<strong>in</strong>gton<br />

Im MRI ist das »Tigeraugezeichen« (hyper<strong>in</strong>tenses, umgeben von hypo<strong>in</strong>tensem<br />

Signal im Pallidum) charakteristisch für PKAN.<br />

NIBA mit frühem Beg<strong>in</strong>n <strong>und</strong> raschem Fortschreiten wird ferner verursacht<br />

durch Mutation des PLA2G6-Gens, das zu <strong>in</strong>fantiler neuroaxonaler<br />

Dystrophie (INAD) <strong>und</strong> atypischer neuroaxonaler Dystrophie (NAD) mit<br />

axonalen Spheroiden, z. T. mit Kle<strong>in</strong>hirnatrophie, führt.<br />

4 INAD: Manifestation im Alter von 6 Monaten bis 3 Jahren mit psychomotorischer<br />

Entwicklungsverzögerung, Pyramidenbahnzeichen, Strabismus,<br />

Nystagmus, Optikusatrophie.<br />

4 Atypische NAD: Gangunsicherheit, Ataxie, Sprachverzögerung, Autismus,<br />

Dystonie. Beg<strong>in</strong>n im K<strong>in</strong>des- oder Jugendalter, Verschlechterung im Alter<br />

von 7–12 Jahren.<br />

NBIA mit spätem Beg<strong>in</strong>n <strong>und</strong> rascher Progredienz kann ferner bed<strong>in</strong>gt<br />

se<strong>in</strong> durch Neuroferrit<strong>in</strong>opathie <strong>und</strong> Aceruloplasm<strong>in</strong>ämie (CP-Mutation).<br />

4 Neuroferrit<strong>in</strong>opathie (autosomal-dom<strong>in</strong>ante FTL-Genmutation;<br />

19q1<strong>3.</strong>3-4): Manifestation bei Erwachsenen mit progredienter Chorea,<br />

orofazialen Dysk<strong>in</strong>esien, Dysarthrie, Dysphagie, Dystonie <strong>und</strong> kognitiven<br />

Defi ziten.<br />

4 Aceruloplasm<strong>in</strong>ämie: Beg<strong>in</strong>n nach dem 25. Lebensjahr. Häufi g Anämie<br />

vor Diabetes mellitus, Ret<strong>in</strong>adedegeneration <strong>und</strong> Bewegungsstörungen<br />

(Blepharospasmus, Grimassieren, Gesichts-Nacken-Dystonie, Tremor,<br />

zellebelläre Ataxie), ferner kognitive Dysfunktion, Depression.<br />

Die idiopathische NBIA mit frühem oder spätem Beg<strong>in</strong>n bedarf weiterer<br />

genetischer Abklärung.<br />

7.<strong>3.</strong>7 Thalamusdegenerationen<br />

Diese s<strong>in</strong>d heterogen <strong>und</strong> selten . Nach Literaturberichten treten sie nach Hypoxie,<br />

paramedianer Th alamusischämie <strong>und</strong> familiär auf. Sie zeigen neuropsychiatrische<br />

<strong>und</strong> kognitive Störungen (Amnesie, Verwirrtheit, Aff ektlabilität)<br />

<strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation mit Bewegungsstörungen (unwillkürliche Bewegungen,<br />

Chorea, Ataxie, Myoklonus). Ak<strong>in</strong>etischer Mutismus kann auft reten. Die Amnesie<br />

zeigt nicht das subkortikale Muster, sondern Merkmale des hippokampal-thalamischen<br />

Gedächtnissystems.


Literatur<br />

Zusammenfassung<br />

Überwiegend hyperk<strong>in</strong>etische Bewegungsstörungen<br />

(kursiv mit Demenz)<br />

4 Chorea (M. Hunt<strong>in</strong>gton, DRLPA, Choreoakanthozytose, McLeod-Syndrom)<br />

4 Ballismus<br />

4 Dystonien, Athetosen, DOPA-responsive Dystonie,<br />

Guanos<strong>in</strong>triphosphat-Cyclohydrolase-I-Defekt; 14q22.1)<br />

4 Tardive Dysk<strong>in</strong>esien<br />

4 Tics, Tourette-Syndrom<br />

4 Tremor (M. Wilson, Choreoakanthozytose, McLeod-Syndrom, NBIA,<br />

M. Gerstmann-Sträussler-Sche<strong>in</strong>ker, Ceroid-Lipofusz<strong>in</strong>ose)<br />

4 Akathisie<br />

4 Myoklonien<br />

4 Restless-legs-Syndrom<br />

4 Hyperekplexie (startle disease), Mutation im Glyz<strong>in</strong>rezeptor<br />

(α1-Untere<strong>in</strong>heit); 5q2<strong>3.</strong>2–3<br />

4 Ataxien (M. Machado-Joseph, SCA-3)<br />

Literatur<br />

143<br />

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144 Kapitel 7 · »Park<strong>in</strong>son Plus«/Demenz mit Lewy-Körperchen, Chorea Hunt<strong>in</strong>gton<br />

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145<br />

Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung<br />

<strong>und</strong> andere Prionkrankheiten<br />

<strong>Hans</strong> A. Kretzschmar <strong>und</strong> <strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong><br />

8.1 Kl<strong>in</strong>ische Diagnosekriterien – 146<br />

8.2 Diff erenzialdiagnose – 148<br />

8.3 Epidemiologie – 150<br />

8.4 Neurobiologie – 150<br />

8.5 Therapie – 151<br />

Literatur – 152<br />

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DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_8,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

8


8<br />

146 Kapitel 8 · Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung <strong>und</strong> andere Prionkrankheiten<br />

Zum Thema<br />

Die Creutzfeldt-Jakob-Demenz oder Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung (Creutzfeldt-<br />

Jakob Disease; CJD) wird vermutlich durch Prionen (prote<strong>in</strong>aceous <strong>in</strong>fectious<br />

agents, wörtlich: <strong>in</strong>fektiöse Eiweißpartikel) verursacht . Zu den Prionkrankheiten<br />

zählen kl<strong>in</strong>isch unterschiedliche Erkrankungen, von der rasch progredienten CJD<br />

bis zur tödlichen familiären Insomnie. Neuropathologisch f<strong>in</strong>den sich spongiforme<br />

(vakuoläre) Hirnveränderungen mit Neuronenverlust <strong>und</strong> Gliose. Kuru,<br />

e<strong>in</strong>e auf Papua-Neugu<strong>in</strong>ea durch rituellen Kannibalismus verbreitete Prion krankheit<br />

tritt heute nicht mehr auf. Das Gerstmann-Sträussler-Sche<strong>in</strong>ker-Syndrom mit<br />

Ataxie, Dysarthrie, Dysphagie <strong>und</strong> zerebralen Amyloid-Plaques ist e<strong>in</strong>e seltene<br />

familiäre Prionkrankheit. Die »neue Variante« der CJD wurde <strong>in</strong> den letzten<br />

Jahren <strong>in</strong> Großbritannien bekannt; alle Indizien sprechen dafür, dass sie durch<br />

die bov<strong>in</strong>e spongiforme Enzephalopathie (BSE) verursacht wird.<br />

8.1 Kl<strong>in</strong>ische Diagnosekriterien<br />

Alfons Jakob schrieb 1921 schrieb Ȇber eigenartige Erkrankungen des Zentralnervensystems<br />

mit bemerkenswertem anatomischen Bef<strong>und</strong>e (spastische<br />

Pseudosklerose-Encephalo-Myelopathie mit dissem<strong>in</strong>ierten Degenerationsherden)«.<br />

Bei zwei se<strong>in</strong>er Patienten würde auch heute die Diagnose e<strong>in</strong>er CJD<br />

gestellt. Bei e<strong>in</strong>er rasch über Monate fortschreitenden Demenz muss pr<strong>in</strong>zipiell<br />

an e<strong>in</strong>e CJD gedacht werden. Die Diagnose wird <strong>in</strong>sbesondere durch die<br />

Symptome rasche Progredienz, Erkrankungen des pyramidalen oder extrapyramidalen<br />

Systems mit Myoklonus, zerebelläre oder visuelle Symptome <strong>und</strong><br />

charakteristische EEG-Veränderungen mit periodischen Sharp-wave-Komplexen<br />

nahe gelegt. Die Häufi gkeit diagnostisch wichtiger kl<strong>in</strong>ischer Merkmale<br />

wird <strong>in</strong> . Tab. 8.1 angegeben.<br />

Neue Konsensuskriterien heben die Bedeutung apparativer Untersuchungsbef<strong>und</strong>e<br />

zur kl<strong>in</strong>ischen CJD-Diagnose hervor (Meissner et al. 2009,<br />

Zerr et al. 2009; . Tab. 8.2).<br />

Im Verlauf der Erkrankung treten vielfältige neurologische Störungen auf,<br />

<strong>in</strong> manchen Verlaufstypen sogar vor Beg<strong>in</strong>n der kognitiven Defi zite. Häufi g<br />

entwickelt sich e<strong>in</strong>e fortschreitende spastische Lähmung der Extremitäten,<br />

begleitet von extrapyramidalmotorischen Zeichen wie Tremor <strong>und</strong> Rigor .<br />

Etwa die Hälft e der Patienten entwickelt im Krankheitsverlauf e<strong>in</strong>en ak<strong>in</strong>etischen<br />

Mutismus mit fl ießendem Übergang zum apallischen Syndrom.


8.1 · Kl<strong>in</strong>ische Diagnosekriterien<br />

. Tab. 8.1 Kl<strong>in</strong>ische Merkmale der sporadischen Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung (CJD)<br />

Kl<strong>in</strong>isches Merkmal Häufigkeit<br />

147<br />

Rasch progrediente Demenz von weniger als 2 Jahren Dauer 95%<br />

Typische EEG-Veränderungen (periodische Sharp-wave-Komplexe)<br />

oder positiver 14–3-3-Liquorbef<strong>und</strong><br />

75%<br />

Myoklonus, Sehstörungen oder zerebelläre Symptome 90%<br />

Pyramidale/extrapyramidale Störungen 70%<br />

Ak<strong>in</strong>etischer Mutismus 55%<br />

. Tab. 8.2 Revidierte kl<strong>in</strong>ische Diagnosekriterien für die sporadische Creutzfeldt-<br />

Jakob-Erkrankung (Zerr et al. 2009): zur Diagnose e<strong>in</strong>er wahrsche<strong>in</strong>lichen (»probable«)<br />

CJD müssen zwei A-Kriterien <strong>und</strong> m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> B-Kriterium erfüllt se<strong>in</strong>; zur Diag nose<br />

e<strong>in</strong>er möglichen (»possible«) CJD zwei A-Kriterien bei e<strong>in</strong>er Krankheitsdauer von<br />

bisher weniger als 2 Jahren<br />

A. Kl<strong>in</strong>ische Merkmale 1. Demenz<br />

2 Zerebelläre oder visuelle Symptome<br />

<strong>3.</strong> Pyramidale oder extrapyramidale Symptome<br />

4. Ak<strong>in</strong>etischer Mutismus<br />

B. Apparative Bef<strong>und</strong>e 1. Periodische scharfe Wellen (PSWCs, periodic sharp wave<br />

complexes) im EEG<br />

2. 14-3-3 im Liquor (bei e<strong>in</strong>er Krankheitsdauer von<br />

weniger als 2 Jahren)<br />

<strong>3.</strong> Hohe Signal<strong>in</strong>tensität <strong>in</strong> Caudatum <strong>und</strong> Putamen<br />

oder <strong>in</strong> m<strong>in</strong>destens zwei kortikalen Arealen<br />

(temporo-parieto-okzipital) entweder <strong>in</strong> DWI<br />

oder FLAIR (7 Kap. 20)<br />

8


8<br />

148 Kapitel 8 · Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung <strong>und</strong> andere Prionkrankheiten<br />

Andere Varianten können mit Ataxie oder Visusstörungen e<strong>in</strong>hergehen.<br />

Nach dem Entstehungs- bzw. Vererbungsmodus s<strong>in</strong>d unterschiedliche Formen<br />

der Prionkrankheiten zu diff erenzieren (. Tab. 8.3).<br />

E<strong>in</strong>e als »(variably) protease sensitive prionopathy« bezeichnete Erkrankung<br />

wurde kürzlich als neue Prionkranheit beschrieben (Zou et al. 2010).<br />

Histologisch fi nden sich nur sehr ger<strong>in</strong>ge spongiforme Veränderungen, das<br />

Prionprote<strong>in</strong> lässt sich mit Protease K leichter verdauen als bei der CJD. Ob<br />

diese neue Prionkrankheit <strong>in</strong>fektiös ist, ist noch unbekannt. Kl<strong>in</strong>isch werden<br />

Demenz, verschiedene psychiatrische Symptome <strong>und</strong> Bewegungsstörungen<br />

beschrieben.<br />

Verb<strong>in</strong>dliche kl<strong>in</strong>ische Diagnosekriterien für die neue Variante der CJD<br />

wurden <strong>in</strong>zwischen etabliert (www.cjd.ed.ac.uk). Die betroff enen Patienten<br />

s<strong>in</strong>d bislang jünger als bei anderen Formen der CJD, zeigen e<strong>in</strong>en längeren<br />

kl<strong>in</strong>ischen Verlauf mit ausgeprägten psychischen Störungen <strong>in</strong> frühen Stadien<br />

<strong>und</strong> der späteren Entwicklung von Ataxie, Myoklonie <strong>und</strong> Demenz. Die Histologie<br />

des Gehirns zeigt e<strong>in</strong> pathognostisches Bild, ebenso der Western-blot<br />

des Hirngewebes.<br />

Bei den akzidentiell (iatrogen) übertragenen Formen der CJD handelt es<br />

sich vorwiegend um progressive zerebelläre Störungen, Erkrankungen nach<br />

Behandlungen mit Hypophysenhormonen aus Leichenhypophysen oder um<br />

Patienten, die Merkmale e<strong>in</strong>er sporadischen CJD erfüllen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em anerkannten<br />

Risikofaktor ausgesetzt waren (z. B. Dura-mater-Transplantation,<br />

Corneatransplantation). E<strong>in</strong>e neue Studie ergab H<strong>in</strong>weise auf e<strong>in</strong> erhöhtes<br />

CJD-Risiko mit kürzerer Latenz nach neurochirurgischen <strong>und</strong> ophthalmologischen<br />

E<strong>in</strong>griff en im Vergleich zu abdom<strong>in</strong>alchirurgischen Operationen oder<br />

E<strong>in</strong>griff en an peripheren Nerven <strong>und</strong> Muskeln (De Pedro-Cuesta et al. 2010).<br />

8.2 Diff erenzialdiagnose<br />

Die Frühsymptome der CJD s<strong>in</strong>d unspezifi sch :<br />

4 Ermüdbarkeit,<br />

4 Wesensänderung,<br />

4 Gewichtsveränderungen bei abnormem Essverhalten ,<br />

4 Depressivität ,<br />

4 Schlafstörungen mit nachfolgenden visuellen oder zerebellären Symptomen.


8.2 · Differenzialdiagnose<br />

. Tab. 8.3 E<strong>in</strong>teilung der Prionkrankheiten<br />

149<br />

Idiopathisch CJD, tödliche Etwa 90% der Patienten<br />

(Sporadisch) Tödliche sporadische Insomnie Sehr selten<br />

Erworben Kuru Beseitigt<br />

Neue Variante der CJD Verursacht durch den BSE-<br />

Erreger, bisher ke<strong>in</strong> Patient <strong>in</strong><br />

der BRD; weltweit über 200<br />

Patienten (überwiegend <strong>in</strong><br />

Großbritannien)<br />

Iatrogene CJD Sehr selten<br />

Hereditär Familiäre (genetische) CJD 10–15% der Fälle<br />

Gerstmann-Sträussler-<br />

Sche<strong>in</strong>ker-Syndrom (GSS)<br />

Selten<br />

Tödliche familiäre Insomnie (FFI) Sehr selten<br />

CJD Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung, BSE bov<strong>in</strong>e spongiforme Enzephalopathie.<br />

8<br />

Bei e<strong>in</strong>er rasch progredienten Demenz muss gr<strong>und</strong>sätzlich auch an e<strong>in</strong>e Reihe<br />

anderer, z. T. behandelbarer Demenzformen gedacht werden (7 Kap. 15).<br />

Myokloni (plötzlich e<strong>in</strong>schießende unwillkürliche Kontraktionen) s<strong>in</strong>d abzugrenzen<br />

gegen e<strong>in</strong>e gesteigerte Schreckreaktion (Auslöser!), Tremor , Dysk<strong>in</strong>esien<br />

(Medikamentenexposition?), Chorea (fahrige, unregelmäßige, meist<br />

distale Bewegungsmuster), Tics (unwillkürliche Bewegungsabläufe e<strong>in</strong>schließende<br />

Stereotypien) <strong>und</strong> Faszikulationen (Muskelzuckungen ohne Bewegungseff<br />

ekt). Beim Vorliegen e<strong>in</strong>es Myoklonus ist pr<strong>in</strong>zipiell immer an metabolische<br />

Ursachen zu denken, Leberversagen , Urämie , Hypomagnesiämie ,<br />

hypoxische Hirnschäden <strong>und</strong> Intoxikationen mit Psychopharmaka (v. a. Neuroleptika<br />

<strong>und</strong> Antidepressiva). Myokloni können physiologisch beim E<strong>in</strong>schlafen<br />

<strong>und</strong> Aufwachen auft reten, sie s<strong>in</strong>d bei 10% der Patienten mit e<strong>in</strong>er<br />

Alzheimer-Demenz (AD) festzustellen, <strong>und</strong> sie s<strong>in</strong>d wichtiges Merkmal e<strong>in</strong>er<br />

Reihe von selteneren Erkrankungen (progressive Myoklonusepilepsie , zerebrale<br />

Lipofusz<strong>in</strong>ose Kufs , Sial<strong>in</strong>ose , subakut sklerosierende Panenzephalitis<br />

etc.).


8<br />

150 Kapitel 8 · Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung <strong>und</strong> andere Prionkrankheiten<br />

Jeder Patient mit e<strong>in</strong>em neu aufgetretenen Myoklonus bzw. mit e<strong>in</strong>em<br />

Verdacht auf CJD muss e<strong>in</strong>em Facharzt der Neurologie <strong>und</strong> Psychiatrie vorgestellt<br />

werden.<br />

Das Bild e<strong>in</strong>er CJD kann auch durch andere Demenzformen (AD , AIDS-<br />

Enzephalopathie , Park<strong>in</strong>son-Demenz , Chorea Hunt<strong>in</strong>gton , subakut sklerosierende<br />

Panenzephalitis , frontotemporale Hirndegeneration usw.), andere<br />

neurologische Erkrankungen (amyotrophe Lateralsklerose , Enzephalitiden ,<br />

multiple Sklerose ) <strong>und</strong> Schizophrenien mit Residualsyndrom , Dysk<strong>in</strong>esien<br />

<strong>und</strong> Myoklonus vorgetäuscht werden. Bei e<strong>in</strong>em Drittel der Patienten, deren<br />

kl<strong>in</strong>ische CJD-Diagnose neuropathologisch nicht bestätigt werden konnte,<br />

lagen metabolische, entzündliche (para-)neoplastische <strong>und</strong> andere potenziell<br />

reversible Erkrankungen zugr<strong>und</strong>e (He<strong>in</strong>emann et al. 2007).<br />

8.3 Epidemiologie<br />

Die Neuerkrankungsrate an CJD entspricht etwa 1:1 Mio. pro Jahr, wobei <strong>in</strong><br />

Deutschland von 1993 (0,7:1 Mio.) bis 2005 (1,6:1 Mio.) e<strong>in</strong> leichter Anstieg<br />

der Inzidenz registriert wurde (He<strong>in</strong>emann et al. 2007). Das mittlere Erkrankungsalter<br />

liegt bei etwa 65 Jahren. Frauen s<strong>in</strong>d etwas häufi ger betroff en als<br />

Männer (2:1). Die Lebenserwartung nach Diagnosestellung beträgt etwa 3–<br />

12 Monate. Sie ist bei den genetisch verankerten Formen <strong>und</strong> der neuen Variante<br />

der CJD etwas länger.<br />

8.4 Neurobiologie<br />

Das <strong>in</strong>fektiöse Agens der Prionkrankheiten wird als »Prion« bezeichnet. Prionen<br />

bestehen überwiegend, wenn nicht ausschließlich, aus e<strong>in</strong>em Prote<strong>in</strong>,<br />

der Scrapie-Isoform des Prionprote<strong>in</strong>s (PrPSc) . PrPSc entsteht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em wenig<br />

verstandenen Prozess aus e<strong>in</strong>em kupferb<strong>in</strong>denden, normalen zellulären<br />

Prote<strong>in</strong>, der zellulären Isoform des Prionprote<strong>in</strong>s (PrPC), das von dem Prionprote<strong>in</strong>gen<br />

(PRNP) auf Chromosom 20 kodiert wird. Die Reaktion PrPC zu<br />

PrPSc, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Konformationsänderung besteht, kann durch Prionen herbeigeführt<br />

werden (erworbene Prionkrankheiten), durch Mutationen des<br />

PRNP (Übersicht, s. unten) begünstigt werden (hereditäre Prionkrankheiten)<br />

<strong>und</strong> vermutlich spontan entstehen (idiopathische, sporadische Prionkrank-


8.5 · Therapie<br />

151<br />

8<br />

heiten). E<strong>in</strong> genetischer Polymorphismus bee<strong>in</strong>fl usst die Suszeptibilität <strong>und</strong><br />

Manifestationsform der Prionkrankheiten (Parchi et al. 1999, 2009).<br />

Häufi ge pathogene Mutationen im Bereich des Prionprote<strong>in</strong>gens<br />

auf Chromosom 20<br />

4 P102L als häufigste Ursache für das Gerstmann-Sträussler-Sche<strong>in</strong>ker-<br />

Syndrom<br />

4 D178 N als Ursache sowohl der familiären CJD als auch der familiären<br />

tödlichen Insomnie (FFI) <strong>in</strong> Abhängigkeit von Polymorphismus am<br />

Codon 129<br />

4 E200 K als häufigste Ursache der familiären CJD<br />

4 Insertionsmutationen mit äußerst variabler kl<strong>in</strong>ischer Manifestation<br />

Die genetische Untersuchung ist von Bedeutung, da nur 50% der Mutationsträger<br />

angeben, von e<strong>in</strong>er familiären Erkrankung zu wissen. Die Durchführung<br />

<strong>und</strong> Bewertung dieser genetischen Studien muss <strong>in</strong> jedem Fall spezialisierten<br />

Zentren vorbehalten bleiben.<br />

Die kl<strong>in</strong>ische Verdachtsdiagnose e<strong>in</strong>er CJD kann histologisch am Hirngewebe<br />

oder durch den Nachweis der Proteaseresistenz des PrPSc aus Hirngewebe<br />

(Western-blot) bewiesen werden. E<strong>in</strong> Immunoblot-Schnelltest zum<br />

Nachweis des proteaseresistenten PrPSc steht <strong>in</strong>zwischen auch für die Untersuchung<br />

möglicherweise <strong>in</strong>fi zierter Tiere zur Verfügung. Auch hier wird<br />

Hirngewebe für die Untersuchung benötigt. Geeignete Surrogatmarker s<strong>in</strong>d<br />

v. a. Prote<strong>in</strong> 14–3-3, möglicherweise auch sehr hohe Tau-Werte, e<strong>in</strong>e erhöhte<br />

neuronenspezifi sche Enolase sowie e<strong>in</strong> erhöhtes astrozytäres S100-Prote<strong>in</strong><br />

im Liquor .<br />

8.5 Therapie<br />

Derzeit steht ke<strong>in</strong>e kausale <strong>und</strong> eff ektive Behandlung für die CJD zur Verfügung.<br />

Symptomatische Th erapiemöglichkeiten stehen für die Myoklonien zur<br />

Verfügung, die <strong>in</strong>itial gut auf Clonazepam oder andere Benzodiazep<strong>in</strong>e ansprechen.<br />

Amphoteric<strong>in</strong> B, Amantad<strong>in</strong>, Interferon <strong>und</strong> Anthrazykl<strong>in</strong> haben<br />

sich bisher als nicht wirksam erwiesen. In Tierversuchen ergaben sich H<strong>in</strong>-


8<br />

152 Kapitel 8 · Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung <strong>und</strong> andere Prionkrankheiten<br />

weise auf e<strong>in</strong>e mögliche Verlängerung der Inkubationszeit durch immunsuppressiv<br />

wirksame Substanzen (Kortison ) oder Stoff gruppen, die das retikuloendotheliale<br />

System (RES) blockieren (Dextransulfat ), da B-Lymphozyten<br />

oder andere Zellen des RES zum Transport der Prionprote<strong>in</strong>e <strong>in</strong> das ZNS beitragen.<br />

Die Gabe von Glukokortikoiden wird nach Hautkontakten mit <strong>in</strong>fi -<br />

ziertem Gewebe empfohlen.<br />

Durch das Fehlen eff ektiver Th erapiemöglichkeiten hat die genetische Beratung<br />

bei familiären Formen <strong>und</strong> die Prävention durch Vermeiden von Infektionsquellen<br />

besondere Bedeutung. So ist es derzeit nicht vertretbar, den<br />

Verzehr von R<strong>in</strong>d- <strong>und</strong> Schaffl eisch unbekannter Herkunft für unbedenklich<br />

zu erklären.<br />

Literatur<br />

Coll<strong>in</strong>ge J, Palmer MS (1997) Prion diseases. Oxford University Press, Oxford<br />

De Pedro-Cuesta J, Mahillo-Fernandez I, Rabano A et al (2010) Nosocomial transmission of<br />

sporadic Creutzfeldt-Jakob disease: results from a risk-based assessment of surgical <strong>in</strong>terventions.<br />

J Neurol Neurosurg Psychiatry 82(2): 204–212<br />

Jakob A (1921) Über eigenartige Erkrankungen des Zentralnervensystems mit bemerkenswerten<br />

anatomischen Bef<strong>und</strong>en (spastische Pseudosklerose-Encephalo-Myelopathie<br />

mit dissem<strong>in</strong>ierten Degenerationsherden). Dtsch Z Nervenkeilkd 70: 132–146<br />

He<strong>in</strong>emann U, Krasnianski A, Meissner B et al (2007) Creutzfeldt-Jakob disease <strong>in</strong> Germany:<br />

a prospective 12-year surveillance. Bra<strong>in</strong> 130: 1350–1359<br />

Kretzschmar H, Poser S (2001) Übertragbare spongiforme Enzephalopathien (Prion-Krankheiten).<br />

In: Beyreuther K, E<strong>in</strong>häupl K, <strong>Förstl</strong> H, Kurz A (<strong>Hrsg</strong>) <strong>Demenzen</strong>. Thieme, Stuttgart<br />

Meissner B, Kallenberg K, Sanchez-Juan P et al (2009). MRI lesion profi les <strong>in</strong> sporadic<br />

Creutzfeldt-Jakob disease. Neurology 72: 1994–2001<br />

Otto M, Zerr I, Wiltfang J et al (1999) Laborchemische Verfahren <strong>in</strong> der Diff erentialdiagnose<br />

der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. Dtsch Ärztebl 96: C-2248–2253<br />

Parchi P, Giese A, Capellari S et al (1999) Classifi cation of sporadic Creutzfeldt-Jakob disease<br />

based on molecular and phenotypic analysis of 300 subjects. Ann Neurol 46: 224–233<br />

Parchi P, Strammiello R, Notari S et al (2009) Incidence and spectrum of sporadic Creutzfeldt-<br />

Jakob disease variants with mixed phenotype and co-occurrence of PrPSC types: an updated<br />

classifi cation. Acta Neuropathol 118: 659–671<br />

Ridley RM, Baker HF (1998) Fatal prote<strong>in</strong>. The story of CJD, BSE and other prion diseases.<br />

Oxford University Press, Oxford<br />

Zerr I, Kallenberg K, Summers DM et al (2009) Updated cl<strong>in</strong>ical diagnostic criteria for sporadic<br />

Creutzfeldt-Jakob disease. Bra<strong>in</strong> 132: 2659–2668


Literatur<br />

153<br />

8<br />

Zou WQ, Puoti G, Xiao X et al (2010) Variably protease-sensitive prionopathy: a new sporadic<br />

disease of the prion prote<strong>in</strong>. Ann Neurol 68: 162–172<br />

Kontaktadresse zur Bestimmung genetischer Marker<br />

der Prionkrankheiten (Blut), der Liquormarker<br />

<strong>und</strong> zur Diagnosestellung aus Hirngewebe:<br />

Prof. Dr. <strong>Hans</strong> A. Kretzschmar, Institut für Neuropathologie, Universitäts kl<strong>in</strong>ikum Großhadern,<br />

Feodor-Lynen-Str. 23, 81377 München, Tel. 089-2180-78000, Fax 089-2180-78037


155<br />

Pick-Komplex: frontotemporale<br />

Lobärdegenerationen<br />

Adrian Danek<br />

9.1 E<strong>in</strong>führung – 156<br />

9.2 Kl<strong>in</strong>ische Syndrome bei FTLD – 158<br />

9.2.1 Gr<strong>und</strong>lagen – 158<br />

9.2.2 Frontotemporale Demenz – 160<br />

9.2.3 Progrediente unfl üssige Aphasie – 161<br />

9.2.4 Semantische Demenz – 162<br />

9.2.5 Klüver-Bucy-Syndrom – 163<br />

9.2.6 Aprosodie, Amusie, Apraxie <strong>und</strong> andere fokale<br />

neuropsychologische Symptome – 164<br />

9.3 Diagnostik – 165<br />

9.<strong>3.</strong>1 Kl<strong>in</strong>ik – 165<br />

9.<strong>3.</strong>2 Neuropsychologie <strong>und</strong> Psychometrie – 166<br />

9.<strong>3.</strong>3 Bildgebung – 166<br />

9.<strong>3.</strong>4 Blut- <strong>und</strong> Liquoruntersuchungen – 168<br />

9.<strong>3.</strong>5 Elektrophysiologie – 168<br />

9.4 Neuropathologische Bef<strong>und</strong>e – 168<br />

9.4.1 Makropathologie – 168<br />

9.4.2 Histopathologie – 169<br />

9.5 Pharmakotherapie – 171<br />

Literatur – 172<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_9,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

9


9<br />

156 Kapitel 9 · Pick-Komplex: frontotemporale Lobärdegenerationen<br />

Zum Thema<br />

Die als »Pick-Komple x« oder »frontotemporale Lobärdegeneratione n« (FTLD)<br />

zusammengefasste Krankheitsgruppe ohne Alzheimer-Pathologie wird für bis zu<br />

20% aller <strong>Demenzen</strong> verantwortlich gemacht. Die drei prototypischen kl<strong>in</strong>ischen<br />

Bilder bei FTLD s<strong>in</strong>d frontotemporale Demenz, progrediente unflüssige Aphasie<br />

<strong>und</strong> semantische Demenz. Das Erkennen dieser Krankheitsgruppe hat große<br />

prognostische <strong>und</strong> differenzialtherapeutische Bedeutung. Serotonerge Medikamente<br />

s<strong>in</strong>d symptomatisch vermutlich wirksamer als zentrale Chol<strong>in</strong>esterasehemmer.<br />

9.1 E<strong>in</strong>führung<br />

Arnold Pick berichtete um 1900 über Patienten mit Aphasi e <strong>und</strong> Demenz, bei<br />

denen postmortal Atrophien umschriebener Regionen der Hirnr<strong>in</strong>de auffi<br />

elen. Alois Alzheimer führte bei solchen Patienten histologische Untersuchungen<br />

durch <strong>und</strong> beschrieb erstmals die mit Silberfärbungen dargestellten<br />

Nervenzelle<strong>in</strong>schlüsse, die später als »Pick-Körper« bekannt wurden.<br />

Der Begriff »Picksche Krankheit« kam <strong>in</strong> den 1920er Jahren auf <strong>und</strong> bezeichnete<br />

– bei Ausschluss anderer <strong>Demenzen</strong> – den neuropathologischen<br />

Bef<strong>und</strong> der Atrophie von Stirn- <strong>und</strong> Schläfenlappen mit Nervenzellausfall <strong>in</strong><br />

den R<strong>in</strong>denschichten I‒III. Marsel Mesulam beschrieb 1982 »primäre progrediente<br />

Aphasie« als verme<strong>in</strong>tlich neue kl<strong>in</strong>ische Entität <strong>und</strong> stieß damit die<br />

Diskussion über fokale kortikale Atrophien wieder an. »Frontotemporale Lobärdegenerationen«<br />

(FTLD) hat sich <strong>in</strong> den letzten Jahren als zusammenfassender<br />

Begriff durchgesetzt.<br />

Trotz neuer Konsenskriterien <strong>und</strong> verfe<strong>in</strong>erter Kenntnis der histologischen<br />

Korrelate gibt es noch ke<strong>in</strong>e Klassifi kation, die Kl<strong>in</strong>ik, Pathologie <strong>und</strong><br />

Genetik vollständig umfasst.<br />

Die prototypischen kl<strong>in</strong>ischen Bilder bei FTLD (frontotemporale Demen<br />

z, progrediente unfl üssige Aphasi e <strong>und</strong> semantische Demen z) lassen sich<br />

durch genaue Beachtung des neurologischen, psychiatrischen <strong>und</strong> neuropsychologischen<br />

Bef<strong>und</strong>es dennoch ausreichend gut diagnostizieren. Seltenere<br />

FTLD-Manifestationen zeigen ebenfalls langsam fortschreitende fokale Hirnleistungsstörungen,<br />

wobei parietale Symptome untypisch s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>e FTLD<br />

kann sich auch als Motoneuronerkrankung, Park<strong>in</strong>son-Syndrom, progressive<br />

Blickparese oder kortikobasales Syndrom äußern.


9.1 · E<strong>in</strong>führung<br />

Die Abgrenzung von e<strong>in</strong>er Alzheimer-Demen z (AD) bleibt weiterh<strong>in</strong><br />

schwierig. Bildgebende Verfahren zeigen bei FTLD e<strong>in</strong>e frontale <strong>und</strong>/oder<br />

temporale, oft asymmetrische Atrophie <strong>in</strong> CT oder MRT <strong>und</strong> analog dazu<br />

verteilte hypometabole Regionen <strong>in</strong> SPECT oder FDG-PET. Neue PET-Methoden<br />

zeigen bei AD die Ablagerung von Amyloid, während sie bei FTLD<br />

negativ ausfallen.<br />

E<strong>in</strong>e eigenständige fokale Degeneration ist die posteriore kortikale Atrophi<br />

e, bei der parietale Symptome wie optische Ataxi e, okulomotorische Apraxi<br />

e <strong>und</strong> Simultanagnosi e (als Trias: Bal<strong>in</strong>t-Syndro m) oder Neglek t, Lese- <strong>und</strong><br />

Sehstörunge n vorherrschen (Karner et al. 2006). Dieses Syndrom zeigt histologisch<br />

meist Alzheimer-Veränderungen.<br />

Auch für die sog. logopenische Variante der primär progredienten Aphasi<br />

e gilt e<strong>in</strong>e Alzheimer-Histologie als verantwortlich. Obligate Kernmerkmale<br />

dieses neu abgegrenzten Syndroms s<strong>in</strong>d Wortfi ndungsstörunge n (Spontansprache/Benennen)<br />

<strong>und</strong> gestörtes Nachsprechen auf Satzebene, dazu kommen<br />

sek<strong>und</strong>äre Merkmale wie phonematische Paraphasie n, <strong>in</strong>taktes E<strong>in</strong>zelwortverständnis<br />

<strong>und</strong> Objektwissen, Fehlen e<strong>in</strong>er Sprechstörung sowie <strong>in</strong>takte<br />

Grammatik (Henry u. Gorno-Temp<strong>in</strong>i 2010).<br />

FTLD s<strong>in</strong>d für etwa 20% aller <strong>Demenzen</strong> verantwortlich, <strong>und</strong> praktisch<br />

alle Fälle s<strong>in</strong>d heute postmortal durch den Typus der vorhandenen Prote<strong>in</strong>e<strong>in</strong>schlüsse<br />

klassifi zierbar (7 9.4.2). Zur Früherkennung ist man auf die kl<strong>in</strong>ische<br />

Bef<strong>und</strong>erhebung angewiesen, psychometrische »Frontalhirn-Verfahren«<br />

werden laufend verbessert. Risikofaktoren s<strong>in</strong>d nicht bekannt. E<strong>in</strong>e präsymptomatische<br />

Diagnostik ist außer <strong>in</strong> Familien mit gesicherter Mutation<br />

nicht möglich.<br />

M<strong>in</strong>destens die Hälft e der Patienten mit FTLD zeigt e<strong>in</strong>e positive Familienanamnese.<br />

Am häufi gsten sche<strong>in</strong>en Mutationen im Gen für den Wachstumsfaktor<br />

Progranuli n, gefolgt von Tau-Gen-Mutatione n. Beide Gene liegen<br />

benachbart auf Chromosom 1 7, was die Trennung der beiden FTLD-Varianten<br />

sehr erschwert hatte. Innerhalb e<strong>in</strong>er Familie mit identischer Mutation<br />

kann sich die Erkrankung aber unter so unterschiedlichen neurologischen<br />

Bildern wie Park<strong>in</strong>son-Syndro m, Motoneuronerkrankun g, progressive Blickpares<br />

e, Epilepsi e neben der Vielzahl von neuropsychologischen <strong>und</strong> psychiatrischen<br />

Symptomen äußern (aktuelles Verzeichnis der Mutationen: www.<br />

molgen.ua.ac.be/FTDMutations).<br />

In der <strong>Praxis</strong>, <strong>in</strong> der e<strong>in</strong>e neuropathologische Zuordnung nicht möglich<br />

ist, muss gerade zu Beg<strong>in</strong>n des Krankheitsverlaufs die Abgrenzung von ande-<br />

157<br />

9


9<br />

158 Kapitel 9 · Pick-Komplex: frontotemporale Lobärdegenerationen<br />

ren <strong>Demenzen</strong>, <strong>in</strong>sbesondere von der AD, versucht werden. Dies hat Konsequenzen<br />

v. a. für die Prognose, derzeit aber noch kaum für die Th erapie. Neben<br />

der Verwendung von Mutationen als Biomarker zur Abgrenzung gegenüber<br />

der AD kann <strong>in</strong> spezialisierten Zentren e<strong>in</strong>e nuklearmediz<strong>in</strong>ische Amyloiddarstellung<br />

<strong>in</strong>frage kommen. Während bei AD mit den e<strong>in</strong>gesetzten neuen<br />

PET-Spürsubstanzen e<strong>in</strong>e Ablagerung von Amyloi d nachzuweisen ist, ist<br />

das »Plaque Imag<strong>in</strong>g« – bei wenigen falsch-positiven Bef<strong>und</strong>en – bei FTLD<br />

zumeist negativ (Grimmer et al. 2010).<br />

Kl<strong>in</strong>isch-pragmatisch hilfreich s<strong>in</strong>d die FTLD-Kriterien von Neary <strong>und</strong><br />

Mitarbeitern (1998). In der für 2011 angekündigten Überarbeitung der Konsenskriterien<br />

werden die e<strong>in</strong>zelnen Symptome noch detaillierter als bisher<br />

angegeben, <strong>und</strong> Bildgebung wird zusätzlich zur Diagnostik herangezogen.<br />

Die Prognose der meist im Alter von 40–60 Jahren schleichend beg<strong>in</strong>nenden<br />

Erkrankung ist <strong>in</strong>faust. Der knapp 10-jährige Verlauf bedeutet bei<br />

fehlender Krankheitse<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong>e erhebliche Belastung für das soziale Umfeld<br />

aufgr<strong>und</strong> der oft schweren Störungen im Verhalten. Sie treten häufi g als erste<br />

Symptome auf <strong>und</strong> können zur Diagnose e<strong>in</strong>er endogenen Psychose führen.<br />

Die Fahrtauglichke it ist frühzeitig e<strong>in</strong>geschränkt.<br />

9.2 Kl<strong>in</strong>ische Syndrome bei FTLD<br />

9.2.1 Gr<strong>und</strong>lagen<br />

Anatomische Gr<strong>und</strong>lagen<br />

Anatomische Gr<strong>und</strong>lage der drei als prototypisch herausgestellten Syndrome<br />

ist die topographisch unterschiedliche Ausprägung des degenerativen Prozess<br />

es:<br />

4 Die frontotemporale Deme nz (FTD) ist Ausdruck e<strong>in</strong>er Atrophie des medialen<br />

<strong>und</strong> orbitalen Frontallappens <strong>und</strong>/oder des vorderen Temporallappens.<br />

4 Die progrediente unfl üssige Aphas ie (PA) ist Ausdruck e<strong>in</strong>er asymmetrischen,<br />

l<strong>in</strong>ks-frontolateral betonten Atrophie.<br />

4 Die semantische Deme nz (SD) ist Ausdruck e<strong>in</strong>er l<strong>in</strong>ks-temporalen Atrophie.


9.2 · Kl<strong>in</strong>ische Syndrome bei FTLD<br />

159<br />

9<br />

Auch Basalganglien <strong>und</strong> Motoneurone können bei FTLD betroff en se<strong>in</strong>, sodass<br />

die Diagnose auch bei amyotropher Lateralsklero se mit Demenz <strong>und</strong> atypischen<br />

Park<strong>in</strong>son-Syndromen zu diskutieren ist. Progrediente supranukleäre<br />

Blickparese <strong>und</strong> kortikobasales Syndr om s<strong>in</strong>d ebenfalls Erkrankungen mit<br />

Tau-Prote<strong>in</strong>-E<strong>in</strong>schlüssen.<br />

Verlauf<br />

E<strong>in</strong> Beg<strong>in</strong>n der Krankheit im Alter um 40–60 Jahre dürft e am häufi gsten se<strong>in</strong>,<br />

bei e<strong>in</strong>er Spanne von 21‒85 Jahren. Sie entwickelt sich langsam aus e<strong>in</strong>em der<br />

drei fokal betonten, prototypischen Syndrome zur schweren generalisierten<br />

Erkrankung. Frontotemporale <strong>und</strong> semantische Demenz beg<strong>in</strong>nen mit etwa<br />

58 Jahren <strong>und</strong> betreff en <strong>in</strong> zwei Dritteln der Fälle Männer, während progrediente<br />

Aphasie bei Frauen häufi ger ist <strong>und</strong> um 63 Jahre beg<strong>in</strong>nt. Die Erkrankungsdauer<br />

liegt bei 6‒8 Jahren (aber auch 2‒20 Jahre). Sehr kurze Verläufe<br />

(um 3 Jahre) fi ndet man bei frühzeitiger Motoneuronbeteiligung. Risikofaktoren<br />

außer der familiären Häufung s<strong>in</strong>d nicht bekannt.<br />

Allgeme<strong>in</strong>e diagnostische Kriterien<br />

für frontotemporale Lobärdegenerationen (Neary et al. 1998 )<br />

4 Unterscheidung von drei prototypischen kl<strong>in</strong>ischen Syndromen:<br />

4 FTD: frontotemporale Demenz<br />

4 PA: progrediente unflüssige Aphasie<br />

4 SD: semantische Demenz<br />

4 Geme<strong>in</strong>sames Kernsymptom:<br />

4 Schleichender Beg<strong>in</strong>n <strong>und</strong> langsame Progredienz<br />

4 Unterstützend:<br />

4 Beg<strong>in</strong>n < 65 Jahre<br />

4 Positive Familienanamnese<br />

4 Bulbärparaly se, atrophische Pares en, Faszikulation en<br />

4 Ausschlusskriterien:<br />

4 Beg<strong>in</strong>n schlagartig oder mit Schädel-Hirn-Trau ma oder mit<br />

schwerer Gedächtnisstörung, räumliche Orientierungsstörung,<br />

Logoklon ie mit Gedankenabreißen, Myoklo ni, zentrale Paresen,<br />

zerebelläre Atax ie, Choreoatheto se<br />

6


9<br />

160 Kapitel 9 · Pick-Komplex: frontotemporale Lobärdegenerationen<br />

4 Bildgebung mit multifokalen oder vornehmlich postzentral lokalisierten<br />

Veränderungen<br />

4 H<strong>in</strong>weise auf metabolische oder entzündliche Erkrankungen des<br />

Gehirns (wie MS, Lu es, AI DS, Herpes-Enzephalit is)<br />

4 Relativ: chronischer Alkoholismus, chronische Hypertonie oder<br />

Vaskulopathie <strong>in</strong> der Anamnese<br />

9.2.2 Frontotemporale Demenz<br />

Im Vordergr<strong>und</strong> stehen Persönlichkeitsveränderu ng <strong>und</strong> Störung der Sozialbeziehung<br />

en.<br />

Bei der frontotemporalen Demenz (FT D) kommt es zu berufl icher <strong>und</strong><br />

sozialer Unzuverlässigkeit, zur Missachtung von Normen, zu Taktlosigke it,<br />

verändertem Sexualleben <strong>und</strong> auch krim<strong>in</strong>ellen Delikt en. Praktisch wichtig<br />

ist die schon früh bee<strong>in</strong>trächtigte Fahrtauglichke it, die e<strong>in</strong> aktives ärztliches<br />

Vorgehen erfordert, ggf. auch um e<strong>in</strong>e Entziehung der Fahrerlaubnis zu veranlassen<br />

(Ernst et al. 2010).<br />

Apath ie <strong>und</strong> sozialer Rückz ug, aber auch Unru he, Hyperaktivit ät <strong>und</strong><br />

Wandertri eb s<strong>in</strong>d Ausdruck der gestörten Fähigkeit, Verhalten zu steuern. Die<br />

Patienten, denen das Krankheitsbewusstse<strong>in</strong> fehlt, werden meist von Angehörigen<br />

nach e<strong>in</strong>er familiären Krise vorgestellt. Dabei kann es zur Verwechslung<br />

mit e<strong>in</strong>er endogenen Psychose kommen.<br />

E<strong>in</strong> apathischer, »pseudoneurasthenischer« Typ wird mit Atrophie des<br />

dorsolateralen Frontallappens <strong>in</strong> Zusammenhang gesehen, e<strong>in</strong> dis<strong>in</strong>hibierter,<br />

»pseudopsychopathischer« Typ mit frontoorbitaler Atrophie. Man kann auch<br />

frontale <strong>und</strong> temporale Varianten bei FTD herausarbeiten. Ferner gibt es<br />

Überschneidungen mit dem Klüver-Bucy-Synd rom (7 9.2.5).<br />

Im neurologischen Bef<strong>und</strong> s<strong>in</strong>d Primitivrefl exe wie Greif-, Glabella-,<br />

Schnauz- <strong>und</strong> Palmomentalrefl ex (»frontale Enthemmungszei chen«) zu beobachten,<br />

ferner auch Park<strong>in</strong>son-Symptome. Im Verlauf werden Rituale komplexer<br />

Art (wie vorwiegende Beschäft igung mit Kreuzworträtseln) von e<strong>in</strong>fachen<br />

Ritualen (wie rhythmisches Klatschen) abgelöst. Wenig bee<strong>in</strong>trächtigt<br />

bleiben S<strong>in</strong>nesfunktionen, räumlich-konstruktive (»parietale«) Leistungen,<br />

<strong>Praxis</strong> <strong>und</strong> Gedächtnis.


9.2 · Kl<strong>in</strong>ische Syndrome bei FTLD<br />

Kl<strong>in</strong>ische Kriterien für frontotemporale Demenz (Neary et al. 1 998)<br />

4 Kernsymptome (sämtlich frühzeitig auftretend):<br />

4 Verfall der Sozialbeziehungen (taktloses, enthemmtes bis krim<strong>in</strong>elles<br />

Verhalten)<br />

4 Bee<strong>in</strong>trächtigte Steuerung des eigenen Verhaltens (Apa thie bis<br />

Rastlosigkeit <strong>und</strong> Wandert rieb)<br />

4 Verflachter Affekt (Gefühlskälte <strong>und</strong> Verlust von Sympathie)<br />

4 Fehlende Krankheitse<strong>in</strong>sicht<br />

4 Stützend:<br />

4 Verhaltensstöru ngen: bee<strong>in</strong>trächtigte Körperpflege, geistige<br />

Unbeweglichkeit, vermehrte Ablenkbarkeit/fehlende Ausdauer,<br />

hyperorales Verhalten/veränderte Ernährungs- <strong>und</strong><br />

Tr<strong>in</strong>kgewohnheiten/Esss ucht, Perseverationen/Stereotypie, utilization<br />

beha vior, d. h. unaufgeforderte Objektnutzung<br />

4 Sprech- <strong>und</strong> Sprachstöru ngen: veränderte Sprachproduktion mit<br />

fehlender Spontaneität <strong>und</strong> Wortkargheit oder mit Sprechdrang,<br />

Stereot ypie, Echol alie, Perseveration/Palil alie, Muti smus<br />

4 Neurologische Bef<strong>und</strong>e: Primitivref lexe, Inkonti nenz, Aki nese/<br />

R igor/Tr emor, labile Hypot onie<br />

9.2.3 Progrediente unfl üssige Aphasie<br />

161<br />

9<br />

E<strong>in</strong>e Störung der Sprachproduktion herrscht bei der progredienten unfl üssigen<br />

Aphasie (PA) im gesamten Verlauf vor.<br />

Kl<strong>in</strong>ische Kriterien für progrediente unfl üssige Aphasie<br />

(Neary et al. 1 998)<br />

4 Kernsymptom:<br />

4 Unflüssige Spontansprache mit Agrammati smus (Telegrammstil),<br />

phonematischen Parapha sien (Lautfehler) oder Wortf<strong>in</strong>dungs- <strong>und</strong><br />

Benennstöru ngen<br />

6


9<br />

162 Kapitel 9 · Pick-Komplex: frontotemporale Lobärdegenerationen<br />

4 Unterstützend:<br />

4 Weitere Sprech- <strong>und</strong> Sprachsymptome (Stottern oder<br />

Sprechapraxie, gestörtes Nachsprechen, der Spontansprache analoge<br />

Lese- <strong>und</strong> Schreibfehler; <strong>in</strong>itial ungestörtes<br />

Worts<strong>in</strong>nverstän dnis, Mutismus erst spät)<br />

Andere kognitive Bereiche als die Sprachexpression s<strong>in</strong>d kaum betroff en. Verhaltensstörungen<br />

<strong>und</strong> neurologische Bef<strong>und</strong>e wie bei FTD treten nicht regelhaft<br />

auf <strong>und</strong> wenn, dann mit e<strong>in</strong>deutiger Latenz zur Sprachstörung.<br />

9.2.4 Semantische Demenz<br />

> Im Vordergr<strong>und</strong> des Syndroms der semantischen Demenz steht die<br />

Störung des Bedeutungsgehalts (Semantik). Dies äußert sich als<br />

gestörtes Verständnis des S<strong>in</strong>ns von Wörtern (semantische Aph asie)<br />

<strong>und</strong>/oder als gestörtes Wissen um Objekte (assoziative Agn osie).<br />

Im Gegensatz zur PA treten im Sprachgebrauch ke<strong>in</strong>e Lautfehler, sondern Bedeutungsfehler<br />

auf (also semanti sche statt phonematische Paraphasien). Das<br />

Worts<strong>in</strong>nverständnis muss nicht nur mit Benenn- <strong>und</strong> Zeigeaufgaben (»Wie<br />

heißt das?«, »Zeigen Sie mir den Tisch!«), sondern auch mit Defi nitionen<br />

(»Was ist e<strong>in</strong> ...?«) überprüft werden. Bemerkenswert ist, dass Teilbereiche<br />

verschieden stark gestört se<strong>in</strong> können, etwa Namen von Tieren <strong>und</strong> Pfl anzen<br />

<strong>in</strong> anderer Ausprägung als Werkzeugnamen.<br />

Kl<strong>in</strong>ische Kriterien für semantische Demenz (Neary et al. 1 998)<br />

4 Kernsymptome:<br />

4 Sprachstörung oder/<strong>und</strong> Störung des Erkennens (flüssige, dabei<br />

<strong>in</strong>haltsleere Spontansprache, Benennstörung mit Verlust des<br />

Worts<strong>in</strong>nverständn isses, semantische Paraphasien bzw. Störung<br />

des Erkennens ehemals vertrauter Gesichter/Prosopag nosie <strong>und</strong>/<br />

oder visuelle oder taktile Objektag nosie) 7


9.2 · Kl<strong>in</strong>ische Syndrome bei FTLD<br />

4 Intaktes Zuordnen von Bildern <strong>und</strong> ungestörtes Abzeichnen<br />

4 Ungestörtes Nachsprechen e<strong>in</strong>zelner Wörter<br />

4 Ungestörtes Vorlesen <strong>und</strong> Schreiben von Wörtern, die nicht von<br />

Rechtschreibregeln abweichen<br />

4 Unterstützend:<br />

4 Weitere Sprech- <strong>und</strong> Sprachsymptome (Sprechdrang, eigenartiger<br />

Wortgebrauch, Oberflächendyslexie/-dysgraphie; dabei Fehlen von<br />

phonematischen Paraphasien <strong>und</strong> ungestörtes Rechnen)<br />

4 Verhaltensstörungen (Verlust von Empathie <strong>und</strong> Sympathie,<br />

Interessene<strong>in</strong>engung, übertriebene Sparsamkeit/Geiz)<br />

4 Neurologische Bef<strong>und</strong>e (Primitivreflexe, wenn überhaupt erst spät;<br />

Ak<strong>in</strong>ese/Rigor/Tremor)<br />

163<br />

9<br />

Das die Diagnose unterstützende Symptom der Oberfl ächendyslexie/-dysgraphie<br />

ist dadurch gekennzeichnet, dass nicht auf das »tiefe« Wissen um e<strong>in</strong><br />

Wort zurückgegriff en wird (synonym: lexikalische Dys lexie/Dysgr aphie). Die<br />

Sprachverarbeitung bleibt an der Oberfl äche der Wörter, der simplen Korrespondenz<br />

von Lauten <strong>und</strong> Buchstaben. Im Deutschen mit se<strong>in</strong>en wenigen<br />

Ausnahmen zwischen Schreibung <strong>und</strong> Aussprache äußert sich die Störung<br />

v. a. <strong>in</strong> Rechtschreibfehlern (im Englischen v. a. als Aussprachefehler beim<br />

Vorlesen). Wie Erstklässler schreiben die Patienten nach dem Gehör <strong>und</strong> ohne<br />

Wissen um die Worte (»Schtern, Anzuk, Kohr, liba, fon, vüa« statt »Stern,<br />

Anzug, Chor, lieber, von, für«).<br />

Man muss als Untersucher ferner darauf achten, ob Fehler beim Objektgebrauch<br />

auft reten <strong>und</strong> ob das Wissen um die Funktion von Objekten gestört ist<br />

(z. B. »Was machen Sie mit e<strong>in</strong>em Hammer?«).<br />

Andere kognitive Bereiche s<strong>in</strong>d bei semantischer Demenz kaum bee<strong>in</strong>trächtigt.<br />

9.2.5 Klüver-Bucy-Syndrom<br />

> Die drei Leitsymptome des Klüver-Bucy-Syn droms s<strong>in</strong>d Hyperora lität,<br />

Hypersexua lität <strong>und</strong> »Hypermetamor phosis« (gesteigerte Ablenkbarkeit<br />

durch enthemmte motorische Beschäftigung mit Objekten).


9<br />

164 Kapitel 9 · Pick-Komplex: frontotemporale Lobärdegenerationen<br />

Von den Amerikanern He<strong>in</strong>rich Klüver <strong>und</strong> Paul Bucy bei Aff en mit beidseitigen<br />

Temporalpollä sionen 1939 erstmals beschrieben, tritt das Syndrom auch<br />

beim Menschen nach Läsionen <strong>in</strong> dieser Region auf, wie z. B. bei FTLD mit<br />

bitemporaler At rophie.<br />

Charakteristisch ist e<strong>in</strong>e Beobachtung von Poeck an e<strong>in</strong>em Patienten mit<br />

progredienter A phasie. Gegen Ende se<strong>in</strong>es 14-jährigen Krankheitsverlaufs<br />

versuchte dieser, Ungenießbares wie Seife oder die eigenen Kleider zu verzehren.<br />

Fälle von Bo lustod aufgr<strong>und</strong> der enthemmten »Fres ssucht« s<strong>in</strong>d beschrieben.<br />

Häufi g kommt es bei FTLD zu massiver Gewichtszunahme durch unkontrollierten<br />

Verzehr v. a. von Süßigkeiten: Das Sättigungsgefühl sche<strong>in</strong>t zu<br />

fehlen.<br />

9.2.6 Aprosodie, Amusie, Apraxie <strong>und</strong> andere<br />

fokale neuropsychologische Symptome<br />

In zahlreichen Kasuistiken wurden neuropsychologische Symptome mit weitgehend<br />

isoliertem Auft reten <strong>und</strong> nur langsamer Progression herausgearbeitet.<br />

Dazu gehören Ap rosodie <strong>und</strong> Amusie als Störungen der Sprachmelodie bzw.<br />

der Musikalität (z. B. gestörtes Notenlesen/-schreiben, Musizieren, Rhythmusgefühl).<br />

E<strong>in</strong>e progrediente Apraxie kann ebenfalls relativ isoliert auft reten,<br />

ist aber als Teil des kortikobasalen Syndroms zu beobachten. Plakativ<br />

herausgestellt wird hierbei der Bef<strong>und</strong> ali en hand oder alien limb, der freilich<br />

nicht verb<strong>in</strong>dlich defi niert ist. Meist geht es um e<strong>in</strong> vom Patienten angegebenes<br />

Fremdheitsgefühl oder e<strong>in</strong>e Ungeschicklichkeit e<strong>in</strong>es »ungehorsamen,<br />

anarchischen« Arms. Neben der Seitenbetonung von neurologischen Bef<strong>und</strong>en<br />

werden beim kortikobasalen Syndrom auch zentrale Störungen der Sensibilität<br />

herausgestellt (7 Kap. 7).<br />

> Pragmatisch wird man bei Patienten mit Symptomen, die als temporaler<br />

oder frontaler Lokalbef<strong>und</strong> zu <strong>in</strong>terpretieren s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>e der frontotemporalen<br />

Lobärdegenerationen vermuten. Parietale <strong>und</strong> okzipitale<br />

Symptome wie beim Syndrom »posteriore kortikale A trophie« s<strong>in</strong>d<br />

eher Alzheimer-verdächtig. Bei FTLD s<strong>in</strong>d Aufgaben mit räumlichem<br />

Charakter (wie freies Zeichnen, Kopieren, Konstruktion mit Blöcken)<br />

erst <strong>in</strong> sehr späten Phasen gestört.


9.3 · Diagnostik<br />

9.3 Diagnostik<br />

9.<strong>3.</strong>1 Kl<strong>in</strong>ik<br />

165<br />

9<br />

> Zur Diagnostik stehen bei FTLD die kl<strong>in</strong>ische Untersuchung höherer<br />

Hirnleistungen <strong>und</strong> der psychopathologische Bef<strong>und</strong> ganz im Vordergr<strong>und</strong>.<br />

Damit wesentliche H<strong>in</strong>weise nicht übersehen werden, ist e<strong>in</strong>e<br />

ausführliche Anamnese über Dritte unumgänglich.<br />

Die <strong>in</strong>dividuelle Ausprägung der Symptome (7 9.2) entscheidet darüber, ob<br />

bei e<strong>in</strong>em Patienten anfänglich eher e<strong>in</strong>e psychische oder e<strong>in</strong>e neurologische<br />

Krankheit vermutet wird. Als Untersucher sollte man sich auch derjenigen<br />

Symptome annehmen, die von der Ausbildung her ferner liegen.<br />

Zur Untersuchung der höheren Hirnleistungen gehören <strong>in</strong> jedem Fall e<strong>in</strong>ige<br />

Sprachprüfungen (Spontansprache, Sprachverständnis, Benennen, Nachsprechen,<br />

Lesen, Schreiben) sowie e<strong>in</strong>ige räumlich-konstruktive Aufgaben<br />

(freies Zeichnen, Kopieren, Konstruktion mit Holzklötzen) <strong>und</strong> Neglekt-Tests<br />

wie doppelt-simultane taktile <strong>und</strong> visuelle Stimulation zum Ausschluss parietaler<br />

Symptome. Die für FTLD entwickelte »Addenbrooke Cognitive Exam<strong>in</strong>ation<br />

Revised « (ACE-R), die e<strong>in</strong>e Bestimmung der MMSE-Punktzahl e<strong>in</strong>schließt,<br />

liegt jetzt auch auf Deutsch vor (erhältlich auf www.ft drg.org/<br />

research/test-downloads).<br />

In der Diff erenzialdiagnose zu e<strong>in</strong>er Depression , Manie oder Schizophrenie<br />

ist e<strong>in</strong>e sorgfältige Dokumentation des psychopathologischen Bef<strong>und</strong>es<br />

<strong>und</strong> der psychiatrischen Anamnese entscheidend. Störungen des Aff ekts, z. B.<br />

mit depressiver Verstimmung bis h<strong>in</strong> zur Suizidalität , kommen auch bei<br />

FTLD vor. Halluz<strong>in</strong>ationen sche<strong>in</strong>en eher selten. Die Verhaltensauff älligkeiten<br />

bei e<strong>in</strong>er progredienten degenerativen Erkrankung entwickeln sich meist<br />

schleichend, während sie bei manchen psychischen Erkrankungen zeitlich<br />

leichter e<strong>in</strong>zugrenzen s<strong>in</strong>d. Bei wiederholten Remissionen liegt e<strong>in</strong>e Psychose<br />

mit zyklischem Verlauf nahe. Da bei vermuteter Schizophrenie oder Manie<br />

anfänglich oft e<strong>in</strong>e neuroleptische Th erapie erfolgt, können später auft retende<br />

neurologische Symptome leicht als Nebenwirkungen verkannt werden.<br />

Im Neurostatus muss man neben Primitivrefl exen <strong>und</strong> Park<strong>in</strong>son-Symptomen<br />

besonders auf Zeichen e<strong>in</strong>er Motoneuronerkrankung achten (Fibrillationen<br />

der Zunge, Faszikulationen an den Extremitäten, Muskelatrophie).<br />

Auch das Auft reten von epileptischen Anfällen oder Myokloni (Refl exmyo-


9<br />

166 Kapitel 9 · Pick-Komplex: frontotemporale Lobärdegenerationen<br />

kloni <strong>und</strong> stimulussensitive Myokloni, z. B. durch Klatschen oder überraschendes<br />

Berühren), Zeichen e<strong>in</strong>er zentralen Parese (Hyperrefl exie , Bab<strong>in</strong>ski-<br />

Refl ex), e<strong>in</strong>er zentralen Sensibilitätsstörung (Lages<strong>in</strong>n, Hyperpathie) oder<br />

Störungen der Okulomotorik (Blickparesen mit En-bloc-Bewegungen des<br />

Kopfes beim Blickwechsel, kompensatorisch hochgezogene Stirnmuskulatur,<br />

Sakkadenverlangsamung) s<strong>in</strong>d zu berücksichtigen, um überlappende neurologische<br />

Syndrome zu identifi zieren.<br />

> In der Familienanamnese sollte man allgeme<strong>in</strong> nach Hirnabbau<br />

fragen. Zusammenhänge können unabhängig von genannten<br />

Diagnosen (wie M. Park<strong>in</strong>son <strong>und</strong> AD) bestehen.<br />

9.<strong>3.</strong>2 Neuropsychologie <strong>und</strong> Psychometrie<br />

Herkömmliche Frontallappentests wie Wiscons<strong>in</strong> Card Sort<strong>in</strong>g Test <strong>und</strong> Tower<br />

of London können oft unauff ällig se<strong>in</strong>. PC-gesteuerte Prüfverfahren für Strategie-<br />

<strong>und</strong> Risikoverhalten s<strong>in</strong>d noch nicht allgeme<strong>in</strong> verfügbar. Da die anfänglichen<br />

Auff älligkeiten im Verhalten psychometrisch meist kaum fassbar<br />

s<strong>in</strong>d, hat die kl<strong>in</strong>ische Verhaltensbeobachtung neben dem sorgfältigen psychopathologischen<br />

Bef<strong>und</strong> weiterh<strong>in</strong> große Bedeutung.<br />

9.<strong>3.</strong>3 Bildgebung<br />

> Strukturelle bildgebende Verfahren s<strong>in</strong>d unverzichtbar. Um e<strong>in</strong>e<br />

behandelbare Ursache e<strong>in</strong>er kognitiven Störung nicht zu übersehen,<br />

ist e<strong>in</strong>e nativ durchgeführte Computertomographie des Schädels<br />

der M<strong>in</strong>imalstandard. Ausgeschlossen werden müssen u. a. das<br />

chronische subdurale Hämatom , e<strong>in</strong>e frontale Raumforderung wie<br />

z. B. durch e<strong>in</strong> langsam wachsendes Men<strong>in</strong>geom sowie e<strong>in</strong> Normaldruckhydrozephalus<br />

.<br />

Dem cCT vorzuziehen ist die Kernsp<strong>in</strong>tomographie, mit der <strong>in</strong> koronarer<br />

Schnittführung die frontale <strong>und</strong> temporale Lobäratrophie <strong>und</strong> ihre Asymmetrie<br />

am besten erkennbar ist (. Abb. 9.1).<br />

Zur weiteren Diff erenzialdiagnostik s<strong>in</strong>d funktionell-bildgebende Verfahren<br />

wie SPECT (mit technetiummarkiertem Ethylcyste<strong>in</strong>atdimer, ECD) be-


9.3 · Diagnostik<br />

167<br />

9<br />

. Abb. 9.1 Kernsp<strong>in</strong>tomogramm des Schädels bei e<strong>in</strong>er Patient<strong>in</strong> mit Pickscher Krankheit<br />

(koronare Schnittführung, T1-Gewichtung). Zu Beg<strong>in</strong>n der Erkrankung hatte die damals 60jährige<br />

Frau e<strong>in</strong>e depressive Verstimmung mit Suizidalität gezeigt, ferner diskrete Wortfi ndungsstörungen<br />

. Im <strong>in</strong>sgesamt 8-jährigen Verlauf hatte sich der sprachliche Ausdruck auf<br />

Echolalien reduziert, <strong>und</strong> Züge des Klüver-Bucy-Syndroms waren aufgetreten. Bereits das<br />

bei Erstvorstellung vorgelegte Bild (oben) zeigte die FTLD-typische frontotemporale Atrophie,<br />

die <strong>in</strong> den Verlaufsuntersuchungen immer deutlicher wird. Im Temporallappen wird<br />

sie oft mit e<strong>in</strong>em Messerrücken verglichen (knife-edge appearance)<br />

sonders gut geeignet. Optimal ist die Positronenemissionstomographie mit<br />

radioaktiver Glukose (FDG-PET mit 18-Fluordesoxyglukose). Im Amyloid-<br />

PET, beispielsweise mit der bald allgeme<strong>in</strong> verfügbaren Spürsubstanz Florbetaben<br />

, s<strong>in</strong>d bei FTLD <strong>in</strong> der Regel negative Bef<strong>und</strong>e zu erwarten (ke<strong>in</strong>e Anreicherung).<br />

> Im Gegensatz zum biparietalen Hypometabolismus bei AD zeigen<br />

SPECT/PET bei FTLD meist asymmetrische Veränderungen des frontalen<br />

<strong>und</strong> temporalen Kortex. Bei FTLD s<strong>in</strong>d – mit Ausnahmen – negative<br />

Bef<strong>und</strong>e <strong>in</strong> der nuklearmediz<strong>in</strong>ischen Amyloiddarstellung zu<br />

erwarten (z. B. im Florbetaben-PET).


9<br />

168 Kapitel 9 · Pick-Komplex: frontotemporale Lobärdegenerationen<br />

9.<strong>3.</strong>4 Blut- <strong>und</strong> Liquoruntersuchungen<br />

Als selbstverständlich wird hier vorausgesetzt, dass e<strong>in</strong>e Basisdiagnostik zum<br />

Ausschluss spezifi scher Ursachen e<strong>in</strong>er Demenz durch <strong>in</strong>ternistisch <strong>und</strong> entzündlich<br />

bed<strong>in</strong>gte Funktionsstörungen des Zentralnervensystems (Hypothyreose<br />

, Lues , HIV-Infektion , Lyme-Borreliose usw.) stattfi ndet.<br />

Die Prote<strong>in</strong>e Tau <strong>und</strong> S100 im Liquor können bei FTLD erhöht se<strong>in</strong>, s<strong>in</strong>d<br />

aber nur unspezifi sche Marker für Nervenzelluntergang. Die Bestimmung<br />

von phosphoryliertem Tau zeigt eher normale Werte <strong>und</strong> ermöglicht e<strong>in</strong>e orientierende<br />

Abgrenzung von der AD mit hohen Werten. Weitere Liquortests<br />

befi nden sich <strong>in</strong> Entwicklung, <strong>und</strong> auch im Serum werden biologische Marker<br />

gesucht. E<strong>in</strong> niedriger Blutspiegel an Progranul<strong>in</strong> ist e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis auf Mutationen<br />

im zugehörigen Gen (Schofi eld et al. 2010).<br />

> Asservierung von DNS (EDTA-Blut) ist s<strong>in</strong>nvoll, <strong>in</strong>sbesondere bei positiver<br />

Familienanamnese. Sie hat derzeit, ebenso wie die Bestimmung<br />

des Progranul<strong>in</strong>spiegels im Serum, v. a. <strong>in</strong> ausgesuchten E<strong>in</strong>zelfällen<br />

praktische Bedeutung. Der ApoE-Genotyp spielt bei FTLD ke<strong>in</strong>e Rolle.<br />

9.<strong>3.</strong>5 Elektrophysiologie<br />

> Das EEG dient zur Differenzialdiagnostik gegenüber der Creutzfeldt-<br />

Jakob-Erkrankung <strong>und</strong> – bed<strong>in</strong>gt – der AD .<br />

Spezifi sche elektrophysiologische Tests für FTLD s<strong>in</strong>d bisher nicht bekannt.<br />

9.4 Neuropathologische Bef<strong>und</strong>e<br />

9.4.1 Makropathologie<br />

Charakteristischer makroskopischer Bef<strong>und</strong> bei FTLD ist e<strong>in</strong>e symmetrische<br />

oder asymmetrische Atrophie vorzugsweise der Frontallappen (. Abb. 9.2),<br />

selten auch der Parietallappen. In wechselndem Ausmaß können die Basalganglien,<br />

v. a. das Striatum, sowie die pigmentierten Hirnstammkerne, <strong>in</strong>sbesondere<br />

die Substantia nigra, <strong>in</strong> Mitleidenschaft gezogen se<strong>in</strong>.


9.4 · Neuropathologische Bef<strong>und</strong>e<br />

. Abb. 9.2 Der makroskopische Bef<strong>und</strong> der Patient<strong>in</strong> mit Pickscher Krankheit zeigt e<strong>in</strong>e<br />

charakteristische frontotemporale Lobäratrophie (l<strong>in</strong>ke Hemisphäre nach Fixation <strong>in</strong> 4%<br />

Formaldehyd)<br />

9.4.2 Histopathologie<br />

169<br />

9<br />

Als unspezifi sche histopathologische Veränderungen zeigen die betroff enen<br />

Hirnareale e<strong>in</strong>en massiven Nervenzellverlust mit mikrozystischer Aufl ockerung<br />

des Neuropils <strong>und</strong> reaktiver Gliose .<br />

Wie die meisten neurodegenerativen Krankheiten im Erwachsenenalter<br />

s<strong>in</strong>d die frontotemporalen Lobärdegenerationen durch pathologische Prote<strong>in</strong>ablagerungen<br />

gekennzeichnet. Basierend auf der Morphologie <strong>und</strong> der<br />

immunhistologischen <strong>und</strong> biochemischen Charakterisierung der pathologischen<br />

E<strong>in</strong>schlüsse gelang es, die bisher heterogene Gruppe schlüssig zu<br />

unterteilen (Mackenzie et al. 2010).<br />

Pathologische E<strong>in</strong>teilung<br />

der frontotemporalen Lobärdegenerationen<br />

(Mackenzie et al. 2010)<br />

4 FTLD-Tau: E<strong>in</strong>schlüsse von Tau-Prote<strong>in</strong>, mehrere Untertypen, darunter:<br />

4 Klassische Picksche Krankheit (PiD) mit Pick-Zellen<br />

4 Kortikobasale Degeneration (CBD)<br />

4 Progressive supranukleäre Blickparese (PSP)<br />

4 Silberkörnchenkrankheit von Braak (AGD, argyrophilic gra<strong>in</strong> disease)<br />

6


9<br />

170 Kapitel 9 · Pick-Komplex: frontotemporale Lobärdegenerationen<br />

4 FTLD-TDP: E<strong>in</strong>schlüsse von TDP-43 (transactive response DNA b<strong>in</strong>d<strong>in</strong>g<br />

prote<strong>in</strong>)<br />

4 4 Untertypen, unterscheidbar nach Verteilung <strong>und</strong> Muster<br />

der TDP-Ablagerungen<br />

4 Bezug zu Mutationen auf Chromosom 9 (noch nicht identifiziert)<br />

bzw. <strong>in</strong> den Genen für Progranul<strong>in</strong> <strong>und</strong> VCP (valos<strong>in</strong> conta<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />

prote<strong>in</strong>)<br />

4 VCP-Mutationen: kl<strong>in</strong>isch E<strong>in</strong>schlusskörpermyopathie <strong>und</strong> Paget-<br />

Knochen (IBMPFD: <strong>in</strong>clusion body myopathy with Paget's disease<br />

and fronto-temporal dementia).<br />

4 FTLD-UPS: Ubiquit<strong>in</strong>-E<strong>in</strong>schlüsse (»Ubiquit<strong>in</strong>-Proteasom-System«)<br />

4 E<strong>in</strong>ziger Untertyp FTD3: frontotemporale Demenz mit Kopplung<br />

an Chromosom 3 <strong>und</strong> Mutationen im Gen für CHMP2B (charged<br />

multivescicular body prote<strong>in</strong> 2B)<br />

4 FTLD-FUS: E<strong>in</strong>schlüsse, die das Prote<strong>in</strong> FUS (fused <strong>in</strong> sarcoma)<br />

enthalten<br />

4 Untertyp NIFID (neuronal <strong>in</strong>termediate filament <strong>in</strong>clusion disease):<br />

E<strong>in</strong>schlüsse von neuronalen Intermediärfilamenten<br />

4 Untertyp BIBD (basophilic <strong>in</strong>clusion body disease): basophile<br />

E<strong>in</strong>schlusskörper<br />

4 FTLD-ni (no <strong>in</strong>clusions): ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schlüsse nachweisbar<br />

4 Synonym mit DLDH (dementia lack<strong>in</strong>g dist<strong>in</strong>ctive histopathology)<br />

Die histopathologische Klassifi kation erfolgt unter Verwendung spezifi scher<br />

Färbetechniken für FTLD-E<strong>in</strong>schlusskörper (s. oben). Infrage kommen die<br />

Prote<strong>in</strong>e Tau , TDP-43 , Ubiquit<strong>in</strong> <strong>und</strong> FUS (auch bekannt als TLS, translocated<br />

<strong>in</strong> liposarcoma), wovon TDP-43 <strong>und</strong> FUS erst kürzlich entdeckt wurden. Nur<br />

noch sehr selten fi nden sich frontotemporale Atrophien, bei denen ke<strong>in</strong>erlei<br />

E<strong>in</strong>schlüsse nachweisbar s<strong>in</strong>d (früher bekannt als dementia lack<strong>in</strong>g dist<strong>in</strong>ctive<br />

histopathology).<br />

»Pick-Körper « (spezifi sch konfi gurierte Ablagerungen von Tau-Prote<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />

»Pick-Zellen«, . Abb. 9.3) kommen nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er M<strong>in</strong>derzahl der Fälle vor.


9.5 · Pharmakotherapie<br />

9.5 Pharmakotherapie<br />

> Erste systematische Pharmaka-Studien bei FTLD s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der<br />

Rekrutierungsphase. In der Alltagspraxis s<strong>in</strong>d Behandlungsansätze<br />

mit zentralen Chol<strong>in</strong>esterasehemmern, Memant<strong>in</strong> <strong>und</strong> selektiven<br />

Seroton<strong>in</strong>wiederaufnahmehemmern (SSRI) üblich.<br />

171<br />

9<br />

. Abb. 9.3 Mikroskopischer Bef<strong>und</strong> der Patient<strong>in</strong> mit Pickscher Krankheit (. Abb. 9.1 <strong>und</strong><br />

. Abb. 9.2). Der Schnitt durch den temporalen Kortex (l<strong>in</strong>ks) zeigt zahlreiche Vakuolen, v. a.<br />

<strong>in</strong> der dritten R<strong>in</strong>denschicht. Die dort befi ndlichen ballonierten Pick-Zelle n s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Mitte<br />

vergrößert dargestellt <strong>und</strong> enthalten basophile E<strong>in</strong>schlüsse (HE-Färbung). Die Silberfärbung<br />

nach Bielschowsky (rechts) zeigt argyrophile E<strong>in</strong>schlüsse <strong>in</strong> Neuronen des Gyrus dentatu s<br />

(Pick-Körpe r)<br />

Versuchsweise ist die Behandlung mit zentralen Chol<strong>in</strong>esterasehemmer n gerechtfertigt,<br />

da Patienten mit AD aufgr<strong>und</strong> »frontaler« Verhaltensstörungen<br />

fälschlicherweise als FTLD e<strong>in</strong>geordnet werden können. Die Identifi zierung<br />

der Amyloidbelastung bei AD mit neuen PET-Methoden <strong>und</strong> die dadurch<br />

verbesserte diagnostische Zuordnung sollten sich hier auf therapeutische Entscheidungen<br />

auswirken.<br />

Trotz fehlenden zentral-chol<strong>in</strong>ergen Defi zits bei FTLD sche<strong>in</strong>en Rivastigmi<br />

n <strong>und</strong> Galantami n – im Gegensatz zu Donepezil – eher günstige Wirkungen<br />

zu haben. Im Gegensatz dazu gilt e<strong>in</strong>e Verm<strong>in</strong>derung der kortikalen Seroton<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung<br />

als nachgewiesen, <strong>und</strong> günstige Verhaltenseff ekte von SSR I wie<br />

Trazodo n, Fluoxeti n oder Sertral<strong>in</strong> werden berichte t (Übersicht: Rab<strong>in</strong>ovici u.<br />

Miller 2010). Memant<strong>in</strong> <strong>und</strong> Davunetid befi nden sich aktuell <strong>in</strong> kl<strong>in</strong>ischen<br />

Studien. Zur Erstellung e<strong>in</strong>es Fallregisters, zur Verlaufsbeobachtung <strong>und</strong> zur<br />

Vorbereitung von Th erapiestudien dient auch das neu gegründete Deutsche<br />

FTLD-Konsortium (www.ft ld.de).


9<br />

172 Kapitel 9 · Pick-Komplex: frontotemporale Lobärdegenerationen<br />

Literatur<br />

Danek A, Diehl-Schmid J, Grimmer T et al (2009) Frontotemporale Lobärdegenerationen.<br />

Teil 1: Diagnose <strong>und</strong> Therapie. Fortschr Neurol Psychiatr 77: 169–176<br />

Diehl-Schmid J, Neumann M, Laws SM et al (2009) Frontotemporale Lobärdegenerationen.<br />

Teil 2: Bildgebung, Neuropathologie <strong>und</strong> Genetik. Fortschr Neurol Psychiatr 77: 295–<br />

304<br />

Diehl-Schmid J, Knels C, Danek A (2009) Chronisch progrediente Aphasien. Nervenarzt 80:<br />

1452–1461<br />

Ernst J, Krapp S, Schuster T et al (2010) Fahrtauglichkeit bei Patienten mit frontotemporaler<br />

<strong>und</strong> Alzheimer-Demenz. Nervenarzt 81: 79–85<br />

Grimmer T, Drzezga A, Kurz A (2010) Amyloiddarstellung mittels Positronenemissionstomographie.<br />

Nervenarzt 81: 602–606<br />

Henry ML, Gorno-Temp<strong>in</strong>i ML (2010) The logopenic variant of primary progressive aphasia.<br />

Curr Op<strong>in</strong> Neurol 23: 633–637<br />

Karner E, Jenner C, Donnemiller E et al (2006) Das kl<strong>in</strong>ische Syndrom der posterioren kortikalen<br />

Atrophie. Nervenarzt 77: 208–214<br />

Mackenzie IRA, Neumann M, Bigio EH et al (2010) Nomenclature and nosology for neuropathologic<br />

subtypes of frontotemporal lobar degeneration: an update. Acta Neuropathol<br />

119: 1–4<br />

Neary D, Snowden JS, Gustafson L et al (1998) Frontotemporal lobar degeneration. A consensus<br />

on cl<strong>in</strong>ical diagnostic criteria. Neurology 51: 1546–1554<br />

Prudlo J (2009) TDP-43-Prote<strong>in</strong>opathien: ALS <strong>und</strong> Frontotemporale <strong>Demenzen</strong>. Fortschr Neurol<br />

Psychiatr 77: S25–S27<br />

Rab<strong>in</strong>ovici GD, Miller BL (2010) Frontotemporal lobar degeneration. CNS Drugs 24: 375–398<br />

Schofi eld EC, Halliday GM, Kwok J et al (2010) Low serum progranul<strong>in</strong> predicts the presence<br />

of mutations: a prospective study. J Alzh Dis 22: 981–984


173<br />

Wernicke-Korsakow-Syndrom<br />

<strong>und</strong> andere amnestische<br />

Syndrome<br />

Pasquale Calabrese, Dirk Wolter <strong>und</strong> <strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong><br />

10.1 Charakterisierung des amnestischen Syndroms – 175<br />

10.2 Organische Amnesien – 175<br />

10.3 Transitorische Amnesien – 176<br />

10.<strong>3.</strong>1 Posttraumatische Amnesien – 176<br />

10.<strong>3.</strong>2 Transitorische globale Amnesien – 177<br />

10.<strong>3.</strong>3 Transitorische epileptische Amnesien – 178<br />

10.<strong>3.</strong>4 Transitorische Elektrokonvulsionsamnesie – 179<br />

10.4 Permanente Amnesien – 179<br />

10.4.1 Progrediente Amnesien – 179<br />

10.4.2 Stabile (oder nichtprogrediente) Amnesien – 181<br />

Wernicke-Korsakow-Syndrom – 183<br />

10.5 Psychogene <strong>und</strong> funktionelle Amnesien – 187<br />

Literatur – 189<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_10,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

10


10<br />

174 Kapitel 10 · Wernicke-Korsakow-Syndrom <strong>und</strong> andere amnestische Syndrome<br />

Zum Thema<br />

Gedächtnisstörungen gehören zu den häufigsten kognitiven Bee<strong>in</strong>trächtigungen<br />

im Rahmen von akuten oder chronisch-progredienten Erkrankungen nicht nur<br />

des Gehirns.<br />

Gedächtnisstörungen können – anders als bei e<strong>in</strong>er manifesten Demenz – auch<br />

als isoliertes neuropsychologisches Merkmal <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung treten. In diesem<br />

Fall spricht man vom amnestischen Syndrom. Das amnestische Syndrom ist<br />

durch die folgenden Merkmale charakterisiert:<br />

1. erhebliche anterograde Amnesie,<br />

2. retrograde Amnesie variablen Ausmaßes,<br />

<strong>3.</strong> <strong>in</strong>taktes nichtdeklaratives Gedächtnis,<br />

4. <strong>in</strong>takte Intelligenzfunktionen,<br />

5. erhaltenes Kurzzeit- <strong>und</strong> Arbeitsgedächtnis.<br />

Hierbei bezieht sich die anterograde Amnesie auf das episodische Gedächtnis,<br />

d. h. auf Ereignisse, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em räumlich-zeitlichen Kontext e<strong>in</strong>gebettet s<strong>in</strong>d.<br />

Dagegen s<strong>in</strong>d nichtdeklarative Gedächtnisanteile (wie z. B. Prim<strong>in</strong>g, motorisches<br />

Lernen) sowie alle anderen bereits im Langzeitgedächtnis verankerten <strong>und</strong> zum<br />

Wissenssystem sedimentierten Gedächtnis<strong>in</strong>halte (semantisches Gedächtnis)<br />

weitestgehend erhalten. Da die kurzfristige Behaltensspanne (Kurzzeitgedächtnis)<br />

sowie das Arbeitsgedächtnis ebenfalls erhalten s<strong>in</strong>d, bleibt die <strong>in</strong>tellektuelle<br />

Leistungsfähigkeit beim amnestischen Syndrom weitgehend unbee<strong>in</strong>trächtigt,<br />

d. h., die Patienten können e<strong>in</strong>en Satz verstehen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Unterhaltung führen<br />

<strong>und</strong> dabei auf ihren <strong>in</strong>tellektuellen H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> zurückgreifen.<br />

Mit Gedächtnisstörungen e<strong>in</strong>hergehende Erkrankungen<br />

4 (Wernicke-)Korsakow-Syndrom<br />

4 (Beg<strong>in</strong>nende) degenerative Erkrankungen des ZNS<br />

4 Transitorische ischämische Attacke (TIA)/Schlaganfall<br />

4 Zustand nach Schädel-Hirn-Trauma<br />

4 Enzephalitis<br />

4 Hirntumore<br />

4 Mangelkrankheiten<br />

4 Akute oder chronische lntoxikationen<br />

4 Epilepsie 7


10.2 · Organische Amnesien<br />

4 Zustand nach Anoxie oder Hypoxie<br />

4 Zustand nach Aneurysmaruptur<br />

4 Multiple Sklerose<br />

4 U. v. a.<br />

4 (DD) Depressionen<br />

4 (DD) Psychogene Amnesien<br />

10.1 Charakterisierung des amnestischen Syndroms<br />

175<br />

10<br />

Gedächtnisstörungen können anhand des Zeitraums, den sie umspannen, anhand<br />

ihrer Dauer des Bestehens <strong>und</strong> auch anhand ihrer <strong>in</strong>haltlichen Merkmale<br />

bestimmt werden. Die Ursache kann entweder organisch oder auch psychogen<br />

begründet se<strong>in</strong>. Im Folgenden sollen anhand der genannten Kriterien<br />

ausgewählte Erkrankungen beispielhaft dargestellt werden. Bei der Fülle der<br />

verschiedenen, amnesieverursachenden Erkrankungen wurde hierbei e<strong>in</strong>e<br />

Auswahl getroff en, die sich an der kl<strong>in</strong>ischen Häufi gkeit orientiert.<br />

Die <strong>in</strong> . Abb. 10.1 dargestellte Taxonomie soll hierbei als diagnostischklassifi<br />

katorische Entscheidungshilfe dienen.<br />

10.2 Organische Amnesien<br />

Hierunter fallen alle Formen der Gedächtnisstörungen, bei denen mittels kl<strong>in</strong>ischer<br />

<strong>und</strong>/oder apparativer Verfahren traumatische, neoplastische, entzündliche,<br />

toxische, metabolische oder degenerative Ursachen nachzuweisen<br />

s<strong>in</strong>d . Während bei permanenten Amnesien das organische Korrelat <strong>in</strong> der Regel<br />

identifi zierbar ist, kann die Ursache bei den zeitlich limitierten Amnesien<br />

(transitorische Amnesien ) oft mals nur <strong>in</strong>direkt aus den vorangehenden <strong>und</strong>/<br />

oder begleitenden Symptomen <strong>und</strong> Umständen sowie aus der Rückbildungsdynamik<br />

erschlossen werden. Nicht zuletzt wegen dieser Unschärfe rücken<br />

diese Formen der Gedächtnisstörung <strong>in</strong> die Nähe der psychogenen Amnesien<br />

<strong>und</strong> s<strong>in</strong>d von diesen diff erenzialdiagnostisch abzugrenzen.


10<br />

176 Kapitel 10 · Wernicke-Korsakow-Syndrom <strong>und</strong> andere amnestische Syndrome<br />

. Abb. 10.1 Taxonomie der Amnesien (Calabrese u. Markowitsch 2003). PTA posttraumatische<br />

Amnesie, TGA transitorische globale Amnesie, TEA transitorische epileptische Amnesie,<br />

TECA transitorische Elektrokonvulsionsamnesie<br />

10.3 Transitorische Amnesien<br />

10.<strong>3.</strong>1 Posttraumatische Amnesien<br />

Zu den häufi gsten vorübergehenden Gedächtnisstörungen mit evidentem organischem<br />

H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> gehören die posttraumatischen Amnesien (PTA),<br />

wie sie beispielsweise nach Schädel-Hirn-Traumata vorkommen. Wenngleich<br />

im kl<strong>in</strong>ischen Sprachgebrauch mit diesem Term<strong>in</strong>us die Schwierigkeiten <strong>in</strong><br />

der Neugedächtnisbildung geme<strong>in</strong>t s<strong>in</strong>d (fehlendes »Tag-zu-Tag-Gedächtnis«),<br />

be<strong>in</strong>halten die posttraumatisch bed<strong>in</strong>gten Amnesien <strong>in</strong> den allermeisten<br />

Fällen auch e<strong>in</strong>e retrograde Er<strong>in</strong>nerungslücke. Diese ist variabel <strong>und</strong> kann<br />

von wenigen St<strong>und</strong>en vor e<strong>in</strong>em stattgehabten Trauma bis zu Jahre vor dem<br />

Unfall zurückreichen. Die Restitution der Neugedächtnisbildung erfolgt allmählich<br />

über Tage bis Wochen (. Abb. 10.2). Die retrograde Gedächtnislücke<br />

schrumpft ebenfalls bis auf die Periode unmittelbar vor dem Trauma, wobei<br />

der Zeitgradient dem Ribotschen Gesetz folgt (d. h. weiter zurückliegende Ereignisse<br />

werden besser er<strong>in</strong>nert).


10.3 · Transitorische Amnesien<br />

. Abb. 10.2 Zusammenschau von Amnesie <strong>und</strong> Vigilanzstatus im zeitlichen Verlauf nach<br />

akuter organischer Hirnschädigung. SHT Schädel-Hirn-Trauma<br />

177<br />

10<br />

> Von gutachterlicher Seite ist hervorzuheben, dass die Dauer der<br />

PTA e<strong>in</strong> guter Indikator für die Schwere des Schädel-Hirn-Traumas<br />

ist (wobei die kritische Zeitgrenze hier bei 24 St<strong>und</strong>en veranschlagt<br />

wird) <strong>und</strong> zugleich prognostische Relevanz hat (hierbei gilt e<strong>in</strong>e über<br />

3 Wochen andauernde PTA als ungünstiger prognostischer Faktor für<br />

die kognitive Restitution).<br />

10.<strong>3.</strong>2 Transitorische globale Amnesien<br />

Amnestische Episoden von kurzer Dauer, jedoch ohne manifesten organischen<br />

Substanzdefekt fi nden sich im Rahmen von transitorischen globalen<br />

Amnesien (TGA) (s. unten, diagnostische Leitl<strong>in</strong>ien). Diese apoplektiform<br />

auft retende Gedächtnisstörung ist durch e<strong>in</strong>e plötzlich e<strong>in</strong>setzende Merkfähigkeitsstörung<br />

gekennzeichnet. Die retrograde Amnesie umfasst Monate bis<br />

Jahre vor dem akuten Ereignis, wobei Daten zur eigenen Identität er<strong>in</strong>nert<br />

werden, während Ereignisse mit ger<strong>in</strong>gerem autobiographischem Bezug entweder<br />

überhaupt nicht oder nur unvollständig <strong>und</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er chronologisch<br />

nicht str<strong>in</strong>genten Reihenfolge abgerufen werden können. Die Vollsymptomatik<br />

dauert <strong>in</strong> der Regel wenige St<strong>und</strong>en, die Episode löst sich <strong>in</strong>nerhalb von<br />

24 St<strong>und</strong>en auf. In ca. e<strong>in</strong>em Fünft el der Fälle kommt es zu Rezidiven.


10<br />

178 Kapitel 10 · Wernicke-Korsakow-Syndrom <strong>und</strong> andere amnestische Syndrome<br />

Diagnostische Leitl<strong>in</strong>ien für e<strong>in</strong>e transitorische globale Amnesie<br />

4 Fremdanamnese<br />

4 E<strong>in</strong>e auf die Amnesie beschränkte kognitive Dysfunktion ohne<br />

Bewusstse<strong>in</strong>strübung<br />

4 Ausschlusskriterien s<strong>in</strong>d<br />

4 fokalneurologische (e<strong>in</strong>schließlich epileptogene) Begleitsymptome<br />

(womit zugleich e<strong>in</strong>e passagere Amnesie im Rahmen e<strong>in</strong>er transitorischen<br />

ischämischen Attacke differenzialdiagnostisch unterschieden<br />

wird)<br />

4 e<strong>in</strong> mit der TGA im zeitlichen Zusammenhang stehendes Schädel-<br />

Hirn-Trauma<br />

4 e<strong>in</strong>e über bis zu 24 St<strong>und</strong>en persistierende Amnesie<br />

Betroff en s<strong>in</strong>d Patienten mittleren <strong>und</strong> hohen Lebensalters. Während außer<br />

e<strong>in</strong>er Migräneanfälligkeit e<strong>in</strong>e Assoziation mit vaskulären Risikofaktoren<br />

nicht gesichert ist, konnten verschiedene physische <strong>und</strong> psychische auslösende<br />

Faktoren, wie abrupte Temperatur- <strong>und</strong>/oder Blutdruckänderungen,<br />

Schreckreaktionen <strong>und</strong> schwere akute <strong>und</strong> chronische psychische Belastungen,<br />

identifi ziert werden. Seltener liegt auch e<strong>in</strong>e iatrogene Verursachung vor<br />

(z. B. durch <strong>in</strong>travenöse Injektion vasoaktiver Substanzen im Rahmen zerebraler<br />

Angiographien etc.).<br />

10.<strong>3.</strong>3 Transitorische epileptische Amnesien<br />

E<strong>in</strong>e weitere, gegen die TGA abzugrenzende temporäre Gedächtnisstörung ist<br />

die transitorische epileptische Amnesie (TEA). Diese synonym auch als iktale<br />

oder epileptische Amnesie bezeichnete Störung ist durch kurze (meist<br />

unter e<strong>in</strong>er St<strong>und</strong>e liegende) <strong>und</strong> <strong>in</strong> ihrer Frequenz häufi gere retro- <strong>und</strong> anterograde<br />

Amnesie gekennzeichnet. Hierbei kann die Gedächtnisstörung <strong>in</strong><br />

E<strong>in</strong>zelfällen ausschließlich auf die retrograde Amnesie beschränkt se<strong>in</strong>. Im<br />

EEG fi nden sich anfallstypische Graphoelemente. Aufgr<strong>und</strong> epileptischer Genese<br />

fi nden sich entsprechend auch jüngere Patienten. Soweit e<strong>in</strong>e TEA die<br />

e<strong>in</strong>zige Phänomenologie e<strong>in</strong>es komplex-fokalen Anfallsgeschehens darstellt,<br />

ist sie durch antiepileptische Medikation kontrollierbar (Zeman et al. 1998).


10.4 · Permanente Amnesien<br />

179<br />

10.<strong>3.</strong>4 Transitorische Elektrokonvulsionsamnesie<br />

10<br />

Schließlich sei die im Zusammenhang mit der Elektrokrampft herapie (EKT)<br />

stehende transitorische Elektrokonvulsionsamnesie (TECA) genannt.<br />

Wenngleich unter der verfe<strong>in</strong>erten, unilateralen Applikationstechnik die kognitiven<br />

Begleitersche<strong>in</strong>ungen reduziert werden konnten, diese sich mit dem<br />

Abkl<strong>in</strong>gen der endogenen Depression besserten, ist bei e<strong>in</strong>er langfristigen<br />

EKT-Anwendung mit e<strong>in</strong>em leichten Nachlassen der Langzeitgedächtnisleistung<br />

zu rechnen.<br />

10.4 Permanente Amnesien<br />

Während die o. g. Amnesieformen nur vorübergehender Natur s<strong>in</strong>d, handelt<br />

es sich bei den im Folgenden zu besprechenden Gedächtnisstörungen um<br />

nichtreversible Formen der Amnesie . Diese s<strong>in</strong>d gr<strong>und</strong>sätzlich organischen<br />

Ursprungs <strong>und</strong> können h<strong>in</strong>sichtlich ihrer Schwere <strong>und</strong> Dynamik entweder<br />

fortschreitend oder stabil se<strong>in</strong>. Innerhalb der nichtreversiblen Amnesiesyndrome<br />

lässt sich zwischen solchen mit <strong>und</strong> ohne Progredienz unterscheiden.<br />

10.4.1 Progrediente Amnesien<br />

Gedächtnisstörungen bei demenziellen Syndromen<br />

Die häufi gsten Formen der progredienten Gedächtnise<strong>in</strong>bußen entwickeln<br />

sich im Zuge vaskulär oder degenerativ begründeter, zumeist altersassoziierter<br />

Erkrankungen des ZNS. S<strong>in</strong>d hierbei Kritik- <strong>und</strong> Urteilsfähigkeit so weit<br />

gem<strong>in</strong>dert, dass e<strong>in</strong>e selbstständige Lebensführung nicht mehr möglich ist,<br />

spricht man von e<strong>in</strong>er Demenz . Die Gedächtnisverarbeitung ist auf verschiedenen<br />

Ebenen gestört. Während das kurzfristige, passive Behalten <strong>und</strong> die<br />

unmittelbare Wiedergabe knapper Informationen auch <strong>in</strong> fortgeschritteneren<br />

Stadien e<strong>in</strong>er Demenz erhalten bleibt (erhaltene Behaltensspanne ), s<strong>in</strong>d bei<br />

der Alzheimer-Demenz (AD) mittel- <strong>und</strong> längerfristige Behaltensleistungen<br />

bereits <strong>in</strong> der Frühphase defi zitär. Das Arbeitsgedächtnis , d. h. die Fähigkeit<br />

zur mentalen Verarbeitung neu e<strong>in</strong>strömender Informationen bei simultaner<br />

Verarbeitung bereits aufgenommener Umweltreize <strong>und</strong> ggf. Vergegenwärtigung<br />

schon <strong>in</strong>korporierter Gedächtnis<strong>in</strong>halte, ist ebenfalls bereits <strong>in</strong> der


10<br />

180 Kapitel 10 · Wernicke-Korsakow-Syndrom <strong>und</strong> andere amnestische Syndrome<br />

Frühphase gestört. Die Diskrepanz zwischen erhaltener Behaltensspanne <strong>und</strong><br />

reduzierter Arbeitsgedächtniskapazität lässt sich kl<strong>in</strong>isch auch durch e<strong>in</strong>fach<br />

durchzuführende Verfahren kontrastieren (z. B. e<strong>in</strong>e Zahlenfolge nachsprechen<br />

lassen vs. e<strong>in</strong>e Zahlenfolge <strong>in</strong> umgekehrter Reihenfolge nachsprechen<br />

lassen) <strong>und</strong> ist von diff erenzialdiagnostischem Nutzen bei der Gegenüberstellung<br />

von normalen <strong>und</strong> pathologischen Alterungsvorgängen des Gedächtnisses.<br />

Altgedächtnisleistungen , <strong>in</strong>sbesondere bezüglich der persönlichen<br />

Biographie, bleiben bei e<strong>in</strong>er AD lange erhalten. Auch hier folgt der Gedächtnisabbau<br />

dem Ribotschen Gesetz , d. h. das zuletzt Erlernte bzw. E<strong>in</strong>gespeicherte<br />

wird zuallererst wieder vergessen.<br />

> Als Ursache für die Gedächtnisdefi zite bei der AD s<strong>in</strong>d sowohl die<br />

durch das defi zitäre Arbeitsgedächtnis bed<strong>in</strong>gte Kapazitätsreduk tion<br />

h<strong>in</strong>sichtlich der Neuaufnahme von Informationen als auch deren<br />

<strong>in</strong>effi ziente <strong>in</strong>terne Elaborations- <strong>und</strong> Abrufstrategie sowie die durch<br />

den progredienten Nervenzellverlust bed<strong>in</strong>gte Des<strong>in</strong>tegration langfristiger<br />

temporolimbischer Gedächtnisspeicher anzunehmen.<br />

Die bei Patienten mit AD verhältnismäßig gut erhaltenen nichtdeklarativen<br />

motorischen Gedächtnisleistungen (z. B. lexikalisches Prim<strong>in</strong>g , motorisches<br />

Lernen ) können <strong>in</strong> der Beantwortung der Frage zwischen kortikal gegenüber<br />

subkortikal-degenerativ bed<strong>in</strong>gten <strong>Demenzen</strong> von diff erenzialdiagnostischem<br />

Nutzen se<strong>in</strong>. Tatsächlich s<strong>in</strong>d die motorik- <strong>und</strong> prozedurgeb<strong>und</strong>enen Gedächtnisstörungen<br />

bei dementen Patienten mit überwiegend subkortikaler<br />

Hirnaff ektion deutlicher ausgeprägt <strong>und</strong> ersche<strong>in</strong>en bereits früh <strong>in</strong> der Krankheitsevolution<br />

bee<strong>in</strong>trächtigt. Dagegen sche<strong>in</strong>en diese Patienten eher von abruferleichternden<br />

H<strong>in</strong>weisreizen (Vorgabe von e<strong>in</strong>er Kategoriezugehörigkeit<br />

oder von der Anfangssilbe beim Er<strong>in</strong>nern) zu profi tieren, während Abrufh ilfen<br />

bei Patienten mit primär kortikalen <strong>Demenzen</strong> ke<strong>in</strong>e Leistungsverbesserungen<br />

erbr<strong>in</strong>gen.<br />

Progrediente Gedächtnisstörungen<br />

bei multipler Sklerose (MS) <strong>und</strong> AIDS<br />

Progrediente Gedächtnisstörungen fi nden sich auch im Rahmen chronischprogredienter<br />

Autoimmunerkrankungen bzw. erworbener Imm<strong>und</strong>efekte . So<br />

beträgt die Häufi gkeit von Gedächtnisstörungen bei Patienten mit MS zwischen<br />

40% <strong>und</strong> 50%. Ähnlich wie bei den <strong>Demenzen</strong> ist auch bei diesen Patienten<br />

das Kurzzeitgedächtnis nicht wesentlich bee<strong>in</strong>trächtigt, während so-


10.4 · Permanente Amnesien<br />

181<br />

10<br />

wohl die Arbeitsgedächtnisleistung als auch das Langzeitgedächtnis defi zitär<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

Im fortgeschrittenen HIV-Stadium kommt es mit zunehmendem Imm<strong>und</strong>efekt<br />

zur AIDS-Enzephalopathie , die ebenfalls mit schweren Gedächtnisstörungen<br />

vergesellschaft et ist. Die Gedächtnisstörung ist mit anderen kognitiven<br />

Störungen assoziiert <strong>und</strong> mündet <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er Latenzzeit von 9–<br />

11 Jahren <strong>in</strong> das Stadium der AIDS-Demenz . Das kl<strong>in</strong>ische Bild ist hier von<br />

zunehmenden Konzentrations- <strong>und</strong> Gedächtnisstörungen geprägt, denen im<br />

weiteren Verlauf e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e kognitive Verlangsamung folgt. Psychopathologisch<br />

imponieren e<strong>in</strong>e Aff ektnivellierung , e<strong>in</strong>e Antriebsm<strong>in</strong>derung<br />

sowie e<strong>in</strong>e Vergröberung der Persönlichkeitszüge . Neurologisch fi nden sich<br />

extrapyramidalmotorische, vegetative <strong>und</strong> ataktische Symptome (Calabrese u.<br />

Penner 2007).<br />

10.4.2 Stabile (oder nichtprogrediente) Amnesien<br />

Während die Gedächtnisstörung bei den o. g. Krankheitsbildern progredient<br />

ist, stellt sie sich bei e<strong>in</strong>er Reihe von anderen Hirnschädigungen als stabil dar,<br />

d. h., der Beg<strong>in</strong>n der Gedächtnisstörung kann genauer datiert werden (<strong>und</strong><br />

fällt <strong>in</strong> der Regel mit dem stattgehabten hirntraumatischen Ereignis zusammen)<br />

. Der Amnesiegrad pendelt sich nach der Akutphase auf e<strong>in</strong> bestimmtes<br />

Niveau e<strong>in</strong>. Schwere, nichtprogrediente Amnesien fi nden sich nach<br />

4 traumatischen,<br />

4 entzündlichen <strong>und</strong><br />

4 toxisch-metabolischen Hirnschäden sowie nach<br />

4 temporärer Reduktion des zerebralen Stoff wechsels, z. B. im Rahmen von<br />

Herzstillstand oder anderen ischämischen/anoxischen Ereignissen sowie<br />

4 bei raumfordernden Prozessen.<br />

Die Art der Gedächtnisstörung kann hierbei je nach Lokalisation der Hirnläsion<br />

an bestimmte Verarbeitungsmodalitäten geb<strong>und</strong>en se<strong>in</strong> (sog. materialspezifi<br />

sche Gedächtnisdefi zite ) oder sich <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelfällen auch ausschließlich<br />

retrograd auf e<strong>in</strong>en isolierten Abschnitt entlang der Zeitachse beziehen (z. B.<br />

fokale retrograde Amnesie ).


10<br />

182 Kapitel 10 · Wernicke-Korsakow-Syndrom <strong>und</strong> andere amnestische Syndrome<br />

Gedächtnisstörungen nach traumatischen<br />

Hirnschädigungen<br />

Neben den nahezu immer vorhandenen transitorischen Amnesien nach Schädel-Hirn-Trauma<br />

(7 10.<strong>3.</strong>1, PTA) können akute traumatische Hirnschädigungen,<br />

je nach Lokalisation, persistente, unterschiedlich gefärbte kognitivmnestische<br />

Störungen bewirken. Während weitfl ächig-diff use Schädigungen<br />

global-amnestische Syndrome verursachen, fi nden sich bei komb<strong>in</strong>ierten<br />

Schädigungen des temporookzipitalen Übergangsbereichs Störungen des visuell-räumlichen<br />

<strong>und</strong> visuell-semantischen Gedächtnisses, die kl<strong>in</strong>isch als<br />

Agnosien ersche<strong>in</strong>en (z. B. Prosopagnosie , d. h. Nichterkennen vertrauter Gesichter,<br />

bei uni- oder bilateraler Schädigung des Gyrus fusiformis ). Komb<strong>in</strong>ierte<br />

Schädigungen des anterioren Temporallappens <strong>und</strong> der Frontobasis<br />

führen neben den mnestischen Defi ziten auch zu Störungen der aff ektiv-emotionalen<br />

Kontrolle.<br />

Kognitive Defi zite bei temporaler<br />

<strong>und</strong> dienzephaler Hirnschädigung –<br />

Raumforderungen, Infarkte<br />

<strong>und</strong> chronische Intoxikationen<br />

Intrakranielle Raumforderungen können ebenfalls <strong>in</strong> Abhängigkeit von Lokalisation<br />

<strong>und</strong> Ausdehnung spezifi sche Gedächtnisstörungen bzw. global-amnestische<br />

Syndrome verursachen (Calabrese 1998). Neben den epileptologisch<br />

relevanten, temporal lokalisierten Prozessen, die je nach Lateralisation zu materialspezifi<br />

schen Gedächtnisdefi ziten führen, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>sbesondere die am Boden<br />

des dritten Ventrikels lokalisierten Tumore zu nennen, da hierdurch die<br />

gedächtnisrelevanten Verarbeitungsschleifen auf multiplen Ebenen, meist bilateral,<br />

geschädigt werden können. Hierbei können sich dienzephal situierte<br />

Prozesse, je nach Wachstumsdynamik, kl<strong>in</strong>isch zunächst durch vegetative<br />

Dysregulationen mit Lethargie-Abulie-Syndromen äußern, bevor die kognitiven<br />

Störungen <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung treten. Trotz »schonender« operativer Zugänge<br />

ist bei dienzephal lokalisierten Prozessen, aber auch bei epilepsiechirurgischen<br />

E<strong>in</strong>griff en <strong>in</strong> die mesiotemporale Region, auch bei <strong>in</strong>sgesamt postoperativ<br />

verbesserten Vigilanz- <strong>und</strong> Kognitionsleistungen mit persistierenden<br />

amnestischen Syndromen zu rechnen (Damasio et al. 1998).<br />

Als kl<strong>in</strong>isch relevantes Unterscheidungsmerkmal zwischen Amnesien, die<br />

auf e<strong>in</strong>e Schädigung der Temporallappen zurückzuführen s<strong>in</strong>d, <strong>und</strong> solchen,<br />

die e<strong>in</strong>e dienzephale Schädigungsursache haben, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>sbesondere die Stö-


10.4 · Permanente Amnesien<br />

183<br />

10<br />

rungen der räumlich-zeitlichen E<strong>in</strong>ordnung von aufe<strong>in</strong>anderfolgenden Ereignissen<br />

sowie die Krankheitse<strong>in</strong>sicht zu nennen. Tatsächlich s<strong>in</strong>d sowohl die<br />

chronologischen Störungen (sog. Zeitgitterstörungen ) als auch mangelnde<br />

Krankheitse<strong>in</strong>sicht bei dienzephalen Amnestikern häufi ger anzutreff en.<br />

jWernicke-Korsakow-Syndrom<br />

Die Wernicke-Enzephalopathie ist e<strong>in</strong> akut lebensbedrohlicher Zustand, der<br />

meist durch e<strong>in</strong>en alkoholbed<strong>in</strong>gten Th iam<strong>in</strong>mangel hervorgerufen wird.<br />

Wird die akute Krise überlebt, kann daraus e<strong>in</strong> chronisch amnestisches Korsakow-Syndrom<br />

entstehen. Korsakow-Syndrome können sich auch im Zusammenhang<br />

mit dienzephalen Blutungen, Infarkten, Tumoren <strong>und</strong> im Rahmen<br />

von entzündlichen Prozessen entwickeln (s. unten). Wir verwenden hier<br />

den gebräuchlichen Begriff Wernicke-Korsakow-Syndrom (WKS) für die typischerweise<br />

alkohol<strong>in</strong>duzierte Hirnerkrankung <strong>und</strong> ihre kl<strong>in</strong>ischen Symptome.<br />

Epidemiologie: Die Prävalenz des WKS ist bei Alkoholikern ca. 15-mal<br />

höher als <strong>in</strong> der Gesamtbevölkerung. Obwohl 30–80% der Alkoholabhängigen<br />

e<strong>in</strong>en Th iam<strong>in</strong>mangel entwickeln, kommt es nur bei 2–3% zu e<strong>in</strong>em<br />

WKS. Off enbar s<strong>in</strong>d konstitutionelle Varianten von Th iam<strong>in</strong>aufnahme <strong>und</strong><br />

-verwertung von Bedeutung. Die Wernicke-Enzephalopathie geht unbehandelt<br />

mit e<strong>in</strong>er hohen Letalität von etwa 20% e<strong>in</strong>her. Zum Korsakow-Syndrom<br />

kommt es bei unzureichender Behandlung <strong>in</strong> etwa 80% der Fälle. Dann ist die<br />

Rückbildung der neuropsychologischen Defi zite meist nur ger<strong>in</strong>g. Lediglich<br />

<strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelfällen s<strong>in</strong>d deutliche Besserungen unter Abst<strong>in</strong>enzbed<strong>in</strong>gungen beschrieben,<br />

wobei u. U. e<strong>in</strong> Jahr abgewartet werden muss. Möglicherweise s<strong>in</strong>d<br />

solche Remissionen aber zum<strong>in</strong>dest z. T. darauf zurückzuführen, dass sich zusätzlich<br />

vorliegende unspezifi sche alkoholassoziierte Hirnveränderungen<br />

rückgebildet haben, nicht aber die spezifi sche Pathologie.<br />

Neuropsychologie: Symptomatisch stehen e<strong>in</strong>e Desorientierung mit<br />

Zeitgitterstörungen sowie hochgradigen Merkfähigkeitsstörungen <strong>und</strong> Konfabulationen<br />

im Vordergr<strong>und</strong>. Diese ergeben sich entweder aus dem Bedürfnis,<br />

Er<strong>in</strong>nerungslücken zur Wahrung e<strong>in</strong>er Zeitkohärenz mit Inhalten zu füllen<br />

(sog. Verlegenheitskonfabulationen), oder sie s<strong>in</strong>d das Produkt e<strong>in</strong>er unzureichenden<br />

(präfrontalen) Suppression konsolidierter, jedoch aktuell nicht<br />

relevanter Er<strong>in</strong>nerungs<strong>in</strong>halte bei spontanen Abrufprozessen aus dem Altgedächtnis<br />

(sog. Pseudorem<strong>in</strong>iszenzen ). Das alkoholassoziierte WKS ist symptomatisch<br />

vielgestaltiger als amnestische Syndrome anderer Genese, <strong>und</strong> die


10<br />

184 Kapitel 10 · Wernicke-Korsakow-Syndrom <strong>und</strong> andere amnestische Syndrome<br />

Übergänge zu demenziellen Syndromen s<strong>in</strong>d fl ießend. Neben den Neugedächtnisstörungen<br />

fi ndet sich e<strong>in</strong> Komplex kognitiver, aff ektiver <strong>und</strong> motivationaler<br />

Defi zite, der dem e<strong>in</strong>es Frontalhirnsyndroms ähnelt. Charakteristisch<br />

s<strong>in</strong>d Bee<strong>in</strong>trächtigungen von Arbeitsgedächtnis, exekutiven Funktionen <strong>und</strong><br />

höheren Frontalhirnfunktionen wie Urteilsvermögen, Kreativität <strong>und</strong> Krankheitse<strong>in</strong>sicht.<br />

Der Gr<strong>und</strong> für die Variabilität der Symptomatik liegt <strong>in</strong> der<br />

Vielfalt von möglichen strukturellen Hirnschädigungen im Zusammenhang<br />

mit dem Alkoholmissbrauch .<br />

Neuroanatomie <strong>und</strong> Neuropathologie: Das funktionell-neuroanatomische<br />

Substrat ist e<strong>in</strong>e Schädigung medialer, dienzephaler Kerngebiete. Durch<br />

die funktionelle frontodienzephale Diskonnektion kommt es auch zur Aff ektverfl<br />

achung <strong>und</strong> zu Antriebsstörungen . Neuroradiologisch korreliert die<br />

Atrophie von Hippokampus, Corpora mamillaria, Th alamus, Zerebellum <strong>und</strong><br />

Pons mit der Schwere der Symptome <strong>und</strong> kann bei geeigneter Behandlung<br />

rückläufi g se<strong>in</strong> (Sullivan u. Pfeff erbaum 2009). Neuropathologisch s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e<br />

symmetrische Schrumpfung <strong>und</strong> bräunliche Verfärbung sowie punktförmige<br />

E<strong>in</strong>blutungen <strong>in</strong> den Corpora mamillaria <strong>und</strong> im subependymalen Bereich<br />

um den III. Ventrikel sowie im medialen Th alamus charakteristisch (Kopelman<br />

et al. 2009). Zusätzlich können weitere Bereiche von Mittelhirn <strong>und</strong><br />

Kle<strong>in</strong>hirn sowie die basalen Anteile des Vorderhirns <strong>und</strong> der Kortex betroff en<br />

se<strong>in</strong>. Blutungen <strong>in</strong> Hirnstamm <strong>und</strong> Th alamus kommen bei extrem rasch e<strong>in</strong>tretendem<br />

Th iam<strong>in</strong>mangel vor (Sechi u. Serra 2007). Die Läsionen s<strong>in</strong>d zwar<br />

spezifi sch, <strong>in</strong> der strukturellen Bildgebung aber häufi g nicht nachzuweisen<br />

(Sensitivität 50–60%).<br />

Ätiologie: Als Komplikation von Mangelernährungszuständen kann e<strong>in</strong>e<br />

Wernicke-Enzephalopathie gelegentlich auch ohne Zusammenhang mit Alkohol<br />

auft reten. Das Risiko ist erhöht bei konsumierenden Erkrankungen,<br />

Infektions- bzw. fi eberhaft en Erkrankungen, bestimmten Formen von Chemotherapie<br />

<strong>und</strong> bestimmten anderen Medikamenten, außerdem bei Erkrankungen,<br />

die mit chronischem bzw. rezidivierendem Erbrechen <strong>und</strong> Diarrhö<br />

e<strong>in</strong>hergehen, ebenso unter Dialyse oder künstlicher Ernährung (enteral/parenteral)<br />

ohne Vitam<strong>in</strong>zusätze. Heute zählen auch Folgezustände von Magen-<br />

Darm-Resektionen zur Behandlung der Adipositas dazu, ebenso forcierte<br />

Diäten. Schließlich wirken manche Nahrungsmittel Th iam<strong>in</strong>-antagonistisch,<br />

z. B. Tee <strong>und</strong> Kaff ee bei exzessivem Konsum. Th iam<strong>in</strong>mangelzustände s<strong>in</strong>d im<br />

Alter häufi g als Folge von allgeme<strong>in</strong>er Mangel- bzw. e<strong>in</strong>seitiger Ernährung.<br />

Auch hier kann es vorkommen, dass sich bei alle<strong>in</strong> lebenden Personen mit


10.4 · Permanente Amnesien<br />

185<br />

10<br />

beg<strong>in</strong>nender AD durch den h<strong>in</strong>zutretenden Th iam<strong>in</strong>mangel bei situativ erhöhtem<br />

Bedarf (Fieber o. ä.) zusätzlich e<strong>in</strong> WKS entwickelt.<br />

Pathogenese: Die Th iam<strong>in</strong>speicher reichen nur für maximal 4–6 Wochen<br />

(Th omson u. Marshall 2006) . Die aktive Resorption im Duodenum ist von<br />

begrenzter Kapazität; von e<strong>in</strong>er oralen E<strong>in</strong>zeldosis können maximal 4,5 mg<br />

aufgenommen werden. Der normale Tagesbedarf liegt bei 0,5 mg pro 1000<br />

aufgenommenen kcal <strong>und</strong> ist bei K<strong>in</strong>dern, <strong>in</strong> Schwangerschaft <strong>und</strong> Stillzeit,<br />

bei hoher Kalorien- <strong>und</strong> <strong>in</strong>sbesondere Kohlenhydratzufuhr (Glukose<strong>in</strong>fusion!)<br />

sowie bei schweren körperlichen Erkrankungen beträchtlich erhöht. E<strong>in</strong><br />

erhöhter Bedarf besteht auch im Alkoholentzug . Alkohol selbst beschleunigt<br />

den Th iam<strong>in</strong>metabolismus <strong>und</strong> erhöht damit den Bedarf. Magnesiummangel<br />

kann selbst bei ausreichendem Th iam<strong>in</strong>angebot zum Wirkungsverlust führen.<br />

Oft entwickelt sich e<strong>in</strong> Th iam<strong>in</strong>mangel schleichend. Zur Dekompensation der<br />

grenzwertigen, gerade noch kompensierten Situation kommt es bei weiteren<br />

Belastungen bzw. akutem Anstieg des Th iam<strong>in</strong>umsatzes <strong>und</strong> -bedarfs, z. B. im<br />

Alkoholentzug oder durch e<strong>in</strong>e Glukose<strong>in</strong>fusion. In diesen Situationen <strong>und</strong><br />

bei e<strong>in</strong>er längerfristigen <strong>in</strong>tensivmediz<strong>in</strong>ischen Behandlung ohne ausreichende<br />

Vitam<strong>in</strong>substitution kann sich e<strong>in</strong>e Wernicke-Enzephalopathie unbemerkt<br />

entwickeln. Dies ist e<strong>in</strong> wesentlicher Gr<strong>und</strong> dafür, dass sich <strong>in</strong> der<br />

Anamnese der meisten Patienten mit WKS ke<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis auf e<strong>in</strong>e akute Wernicke-Enzephalopathie<br />

fi ndet. E<strong>in</strong> weiterer Gr<strong>und</strong> liegt <strong>in</strong> der Variabilität des<br />

kl<strong>in</strong>ischen Bildes (s. unten, Diagnostik). Ferner wird diskutiert, ob sich e<strong>in</strong><br />

chronisches Korsakow-Syndrom ohne e<strong>in</strong>e akute Wernicke-Enzephalopathie<br />

e<strong>in</strong>stellen kann bzw. ob es zu e<strong>in</strong>er primär chronischen Progression der neuropsychologischen<br />

Defi zite bzw. e<strong>in</strong>er Phase subkl<strong>in</strong>ischer Symptomatik<br />

kommen kann.<br />

Diagnostik: Die klassische Trias der akuten Wernicke-Enzephalopathie<br />

mit Verwirrtheitszustand, Ataxie (oft Stand- oder sogar Sitzataxie) sowie äußeren<br />

Augenmuskelstörungen fi ndet sich nur bei weniger als 20% der Patienten,<br />

<strong>und</strong> weitere 20% weisen sogar ke<strong>in</strong>es dieser drei Symptome auf. Daneben<br />

können Stupor, Hypotonie <strong>und</strong> Tachykardie, Hypothermie oder bilaterale<br />

Sehstörung <strong>und</strong> Papillenödem auft reten. Mögliche Spätsymptome s<strong>in</strong>d Hyperthermie,<br />

erhöhter Muskeltonus <strong>und</strong> spastische Paresen sowie choreiforme<br />

Dysk<strong>in</strong>esien. Ca<strong>in</strong>e et al. (1997) schlugen daher die folgenden e<strong>in</strong>fachen Diagnosemerkmale<br />

vor:


10<br />

186 Kapitel 10 · Wernicke-Korsakow-Syndrom <strong>und</strong> andere amnestische Syndrome<br />

Diagnosekriterien der Wernicke-Enzephalopathie (Ca<strong>in</strong>e et al. 1997)<br />

4 Mangelernährung<br />

4 Äußere Augenmuskelstörungen<br />

4 Zerebelläre Symptome<br />

4 Gedächtnisstörungen oder andere psychische Veränderungen<br />

2 von 4 Kriterien müssen erfüllt se<strong>in</strong>.<br />

Die Diagnose erfolgt nach wie vor kl<strong>in</strong>isch. Laborparameter s<strong>in</strong>d wenig hilfreich.<br />

Das gilt auch für die Bestimmung der Plasma-Th iam<strong>in</strong>konzentration,<br />

<strong>und</strong> zwar sowohl aus methodischen Gründen wie auch aufgr<strong>und</strong> des Zeitverzuges.<br />

Therapie: Wegen der begrenzten Kapazität der enteralen Th iam<strong>in</strong>aufnahme<br />

ist bei manifester <strong>und</strong> drohender Wernicke-Enzephalopathie die parenterale<br />

Gabe unerlässlich: 2-mal täglich 300 mg bis 3-mal täglich 500 mg langsam<br />

<strong>in</strong>f<strong>und</strong>iert bis zum deutlichen Ansprechen, anschließend 250–300 mg<br />

täglich <strong>in</strong>tramuskulär für weitere 3–5 Tage. Bei suffi zienter Behandlung bilden<br />

sich die okulomotorischen Symptome gewöhnlich <strong>in</strong>nerhalb von St<strong>und</strong>en<br />

zurück, während die Ataxie e<strong>in</strong>ige Tage <strong>und</strong> die psychischen Veränderungen<br />

2–3 Wochen benötigen. In E<strong>in</strong>zelfällen kann e<strong>in</strong>e mehrwöchige parenterale<br />

Behandlung erforderlich se<strong>in</strong> (Secchi u. Serra 2007).<br />

Für die Prophylaxe gefährdeter Patienten soll e<strong>in</strong>e Dosierung von 250 mg/<br />

Tag gewählt werden, etwa bei e<strong>in</strong>em schweren Alkoholentzug, aber auch bei<br />

off ensichtlicher erheblicher Mangelernährung. Niedrigere Dosierungen s<strong>in</strong>d<br />

nach kl<strong>in</strong>ischer Erfahrung unwirksam. Wegen der besonderen Gefährdung<br />

älterer Patienten soll die Indikation zur Prophylaxe hier breit gestellt werden.<br />

Neben dem obligatorischen Elektrolytausgleich <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em Zusatz von<br />

Magnesium kann es s<strong>in</strong>nvoll se<strong>in</strong>, Ribofl av<strong>in</strong>, Pyridox<strong>in</strong> <strong>und</strong> Nikot<strong>in</strong>amid<br />

bzw. Niac<strong>in</strong> zu substituieren. Allergische Reaktionen auf Th iam<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d um<br />

1–2 Zehnerpotenzen seltener als auf Penicill<strong>in</strong>; das Risiko wird bei langsamer<br />

Infusion (verdünnt über 30 m<strong>in</strong>) weiter verm<strong>in</strong>dert.<br />

Gedächtnisstörungen bei men<strong>in</strong>goenzephalitischen<br />

Erkrankungen<br />

Für die entzündlichen Hirnerkrankungen gilt für die Mehrheit der men<strong>in</strong>gitischen<br />

Formen, dass die kognitiv-mnestischen Leistungen <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es


10.5 · Psychogene <strong>und</strong> funktionelle Amnesien<br />

187<br />

10<br />

Jahreszeitraums remittieren, während sich bei enzephalitischen Verläufen<br />

häufi ger auch überdauernde kognitive Defi zite mit chronisch-amnestischen<br />

Zustandsbildern fi nden. Hierbei sche<strong>in</strong>t die Amnesiedauer im Akutstadium<br />

unabhängig von der Ätiologie der Enzephalitis e<strong>in</strong> wesentlicher prognostischer<br />

Faktor h<strong>in</strong>sichtlich der kognitiven Remission zu se<strong>in</strong>. Die Häufi gkeit<br />

e<strong>in</strong>es demenziellen Syndroms als postenzephalitisches Defektstadium beträgt<br />

etwa 10–15% <strong>und</strong> ist damit nicht häufi ger als bei traumatisch bed<strong>in</strong>gten Hirnschädigungen<br />

oder Schlaganfällen. Bei der Herpes-simplex-Enzephalitis dom<strong>in</strong>iert<br />

psychopathologisch im Langzeitverlauf e<strong>in</strong> emotional-mnestisches<br />

Dysfunktionssyndrom mit emotionaler Labilität , Irritierbarkeit <strong>und</strong> fl uktuierenden<br />

Befi ndlichkeitsstörungen.<br />

Fokale retrograde Amnesien<br />

Mit dem Term<strong>in</strong>us fokale retrograde Amnesie (FRA) ist geme<strong>in</strong>t, dass sich<br />

e<strong>in</strong>e Gedächtnisstörung nur auf bereits <strong>in</strong>korporierte Informationen <strong>und</strong> damit<br />

auf die Er<strong>in</strong>nerungsfähigkeit bezieht . Die anterograden Lern- <strong>und</strong> Gedächtnisleistungen<br />

s<strong>in</strong>d hierbei (nahezu) <strong>in</strong>takt. Obgleich die Ursache für<br />

diese ungewöhnliche Störung sehr heterogen se<strong>in</strong> kann, fi nden sich FRA <strong>in</strong>sbesondere<br />

im Rahmen von schweren, gedeckten Schädel-Hirn-Traumata sowie<br />

nach Enzephalitiden mit prädilektivem Befall der frontotemporalen Hirnbasis.<br />

Tatsächlich sche<strong>in</strong>t das verb<strong>in</strong>dende neuroanatomische Element e<strong>in</strong>e<br />

komb<strong>in</strong>ierte temporopolar-frontolaterale Schädigung zu se<strong>in</strong>.<br />

10.5 Psychogene <strong>und</strong> funktionelle Amnesien<br />

Hierunter wird e<strong>in</strong>e Reihe von Zuständen, die <strong>in</strong>sbesondere durch e<strong>in</strong>e tiefgreifende<br />

Gedächtnisstörung charakterisiert s<strong>in</strong>d, zusammengefasst. Psychogene<br />

Amnesien zeichnen sich dadurch aus, dass für ihre Ursache ke<strong>in</strong> mit der<br />

Gedächtnisstörung <strong>in</strong> unmittelbarem Zusammenhang stehendes organisches<br />

Substrat zu identifi zieren ist. Weiterh<strong>in</strong> ist zu berücksichtigen, dass die Symptomatik<br />

nicht <strong>in</strong> Zusammenhang mit zentralnervösen antichol<strong>in</strong>erg wirksamen<br />

Substanzen zu stellen ist. In den allermeisten Fällen bezieht sich die<br />

Gedächtnisstörung auf zurückliegende Ereignisse, die <strong>in</strong> aller Regel autobiographischen<br />

Ursprungs s<strong>in</strong>d. Diese Patienten verlieren entweder den autobiographischen<br />

Identitätsbezug <strong>und</strong> fi nden sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Umgebung wieder, ohne<br />

genau zu wissen, wie <strong>und</strong> aus welchen Gründen sie dah<strong>in</strong> gekommen s<strong>in</strong>d


10<br />

188 Kapitel 10 · Wernicke-Korsakow-Syndrom <strong>und</strong> andere amnestische Syndrome<br />

<strong>und</strong> welche Identität sie vorher hatten (Fugue ), oder sie leben mehrere, vone<strong>in</strong>ander<br />

recht verschiedene Identitäten (multiple Persönlichkeit ). Der amnestische<br />

Charakter besteht hierbei im »Nicht-Wissen« der e<strong>in</strong>en Persönlichkeit<br />

von der jeweils anderen.<br />

Weiterh<strong>in</strong> fi nden sich amnestische Zustandsbilder nach akuten, psychotraumatischen<br />

Erlebnissen sowie nach prolongierter Stressexposition . Bei der<br />

erstgenannten Form kann e<strong>in</strong> psychodynamischer Suppressionsmechanismus<br />

angenommen werden, <strong>in</strong>nerhalb dem unangenehme aff ektbehaft ete Rem<strong>in</strong>iszenzen<br />

aus dem Bewusstse<strong>in</strong> verdrängt werden. Aff ektiv getönte Er<strong>in</strong>nerungen<br />

können aber auch durch Verdrängung, durch sozial-normative E<strong>in</strong>fl<br />

üsse oder im Rahmen von Rationalisierungstendenzen e<strong>in</strong>en Umbau erfahren<br />

<strong>und</strong> dann bei bewusstem Abruf, <strong>in</strong>sbesondere nach langen Latenzzeiten,<br />

verzerrt wiedergegeben werden (false memory syndrome ).<br />

Dagegen wird bei durch Dauerstress <strong>in</strong>duzierten Gedächtnisstörungen<br />

angenommen, dass e<strong>in</strong>e endokr<strong>in</strong>ologische Imbalance zugunsten von (<strong>in</strong><br />

Überproduktion neurodestruktiven) Glukokortikoiden erzeugt wird. Dies<br />

kann auf Verhaltensebene sowohl Störungen des Abrufs als auch der Neugedächtnisbildung<br />

zur Folge haben (mnestisches Blockadesyndrom ). Die Tatsache,<br />

dass prolongierter Stress sich <strong>in</strong> der Regel zugleich auch auf aff ektbesetzte<br />

Situationen bezieht, macht e<strong>in</strong>e Interaktion zwischen psychodynamischen<br />

<strong>und</strong> endokr<strong>in</strong>ologischen Variablen bei der Genese am wahrsche<strong>in</strong>lichsten<br />

(Markowitsch 1999).<br />

Neben diesen zusammenfassend als dissoziativ zu bezeichnenden Störungen<br />

mit amnestischer Symptomatik gibt es e<strong>in</strong>e Reihe von une<strong>in</strong>heitlich<br />

als funktionell gegenüber den psychogenen Störungen abgegrenzten gedächtnisbezogenen<br />

Leistungsstörungen, die ebenfalls ke<strong>in</strong>e relevante neurologisch<strong>in</strong>ternistische<br />

Gr<strong>und</strong>lage haben. Im Gegensatz zu den bereits genannten Störungsbildern<br />

zeichnen sie sich durch die Tatsache aus, dass die Gedächtnisstörungen<br />

immer die Neugedächtnisbildung, selten das Altgedächtnis <strong>und</strong><br />

nahezu nie die Autobiographie betreff en. Häufi g s<strong>in</strong>d berufl ich besonders angespannte<br />

<strong>und</strong>/oder leistungsfähige Individuen betroff en. Die vorgetragenen<br />

Beschwerden beziehen sich auf das rasche Vergessen von alltagsrelevanten Inhalten<br />

(Term<strong>in</strong>e, Gesprächsdetails etc.) sowie auf das Nichter<strong>in</strong>nern von bekannten<br />

Inhalten (Namen, Abläufe etc.) <strong>und</strong> stehen im Gegensatz zu dem<br />

Detailreichtum, der zeitlichen Ordnung <strong>und</strong> der Prägnanz, mit welcher die<br />

Beschwerden vorgetragen werden. In der objektiven psychometrischen Untersuchung<br />

fi nden sich ke<strong>in</strong>e Anhalte für mnestische Leistungse<strong>in</strong>bußen, je-


Literatur<br />

189<br />

10<br />

doch häufi g Zeichen e<strong>in</strong>er Aufmerksamkeitsstörung . Psychopathologisch<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> dieser Patientengruppe Anpassungsstörungen <strong>und</strong> latente Depressionen<br />

häufi g.<br />

Diagnostisch <strong>in</strong>dikativ s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e fl uktuierende Symptomatik, die detailreiche<br />

Schilderung der M<strong>in</strong>derleistungen, begleitende psychosomatische<br />

Symptome sowie e<strong>in</strong>e Aufl ösung der Symptomatik bei Behandlung der psychiatrisch-psychosomatischen<br />

Gr<strong>und</strong>erkrankung.<br />

Literatur<br />

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Verwirrtheitszustände<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong> <strong>und</strong> Horst Bickel<br />

11.1 Term<strong>in</strong>ologie – 192<br />

11.2 Symptomatik <strong>und</strong> Verlauf – 193<br />

11.2.1 Symptomatik – 193<br />

11.2.2 Verlauf – 195<br />

11.3 Kl<strong>in</strong>ische Diagnosekriterien – 196<br />

191<br />

11.4 Diff erenzialdiagnose Delir/Demenz – 197<br />

11.5 Häufi gkeit – 199<br />

11.6 Ursachen <strong>und</strong> Risikofaktoren – 200<br />

11.6.1 Prädisponierende Faktoren – 200<br />

11.6.2 Auslösende Faktoren – 201<br />

11.6.3 Ätiologische Faktoren – 201<br />

11.7 Pathogenese – 204<br />

11.8 Therapie – 205<br />

11.8.1 Pfl ege – 206<br />

11.8.2 Mediz<strong>in</strong>ische Basisversorgung – 207<br />

11.8.3 Symptomatische Medikamentenbehandlung – 207<br />

11.8.4 Kausaltherapie – 208<br />

Literatur – 209<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_11,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

11


11<br />

192 Kapitel 11 · Verwirrtheitszustände<br />

Zum Thema<br />

Verwirrtheitszustände (VZ; = Delirien) entwickeln sich im höheren Lebensalter<br />

häufig bei Patienten mit <strong>Demenzen</strong> , anderen Erkrankungen oder bei Versuchen,<br />

diese Erkrankungen medikamentös oder chirurgisch zu behandeln. Sie s<strong>in</strong>d mit<br />

e<strong>in</strong>em erheblichen Risiko weiterer Komplikationen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er erhöhten Mortalität<br />

assoziiert.<br />

Das neuropsychologische Kernproblem der »Verwirrtheit« besteht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Störung<br />

des Kurzzeitgedächtnisses – mit den Aspekten Bewusstse<strong>in</strong>, Aufmerksamkeit,<br />

Konzentration – derentwegen der Patient »aus der Spur gerät« (lat.: delirare)<br />

mit konsekutiver Bee<strong>in</strong>trächtigung von Langzeitgedächtnis, Wahrnehmung,<br />

Denken, Orientierung, Schlaf-Wach-Rhythmus sowie psychomotorischen <strong>und</strong><br />

affektiven Störungen. Die Symptomatik entwickelt sich <strong>in</strong> der Regel <strong>in</strong>nerhalb<br />

e<strong>in</strong>es kurzen Zeitraums <strong>und</strong> zeigt e<strong>in</strong>en fluktuierenden Verlauf. Die Dauer reicht<br />

von wenigen St<strong>und</strong>en oder Tagen bis zu mehreren Monaten. Nicht immer bilden<br />

sich alle Symptome vollständig zurück.<br />

VZ betreffen nahezu alle Fachgebiete der Mediz<strong>in</strong>. Während stationärer Behandlung<br />

werden delirante Episoden bei durchschnittlich 15% der älteren Patienten<br />

berichtet, nach operativen E<strong>in</strong>griffen beläuft sich die Inzidenz <strong>in</strong> Abhängigkeit<br />

von der Art des E<strong>in</strong>griffs <strong>und</strong> der Zusammensetzung der Patientenstichproben<br />

auf bis zu 50%. Trotz ihrer vielfach nachgewiesenen prognostischen Bedeutung<br />

sche<strong>in</strong>en VZ im kl<strong>in</strong>ischen Alltag noch immer <strong>in</strong> erheblichem Umfang unerkannt<br />

<strong>und</strong> die oftmals lebensbedrohlichen Ursachen unbehandelt zu bleiben. Die Therapie<br />

ist kausal orientiert <strong>und</strong> kann umfangreiche diagnostische Maßnahmen zur<br />

Aufdeckung der mutmaßlichen Ursachen <strong>und</strong> Auslöser notwendig machen. Für<br />

die symptomatische Behandlung s<strong>in</strong>d Neuroleptika ohne antichol<strong>in</strong>erge Nebenwirkungen<br />

Mittel der ersten Wahl. E<strong>in</strong>e angemessene Gestaltung der Umge bungsbed<strong>in</strong>gungen<br />

ist hilfreich. Patienten <strong>und</strong> Umfeld müssen geschützt werden.<br />

11.1 Term<strong>in</strong>ologie<br />

Der Begriff Verwirrtheitszustand (VZ; engl.: confusional state) wurde im<br />

deutschen Sprachraum bevorzugt für akut auft retende, von e<strong>in</strong>er globalen kognitiven<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigung begleitete Störungen verwendet . Die Bezeichnung<br />

Delir blieb traditionell e<strong>in</strong>em enger defi nierten, zusätzlich mit vegetativer<br />

Symptomatik <strong>und</strong> mit Halluz<strong>in</strong>ationen oder Wahngedanken e<strong>in</strong>hergehenden<br />

Krankheitsbild vorbehalten. International h<strong>in</strong>gegen wird der Term<strong>in</strong>us Delir


11.2 · Symptomatik <strong>und</strong> Verlauf<br />

193<br />

11<br />

seit langem <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er erweiterten Bedeutung gebraucht. In dieser Form hat er<br />

E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> die modernen psychiatrischen Klassifi kationssysteme gef<strong>und</strong>en.<br />

Da Wahn <strong>und</strong> Halluz<strong>in</strong>ationen ke<strong>in</strong> essentielles Kriterium für e<strong>in</strong> Delir darstellen,<br />

können die Begriff e VZ <strong>und</strong> Delir synonym verwendet werden.<br />

Im kl<strong>in</strong>ischen Alltag der operativen Fächer <strong>und</strong> der <strong>in</strong>neren Mediz<strong>in</strong> wird<br />

der 1961 von Wieck geprägte Begriff des Durchgangssyndroms nach wie vor<br />

häufi g benutzt. Er verweist auf die Reversibilität der Symptomatik <strong>und</strong> schließt<br />

e<strong>in</strong>ige der Symptome des VZ e<strong>in</strong>, erstreckt sich aber nicht auf Bewusstse<strong>in</strong>sstörungen<br />

<strong>und</strong> fi ndet ke<strong>in</strong>e Entsprechung <strong>in</strong> den aktuellen Diagnosemanualen.<br />

Ohne jeden nosologischen Bezug ist die umgangssprachlich verbreitete<br />

<strong>und</strong> im Sprachgebrauch von Pfl egee<strong>in</strong>richtungen <strong>und</strong> Gerichten unterschiedslos<br />

auf delirante <strong>und</strong> demente Patienten angewandte Charakterisierung als<br />

»verwirrt« oder »altersverwirrt«, die v. a. das unspezifi sche Symptom der Desorientiertheit<br />

zum Ausdruck br<strong>in</strong>gt.<br />

> E<strong>in</strong> VZ ist immer Ausdruck e<strong>in</strong>er akuten zerebralen Funktionsstörung<br />

<strong>und</strong> erfordert bei erstmaligem oder erneutem Auftreten erstens die<br />

umgehende E<strong>in</strong>leitung von Schutzmaßnahmen für Patient <strong>und</strong> Umfeld<br />

sowie zweitens e<strong>in</strong>e dr<strong>in</strong>gliche Ursachenklärung.<br />

11.2 Symptomatik <strong>und</strong> Verlauf<br />

11.2.1 Symptomatik<br />

E<strong>in</strong> VZ entwickelt sich üblicherweise <strong>in</strong>nerhalb von wenigen St<strong>und</strong>en oder<br />

Tagen. Nahezu regelhaft gehen dem Vollbild Prodromalsymptome voraus<br />

(. Abb. 11.1) . Dazu gehören vermehrte Ängstlichkeit, Schreckhaft igkeit, Unruhezustände<br />

<strong>und</strong> veränderte emotionale Reaktionen wie Reizbarkeit oder<br />

Teilnahmslosigkeit. Häufi g werden Schlafstörungen beobachtet, die <strong>in</strong> Schlaflosigkeit<br />

oder Rhythmusumkehr , <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nächtlichen Verschlimmerung der<br />

Symptome oder <strong>in</strong> Albträumen bestehen können.<br />

Im weiteren Verlauf bilden sich Störungen der Aufmerksamkeit <strong>und</strong><br />

Wachheit heraus. Diese können sich als reduzierte Fähigkeit zur Wahrnehmung<br />

von Umgebungsreizen manifestieren <strong>und</strong> zu erhöhter Irritierbarkeit<br />

des Patienten beitragen. In praxi bedeutet dies, dass es dem Patienten <strong>in</strong> dieser<br />

Phase nicht oder nur sehr schwer möglich ist, e<strong>in</strong>em Gespräch zu folgen. Er<br />

kann Fragen häufi g nur nach mehrmaliger Wiederholung oder zusätzlicher


11<br />

194 Kapitel 11 · Verwirrtheitszustände<br />

. Abb. 11.1 Schematische Darstellung der Entstehung e<strong>in</strong>es VZ, des Verlaufs <strong>und</strong> der notwendigen<br />

Diagnostik


11.2 · Symptomatik <strong>und</strong> Verlauf<br />

195<br />

11<br />

Erläuterung beantworten <strong>und</strong> wird durch ger<strong>in</strong>gste Vorkommnisse, Geräusche<br />

oder Bewegungen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Umgebung abgelenkt. Es kommt zu formalen<br />

Denkstörungen <strong>und</strong> zu starker Bee<strong>in</strong>trächtigung des Urteilsvermögens.<br />

Begleitet werden diese Symptome von Desorientiertheit, von Gedächtnis- <strong>und</strong><br />

von Sprachstörungen . Insbesondere zeigt sich e<strong>in</strong>e Desorientierung <strong>in</strong> Bezug<br />

auf Zeit <strong>und</strong> Ort, während die Orientierung zur Person am längsten erhalten<br />

bleibt. Es fällt dem Patienten schwer, se<strong>in</strong>en momentanen Aufenthaltsort oder<br />

das aktuelle Datum zu nennen, se<strong>in</strong>en Namen oder se<strong>in</strong> Geburtsdatum kann<br />

er h<strong>in</strong>gegen meist zutreff end wiedergeben. Inhalte des Altgedächtnisses können<br />

eher abgerufen werden als Inhalte des Neugedächtnisses. Auf Befragung<br />

können z. B. Ereignisse aus K<strong>in</strong>dheit <strong>und</strong> Jugend problemlos geschildert werden,<br />

die Umstände der soeben erfolgten Krankenhause<strong>in</strong>weisung s<strong>in</strong>d jedoch<br />

nicht mehr er<strong>in</strong>nerlich (Ribot-Gesetz, 7 Kap. 2).<br />

Die Sprache wird <strong>in</strong>kohärent, häufi g ist e<strong>in</strong>e Dysarthrie zu beobachten.<br />

Wahrnehmungsstörungen können illusionäre Verkennungen <strong>und</strong> Halluz<strong>in</strong>ationen<br />

zumeist visueller, aber auch auditiver, taktiler oder olfaktorischer Natur<br />

e<strong>in</strong>schließen. Sie können den Patienten, dessen Aff ekt im Allgeme<strong>in</strong>en<br />

labil <strong>und</strong> stark von Außenreizen abhängig ist <strong>und</strong> zwischen Apathie <strong>und</strong><br />

hochgradiger Erregung schwankend se<strong>in</strong> kann, u. U. zu selbst- oder fremdschädigendem<br />

Verhalten veranlassen.<br />

Die häufi g zu beobachtenden Veränderungen der Psychomotorik reichen<br />

von auff allender Bewegungsarmut bis zu extremer psychomotorischer Unruhe<br />

. Die große Bandbreite psychomotorischer Aktivität führte zur Unterscheidung<br />

zwischen e<strong>in</strong>er hypoaktiven <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er hyperaktiven Form<br />

(. Tab. 11.1) . Die kl<strong>in</strong>ische Bedeutsamkeit dieser Typisierung wird kontrovers<br />

beurteilt, zumal sich beide Formen bei demselben Patienten <strong>in</strong> rasch<br />

wechselnder Abfolge e<strong>in</strong>stellen können. Wichtig ist diese Unterscheidung jedoch<br />

<strong>in</strong>sofern, als sie den Blick schärft für die nicht selten vorkommende hypoaktive<br />

Variante, die bisher weitaus weniger Aufmerksamkeit erfahren hat<br />

<strong>und</strong> bei unzureichender Exploration fälschlich als depressive Störung angesehen<br />

werden oder allzu leicht unerkannt <strong>und</strong> unbehandelt bleiben kann.<br />

11.2.2 Verlauf<br />

Die Dauer e<strong>in</strong>er deliranten Episode ist zumeist auf e<strong>in</strong>ige Tage beschränkt<br />

<strong>und</strong> kann von symptomfreien Intervallen unterbrochen se<strong>in</strong>. In seltenen Fäl-


11<br />

196 Kapitel 11 · Verwirrtheitszustände<br />

. Tab. 11.1 Charakteristika des hypoaktiven <strong>und</strong> des hyperaktiven Delirs<br />

Hypoaktives Delir Hyperaktives Delir<br />

Teilnahmslosigkeit, Apathie,<br />

Schläfrigkeit<br />

len können die Symptome über mehrere Wochen oder Monate bestehen, <strong>in</strong>sbesondere<br />

wenn der Patient zugleich unter e<strong>in</strong>er Demenz leidet oder wenn<br />

das Delir im Rahmen e<strong>in</strong>es Karz<strong>in</strong>oms oder e<strong>in</strong>er chronischen Lebererkrankung<br />

auft ritt. Bei älteren Patienten ist die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit länger dauernder<br />

Episoden erhöht. Des Weiteren steigt mit zunehmendem Alter das<br />

Risiko e<strong>in</strong>er unvollständigen Symptomremission. Residualstörungen können<br />

bestehen bleiben <strong>und</strong> zu anhaltenden Bee<strong>in</strong>trächtigungen bei der Bewältigung<br />

der Alltagsanforderungen führen. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass die<br />

kognitiven Störungen weniger transient <strong>und</strong> reversibel s<strong>in</strong>d, als zumeist angenommen<br />

wurde. Im höheren Lebensalter wurden fortbestehende kognitive<br />

Defi zite bei bis zu 40% der Patienten berichtet. Allerd<strong>in</strong>gs ist unklar, <strong>in</strong>wieweit<br />

diese Defi zite unerkannten vorbestehenden Demenzerkrankungen zugeschrieben<br />

werden müssen. Neben der Gefahr bleibender Bee<strong>in</strong>trächtigungen<br />

besteht ferner e<strong>in</strong> stark erhöhtes Risiko für das Auft reten von Komplikationen<br />

wie Pneumonien , Liegegeschwüre oder Stürze sowie e<strong>in</strong> beträchtlich erhöhtes<br />

Mortalitätsrisiko.<br />

11.3 Kl<strong>in</strong>ische Diagnosekriterien<br />

Erhöhte Reizbarkeit, Irritierbarkeit,<br />

Ungeduld<br />

Herabgesetztes Reaktionsvermögen Psychomotorische Unruhe<br />

Verr<strong>in</strong>gerte, verlangsamte Bewegungen<br />

E<strong>in</strong>geschränkte Kontaktfähigkeit<br />

Vegetative Symptomatik (Tremor ,<br />

Tachykardie , Hyperhidrosis etc.)<br />

Sprachverarmung <strong>und</strong> -verlangsamung Verstärkter Rededrang<br />

Desorientiertheit Desorientiertheit<br />

Produktive Symptomatik oft nur nach Produktive Symptomatik (häufig visuelle<br />

e<strong>in</strong>gehender Exploration erkennbar Halluz<strong>in</strong>ationen)<br />

Die Diagnose des VZ erfolgt erstens auf der Syndromebene <strong>und</strong> zielt zweitens<br />

notwendigerweise auf die zugr<strong>und</strong>e liegende Ursache . Die Syndromdiagnose


11.4 · Differenzialdiagnose Delir/Demenz<br />

197<br />

11<br />

erfolgt kl<strong>in</strong>isch. Laborbef<strong>und</strong>e, apparative Untersuchungsverfahren wie CT<br />

oder EEG (7 Kap. 22) oder sonstige Tests s<strong>in</strong>d nicht pathognostisch, sie können<br />

aber zur Klärung der Ätiologie beitragen.<br />

Die beiden gebräuchlichen Klassifi kationssysteme DSM-IV <strong>und</strong> ICD-10<br />

stimmen bezüglich der entscheidenden Kriterien e<strong>in</strong>er verr<strong>in</strong>gerten Klarheit<br />

der Umgebungswahrnehmung <strong>und</strong> des Bestehens von kognitiven Störungen<br />

mite<strong>in</strong>ander übere<strong>in</strong> (. Tab. 11.2). Nach ICD-10 werden als weitere essentielle<br />

Kriterien e<strong>in</strong>e Störung der Psychomotorik, die sich entweder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em raschen,<br />

nicht vorhersagbaren Wechsel zwischen Hypo- <strong>und</strong> Hyperaktivität, <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em vermehrten oder verm<strong>in</strong>derten Redefl uss, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er verlängerten Reaktionszeit<br />

oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er verstärkten Schreckhaft igkeit äußern kann, sowie e<strong>in</strong>e<br />

Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus gefordert. DSM-IV erachtet diese Störungen<br />

als zwar häufi g auft retend, jedoch nicht für e<strong>in</strong>e Diagnose notwendig.<br />

Als weitere fakultative Symptome gelten <strong>in</strong> beiden Systemen aff ektive Störungen<br />

wie Angst , Depressivität , Euphorie oder Teilnahmslosigkeit sowie<br />

illusionäre Verkennungen <strong>und</strong> Halluz<strong>in</strong>ationen oder fl üchtige Wahnvorstellungen<br />

, die häufi g vorkommen können.<br />

11.4 Diff erenzialdiagnose Delir/Demenz<br />

Bei älteren Patienten muss zunächst häufi g entschieden werden, ob e<strong>in</strong><br />

Demenz- oder e<strong>in</strong> Verwirrtheitssyndrom vorliegt. Damit verb<strong>und</strong>en ist die<br />

Frage, ob es sich ausschließlich um e<strong>in</strong>en VZ handelt oder ob der VZ e<strong>in</strong>e<br />

vorbestehende Demenz überlagert. Beide Krankheitsbilder s<strong>in</strong>d durch kognitive<br />

Störungen gekennzeichnet, außerdem entwickelt sich e<strong>in</strong> VZ häufi g auf<br />

dem Boden e<strong>in</strong>er Demenzerkrankung oder vorbestehender kognitiver E<strong>in</strong>bußen.<br />

Leidet der Patient ausschließlich an e<strong>in</strong>er Demenz, so weist er nicht die<br />

für e<strong>in</strong>en VZ charakteristische Störung des Kurzzeitgedächtnisses, des »Bewusstse<strong>in</strong>s«,<br />

auf. Liegt ausschließlich e<strong>in</strong> VZ vor, so geben der rasche zeitliche<br />

Verlauf der Störungen <strong>und</strong> die Fluktuationen im Tagesverlauf wichtige H<strong>in</strong>weise.<br />

Informationen von Familienangehörigen können Aufschluss darüber<br />

geben, ob kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigungen bereits vor dem Auft reten der aktuellen<br />

Symptomatik bestanden. . Tab. 11.3 fasst Anhaltspunkte für die im<br />

Querschnitt oft schwierige Unterscheidung zwischen Demenz <strong>und</strong> VZ zusammen.


11<br />

198 Kapitel 11 · Verwirrtheitszustände<br />

. Tab. 11.2 Diagnostische Kriterien für e<strong>in</strong>en VZ nach ICD-10-R (F05, nicht durch<br />

Alkohol oder psychotrope Substanzen bed<strong>in</strong>gt) <strong>und</strong> DSM-IV (verursacht durch<br />

somatische Erkrankungen)<br />

Bewusstse<strong>in</strong>sstörung<br />

Kognitive<br />

Defizite<br />

Psychomotorische<br />

Störung<br />

Schlaf-<br />

Wach-<br />

Rhythmus<br />

ICD-10-R DSM-IV<br />

Verm<strong>in</strong>derte Klarheit <strong>in</strong> der Umgebungswahrnehmung mit e<strong>in</strong>er<br />

verm<strong>in</strong>derten Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu fokussieren, aufrechtzuerhalten<br />

<strong>und</strong> umzustellen<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigung der unmittelbaren<br />

Wiedergabe <strong>und</strong> des<br />

verzö gerten Wiederer<strong>in</strong>nerns bei<br />

relativ <strong>in</strong>taktem Altgedächtnis;<br />

Desorientierung zu Zeit, Ort <strong>und</strong><br />

Person a<br />

Rascher, nicht vorhersagbarer<br />

Wechsel zwischen Hypo- <strong>und</strong><br />

Hyperaktivität; verlängerte<br />

Reaktionszeit; vermehrter oder<br />

verm<strong>in</strong>derter Redefluss; verstärkte<br />

Schreckreaktion b<br />

Schlafstörung, <strong>in</strong> schweren Fällen<br />

vollkommene Schlaflosigkeit, mit<br />

oder ohne Schläfrigkeit am Tag,<br />

oder Umkehrung des Schlaf-Wach-<br />

Rhythmus; nächtliche Verschlimmerung<br />

der Symptome; unangenehme<br />

Träume oder Albträume, die<br />

nach dem Erwachen als Halluz<strong>in</strong>ationen<br />

oder Illusionen weiterbestehen<br />

können b<br />

Verlauf Plötzlicher Beg<strong>in</strong>n <strong>und</strong> Änderung<br />

der Symptomausprägung im<br />

Tagesverlauf<br />

Ursachennachweis<br />

7 Kap. 1 7 Kap. 1<br />

E<strong>in</strong>e Veränderung der Kognition<br />

(Amnesie, Desorientierung,<br />

Sprachstörung) oder Wahrnehmungsstörung,<br />

die nicht besser<br />

durch e<strong>in</strong>e vorbestehende,<br />

manifeste oder sich entwickelnde<br />

Demenz zu erklären ist<br />

–<br />

–<br />

Die Störung entwickelt sich über<br />

e<strong>in</strong>en kurzen Zeitraum (meist<br />

St<strong>und</strong>en bis Tage) <strong>und</strong> fluktuiert<br />

meist im Tagesverlauf<br />

a Im Orig<strong>in</strong>al ist hier im mediz<strong>in</strong>ischen Kauderwelsch von »Immediatgedächtnis«<br />

(für unmittelbare Wiedergabe) <strong>und</strong> »Kurzzeitgedächtnis« (für verzögertes<br />

Wieder er<strong>in</strong>nern) die Rede.<br />

b M<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> Merkmal muss vorliegen.


11.5 · Häufigkeit<br />

11.5 Häufi gkeit<br />

199<br />

. Tab. 11.3 Differenzialdiagnose von VZ <strong>und</strong> Alzheimer-Demenz (AD)<br />

VZ AD<br />

Aufmerksamkeit Gestört Relativ unbee<strong>in</strong>trächtigt<br />

Kognitive Störungen<br />

4 Desorientiertheit Gewöhnlich vorhanden, v. a.<br />

zeitliche Desorientiertheit<br />

4 Sprache Inkohärent, Redefluss<br />

gesteigert oder reduziert<br />

4 Halluz<strong>in</strong>ationen,<br />

Verkennungen<br />

Gewöhnlich visuell oder<br />

visuell <strong>und</strong> auditorisch<br />

Häufig, <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong><br />

schwereren Stadien<br />

11<br />

Verarmt, Wortf<strong>in</strong>dungsstörungen,<br />

Perseverationen<br />

Selten<br />

Psychomotorik Ruhelos oder hypoaktiv Zumeist unauffällig<br />

Schlaf-Wach-<br />

Rhythmus<br />

Tagesschläfrigkeit,<br />

E<strong>in</strong>schlafschwierigkeiten,<br />

Albträume<br />

Affekt Labil, schreckhaft, ängstlich,<br />

apathisch<br />

Körperliche<br />

Symptome<br />

Gelegentlich nächtliche<br />

Unruhe<br />

In Frühphasen oft<br />

depressiv<br />

Vegetative Symptome Zumeist ke<strong>in</strong>e<br />

Störungsbeg<strong>in</strong>n Akut e<strong>in</strong>setzend, häufig<br />

nachts<br />

Symptomdauer St<strong>und</strong>en oder Tage<br />

(bis Monate)<br />

Symptomatik im<br />

Tagesverlauf<br />

Fluktuierend, luzide<br />

Intervalle, nächtliche<br />

Exazerbationen<br />

E<strong>in</strong>schleichend<br />

Jahre<br />

Stabil<br />

VZ können <strong>in</strong> jedem Lebensalter auft reten, sie entwickeln sich jedoch überwiegend<br />

jenseits des 60. Lebensjahres . Unter körperlich kranken Älteren zählen<br />

sie zu den häufi gsten psychischen Störungen. Aufgr<strong>und</strong> der kurzen Dauer


11<br />

200 Kapitel 11 · Verwirrtheitszustände<br />

der Störungen <strong>und</strong> ihres fl uktuierenden Verlaufs ist allerd<strong>in</strong>gs noch unklar,<br />

wie häufi g sie <strong>in</strong> der Allgeme<strong>in</strong>bevölkerung auft reten. Die bisherigen Studien<br />

bezogen sich fast ausschließlich auf Patienten <strong>in</strong> verschiedenartigen kl<strong>in</strong>ischen<br />

E<strong>in</strong>richtungen. Da sich die untersuchten Patientengruppen beträchtlich vone<strong>in</strong>ander<br />

unterscheiden <strong>und</strong> verschiedene Untersuchungsverfahren <strong>und</strong> diagnostische<br />

Kriterien verwendet wurden, streuen die Resultate sehr stark <strong>und</strong><br />

bieten e<strong>in</strong>en eher groben Anhaltspunkt, bei wie vielen stationär behandelten<br />

Patienten mit der Entwicklung e<strong>in</strong>es VZ zu rechnen ist.<br />

In Allgeme<strong>in</strong>krankenhäusern fand man bei bis zu e<strong>in</strong>em Drittel der älteren<br />

Patienten e<strong>in</strong>en VZ, der entweder schon bei Aufnahme bestand oder<br />

sich während des Kl<strong>in</strong>ikaufenthalts entwickelte. Die neueren Studien schätzen,<br />

dass während stationärer Behandlung im Mittel etwa bei jedem 6. Patienten<br />

e<strong>in</strong>e Episode e<strong>in</strong>es VZ beobachtet werden kann. Teilweise weit höhere<br />

Raten werden für Patienten <strong>in</strong> chirurgischen Abteilungen berichtet. So beläuft<br />

sich die Häufi gkeit des Auft retens postoperativer VZ unter Patienten, die sich<br />

akuten orthopädischen oder unfallchirurgischen E<strong>in</strong>griff en unterzogen auf<br />

über 20%, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnen Studien sogar auf bis zu 50% . Ähnlich hohe Raten<br />

werden für den Postkardiotomie-VZ mitgeteilt. Sehr häufi g s<strong>in</strong>d VZ auch bei<br />

Pfl egeheimbewohnern zu beobachten. Da sie hier vorwiegend im Rahmen e<strong>in</strong>er<br />

Demenzerkrankung auft reten, wird ihr Vorkommen <strong>in</strong> der Regel stark<br />

unterschätzt.<br />

Die Bedeutung e<strong>in</strong>er frühzeitigen Erkennung <strong>und</strong> Behandlung von VZ<br />

wird unterstrichen durch die teilweise schwerwiegenden Komplikationen, die<br />

nicht zuletzt zu e<strong>in</strong>er beträchtlich verlängerten stationären Verweildauer beitragen<br />

<strong>und</strong> erhebliche Zusatzkosten verursachen, <strong>und</strong> durch die erhöhte<br />

Sterblichkeit deliranter Patienten (Van den Boogaard et al. 2010).<br />

11.6 Ursachen <strong>und</strong> Risikofaktoren<br />

11.6.1 Prädisponierende Faktoren<br />

In allen Studien zeigen sich e<strong>in</strong> kont<strong>in</strong>uierlicher Risikoanstieg mit zunehmendem<br />

Alter <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e vielfache Erhöhung der Erkrankungsraten bei vorbestehenden<br />

kognitiven Störungen. Weith<strong>in</strong> übere<strong>in</strong>stimmend werden Bee<strong>in</strong>trächtigungen<br />

des Seh- <strong>und</strong> des Hörvermögens sowie der körperliche Allgeme<strong>in</strong>zustand<br />

<strong>und</strong> die somatische Komorbidität als Risikofaktoren beschrie-


11.6 · Ursachen <strong>und</strong> Risikofaktoren<br />

201<br />

11<br />

ben. Zusammenhänge wurden berichtet mit Elektrolytstörungen (<strong>in</strong>sbesondere<br />

Hypo- <strong>und</strong> Hyperkaliämien sowie Hypo- <strong>und</strong> Hypernatriämien), erniedrigten<br />

Album<strong>in</strong>werten, Leukozytose , Fieber <strong>und</strong> Hypothermie , Diabetes mellitus<br />

, Schilddrüsenfunktionsstörungen , starkem Hypertonus . Die jeweilige pathogenetische<br />

Bedeutung dieser Faktoren <strong>und</strong> der Eff ekt ihrer Interaktion s<strong>in</strong>d<br />

schwierig zu ermitteln. Es ersche<strong>in</strong>t aber ratsam, Patienten, die e<strong>in</strong>en oder<br />

mehrere dieser Faktoren aufweisen, besonders sorgfältig zu überwachen.<br />

Risikogruppen für die Entwicklung e<strong>in</strong>es VZ<br />

4 Ältere Menschen<br />

4 Patienten mit Alkohol-, Drogen- <strong>und</strong> Medikamentenabhängigkeit<br />

4 Patienten mit vorbestehenden kognitiven Defiziten<br />

4 Patienten mit depressiven Erkrankungen<br />

4 Patienten (vor oder) nach operativen E<strong>in</strong>griffen, v. a. akut notwendigen<br />

E<strong>in</strong>griffen<br />

4 Multimorbide Patienten<br />

4 Patienten, die e<strong>in</strong>e große Zahl verschiedener Medikamente e<strong>in</strong>nehmen<br />

(Polypharmazie )<br />

11.6.2 Auslösende Faktoren<br />

Auslösende Faktoren s<strong>in</strong>d häufi g operative E<strong>in</strong>griff e, e<strong>in</strong> durch die bevorstehende<br />

Operation erhöhtes Angstniveau sowie der durch die Krankenhausaufnahme<br />

verursachte Umgebungswechsel. Ebenfalls beschrieben wurden Zusammenhänge<br />

mit Umgebungsbed<strong>in</strong>gungen, die zu e<strong>in</strong>er Reizüberfl utung, zu<br />

Schlafstörungen <strong>und</strong> zur E<strong>in</strong>ebnung der gewohnten Tagesrhythmik führen,<br />

wie die Unterbr<strong>in</strong>gung auf Intensivstationen sowie e<strong>in</strong>e Reizdeprivation während<br />

des stationären Aufenthalts beispielsweise nach Kataraktoperationen.<br />

11.6.3 Ätiologische Faktoren<br />

Die <strong>in</strong> . Tab. 11.4 aufgeführten ätiologisch relevanten Faktoren für die Entwicklung<br />

e<strong>in</strong>es VZ treten altersabhängig unterschiedlich häufi g auf. Während


11<br />

202 Kapitel 11 · Verwirrtheitszustände<br />

. Tab. 11.4 Ätiologie <strong>und</strong> Risikofaktoren für e<strong>in</strong>en VZ<br />

Ätiologie Beispiele<br />

Substanz<strong>in</strong>toxikation Alkohol, Drogen, Gifte, Schwermetalle, Organophosphate,<br />

Medikamente (. Tab. 11.5)<br />

Substanzentzug Alkohol, Opiate, Hero<strong>in</strong>, Sedativa, Hypnotika<br />

Operative E<strong>in</strong>griffe Kardiochirurgische <strong>und</strong> orthopädische E<strong>in</strong>griffe, Kataraktoperationen<br />

Somatische<br />

Gr<strong>und</strong> erkrankungen<br />

Raumforderungen, Infektionen <strong>und</strong> Verletzungen des<br />

Gehirns (z. B. Men<strong>in</strong>gitis , Enzephalitis , Lues , HIV , <strong>in</strong>trazerebrale<br />

Blutungen, Hämatome, Men<strong>in</strong>geome ), Störungen des<br />

Glukose- <strong>und</strong> Elektrolythaushalts sowie des Stoffwechsels<br />

(z. B. Azidose , Alkalose ), Infektionen (v. a. Harnwegs<strong>in</strong>fekte),<br />

Nieren- <strong>und</strong> Lebererkrankungen, pulmonale Erkrankungen,<br />

Herz<strong>in</strong>suffizienz , Störungen der Schilddrüsen- <strong>und</strong> Neben -<br />

nierenfunktion, Hyperthermie , Hypothermie<br />

Mangelernährung Thiam<strong>in</strong>-, Vitam<strong>in</strong>-B 12 -Mangel<br />

Sonstige Faktoren <strong>Demenzen</strong>, leichte kognitive Störungen, Depression, Angst,<br />

Alter, sensorische Bee<strong>in</strong>trächtigungen, Reizdeprivation,<br />

Umgebungswechsel<br />

im K<strong>in</strong>desalter häufi g fi ebrige Erkrankungen für e<strong>in</strong>en VZ verantwortlich<br />

s<strong>in</strong>d, kommt im mittleren Lebensalter Substanz<strong>in</strong>toxikationen <strong>und</strong> -entzügen<br />

e<strong>in</strong> hoher Stellenwert zu. Im höheren Lebensalter spielen neben demenziellen<br />

<strong>und</strong> depressiven Störungen v. a. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Lungenerkrankungen,<br />

Infektionen, Stoff wechselstörungen, Störungen des Elektrolythaushalts<br />

<strong>und</strong> neben dieser Multimorbidität auch die Polypharmazie e<strong>in</strong>e<br />

wichtige Rolle .<br />

Zahlreiche Medikamentengruppen können an der Auslösung e<strong>in</strong>es VZ<br />

beteiligt se<strong>in</strong> (. Tab. 11.5). E<strong>in</strong>e besondere Gefährdung geht dabei von Medikamenten<br />

mit antichol<strong>in</strong>ergen Wirkkomponenten aus, die aufgr<strong>und</strong> der mit<br />

dem Alter abnehmenden chol<strong>in</strong>ergen Neurotransmission v. a. ältere Menschen<br />

anfälliger machen. Zu diesen Präparaten, die auch <strong>in</strong> therapeutischer


11.6 · Ursachen <strong>und</strong> Risikofaktoren<br />

. Tab. 11.5 Deliriogene Medikamente<br />

Analgetika Opiate, Salizylate, Indomethac<strong>in</strong><br />

203<br />

Antichol<strong>in</strong>ergika Trizyklische Antidepressiva, Antihistam<strong>in</strong>ika, Atrop<strong>in</strong>,<br />

Diphenhydram<strong>in</strong>, Phenothiaz<strong>in</strong>e, Clozap<strong>in</strong>, Scopolam<strong>in</strong>,<br />

Spasmolytika<br />

Antibiotika Gyrasehemmer, Chloroqu<strong>in</strong>, Aciclovir, Amphoteric<strong>in</strong> B,<br />

Cephalex<strong>in</strong>, Cyclospor<strong>in</strong>, Penicill<strong>in</strong>e<br />

Antikonvulsiva Phenobarbital, Phenyto<strong>in</strong>, Primidon, Valproat, Lamotrig<strong>in</strong>,<br />

Topiramat<br />

Antiphlogistika ACTH, Kortikoide, Ibuprofen, Indometac<strong>in</strong>, Phenylbutazon<br />

Benzodiazep<strong>in</strong>e<br />

Kardiaka ACE-Hemmer, Clonid<strong>in</strong>, β-Blocker, Digitalis, Lidoca<strong>in</strong>,<br />

Methyldopa, Guanid<strong>in</strong>, Proca<strong>in</strong>amid, Thiazide<br />

Park<strong>in</strong>sonmittel Amantad<strong>in</strong>, Levodopa, Biperiden, Dopam<strong>in</strong>agonisten<br />

Sympathomimetika Amphetam<strong>in</strong>e, Phenylephedr<strong>in</strong><br />

Tuberkulostatika Isoniazid, Rifampic<strong>in</strong><br />

Zytostatika 5-Fluoruracil<br />

Sonstige Lithium , Metronidazol , Propylthiouracil, Steroide,<br />

Theophyll<strong>in</strong>, Virustatika<br />

ACTH adrenokortikotropes Hormon.<br />

11<br />

Dosierung zur Entstehung e<strong>in</strong>es Delirs beitragen können, zählen nicht nur<br />

Substanzen mit bekannt starker antichol<strong>in</strong>erger Wirkung wie etwa trizyklische<br />

Antidepressiva (auch das mittlerweile als schlafunterstützendes Mittel<br />

beliebte Trimipram<strong>in</strong>!) , vielmehr weisen nahezu alle Moleküle, die <strong>in</strong> der modernen<br />

Mediz<strong>in</strong> verordnet werden, e<strong>in</strong>e antichol<strong>in</strong>erge Wirkung auf. Dies ist<br />

auf die mangelnde Spezifi tät auf der Rezeptorseite zurückzuführen <strong>und</strong> nicht<br />

notwendigerweise der Industrie anzulasten.<br />

Die Identifi kation der e<strong>in</strong>em VZ zugr<strong>und</strong>e liegenden Ursachen setzt angesichts<br />

der großen Zahl potenzieller Auslöser e<strong>in</strong>e überaus sorgfältige <strong>und</strong>


11<br />

204 Kapitel 11 · Verwirrtheitszustände<br />

dr<strong>in</strong>gliche mediz<strong>in</strong>ische Untersuchung voraus (. Abb. 11.2). Wegweisend<br />

s<strong>in</strong>d Krankheits- <strong>und</strong> Medikamentenanamnese, Laborstatus, EKG, Röntgenthorax<br />

<strong>und</strong> hämatologische, kardiologische oder toxikologische Zusatzuntersuchungen,<br />

sofern sich entsprechende kl<strong>in</strong>ische Verdachtsmomente ergeben.<br />

11.7 Pathogenese<br />

Psychologischer Stress, Störungen der chol<strong>in</strong>ergen Neurotransmission, Entzündungsmechanismen<br />

u. v. a. können zur Entstehung e<strong>in</strong>es VZ beitragen.<br />

Für die Bedeutung des Acetylchol<strong>in</strong>mangels <strong>in</strong> der Pathogenese der VZ<br />

gibt es e<strong>in</strong>e Reihe relevanter Anhaltspunkte (Campbell et al. 2009) . Antichol<strong>in</strong>erg<br />

wirksame Medikamente können e<strong>in</strong>en VZ hervorrufen <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> kl<strong>in</strong>ischen<br />

Studien gehäuft mit VZ assoziiert. Durch die Behandlung mit Chol<strong>in</strong>esterasehemmern<br />

wie Physostigm<strong>in</strong> lassen sich rasche Besserungen e<strong>in</strong>es mit<br />

Antichol<strong>in</strong>ergika im Zusammenhang stehenden VZ herbeiführen. E<strong>in</strong> bee<strong>in</strong>trächtigter<br />

zerebraler Metabolismus – etwa aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Hypoxie – führt zu<br />

e<strong>in</strong>er verm<strong>in</strong>derten Acetylchol<strong>in</strong>synthese <strong>und</strong> kann damit akute kognitive<br />

Defi zite verursachen. Der akute Nutzen von Chol<strong>in</strong>esterasehemmern für die<br />

Prävention <strong>und</strong> Behandlung von VZ konnte jedoch <strong>in</strong> größeren Studien noch<br />

nicht überzeugend nachgewiesen werden (z. B. Van Eijk et al. 2010). Die sehr<br />

vorsichtige Verabreichung des Chol<strong>in</strong>esterasehemmers Physostigm<strong>in</strong> (0,5–<br />

1,0 mg i.v.) kann zu e<strong>in</strong>em kurzfristigen Aufk laren führen (kurze Halbwertszeit)<br />

<strong>und</strong> darf nur bei <strong>in</strong>tensiver Überwachung <strong>und</strong> großer Erfahrung durchgeführt<br />

werden.<br />

Dopam<strong>in</strong>überschuss bzw. e<strong>in</strong>e Dysbalance zwischen chol<strong>in</strong>ergem <strong>und</strong> dopam<strong>in</strong>ergem<br />

System stehen ebenfalls mit VZ <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung. Dopam<strong>in</strong>agonisten<br />

zur Park<strong>in</strong>son-Behandlung können e<strong>in</strong>en VZ auslösen, während sich Dopam<strong>in</strong>antagonisten<br />

wie z. B. Haloperidol als wirksam <strong>in</strong> der Behandlung von<br />

Symptomen e<strong>in</strong>es VZ erwiesen haben.<br />

Die pathophysiologischen Konsequenzen von akuten <strong>und</strong> chronischen<br />

Stressreaktionen sche<strong>in</strong>en VZ herbeiführen <strong>und</strong> die Dauer der Symptomatik<br />

bee<strong>in</strong>fl ussen zu können. Stress aktiviert Vegetativum <strong>und</strong> HPA-Achse <strong>und</strong><br />

führt zu erhöhten Zytok<strong>in</strong>spiegeln <strong>und</strong> Hyperkortisolismus (Pearson et al.<br />

2010). Bei Patienten mit postoperativem VZ konnten <strong>in</strong> mehreren Studien<br />

erhöhte Kortisolspiegel nachgewiesen werden.


11.8 · Therapie<br />

Niedrig<br />

Alt<br />

E<strong>in</strong>sam<br />

Ängstlich<br />

Depressiv<br />

Dement<br />

Multimorbid<br />

Polypharmaziert<br />

Hoch<br />

Vulnerabilität Noxe<br />

205<br />

11<br />

. Abb. 11.2 Bei hoher Vulnerabilität können ger<strong>in</strong>gfügige Stressfaktoren zum Auftreten<br />

e<strong>in</strong>es Verwirrtheitszustands führen; umgekehrt können auch resiliente Personen bei ausreichend<br />

hoher Belastung e<strong>in</strong>en Verwirrtheitszustand entwickeln. (Mod. nach Fischer u.<br />

Assem-Hilger 2003)<br />

Viele H<strong>in</strong>weise sprechen für die Beteiligung zerebraler Entzündungsreaktionen<br />

an der Entstehung von VZ. Infektionen oder chirurgische E<strong>in</strong>griff e<br />

können Prozesse anstoßen, die über die erhöhte Freisetzung von Zytok<strong>in</strong>en zu<br />

e<strong>in</strong>er neuro<strong>in</strong>fl ammatorischen Reaktion <strong>und</strong> Störung der Neurotransmission<br />

führen oder direkt neurotoxisch wirken.<br />

11.8 Therapie<br />

Stark<br />

Operation<br />

Infektion<br />

Opiate<br />

Antichol<strong>in</strong>ergika<br />

Entzug<br />

(Schlaf-, C2- &<br />

Medikamente)<br />

Deprivation<br />

Immobilisation<br />

Jeder<br />

Stress<br />

3 6<br />

Schwach<br />

Delir<br />

Die Früherkennung e<strong>in</strong>es VZ verh<strong>in</strong>dert lebensbedrohliche Komplikationen.<br />

E<strong>in</strong> VZ sollte stets stationär, bei besonders ausgeprägtem Bef<strong>und</strong> sogar <strong>in</strong>tensivmediz<strong>in</strong>isch<br />

behandelt werden.<br />

Für VZ gibt es nicht e<strong>in</strong>e Standardbehandlung, die allen Situationen gerecht<br />

würde (NICE 2010; Sendelbach u. Guthrie 2009). Gr<strong>und</strong>sätzlich s<strong>in</strong>d<br />

folgende Schritte notwendig (. Abb. 11.3).


11<br />

206 Kapitel 11 · Verwirrtheitszustände<br />

Kl<strong>in</strong>ische Syndromdiagnose<br />

1. Pflege<br />

2. Mediz<strong>in</strong>ische Basisversorgung<br />

<strong>3.</strong> Symptomatische Behandlung<br />

. Abb. 11.3 Diagnostisches <strong>und</strong> therapeutisches Prozedere bei Vorliegen e<strong>in</strong>es Verwirrtheitszustands.<br />

Unmittelbar nach der Syndromdiagnose muss parallel zu Pfl ege, mediz<strong>in</strong>ischer<br />

Basisversorgung <strong>und</strong> Symptombehandlung dr<strong>in</strong>glich <strong>und</strong> konsequent die Ursachenforschung<br />

vorangetrieben werden – auch dann, wenn die allgeme<strong>in</strong>en Maßnahmen<br />

rasch zu e<strong>in</strong>er Beruhigung des kl<strong>in</strong>ischen Problems führen<br />

11.8.1 Pfl ege<br />

Ursachenklärung<br />

Ergänzung der Anamnese<br />

(Gr<strong>und</strong>erkrankungen,<br />

Medikamente, ...),<br />

Labordiagnostik,<br />

Bildgebung, ...<br />

4. Kausaltherapie<br />

Patient <strong>und</strong> Umfeld müssen gesichert werden. Die Situation ist häufi g bereits<br />

durch e<strong>in</strong>e geeignete Kontaktaufnahme zu beruhigen. De-eskalierendes Verhalten<br />

bei akuter Anspannung wird durch Sicherheit <strong>und</strong> Übung e<strong>in</strong>es ruhig<br />

<strong>und</strong> geschlossen auft retenden Teams erleichtert. Diese Problemsituationen<br />

müssen regelmäßig geübt <strong>und</strong> besprochen werden (Krisenmomente s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e<br />

geeignete Gelegenheit für berufspolitische Gr<strong>und</strong>satzdiskussionen!).<br />

Wohldosierter Kontakt zum Patienten kann helfen, die Entstehung von<br />

VZ zu verh<strong>in</strong>dern <strong>und</strong> sie rascher zur Rückbildung zu br<strong>in</strong>gen. Fre<strong>und</strong>liche<br />

<strong>und</strong> klare Kommunikation entspannen die Situation. Geeignete Angehörigenkontakte<br />

<strong>und</strong> Room<strong>in</strong>g-<strong>in</strong> können nützlich se<strong>in</strong>. Wichtig s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>deutige<br />

Orientierungshilfen <strong>und</strong> gute Beleuchtung mit geeigneter tageszeitlicher Anpassung.<br />

Hilfreich ist e<strong>in</strong>e Lagerung mit leicht erhöhtem Oberkörper. E<strong>in</strong>-


11.8 · Therapie<br />

207<br />

11<br />

fache schlafh ygienische Maßnahmen s<strong>in</strong>d häufi g notwendig <strong>und</strong> durchführbar.<br />

Bei älteren Menschen darf auf e<strong>in</strong>e notwendige Prothetik nicht verzichtet<br />

werden (Brille, Hörgerät, Zahnersatz, Gehilfen etc.). Immobilisierung ist e<strong>in</strong><br />

Risikofaktor für die Entwicklung von VZ; Mobilisierung ist e<strong>in</strong> wichtiger erster<br />

Schritt zur Rehabilitation.<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich s<strong>in</strong>d die Pr<strong>in</strong>zipien der Versorgung von Schwerkranken zu<br />

beachten. Dies schließt die Überwachung e<strong>in</strong>er ausreichenden Nahrungs-<br />

<strong>und</strong> Flüssigkeitszufuhr, Th romboseprophylaxe, Lagerung <strong>und</strong> Mobilisation<br />

sowie e<strong>in</strong>e regelmäßige Prüfung der Vitalparameter e<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>e Sitzwache kann<br />

erforderlich se<strong>in</strong>. Nur bei höchst aggressiven, selbst- oder fremdgefährdenden<br />

Patienten sollte man als letzte Maßnahme unter geeigneter Überwachung e<strong>in</strong>e<br />

Fixierung durchführen.<br />

11.8.2 Mediz<strong>in</strong>ische Basisversorgung<br />

Viele ältere Patienten mit VZ s<strong>in</strong>d unzureichend hydriert. Geeignete Flüssigkeits-,<br />

Sauerstoff - <strong>und</strong> Substratzufuhr verbessern die Hirnleistung, ebenso die<br />

Behandlung von Schmerzen, Obstipation <strong>und</strong> Harnstau.<br />

> Besonders wichtig ist die Überprüfung der Medikation h<strong>in</strong>sichtlich<br />

Dosierung, Zahl, Interaktionen <strong>und</strong> Nebenwirkungen der Substanzen,<br />

Regelmäßigkeit <strong>und</strong> Zuverlässigkeit der E<strong>in</strong>nahme. S<strong>in</strong>d alle Substanzen<br />

notwendig? Erfolgte die E<strong>in</strong>nahme konstant? Muss Art <strong>und</strong> Dosierung<br />

der Medikamente angepasst werden?<br />

11.8.3 Symptomatische Medikamentenbehandlung<br />

Vielfach müssen bestimmte belastende Symptome bereits vor e<strong>in</strong>deutiger<br />

Aufk lärung der Ursachen symptomatisch behandelt werden. Ziele dabei s<strong>in</strong>d<br />

die Entlastung <strong>und</strong> der Schutz von Patienten <strong>und</strong> Pfl egepersonen. E<strong>in</strong>e symptomatische<br />

Behandlung darf aber niemals dazu führen, dass die Symptome<br />

kaschiert <strong>und</strong> die Ursache verschleiert werden, sodass den wegen nachlassender<br />

Dr<strong>in</strong>glichkeit e<strong>in</strong>e Ursachenklärung unterbleibt.<br />

4 Benzodiazep<strong>in</strong>e: Bei hoher Anspannung, Agitation <strong>und</strong> Aggressivität<br />

auch des älteren verwirrten Menschen kann die kurzfristige Gabe der<br />

niedrigst notwendigen Dosis von Benzodiazep<strong>in</strong>en hilfreich se<strong>in</strong>, v. a.


11<br />

208 Kapitel 11 · Verwirrtheitszustände<br />

dann, wenn der Patient bereits e<strong>in</strong>e Benzodiazep<strong>in</strong>abhängigkeit aufweist.<br />

Dies ist bei vielen älteren Leuten der Fall. Auf e<strong>in</strong>e paradoxe Reaktion<br />

muss das Team vorbereitet se<strong>in</strong>.<br />

4 Antipsychotika: Bei Erregung, Verkennungen, Halluz<strong>in</strong>ationen <strong>und</strong><br />

Wahnideen bei akuten VZ ist der E<strong>in</strong>satz von Neuroleptika häufi g s<strong>in</strong>nvoll<br />

<strong>und</strong> – <strong>in</strong> niedriger Dosierung – gelegentlich auch über längere Zeiträume<br />

bei älteren Patienten zu rechtfertigen, falls der Patient bei Absetzversuchen<br />

erneut verwirrt wird <strong>und</strong> sich ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige behandelbare Ursache<br />

fi ndet. Geeignet s<strong>in</strong>d z. B. Haloperidol (Anfangsdosis 0,5 mg bis max.<br />

5,0 mg; täglich max.15 mg), Risperidon (0,5–1,0 mg), Quetiap<strong>in</strong> (12,5–<br />

50 mg). Die systematischen Untersuchungen zur Eignung der neueren<br />

Atypika für die Behandlung von VZ s<strong>in</strong>d spärlich (z. B. Larsen et al. 2010,<br />

Tahir et al. 2010).<br />

Wissenschaft lich ernst zu nehmende Untersuchungen über ältere Neuroleptika<br />

<strong>in</strong> der Behandlung älterer Patienten mit VZ gibt es nicht. Nur die langjährige<br />

kl<strong>in</strong>ische Erfahrung zeigt, dass Neuroleptika meistens helfen, um »psychotische«<br />

Symptome rasch zu beseitigen <strong>und</strong> die Patienten zu beruhigen.<br />

Dennoch ist von der unkritischen Verwendung konventioneller Antipsychotika<br />

abzuraten. Über Jahrzehnte ist uns kl<strong>in</strong>ischen Beobachtern entgangen,<br />

dass Neuroleptika bei e<strong>in</strong>er längerfristigen Behandlung älterer multimorbider<br />

Patienten mit kognitiven Problemen die Sterblichkeit steigern! Vorsicht ist also<br />

angebracht. Im Widerspruch zur geriatrischen Devise »start low and go<br />

slow« muss aufgr<strong>und</strong> der Situation, <strong>und</strong> um die Gefährdung des Patienten<br />

durch se<strong>in</strong>en VZ zu senken, oft ohne Zögern mit e<strong>in</strong>er Symptombehandlung<br />

begonnen werden. Allerd<strong>in</strong>gs muss dann b<strong>in</strong>nen weniger Tage e<strong>in</strong> rascher<br />

Absetzversuch oder zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong> Versuch der Dosisreduktion unternommen<br />

werden, um die weitere Indikation zu überprüfen (»cut low and let go«).<br />

11.8.4 Kausaltherapie<br />

Da sowohl psychischer Stress als auch jede mediz<strong>in</strong>ische Belastung von der<br />

Gr<strong>und</strong>erkrankung bis zur Intervention e<strong>in</strong>en VZ verursachen oder zum<strong>in</strong>dest<br />

auslösen können, würde e<strong>in</strong>e akkurate Diff erenzialtherapie aller möglicher<br />

VZ Lehrbücher aus allen Bereichen der Mediz<strong>in</strong> umfassen. Bei älteren Patienten<br />

mit VZ spielen z. B. die folgenden Faktoren e<strong>in</strong>e besondere Rolle:


Literatur<br />

209<br />

11<br />

4 Fieber: Hier kann e<strong>in</strong>e Fiebersenkung mit Wadenwickeln <strong>und</strong> Antiphlogistika<br />

bereits vor der Entdeckung des betroff enen Organs, des verantwortlichen<br />

Keimes e<strong>in</strong>schließlich se<strong>in</strong>er Resistenz <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Antibiotikabehandlung,<br />

zu e<strong>in</strong>em Aufk laren führen.<br />

4 Thiam<strong>in</strong>mangel: Beim bloßen Verdacht auf e<strong>in</strong>e Mangelernährung <strong>und</strong><br />

Alkoholismus mit drohendem Wernicke-Korsakow-Syndro m soll die Gabe<br />

von Vitam<strong>in</strong> B <strong>in</strong> hoher Dosis veranlasst werden (amnestisches Syndrom,<br />

7 Kap. 10). Schwere Alkoholentzugsdelir e, deren Behandlung möglichst<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tensivmediz<strong>in</strong>ischen E<strong>in</strong>richtung erfolgen sollte, sprechen<br />

gut auf Clomethiazo l an. Allerd<strong>in</strong>gs besteht hier die Gefahr e<strong>in</strong>er Atemdepression,<br />

<strong>und</strong> dies macht e<strong>in</strong>e engmaschige Überwachung notwendig. Die<br />

Indikation zur Clomethiazol-Behandlung muss äußerst streng gestellt<br />

werden.<br />

4 Dopam<strong>in</strong>agonisten <strong>und</strong> Antichol<strong>in</strong>ergika: Bei Patienten mit Morbus<br />

Park<strong>in</strong>so n lassen sich durch neue Substanzen h<strong>in</strong>sichtlich der Motorik<br />

wesentlich bessere Behandlungsergebnisse erreichen als <strong>in</strong> früheren Jahren.<br />

Jedoch entwickeln ältere Patienten bei e<strong>in</strong>er tonischen dopam<strong>in</strong>ergen<br />

Stimulation durch Dopam<strong>in</strong>agonisten bei nachlassendem chol<strong>in</strong>ergem<br />

Gegengewicht »psychotische« Störungen«, die sich auch als VZ mit visuellen<br />

Halluz<strong>in</strong>ationen <strong>und</strong> Wahnideen äußern können. Antichol<strong>in</strong>ergika<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diesem Krankheitsstadium absolut kontra<strong>in</strong>diziert. Antichol<strong>in</strong>ergik<br />

a <strong>und</strong> Dopam<strong>in</strong>agoniste n müssen durch die niedrigst notwendige<br />

Menge von L-DOPA ersetzt werden. E<strong>in</strong>e Behandlung mit Chol<strong>in</strong>esterasehemmern<br />

oder Memant<strong>in</strong> ist zu erwägen.<br />

4 U. v. a.<br />

Literatur<br />

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11<br />

210 Kapitel 11 · Verwirrtheitszustände<br />

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1829–1837


211<br />

Medikamenten-, Drogen-<br />

<strong>und</strong> Alkoholabhängigkeit<br />

Rupert Müller <strong>und</strong> Th omas Zilker<br />

12.1 Epidemiologie – 212<br />

12.2 Diagnostisches Vorgehen – 215<br />

12.3 Medikamente – 216<br />

12.<strong>3.</strong>1 Benzodiazep<strong>in</strong>e – 217<br />

12.<strong>3.</strong>2 Barbiturate – 218<br />

12.<strong>3.</strong>3 Valproat – 219<br />

12.<strong>3.</strong>4 Lithium – 219<br />

12.<strong>3.</strong>5 Bromide – 219<br />

12.<strong>3.</strong>6 Diphenhydram<strong>in</strong> – 219<br />

12.<strong>3.</strong>7 Antichol<strong>in</strong>erg wirksame Medikamente – 220<br />

12.<strong>3.</strong>8 Neuroleptika – 220<br />

12.4 Illegale Drogen – 220<br />

12.4.1 Hero<strong>in</strong> – 221<br />

12.4.2 Cannabis – 222<br />

12.4.3 Schnüff eln – 224<br />

12.4.4 Ecstasy – 225<br />

12.4.5 Koka<strong>in</strong> – 225<br />

12.4.6 Amphetam<strong>in</strong>e – 226<br />

12.4.7 Phencyclid<strong>in</strong> – 227<br />

12.4.8 γ-Hydroxybuttersäure (GHB <strong>und</strong> Vorläufer) – 227<br />

12.4.9 Drogenassoziierte Syndrome – 227<br />

12.5 Alkohol – 228<br />

12.5.1 Alkoholassozierte <strong>Demenzen</strong> – 230<br />

Literatur – 232<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_12,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

12


12<br />

212 Kapitel 12 · Medikamenten-, Drogen- <strong>und</strong> Alkoholabhängigkeit<br />

Zum Thema<br />

In der Diagnostik demenzieller Erkrankungen spielt die Medikamenten- <strong>und</strong><br />

Drogenabhängigkeit e<strong>in</strong>e wichtige Rolle. Bei bis zu 20% aller Patienten mit<br />

kognitiven Defiziten <strong>und</strong> demenziellen Syndromen (reversible <strong>und</strong> nichtreversible<br />

<strong>Demenzen</strong>) liegt e<strong>in</strong> Substanzmissbrauch oder e<strong>in</strong>e<br />

Medikamentennebenwirkung zugr<strong>und</strong>e. E<strong>in</strong> durch Medikamente oder Alkohol<br />

<strong>in</strong>duziertes Delir ist oftmals das erste Anzeichen e<strong>in</strong>er beg<strong>in</strong>nenden Demenz.<br />

Alkohol ist häufig an der Entstehung e<strong>in</strong>er Demenz beteiligt. Vermutlich alle<strong>in</strong><br />

verantwortlich s<strong>in</strong>d Drogen- <strong>und</strong> Medikamentennebenwirkungen jedoch nur bei<br />

etwa 1–2%, Alkohol bei 4–8% aller <strong>Demenzen</strong>. Die Medikamenten-, Drogen- <strong>und</strong><br />

Alkoholanamnese gehört zur Basisdiagnostik der demenziellen Syndrome.<br />

Die Diagnose erfolgt nach ICD-10 F1 »Psychische- <strong>und</strong> Verhaltensstörungen<br />

durch psychotrope Substanzen «: F1x.73 Demenz (die die allgeme<strong>in</strong>en Kriterien<br />

für Demenz F00–F09 erfüllt).<br />

12.1 Epidemiologie<br />

Als klassisches Beispiel für den geistigen Niedergang durch Substanzmissbrauch<br />

galt der bis Ende des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts weit verbreitete, u. a. durch Edgar<br />

Degas <strong>und</strong> V<strong>in</strong>cent van Gogh künstlerisch dargestellte Genuss von Abs<strong>in</strong>th.<br />

Erstmals wurde 1797 von Henri-Louis Pernod das hochalkoholische<br />

Getränk aus Wermut (Artemisia abs<strong>in</strong>thium) erzeugt. Dessen Wirksubstanz<br />

Th ujon wurde für den »Abs<strong>in</strong>thismus « – Abbauersche<strong>in</strong>ungen des Zentralnervensystems<br />

mit Sensibilitätsstörungen, <strong>in</strong>tellektuellem Niedergang, Delirium,<br />

Paralyse <strong>und</strong> Tod – verantwortlich gemacht. Abs<strong>in</strong>th wurde daraufh <strong>in</strong> <strong>in</strong><br />

allen europäischen Ländern verboten. Seit e<strong>in</strong>igen Jahren ist der Konsum von<br />

Abs<strong>in</strong>th mit reduzierten Th ujongehalt <strong>in</strong> der EU wieder legal. Die beschriebenen<br />

Symptome werden nun als gewöhnliche Folgen des Alkoholismus aufgefasst<br />

(Padosch et al. 2006) .<br />

Heute ist die Medikamenten-, Drogen- <strong>und</strong> Alkoholabhängigkeit <strong>in</strong> der<br />

Diagnostik demenzieller Syndrome e<strong>in</strong> wichtiger Faktor (. Abb. 12.1). Die<br />

Zahl der Medikamentenabhängigen liegt <strong>in</strong> Deutschland bei etwa 1,4–1,9 Mio.<br />

(Die Drogenbeauft ragte der B<strong>und</strong>esregierung 2009, Drogen- <strong>und</strong> Suchtbericht,<br />

S. 49). Schätzungen gehen davon aus, dass 7% aller Patienten <strong>in</strong> Arztpraxen<br />

Medikamente mit Abhängigkeitspotenzial erhalten, davon s<strong>in</strong>d 75%<br />

Benzodiazep<strong>in</strong>e .


12.1 · Epidemiologie<br />

Missbrauch<br />

213<br />

12<br />

. Abb. 12.1 Medikamentenmissbrauch ist sehr häufi g. Leichte kognitive Defi zite werden <strong>in</strong><br />

vielen Fällen beobachtet. Das Vollbild e<strong>in</strong>er Demenz ist dagegen selten<br />

Der Drogenkonsum nimmt <strong>in</strong> den meisten EU-Ländern zu. Dabei ist<br />

Cannabis die häufi gste illegale Droge. Von 600.000 Cannabiskonsumenten <strong>in</strong><br />

Deutschland betreiben etwa 380.000 Personen e<strong>in</strong>en Missbrauch, 220.000<br />

s<strong>in</strong>d abhängig (Die Drogenbeauft ragte der B<strong>und</strong>esregierung 2009). Es ist davon<br />

auszugehen, dass 200.000 Menschen Opiate, Koka<strong>in</strong> <strong>und</strong> Amphetam<strong>in</strong>e<br />

riskant konsumieren, d. h. <strong>in</strong>jizieren (Drogen <strong>und</strong> Suchtbericht 2009). Erfahrungen<br />

mit Koka<strong>in</strong> haben etwa 3% der Erwachsenen. Erste Drogenkontakte<br />

haben Jugendliche häufi g mit Ecstasy <strong>und</strong> anderen synthetischen Substanzen.<br />

Drogen werden überwiegend von 14- bis 30-Jährigen konsumiert. Insgesamt<br />

haben etwa 10–15% der 15- bis 20-Jährigen Drogenerfahrungen. 9,5 Mio.<br />

Menschen konsumieren <strong>in</strong> Deutschland Alkohol <strong>in</strong> ges<strong>und</strong>heitlich riskanter<br />

Form. Etwa 1,3 Mio. gelten als alkoholabhängig. In psychiatrischen Bezirks-<br />

<strong>und</strong> Landeskrankenhäusern stellen Alkoholkranke die größte Patientengruppe.<br />

In vielen Fällen vermischen <strong>und</strong> potenzieren sich Medikamenten-, Drogen-<br />

<strong>und</strong> Alkoholabhängigkeit.<br />

Gerade bei älteren Menschen ist Alkohol- <strong>und</strong> Medikamentenabhängigkeit<br />

häufi g <strong>und</strong> wird meist diagnostisch nicht erfasst. Neben Depressionen


12<br />

214 Kapitel 12 · Medikamenten-, Drogen- <strong>und</strong> Alkoholabhängigkeit<br />

<strong>und</strong> Angstsyndromen können viele psychoaktive Substanzen auch e<strong>in</strong>e Verm<strong>in</strong>derung<br />

kognitiver Fähigkeiten oder Verwirrtheitszustände verursachen.<br />

Die Diff erenzialdiagnose kann schwierig se<strong>in</strong>. Delir <strong>und</strong> Demenz können<br />

nosologische E<strong>in</strong>heiten darstellen, das Delir kann somit der erste diagnostische<br />

H<strong>in</strong>weis auf das Vorliegen e<strong>in</strong>er demenziellen Erkrankung se<strong>in</strong> (Ehrensperger<br />

u. Monsch 2010). E<strong>in</strong>e eigene Kategorie medikamenten- <strong>und</strong> drogen<strong>in</strong>duzierter<br />

<strong>Demenzen</strong> bleibt jedoch fraglich (Hulse et al. 2005).<br />

E<strong>in</strong>ige Studien zeigen, dass bis zu 10% der kognitiven Defi zite durch Medikamente<br />

verursacht werden. Andere Untersucher fanden bei mehr als 20%<br />

aller Patienten, die wegen e<strong>in</strong>es Demenzsyndroms <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Allgeme<strong>in</strong>krankenhaus<br />

aufgenommen wurden, H<strong>in</strong>weise auf Medikamentennebenwirkungen<br />

(Caracci u. Miller 1991). Sedierende Hypnotika , <strong>in</strong>sbesondere lang wirksame<br />

Benzodiazep<strong>in</strong>e, s<strong>in</strong>d mit e<strong>in</strong>em erhöhten Demenzrisiko assoziiert (Wu et al.<br />

2009).<br />

> Die kognitive Leistungsfähigkeit ist mit der Anzahl der verordneten<br />

Medikamente korreliert. Bei Patienten mit e<strong>in</strong>er bereits bestehenden<br />

Demenz führen Medikamentennebenwirkungen häufi g zu e<strong>in</strong>er<br />

symptomatischen Verschlechterung.<br />

Die Informationen über kognitive Eff ekte von Langzeitdrogenkonsum bleiben<br />

vage. Neben der häufi g ungeklärten Frage nach den kognitiven Fähigkeiten<br />

vor dem Drogenkonsum gel<strong>in</strong>gt es selten, die Patienten nach langer<br />

Abst<strong>in</strong>enz erneut zu testen. Welche Droge e<strong>in</strong>e Demenz verursachen kann, ist<br />

unbefriedigend beantwortet. Im Unterschied zur Medikamenten- <strong>und</strong> Alkoholabhängigkeit<br />

betrifft die Drogenabhängigkeit immer noch vornehmlich<br />

jüngere Patienten, deren Vulnerabilität bezüglich demenzieller Prozesse ungleich<br />

ger<strong>in</strong>ger ist. Der Lebenszeitkonsum ist im Gegensatz zu Alkohol <strong>und</strong><br />

Medikamenten häufi g wesentlich kürzer. Die kognitiven Defi zite durch e<strong>in</strong>ige<br />

Drogen, die z. T. auch bleibender Natur s<strong>in</strong>d, machen e<strong>in</strong>e demenzielle Potenz<br />

jedoch durchaus wahrsche<strong>in</strong>lich. Zudem gibt es e<strong>in</strong>e Reihe drogenassoziierter<br />

Störungen, die zur Demenz führen können.<br />

Der Faktor, der am meisten mit e<strong>in</strong>er Verm<strong>in</strong>derung des Intelligenzquotienten<br />

im Alter verknüpft ist, ist der Alkoholkonsum von mehr als 60 g/Tag.<br />

Bei Vorliegen der entsprechenden kognitiven Störungen wird die Diagnose<br />

e<strong>in</strong>er alkohol<strong>in</strong>duzierten Demenz vergeben (Scheurich u. Brokate 2009, S. 67) .<br />

E<strong>in</strong> protektiver Eff ekt von Alkohol <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>gster Dosierung bleibt fraglich, die<br />

Diskussion ist kontraproduktiv.


12.2 · Diagnostisches Vorgehen<br />

215<br />

12<br />

Durch Medikamenten- oder Drogenmissbrauch werden Schätzungen zufolge<br />

1–2% der <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong>duziert. Die Anzahl der durch Alkohol verursachten<br />

<strong>Demenzen</strong> wird von e<strong>in</strong>igen Autoren mit etwa 5% angegeben (Zerfass<br />

et al. 1997).<br />

12.2 Diagnostisches Vorgehen<br />

Der Wachsamkeit des Untersuchers sollten drogen-, medikamenten- <strong>und</strong> alkoholbed<strong>in</strong>gte<br />

Syndrome nicht entgehen. Wesentlicher Bestandteil der Diagnose<br />

ist die Medikamenten-, Drogen-, <strong>und</strong> Alkoholanamnese . Dabei kommt<br />

der Fremdanamnese e<strong>in</strong>e besondere Bedeutung zu. Der Verlauf e<strong>in</strong>es demenziellen<br />

Geschehens kann Rückschlüsse auf die Genese erlauben (z. B. akute<br />

Intoxikation oder chronisch-neurotoxischer Prozess).<br />

Bei der körperlichen Untersuchung sollte u. a. auf vegetative Symptome<br />

(wie Zittern , Schwitzen oder Unruhe ), Pupillengröße, E<strong>in</strong>stichstellen <strong>und</strong><br />

Abszesse geachtet werden.<br />

Diagnostisch s<strong>in</strong>nvoll s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>ige apparative Untersuchungen. So können<br />

CT <strong>und</strong> MRT zerebrale Atrophien <strong>und</strong> krankheitsspezifi sche Veränderungen<br />

zeigen (Marchiafava-Bignami-Syndrom , Wernicke-Korsakow-Syndrom , subdurale<br />

Hämatome ). SPECT <strong>und</strong> PET s<strong>in</strong>d meist im wissenschaft lichen Kontext<br />

erforderlich, können jedoch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Fällen diff erenzialdiagnostisch<br />

hilfreich se<strong>in</strong> (z. B. Alkoholdemenz). Im EEG können organische Veränderungen<br />

zu δ-Wellen, Benzodiazep<strong>in</strong>e zu β-Wellen führen.<br />

Laboruntersuchungen decken Vitam<strong>in</strong>mangelzustände (Vitam<strong>in</strong> B 1, B 2,<br />

B 12, Folsäure ), Blutbildveränderungen (z. B. mittleres korpuskuläres Erythrozytenvolumen<br />

MCV), Leberschäden (CDT, Ethylglukuronid, γGt, GOT/<br />

GPT), Infektionen (HIV, Treponema-pallidum-Hämagglut<strong>in</strong>ations-Assay<br />

TPHA, Hepatitisserologie) auf. Zusätzlich bietet sich e<strong>in</strong>e toxikologische<br />

Screen<strong>in</strong>g-Untersuchung im Ur<strong>in</strong> an.<br />

> Die Drogen-, Alkohol- <strong>und</strong> Medikamentenanamnese gehört zum<br />

Basisprogramm der Demenzdiagnostik. Der Untersucher sollte<br />

störungsspezifi sche Elemente erfassen. Kognitive Defi zite durch<br />

Substanzabhängigkeit zeigen nach Abst<strong>in</strong>enz oftmals e<strong>in</strong>e deutliche<br />

Besserung.


12<br />

216 Kapitel 12 · Medikamenten-, Drogen- <strong>und</strong> Alkoholabhängigkeit<br />

12.3 Medikamente<br />

Die Ätiologie kognitiver Defi zite ist meist e<strong>in</strong>er multifaktoriellen Genese zuzuschreiben.<br />

Die kausale Rolle der Medikation ist daher häufi g schwer zu fassen.<br />

Am deutlichsten zeigt sich der Zusammenhang bei Verwirrtheitszuständen<br />

(VZ) durch Medikamentenwirkung oder Medikamentenentzug .<br />

Sedativa , Hypnotika , Tranquilizer <strong>und</strong> Analgetika gehören zu den am<br />

meisten verordneten Arzneimitteln überhaupt. Nahezu 25% aller Patienten<br />

über 55 Jahre erhalten psychoaktive Substanzen mit dem Risiko e<strong>in</strong>er potenziellen<br />

Abhängigkeit. In Pfl egeheimen werden bis zu 50% der älteren Bewohner<br />

psychoaktive Medikamente, <strong>in</strong>sbesondere Benzodiazep<strong>in</strong>e, Sedativa,<br />

Hypnotika <strong>und</strong> Neuroleptika , verabreicht. Die erhöhte Sensitivität alter Menschen<br />

gegenüber den toxischen Medikamentennebenwirkungen akzentuiert<br />

die Problematik. Zu e<strong>in</strong>er Erhöhung des Risikos führen e<strong>in</strong>e Reihe von Faktoren.<br />

Dazu gehören e<strong>in</strong>e Imbalance der Neurotransmittersysteme, z. B. e<strong>in</strong><br />

chol<strong>in</strong>erges Defi zit , altersbed<strong>in</strong>gte Veränderungen <strong>in</strong> der Pharmakok<strong>in</strong>etik<br />

sowie die bereits genannte Multimorbidität <strong>und</strong> Polypharmakotherapie . Arzneimittel<br />

können kognitive Fähigkeiten <strong>in</strong>direkt über metabolische Eff ekte<br />

wie z. B. Hypoglykämie , durch Veränderung von immunologischen Faktoren<br />

im ZNS <strong>und</strong> durch Eigenschaft en, die mit der synaptischen Transmission <strong>in</strong>terferieren,<br />

verschlechtern. Viele Medikamente können bei anfälligen Patienten<br />

zu e<strong>in</strong>er kognitiven M<strong>in</strong>derleistung führen. Bei über 70-jährigen Patienten<br />

<strong>in</strong> Notaufnahmen leiden über 10% an e<strong>in</strong>em Verwirrtheitszustand <strong>und</strong><br />

nahezu 20% an e<strong>in</strong>er Demenz. Patienten mit Verwirrtheitszuständen weisen<br />

häufi g <strong>in</strong> der Follow-up-Untersuchung e<strong>in</strong>e Demenz auf. Wenn Intoxikationen<br />

zu e<strong>in</strong>er Demenz führen, bestand meist e<strong>in</strong>e zerebrale Vorschädigung.<br />

Trotz des Wissens über die Problematik psychoaktiver Substanzen bei älteren<br />

Menschen (s. unten) betragen die verabreichten Tagesdosen an Sedativa<br />

<strong>und</strong> Hypnotika bei den über 70-Jährigen das 3- bis 6-Fache aller Altersgruppen,<br />

bei den über 90-Jährigen wachsen Dosierung <strong>und</strong> Verordnungshäufi gkeit<br />

weiter an.


12.3 · Medikamente<br />

Präventive Strategien bei der Vergabe psychoaktiver Medikamente<br />

an Ältere<br />

4 Riskante Substanzen vermeiden<br />

4 Dosis anpassen <strong>und</strong> engmaschige Verlaufskontrollen durchführen<br />

4 Anzahl der Medikamente m<strong>in</strong>imieren<br />

4 Kurz wirksame Präparate verwenden<br />

4 Arzneimittel, die die Blut-Hirn-Schranke übertreten, nicht verordnen<br />

4 Hepatische <strong>und</strong> renale Funktionen kontrollieren<br />

4 Kognitive Fähigkeiten vor der Behandlung prüfen (. Tab. 12.1)<br />

12.<strong>3.</strong>1 Benzodiazep<strong>in</strong>e<br />

217<br />

12<br />

Benzodiazep<strong>in</strong>e verstärken die Wirkung des <strong>in</strong>hibitorischen Transmitters γ-<br />

Am<strong>in</strong>obuttersäure (GABA) durch e<strong>in</strong>e Erhöhung des transmembranären<br />

Chloridionene<strong>in</strong>stroms an GABAA-Rezeptoren im limbischen System <strong>und</strong> <strong>in</strong><br />

der Formatio reticularis . Wie Alkohol s<strong>in</strong>d Benzodiazep<strong>in</strong>e fettlöslich, sie erreichen<br />

hohe Konzentrationen im Gehirn <strong>und</strong> können neokortikale, zerebelläre<br />

<strong>und</strong> limbische Funktionen verändern. Die sedierende <strong>und</strong> anxiolytische<br />

Wirksamkeit macht Benzodiazep<strong>in</strong>e zu häufi g verordneten Medikamenten.<br />

Personen, die hohe Dosen von Benzodiazep<strong>in</strong>en konsumieren, zeigen <strong>in</strong><br />

kognitiven Tests schlechtere Ergebnisse. Die Gedächtnisleistung von älteren<br />

ges<strong>und</strong>en Probanden nach E<strong>in</strong>nahme von Diazepam gleicht der von Patienten<br />

mit primär degenerativen <strong>Demenzen</strong>. Bei chronischem Gebrauch kommt<br />

es zu e<strong>in</strong>er ähnlichen kognitiven Verschlechterung wie bei Alkoholabhängigen.<br />

E<strong>in</strong>ige Veränderungen können permanent oder nur sehr langsam <strong>und</strong><br />

teilweise reversibel se<strong>in</strong>. Da Benzodiazep<strong>in</strong>e den Lernvorgang, besonders im<br />

Umgang mit Stress, beh<strong>in</strong>dern, kann nach vielen Jahren des Missbrauchs e<strong>in</strong><br />

Defi zit besonders <strong>in</strong> der Stressbewältigung bleiben. Dies könnte als Ängstlichkeit<br />

persistieren oder zu depressiver Gestimmtheit führen.<br />

Benzodiazep<strong>in</strong>missbrauch führt zu deutlichen Zeichen e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tellektuellen<br />

Verschlechterung <strong>und</strong> kann über Jahre zu e<strong>in</strong>er Hirnatrophie führen.<br />

Diese Symptome vermischen sich bei älteren Patienten häufi g mit e<strong>in</strong>er beg<strong>in</strong>-


12<br />

218 Kapitel 12 · Medikamenten-, Drogen- <strong>und</strong> Alkoholabhängigkeit<br />

. Tab. 12.1 Medikamente, welche die kognitive Leistung bee<strong>in</strong>trächtigen können<br />

Substanz Kognitive Defizite Reversibles demenzielles<br />

Syndrom<br />

Benzodiazep<strong>in</strong>e ++ ++ +<br />

Barbiturate + + (+)<br />

Valproat + + (+)<br />

Lithium + + (+)<br />

Bromide + +<br />

Diphenhydram<strong>in</strong> + +<br />

Antichol<strong>in</strong>ergika + +<br />

Neuroleptika + +<br />

++ häufig, + bekannt, (+) eventuell<br />

nenden Demenz. Der Langzeitkonsum von Benzodiazep<strong>in</strong>en ist neueren Untersuchungen<br />

zufolge mit e<strong>in</strong>er höheren Demenzrate assoziiert (Wu et al.<br />

2009).<br />

12.<strong>3.</strong>2 Barbiturate<br />

Demenz<br />

Bis zur E<strong>in</strong>führung der Benzodiazep<strong>in</strong>e waren Barbiturate die am häufi gsten<br />

verwendeten Schlafmittel <strong>und</strong> Sedativa . Barbiturate entfalten ihre Wirkung<br />

im ganzen ZNS. Neben der Unterdrückung polysynaptischer Reizantworten<br />

verstärken Barbiturate die GABAerge Inhibition.<br />

Barbituratabhängigkeit ist aktuell e<strong>in</strong>e sehr seltene Ersche<strong>in</strong>ung. Entzüge<br />

gehen oft mit Delirien e<strong>in</strong>her. Neuropsychologische Testungen zeigten leichte<br />

bis mittlere Verschlechterungen der kognitiven Fähigkeiten.<br />

Die kognitiven Defi zite, v. a. Gedächtnisstörungen, Störungen der Lernfähigkeit<br />

<strong>und</strong> der Koord<strong>in</strong>ation blieben z. T. über Monate bestehen oder stellen<br />

den Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er Demenz dar (Pfab 1999).


12.3 · Medikamente<br />

12.<strong>3.</strong>3 Valproat<br />

219<br />

12<br />

Das Antiepileptikum Valproat kann reversible, selten auch e<strong>in</strong>mal irreversible<br />

<strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong>duzieren . Bei Epileptikern wurde e<strong>in</strong> langsamer kognitiver Abbau<br />

beobachtet. Als mögliche pathophysiologische Ursachen werden e<strong>in</strong> direkter<br />

toxischer Eff ekt am ZNS, e<strong>in</strong> paradoxer epileptogener Eff ekt oder e<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>direkter toxischer Eff ekt durch e<strong>in</strong>e valproat<strong>in</strong>duzierte Ammoniakerhöhung<br />

vermutet.<br />

12.<strong>3.</strong>4 Lithium<br />

Lithium ist e<strong>in</strong>e Substanz mit ger<strong>in</strong>ger therapeutischer Breite. Sie wird u. a. <strong>in</strong><br />

der Rezidivprophylaxe aff ektiver Störungen e<strong>in</strong>gesetzt . Insbesondere chronische<br />

Intoxikationen können zu schweren irreversiblen neurotoxischen<br />

Schäden führen.<br />

Kasuistiken über demenzielle Syndrome nach Gabe von Lithium <strong>in</strong> toxischen<br />

Dosierungen sowie Creutzfeldt-Jakob-ähnliche Syndrome <strong>in</strong> therapeutischen<br />

Dosierungen liegen vor.<br />

12.<strong>3.</strong>5 Bromide<br />

Bromhaltige Schlafmittel <strong>und</strong> Sedativa führen bei chronischer E<strong>in</strong>nahme u. U.<br />

zum Bromismus mit Störungen wie Manie , Halluz<strong>in</strong>ationen , Depressionen ,<br />

Apathie , Ataxie <strong>und</strong> zu reversiblen Demenzsyndromen. Chronische Brom<strong>in</strong>toxikationen<br />

kommen aktuell im kl<strong>in</strong>ischen Alltag nicht mehr vor.<br />

12.<strong>3.</strong>6 Diphenhydram<strong>in</strong><br />

Diphenhydram<strong>in</strong> ist als frei verkäufl iches Schlafmittel weit verbreitet . In hohen<br />

Dosierungen führt es aufgr<strong>und</strong> se<strong>in</strong>er antichol<strong>in</strong>ergen Wirkung zu Verwirrtheitszuständen<br />

<strong>und</strong> schizophrenieartigen Psychosen. Die E<strong>in</strong>nahme von<br />

Diphenhydram<strong>in</strong> bei älteren Patienten bewirkt e<strong>in</strong>e Verschlechterung der kognitiven<br />

Fähigkeiten.


12<br />

220 Kapitel 12 · Medikamenten-, Drogen- <strong>und</strong> Alkoholabhängigkeit<br />

12.<strong>3.</strong>7 Antichol<strong>in</strong>erg wirksame Medikamente<br />

Antichol<strong>in</strong>erg wirksame Medikamente führen bei älteren Patienten zu e<strong>in</strong>er<br />

signifi kanten Verschlechterung der kognitiven Leistungsfähigkeit . Dies betrifft<br />

nicht alle<strong>in</strong> Psychopharmaka, sondern <strong>in</strong>sbesondere auch Medikamente<br />

zur Th erapie von Morbus Park<strong>in</strong>son <strong>und</strong> zahlreichen <strong>in</strong>ternistischen Krankheiten<br />

(Ancel<strong>in</strong> et al. 2006).<br />

12.<strong>3.</strong>8 Neuroleptika<br />

Auch Neuroleptika können kognitive Defi zite <strong>und</strong> reversible demenzielle<br />

Syndrome <strong>in</strong>duzieren , so bei geistig beh<strong>in</strong>derten Patienten, die unter e<strong>in</strong>er<br />

niedrig dosierten Neuroleptikatherapie (Th ioridaz<strong>in</strong> , Haloperidol , Pimozid )<br />

e<strong>in</strong> reversibles demenzielles Ersche<strong>in</strong>ungsbild entwickelten. Nach Absetzen<br />

der Medikamente kam es zu e<strong>in</strong>er vollständigen Erholung. Dies wurde v. a.<br />

auf die antichol<strong>in</strong>erge Wirksamkeit der Substanzen zurückgeführt (Ancel<strong>in</strong><br />

et al. 2006).<br />

12.4 Illegale Drogen<br />

Drogenkonsum stellt e<strong>in</strong> wachsendes gesellschaft liches Problem dar. Die soziale<br />

<strong>und</strong> körperliche Verschlechterung der Drogenkonsumenten macht sie<br />

häufi g zu Patienten. E<strong>in</strong> schwerwiegendes methodisches Problem der Beurteilung<br />

von kognitiven Defi ziten bei Drogenmissbrauch ist die Polytoxikomanie<br />

sehr vieler Abhängiger. Dabei wird neben dem Konsum e<strong>in</strong>er Vielzahl<br />

harter <strong>und</strong> weicher Drogen oft mals exzessiv Alkohol getrunken. Es zeigte<br />

sich, dass vermutlich alle illegalen Drogen <strong>und</strong> <strong>in</strong>sbesondere e<strong>in</strong> multipler<br />

Substanzmissbrauch mit neuropsychologischen Defi ziten assoziiert s<strong>in</strong>d. Bei<br />

polytoxikomanen Patienten wurden vermehrt EEG-Veränderungen gef<strong>und</strong>en.<br />

Für e<strong>in</strong>e Demenz durch re<strong>in</strong>en Drogenkonsum ohne e<strong>in</strong>e mediz<strong>in</strong>ische<br />

Komplikation gibt es wenige kl<strong>in</strong>ische Anhaltspunkte (. Abb. 12.2).


12.4 · Illegale Drogen<br />

12.4.1 Hero<strong>in</strong><br />

221<br />

12<br />

. Abb. 12.2 Verschiedene Drogen oder drogenassoziierte Syndrome können zur Demenz<br />

führen<br />

Die Informationen über die Langzeitwirkungen der Opiate bleiben ungenügend.<br />

Die neurotoxischen Eigenschaft en von Opiaten sche<strong>in</strong>en wenig ausgeprägt<br />

zu se<strong>in</strong>. Die Datenlage gibt ke<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>weis darauf, dass Hero<strong>in</strong>missbrauch<br />

alle<strong>in</strong>e zu e<strong>in</strong>em demenziellen Abbau führt. Auch die Substitution<br />

schwangerer abhängiger Patient<strong>in</strong>nen wird von vielen Ärzten als wenig problematisch<br />

angesehen.


12<br />

222 Kapitel 12 · Medikamenten-, Drogen- <strong>und</strong> Alkoholabhängigkeit<br />

Allerd<strong>in</strong>gs gibt es beim Hero<strong>in</strong>missbrauch e<strong>in</strong>e Reihe von Komplikationen,<br />

die schwerste zerebrale Schäden verursachen können (. Tab. 12.2).<br />

Nach <strong>in</strong>tranasalem Hero<strong>in</strong>konsum können Hirn<strong>in</strong>farkte ausgelöst werden.<br />

Die Inhalation von Hero<strong>in</strong>dampf (chas<strong>in</strong>g the dragon), um die Injektion zu<br />

vermeiden, kann zur progressiven spongiformen Leukoenzephalopathie führen.<br />

Symptome s<strong>in</strong>d Ataxie <strong>und</strong> Dysarthrie . In schweren Fällen kommt es zu<br />

ak<strong>in</strong>etischen <strong>und</strong> mutistischen Bildern mit Enthirnungsstarre. Im MRT fi nden<br />

sich typische ausgeprägte, symmetrische Läsionen <strong>in</strong> der weißen Substanz<br />

von Hemisphären, Mittelhirn <strong>und</strong> Zerebellum. Die Hirnbiopsie zeigt e<strong>in</strong>e<br />

spongiforme Degeneration der weißen Substanz. E<strong>in</strong>e Symptomverbesserung<br />

kann mit Antioxidanzien wie Coenzym Q erreicht werden. Als Ursache<br />

wird e<strong>in</strong>e mitochondriale Schädigung angenommen (Vella et al. 2003).<br />

Ähnliche Schäden werden durch Inhalation von mit Pyrolysat verunre<strong>in</strong>igtem<br />

Hero<strong>in</strong> berichtet.<br />

Im Rahmen von Überdosierungen kommt es aufgr<strong>und</strong> der atemdepressiven<br />

Wirkung der Opiate zu hypoxischen Hirnschäden, die zu hirnorganischen<br />

Veränderungen bis zur Demenz führen.<br />

Selten entwickeln sich nach i.v.-Applikation Hirnabszesse mit bakteriellem<br />

oder mykotischem Befall (. Tab. 12.2).<br />

12.4.2 Cannabis<br />

Cannabis (Tetrahydrocannab<strong>in</strong>ol, THC) ist e<strong>in</strong>e weit verbreitete »weiche«<br />

Droge, deren Konsum von großen Teilen der Bevölkerung als harmlos betrachtet<br />

wird. Der eigentliche Wirkstoff ist das Δ-9-Tetrahydrocannab<strong>in</strong>o l (Δ-<br />

9-THC). Es bewirkt Euphori e <strong>und</strong> Wahrnehmungsstörunge n. Konzentrationsstörunge<br />

n, E<strong>in</strong>schränkungen im Neugedächtni s <strong>und</strong> Gedächtnisstörungen<br />

bei Tests der Wortwiedererkennun g können bleibende Folgen nach Cannabismissbrauc<br />

h se<strong>in</strong>. Diese s<strong>in</strong>d mit der Dauer des Konsums korreliert. Die<br />

akuten E<strong>in</strong>schränkungen der geistigen Leistungsfähigkeit können so gravierend<br />

se<strong>in</strong>, dass das Ersche<strong>in</strong>ungsbild nach Genuss provokanterweise als Modell<br />

e<strong>in</strong>er senilen Demenz bezeichnet wurde. Marihuan a kann schwerwiegende<br />

psychische Störungen auslösen, so z. B. schizophrene Erkrankungen.<br />

Häufi g beschrieben wird das »amotivationale Syndro m«. Diskutiert wird e<strong>in</strong><br />

Δ-9-THC-<strong>in</strong>duzierter Zelluntergang mit Schrumpfung der Neurone im Hip-


12.4 · Illegale Drogen<br />

. Tab. 12.2 Drogen <strong>und</strong> drogenassoziierte Syndrome<br />

Substanzen<br />

Kognitive<br />

Defizite<br />

223<br />

Reversibles<br />

demenzielles<br />

Syndrom<br />

Hero<strong>in</strong> (+) ? ?<br />

THC ++ + ?<br />

Koka<strong>in</strong> ++ + (+)<br />

Ecstasy ++ + (+)<br />

Amphetam<strong>in</strong> +<br />

PCP + ? ?<br />

Schnüffelsubstanzen ++ + +<br />

Drogenassoziierte Syndrome<br />

Hypoxische Hirnschäden ++ ++ +<br />

Syphilis + + +<br />

AIDS ++ ++ ++<br />

Hirnabszesse + + +<br />

THC Tetrahydrocannab<strong>in</strong>ol, PCP Phencyclid<strong>in</strong><br />

++ häufig, + bekannt, (+) eventuell<br />

Demenz<br />

12<br />

pokampu s. Sowohl die Wirkung als auch die neuronale Schädigung erfolgt<br />

durch e<strong>in</strong>en G-Prote<strong>in</strong>-gekoppelten Cannaboid(CB)-Rezeptor. Cannab<strong>in</strong>oide<br />

haben die gleiche funktionale Endstrecke wie andere Drogen (Morph<strong>in</strong>e, Alkohol,<br />

Nikot<strong>in</strong>), nämlich das mesolimbische Dopam<strong>in</strong>syste m (Ameri 1999).<br />

Auch bei Cannabis kann es zu neurotoxischen Schäden durch Verunre<strong>in</strong>igungen<br />

der Droge, z. B. mit Formaldehyd oder Blei, das zur Erhöhung des<br />

Verkaufsgewichts beigebracht wird, kommen.


12<br />

224 Kapitel 12 · Medikamenten-, Drogen- <strong>und</strong> Alkoholabhängigkeit<br />

12.4.3 Schnüff eln<br />

Als Schnüff el n bezeichnet man das Inhaliere n e<strong>in</strong>er heterogenen Gruppe von<br />

psychoaktiven Substanzen <strong>in</strong> Klebstoff e n, Feuerzeugfl üssigkeiten, Sprühdosen,<br />

Feuerlöschmitteln <strong>und</strong> Re<strong>in</strong>igungsfl üssigkeiten. Dies s<strong>in</strong>d u. a. aromatische<br />

<strong>und</strong> halogenierte Kohlenwasserstoff e (n-Hexan, Benz<strong>in</strong>, Benzol, Trichlorethylen,<br />

Methylenchlorid, Trichlorfl uormethan), Ester (Ethylacetat <strong>und</strong><br />

Acrylacetat), Ketone (Aceto n, Methylethylketon, Methylbutylketon), <strong>in</strong>halierbare<br />

Anästhetika (Chlorofor m <strong>und</strong> Äthe r). Die hohe Fettlöslichkeit dieser<br />

Substanzen führt zur leichten Passage der Blut-Hirn-Schrank e. Die Inhalation<br />

ger<strong>in</strong>ger Mengen von Lösungsmitteln bewirkt e<strong>in</strong>e euphorisch e Stimmung,<br />

aber auch Halluz<strong>in</strong>atione n <strong>und</strong> Bewusstlosigkei t. Nicht selten kommt es zu<br />

Todesfällen meist aufgr<strong>und</strong> von Herzrhythmusstörungen durch endogenes<br />

Adrenal<strong>in</strong>.<br />

Das Schnüff eln dieser Substanzen kann zu erheblichen zentralnervösen<br />

Schäden mit vielfältigen, ernsthaft en neuropsychologischen Defi ziten <strong>und</strong><br />

Verschlechterung des Intelligenzquotienten führen.<br />

Die akute toxische Enzephalopathi e ist e<strong>in</strong>e bekannte Komplikation des<br />

Benz<strong>in</strong>schnüff eln s. Benz<strong>in</strong>schnüffl er haben subtile neurologische <strong>und</strong> kognitive<br />

Defi zite, die nach Absetzen der Droge besser werden können (Maruff<br />

et al. 1998). E<strong>in</strong> besonderes Problem stellt dabei der Bleigehalt im Benz<strong>in</strong>,<br />

aber auch <strong>in</strong> anderen Lösungsmitteln dar, deren Folge e<strong>in</strong>e Bleienzephalopathie<br />

se<strong>in</strong> kann.<br />

Halogenierte Kohlenwasserstoff e führen zu Hirnödeme n oder Hämorrhagien,<br />

n-Hexane zu peripheren Nervenschäden. Methano l kann Bl<strong>in</strong>dheit,<br />

Schädigung der Basalganglien <strong>und</strong> Hirnblutungen bewirke n.<br />

Folgen des Missbrauchs von Distickstoff monoxid (N 2O, Lachga s, älterer<br />

Name: Stickoxydul) s<strong>in</strong>d Gefühlsstörungen, Ataxie <strong>und</strong> Impotenz.<br />

Inhalation von Toluol kann e<strong>in</strong>e periphere Neuropathie, Optikusneuropathi<br />

e, Ataxi e, Muskelschwäch e oder e<strong>in</strong>e Enzephalopathie hervorrufen. Unter<br />

dem Begriff spray head s versteht man unspezifi sche gravierende Schäden nach<br />

Toluol<strong>in</strong>halatio n. Im kranialen MRT zeigen sich Veränderungen wie e<strong>in</strong> Verlust<br />

der zerebralen <strong>und</strong> zerebellären Diskrim<strong>in</strong>ation von weißer <strong>und</strong> grauer<br />

Substanz, multifokale tiefe Läsionen der weißen Substanz, e<strong>in</strong>e starke generalisierte<br />

Atrophie von Hemisphären, Zerebellum <strong>und</strong> Corpus callosum.<br />

Trichloretha n kann ebenfalls diff use ZNS-Schäden bewirken (Miller<br />

1991).


12.4 · Illegale Drogen<br />

225<br />

12<br />

Die Exposition gegenüber Klebstoff en sowie Lösungsmitteln stellt möglicherweise<br />

e<strong>in</strong>en Risikofaktor für die Entstehung e<strong>in</strong>er Alzheimer-Demen z<br />

dar.<br />

12.4.4 Ecstasy<br />

Das bei vielen Jugendlichen als Partydroge beliebte 3,4-Methylendioxy-N-<br />

Methamphetam<strong>in</strong> (MDMA oder Ecstas y) hemmt die Wiederaufnahme von<br />

Serotoni n aus dem synaptischen Spalt <strong>und</strong> die Monoam<strong>in</strong>oxidase-Typ-A<br />

(MAO-A). Die Affi nität zum Noradrenal<strong>in</strong>- <strong>und</strong> Dopam<strong>in</strong>wiederaufnahmemechanismus<br />

ist etwas ger<strong>in</strong>ger. Akute neuropsychiatrische Störungen können<br />

Status epilepticu s, Hirn<strong>in</strong>farkt e oder Hirnblutung se<strong>in</strong>, schizophrenieartige<br />

Psychose n können <strong>in</strong>duziert werden.<br />

Im Tierversuch wurde wiederholt die Neurotoxizität von MDMA nachgewiesen.<br />

Es ist verantwortlich für die Degeneration der 5-Hydroxytryptam<strong>in</strong>(5-<br />

HT)-Nervenendigungen im serotonergen System. Die ger<strong>in</strong>gere Dichte von<br />

5-HT-Neuronen im Gehirn von ehemaligen Ecstasykonsumenten zeigte sich<br />

<strong>in</strong> PET-Studien (McCann et al. 1998).<br />

Junge Patienten erbrachten nach dem Konsum von Ecstasy <strong>und</strong> auch <strong>in</strong><br />

der Folge kognitiv schlechtere Leistungen als Nichtkonsumenten. Es fanden<br />

sich Unterschiede zwischen regelmäßigen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>maligen Konsumenten.<br />

Auch <strong>in</strong> wiederholten Untersuchungen ließen sich kognitive Defi zite nachweisen,<br />

die auf subtile, aber bleibende Störungen h<strong>in</strong>weisen (McCann et al.<br />

1999). Ex-User von Ecstasy leiden unter e<strong>in</strong>er Verschlechterung ihres visuellen<br />

<strong>und</strong> Wortgedächtnisse s. Die Verschlechterung des Gedächtnisses ist mit<br />

der Menge des konsumierten Ecstasy korreliert <strong>und</strong> wird mit der hohen Vulnerabilität<br />

des Hippokampu s gegenüber der Neurotoxitität von MDMA <strong>in</strong><br />

Verb<strong>in</strong>dung gebracht.<br />

12.4.5 Koka<strong>in</strong><br />

Das kurz wirksame Psychostimulans kann zu schweren psychischen Störungen<br />

wie dem Koka<strong>in</strong><strong>in</strong>toxikationsdeli r oder koka<strong>in</strong><strong>in</strong>duzierten Halluz<strong>in</strong>atione<br />

n führen. Kokai n blockiert die Wiederaufnahme von Dopami n, Serotoni<br />

n <strong>und</strong> Noradrenali n im ZNS. Wie alle Suchtmittel erhöht es kurzfristig die


12<br />

226 Kapitel 12 · Medikamenten-, Drogen- <strong>und</strong> Alkoholabhängigkeit<br />

Dopam<strong>in</strong>konzentration im mesolimbischen Syste m. Koka<strong>in</strong> führt zu neurovaskulären<br />

Veränderungen <strong>und</strong> kognitiven Defi ziten.<br />

Bei chronischen Koka<strong>in</strong>konsumenten kann e<strong>in</strong> kognitives Defi zit nachgewiesen<br />

werden, das mit der konsumierten Koka<strong>in</strong>menge korreliert. CT-volumetrische<br />

Gehirnmessungen geben H<strong>in</strong>weise auf Volumenverluste bei regelmäßigem<br />

Koka<strong>in</strong>konsum.<br />

Abst<strong>in</strong>ente ehemalige Koka<strong>in</strong>konsumenten zeigen schlechtere Ergebnisse<br />

bei neuropsychologischen Untersuchungen als Kontrollen. Allerd<strong>in</strong>gs sche<strong>in</strong>t<br />

der häufi ge zusätzliche Alkoholmissbrauch e<strong>in</strong>en wesentlichen E<strong>in</strong>fl uss auf<br />

die kognitive Leistungsfähigkeit zu haben.<br />

Koka<strong>in</strong>missbrauch ist e<strong>in</strong> signifi kanter Risikofaktor für zerebrovaskulär e<br />

Komplikationen bei jungen Erwachsenen. Schlaganfäll e, subarachnoidale <strong>und</strong><br />

<strong>in</strong>trazerebrale Blutungen werden auf Koka<strong>in</strong>missbrauch zurückgeführt. Bewegungsstörungen<br />

wie Tic s <strong>und</strong> choreoathetotische Bewegunge n werden verstärkt,<br />

können aber auch neu entstehen (crack danc<strong>in</strong>g). K<strong>in</strong>der koka<strong>in</strong>abhängiger<br />

Mütter s<strong>in</strong>d kle<strong>in</strong>er <strong>und</strong> leichter irritierbar. Später zeigen diese K<strong>in</strong>der<br />

neuropsychologische Defi zite, was als Zeichen e<strong>in</strong>er neurotoxischen Schädigung<br />

gewertet werden kann.<br />

12.4.6 Amphetam<strong>in</strong>e<br />

Amphetam<strong>in</strong> e (D-Amphetam<strong>in</strong>, Methamphetam<strong>in</strong> <strong>und</strong> andere Derivate) haben<br />

e<strong>in</strong>e ähnliche, aber länger anhaltende Wirkung bei diff erentem Wirkmechanismus<br />

wie Koka<strong>in</strong>. Sie verursachen e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>direkte Freisetzung von Noradrenali<br />

n, Serotoni n <strong>und</strong> Dopami n aus präsynaptischen Vesikeln. Amphetam<strong>in</strong><strong>in</strong>duzierte<br />

Psychosen mit Verfolgungswahn, die sich nur langsam zurückbilden,<br />

aber auch irreversibel se<strong>in</strong> können, werden beobachtet (Mc Guire<br />

2000). Neurotoxische Eff ekte werden bei dopam<strong>in</strong>ergen <strong>und</strong> serotonergen<br />

Neuronen gef<strong>und</strong>en. Kognitive Defi zite lassen sich <strong>in</strong> neuropsychologischen<br />

Untersuchungen nachweisen. Dabei war die Schwere des Amphetam<strong>in</strong>missbrauchs<br />

mit der Verschlechterung der kognitiven Fähigkeiten assoziiert, <strong>in</strong>sbesondere<br />

von Gedächtnis, Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Konzentrationsfähigkeit<br />

(McKet<strong>in</strong> u. Mattick 1997).


12.4 · Illegale Drogen<br />

12.4.7 Phencyclid<strong>in</strong><br />

227<br />

12<br />

Phencyclidi n (PCP) wurde als Anästhetikum entwickelt <strong>und</strong> wird seit den<br />

1960er Jahren unter den Namen peace pill <strong>und</strong> angel dust konsumiert. Die<br />

E<strong>in</strong>nahme kann zu schweren psychotischen Störungen führen. Es kam zu gefährlichen<br />

Gewalttaten, an die sich die Täter nicht mehr er<strong>in</strong>nern konnten.<br />

Der Wirkmechanismus verläuft über den N-Methyl-D-Aspartat(NMDA)-Rezepto<br />

r <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en zweiten PCP-Rezeptor, dessen endogener Ligand nicht bekannt<br />

ist.<br />

PCP-Konsumenten zeigen e<strong>in</strong>e neuropsychologische Verschlechterung,<br />

die auch nach dem Konsum bestehen bleiben kann.<br />

12.4.8 γ-Hydroxybuttersäure (GHB <strong>und</strong> Vorläufer)<br />

γ-Hydroxybuttersäur e ist e<strong>in</strong> endogenes neuronales Stoff wechselprodukt von<br />

GABA mit eigener GABAerger Wirkung. Es wird als Kurznarkotikum <strong>und</strong> als<br />

Sedativum vermarktet <strong>und</strong> unterliegt dem Betäubungsmittelrecht. Die Vorläufersubstanzen<br />

1,4-Butandiol <strong>und</strong> γ-Butyrolakton (GBL) s<strong>in</strong>d Gr<strong>und</strong>chemikalien<br />

<strong>und</strong> dadurch leicht zu erwerben. Sie werden schnell <strong>in</strong> GHB metabolisiert.<br />

GHB wirkt sedierend, e<strong>in</strong> Koma tritt rasch auf <strong>und</strong> kann amnestische<br />

Lücken h<strong>in</strong>terlassen. Über die langfristigen kognitiven Folgen bei regelmäßigem<br />

Konsum der leicht abhängigkeitserzeugenden Substanz ist noch<br />

wenig bekannt (Müller u. Pfab 2008, S. 273).<br />

12.4.9 Drogenassoziierte Syndrome<br />

HIV-Infektionen<br />

Drogenabhängigkeit <strong>und</strong> HIV-Infektione n s<strong>in</strong>d sehr eng vergesellschaft et. E<strong>in</strong><br />

Drittel aller HIV-Patienten ist drogenabhängig. 40–70% aller HIV-Patienten<br />

entwickeln nach Manifestation von AIDS neurologisch-psychiatrische Auff älligkeiten.<br />

Die Trias von kognitiven, motorischen <strong>und</strong> Verhaltensstörungen<br />

wird oft mals als AIDS-Demenz-Komplex bezeichne t. E<strong>in</strong>e Demenz im S<strong>in</strong>ne<br />

von ICD-10 wurde nur bei 4% der Betroff enen beobachtet.


12<br />

228 Kapitel 12 · Medikamenten-, Drogen- <strong>und</strong> Alkoholabhängigkeit<br />

Der Drogenkonsum, z. B. von Koka<strong>in</strong>, sche<strong>in</strong>t durch gefäßschädigende<br />

Eff ekte den Übertritt der HI-Viren <strong>in</strong> das Gehirn zu erleichtern <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Gehirnbeteiligung<br />

mit kognitiven Defi ziten zu begünstigen.<br />

Syphilis<br />

Nachdem alle Formen der Syphili s <strong>in</strong> den <strong>in</strong>dustrialisierten Ländern abgenommen<br />

haben, kommt es <strong>in</strong> der HIV-Risikogruppe, also auch bei den drogenabhängigen<br />

Patienten, wieder zu e<strong>in</strong>em Anstieg <strong>und</strong> damit zu e<strong>in</strong>er Zunahme<br />

e<strong>in</strong>es zu e<strong>in</strong>er Demenz führenden Faktors.<br />

12.5 Alkohol<br />

Alkoho l ist lipophil <strong>und</strong> penetriert die Blut-Hirn-Schrank e leicht. Er schädigt<br />

das Nervensystem <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bemerkenswerten Vielfalt:<br />

4 direkt toxisch durch den im Körper präsenten Alkohol,<br />

4 durch nutritive Mängel,<br />

4 Alkohol erzeugt peripher neurologische Schäden,<br />

4 e<strong>in</strong>e Kle<strong>in</strong>hirndegeneratio n <strong>und</strong><br />

4 Leberschäde n mit den resultierenden neuropsychiatrischen Problemen.<br />

Die neurotoxische Wirkung von Alkohol führt bei chronischem Missbrauch<br />

zur Hirnatrophi e, die bei Abst<strong>in</strong>enz z. T. rückbildungsfähig ist (. Abb. 12.3).<br />

Alkohol ist die häufi gste Ursache e<strong>in</strong>er Hirnatrophie bei Patienten unter<br />

50 Jahren. Die Weite der Sulci <strong>und</strong> die Vergrößerung der Ventrikel s<strong>in</strong>d die<br />

wesentlichen Faktoren, die bei e<strong>in</strong>er Alkoholdemen z zu fi nden s<strong>in</strong>d (teilweise<br />

reversibel). Alkoholiker weisen <strong>in</strong> vielen Bereichen kognitive Defi zite auf. Die<br />

Sensitivität gegenüber Alkohol ist im Alter erhöht. Bis zu 50% der über 45jährigen<br />

langjährigen Alkoholiker leiden an messbaren kognitiven Störungen.<br />

Diese werden bereits unter allgeme<strong>in</strong>e kl<strong>in</strong>ische Symptome gerechnet. Auch<br />

wenn die <strong>in</strong>tellektuellen Fähigkeiten sich nach Abst<strong>in</strong>enz wieder deutlich verbessern,<br />

können Defi zite bleiben. Bei mangelnder Abst<strong>in</strong>enz kann der geistige<br />

Niedergang nach längerem, schwerem Alkoholkonsum <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Alkoholdemenz<br />

münden.<br />

Bei der Alkoholdemenz führt e<strong>in</strong>e durch Alkohol <strong>in</strong>duzierte NMDA-Rezeptorüberaktivität<br />

zum im PET sichtbaren Zellverlust im Hippokampu s. Die<br />

Alkoholdemenz ist im Wesentlichen e<strong>in</strong>e Ausschlussdiagnose <strong>und</strong> bleibt diag-


12.5 · Alkohol<br />

229<br />

12<br />

. Abb. 12.3 Alkohol ist die Substanz, die am häufi gsten zu e<strong>in</strong>er Demenz führt. Dabei können<br />

kognitive Defi zite <strong>und</strong> sogar beg<strong>in</strong>nende demenzielle Syndrome durch Abst<strong>in</strong>enz remittieren<br />

exzessiver Alkoholmissbrauch<br />

nostisch unscharf. Sie wird von der hepatischen Enzephalopathi e, vom Wernicke-Korsakow-Syndro<br />

m <strong>und</strong> anderen alkoholbed<strong>in</strong>gten Hirnschäden unterschieden.<br />

Symptome s<strong>in</strong>d:<br />

4 <strong>in</strong>tellektueller Abbau,<br />

4 kritikloses, urteilsarmes Denken,<br />

4 Persönlichkeitsveränderungen mit emotionaler <strong>und</strong> aff ektiver Abstumpfung,<br />

4 Aff ektlabilitä t, z. T. Euphori e (Soyka 2005).<br />

Die Alkoholdemenz unterscheidet sich nicht spezifi sch von anderen Demenzformen<br />

(Tretter 2008). Die Häufi gkeit wird von manchen Autoren mit 4–8%<br />

angegeben (Zerfass et al. 1997). Patienten, bei denen kl<strong>in</strong>isch e<strong>in</strong>e Alkoholdemenz<br />

diagnostiziert wurde, zeigen post mortem gelegentlich zusätzlich e<strong>in</strong>e<br />

Wernicke-Korsakow- oder Marchiafava-Bignami-Enzephalopathie, posttraumatische<br />

Veränderungen, anoxische Hirnschäden, e<strong>in</strong>en kommunizierenden<br />

Hydrozephalu s, vaskuläre <strong>und</strong> degenerative Hirnveränderungen.<br />

Abst<strong>in</strong>enz


12<br />

230 Kapitel 12 · Medikamenten-, Drogen- <strong>und</strong> Alkoholabhängigkeit<br />

> Sowohl Alkohol als auch die alkoholassoziierten Krankheitsbilder<br />

können kognitive Defi zite, reversible demenzielle Syndrome <strong>und</strong><br />

<strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong>duzieren.<br />

12.5.1 Alkoholassozierte <strong>Demenzen</strong><br />

Wernicke-Korsakow-Syndrom<br />

Symptome s<strong>in</strong>d Ophthalmoplegi e, Ataxi e <strong>und</strong> Bewusstse<strong>in</strong>sstörun g. Zugr<strong>und</strong>e<br />

liegt e<strong>in</strong> Th iam<strong>in</strong>mange l meist bei Fehlernährung <strong>und</strong> genetisch reduzierter<br />

Transketolaseaktivität (Th erapie <strong>in</strong>itial 100 mg Th iam<strong>in</strong> i.v., später<br />

40 mg/Tag oral, 7 Kap. 10). Das amnestische Syndrom (Korsakow-Syndrom)<br />

be<strong>in</strong>haltet e<strong>in</strong>e Störung des Kurzzeitgedächtnisse s, des Zeitgefühls <strong>und</strong> Konfabulatione<br />

n.<br />

Nikot<strong>in</strong>säuremangelenzephalopathie<br />

Nikot<strong>in</strong>säur e (Niaci n) spielt e<strong>in</strong>e wichtige Rolle <strong>in</strong> der Zellatmung, im Kohlehydratstoff<br />

wechsel <strong>und</strong> im Tryptophanstoff wechsel. Die Nikot<strong>in</strong>säuremangelenzephalopathi<br />

e ist e<strong>in</strong>e seltene Komplikation des Alkoholismus. Leitsymptome<br />

s<strong>in</strong>d Dermatiti s, Diarrh ö <strong>und</strong> Demenz. Die Th erapie erfolgt durch die<br />

Gabe von Nikot<strong>in</strong>säure (Nicobion, <strong>in</strong>itial 600 mg/Tag, dann 300 mg/Tag;<br />

Soyka 2005).<br />

Vitam<strong>in</strong>-B 12-Mangel<br />

Der Vitam<strong>in</strong>-B 12-Mange l ist bei Alkoholikern durch die e<strong>in</strong>seitige Ernährung<br />

relativ häufi g. Meist führt dieser zu den bekannten hämatologischen <strong>und</strong> peripher-neurologischen<br />

Störungen. Sehr selten führt e<strong>in</strong> B 12-Mangel zu e<strong>in</strong>er<br />

Demenz. Die Th erapie erfolgt durch die Gabe von Vitam<strong>in</strong> B 12 1000 mg/Tag<br />

i.m. alle 2 Monate.<br />

Folsäuremangel<br />

Auch Folsäuremange l führt <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelfällen zur Demenz. Die Th erapie besteht<br />

<strong>in</strong> der oralen Gabe von <strong>in</strong>itial 15 mg/Tag <strong>und</strong> dann 1 mg Folsäure 1- bis 2-mal<br />

täglich als Erhaltungsdosis.


12.5 · Alkohol<br />

231<br />

12<br />

Marchiafava-Bignami-Syndrom<br />

Das Marchiafava-Bignami-Syndro m fi ndet sich meist post mortem diagnostiziert<br />

bei Rotwe<strong>in</strong>tr<strong>in</strong>kern. Es führt zunächst zu vermehrter Reizbarkeit, dann<br />

zu Verwirrtheit, neurologischen Zeichen (Pyramidenbahnzeiche n, Primitivrefl<br />

exe n), letztendlich zu Demenz <strong>und</strong> Kom a. Die Diagnose erfolgt mit CT<br />

<strong>und</strong> MRT. Die Prognose ist ungünstig. Neuropathologisch fi nden sich akute<br />

nekrotische Läsionen mit zystischen Nekrosen <strong>und</strong> Demyel<strong>in</strong>isierung im<br />

Corpus callosu m. Die Ätiologie ist unklar. E<strong>in</strong> Th erapieversuch mit Th iam<strong>in</strong><br />

wird empfohlen (Soyka 2005).<br />

Zentrale pont<strong>in</strong>e Myel<strong>in</strong>olyse<br />

Die Entmarkungsvorgänge <strong>in</strong> zentralen Anteilen des Pons, die zur zentralen<br />

pont<strong>in</strong>en Myel<strong>in</strong>olys e führen, werden neuropathologisch <strong>in</strong> bis zu 1% der Patienten<br />

gef<strong>und</strong>en. Ursache ist nicht der Alkohol, sondern meist schwere Elektrolytentgleisunge<br />

n. Die Kl<strong>in</strong>ik ist durch die Entmarkun g im Brückenfuß bestimmt.<br />

Symptome s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e Tetrapares e, Sensibilitätsstörunge n, Augenmuskellähmun<br />

g, Dysarthri e <strong>und</strong> Bewusstse<strong>in</strong>sstörunge n bis zum tiefen irreversiblen<br />

Koma.<br />

Ischämische <strong>und</strong> hämorrhagische zerebrovaskuläre Prozesse<br />

Exzessiver Alkoholkonsum ist e<strong>in</strong> Risikofaktor für ischämische <strong>und</strong> hämorrhagische<br />

zerebrovaskuläre Prozess e. Sowohl <strong>in</strong>trazerebrale als auch subarachnoidale<br />

Hämorrhagie n ereignen sich häufi ger. Es fi ndet sich e<strong>in</strong>e deutlich<br />

erhöhte Insultrate. Durch hepatische Schäden, Sympatikotonuserhöhung z. B.<br />

im Entzug, Sturz <strong>und</strong> Anfälle ergibt sich e<strong>in</strong> erhöhtes Blutungsrisiko. Möglicherweise<br />

besteht e<strong>in</strong>e direkte toxische Gefäßendothelschädigun g durch Alkohol.<br />

Pachymen<strong>in</strong>giosis hämorrhagica <strong>in</strong>terna<br />

Rezidivierende chronische subdurale Hämatom e, e<strong>in</strong>e Pachymen<strong>in</strong>giosis hämorrhagica<br />

<strong>in</strong>tern a, repräsentieren e<strong>in</strong>e häufi ge Komplikation nach langjährigem<br />

Alkoholabusus (Soyka 2005).<br />

Chronische hepatische Enzephalopathie<br />

Die chronische hepatische Enzephalopathi e kann z. T. schleichend verlaufen,<br />

<strong>und</strong> die Patienten fallen zunächst durch demenzielle Syndrome auf. Die<br />

Störungen s<strong>in</strong>d pr<strong>in</strong>zipiell reversibel (Soyka 2005).


12<br />

232 Kapitel 12 · Medikamenten-, Drogen- <strong>und</strong> Alkoholabhängigkeit<br />

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233<br />

Depression <strong>und</strong> Dissoziation:<br />

Ganser-Syndrom <strong>und</strong> andere<br />

Re<strong>in</strong>hilde Zimmer <strong>und</strong> <strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong><br />

1<strong>3.</strong>1 Depression <strong>und</strong> Demenz – 234<br />

1<strong>3.</strong>1.1 Demenzsyndrom der Depression<br />

(»depressive Pseudodemenz«) – 234<br />

1<strong>3.</strong>1.2 Depressionssyndrome der <strong>Demenzen</strong> – 235<br />

1<strong>3.</strong>1.3 Organisch bed<strong>in</strong>gte aff ektive Störungen – 235<br />

1<strong>3.</strong>2 Dissoziation <strong>und</strong> Demenz (Konversionsstörungen<br />

<strong>und</strong> Simulation) – 238<br />

1<strong>3.</strong>2.1 Histrionisch bed<strong>in</strong>gte kognitive Defi zite<br />

(hysterische Pseudodemenz) – 238<br />

1<strong>3.</strong>2.2 Ganser-Syndrom – 238<br />

1<strong>3.</strong>2.3 Simulierte kognitive Störungen – 239<br />

Literatur – 239<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_13,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

13


13<br />

234 Kapitel 13 · Depression <strong>und</strong> Dissoziation: Ganser-Syndrom <strong>und</strong> andere<br />

Zum Thema<br />

Kognitive Defizite können durch unterschiedliche Interaktionen von affektiven<br />

<strong>und</strong> demenziellen Erkrankungen hervorgerufen bzw. verstärkt werden, nämlich<br />

durch depressions<strong>in</strong>duzierte kognitive Störungen, e<strong>in</strong> zufälliges Zusammentreffen<br />

von Depression <strong>und</strong> Demenzerkrankung oder e<strong>in</strong>e demenz<strong>in</strong>duzierte<br />

Depression mit e<strong>in</strong>er konsekutiv weiteren Verschlechterung der kognitiven<br />

Leistung. Ferner können depressive Syndrome psychogen ausgelöst werden<br />

(Konversionssyndrome, z. B. Ganser Syndrom) .<br />

1<strong>3.</strong>1 Depression <strong>und</strong> Demenz<br />

1<strong>3.</strong>1.1 Demenzsyndrom der Depression<br />

(»depressive Pseudodemenz«)<br />

E<strong>in</strong> erheblicher Anteil vor allem älterer depressiver Patienten zeigt kognitive<br />

Störungen im Bereich Aufmerksamkeit, Gedächtnis <strong>und</strong> visuell-räumliche<br />

Leistungen (Hammar u. Ardal 2009). Sie können teilweise persistieren <strong>und</strong><br />

sich bei e<strong>in</strong>er nächsten depressiven Episode verstärken (Airak<strong>in</strong>sen et al.<br />

2004). Möglicherweise trägt e<strong>in</strong>e erhöhte Kortisolsekretion mit e<strong>in</strong>er Down-<br />

Regulation hippokampaler Kortikoidrezeptoren zu den kognitiven Störungen<br />

bei (H<strong>in</strong>kelmann et al. 2009). Im Hippokampus fi nden sich auch bei (noch)<br />

nicht dementen Patienten mit e<strong>in</strong>er Depression neurodegenerative Veränderungen<br />

(Ballmeier et al. 2008).<br />

Bei e<strong>in</strong>er ausgeprägten Depression lässt jedes Interesse nach, die Patienten<br />

können verlangsamt wirken bis zu e<strong>in</strong>er Park<strong>in</strong>son-ähnlichen motorischen<br />

Retardierun g. Sie s<strong>in</strong>d unaufmerksam <strong>und</strong> zerstreut, das Neugedächtni s verschlechtert<br />

sich. Risikofaktoren für die Manifestation kognitiver Defi zite bei<br />

e<strong>in</strong>er depressiven Erkrankung s<strong>in</strong>d hohes Alter <strong>und</strong> niedriges Ausbildungsniveau<br />

(Palsson et al. 1999). Die kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung ist durchaus<br />

real – der Ausdruck »Pseudodemenz« ersche<strong>in</strong>t daher nicht angebracht –<br />

jedoch weicht das Störungsmuster etwas vom Bild etwa e<strong>in</strong>er typischen Alzheimer-Demenz<br />

(AD) ab:<br />

4 häufi g s<strong>in</strong>d depressive Symptome nachweisbar, oft auch aff ektive Erkrankungen<br />

<strong>in</strong> der Vorgeschichte,<br />

4 die Störungen treten meist akut auf,


1<strong>3.</strong>1 · Depression <strong>und</strong> Demenz<br />

235<br />

13<br />

4 subjektive Beschwerden stehen im Vordergr<strong>und</strong> (»Ich weiß nicht, ich<br />

kann nicht …«),<br />

4 charakteristisch ist das schlechte Abschneiden bei neuropsychologischen<br />

Tests, während<br />

4 die Alltagsbewältigung <strong>in</strong>takt ersche<strong>in</strong>t (Orientierung, Hygiene …).<br />

Im Gegensatz zu vorrangig organisch bed<strong>in</strong>gten Demenzsyndromen fi nden<br />

sich beim »Demenzsyndrom der Depression« (Salzmann u. Guitfre<strong>und</strong> 1986)<br />

typischerweise ke<strong>in</strong>e ausgeprägten morphologischen, neurophysiologischen<br />

oder biochemischen Veränderungen.<br />

1<strong>3.</strong>1.2 Depressionssyndrome der <strong>Demenzen</strong><br />

Ko<strong>in</strong>zidenz von Depression <strong>und</strong> Demenz<br />

<strong>Demenzen</strong> <strong>und</strong> aff ektive Erkrankungen zählen zu den häufi gsten Störungen<br />

des höheren Lebensalte rs. Die Ko<strong>in</strong>zidenz beider Erkrankungen ist also ke<strong>in</strong>e<br />

Seltenheit, zumal sich deren Symptome gegenseitig verstärken können. E<strong>in</strong>e<br />

Unterscheidung zwischen demenz<strong>in</strong>duzierter Depression <strong>und</strong> dem zufälligen<br />

Auft reten e<strong>in</strong>er Depression bei demenzieller Erkrankung ist mit den derzeitigen<br />

diagnostischen Methoden nicht zuverlässig möglich.<br />

1<strong>3.</strong>1.3 Organisch bed<strong>in</strong>gte aff ektive Störungen<br />

Alzheimer-Demenz (AD)<br />

Frühere depressive Episoden steigern das Risiko, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Alter<br />

an e<strong>in</strong>er Demenz zu erkranken um den Faktor 2 (Ownby et al. 2006), wobei<br />

jedes Rezidiv zu e<strong>in</strong>er Risikosteigerung beitragen kann (Kess<strong>in</strong>g u. Anderson<br />

2004). Die Gehirne von Patienten, die früher unter e<strong>in</strong>er Depression gelitten<br />

hatten <strong>und</strong> später e<strong>in</strong>e Demenz entwickelten, wiesen im Hippokamp us deutlich<br />

mehr Plaqu es <strong>und</strong> Neurofi brill en auf als andere demente Patienten, die<br />

nicht depressiv gewesen waren (Rapp et al. 2006). Demente Patienten mit komorbider<br />

Depression zeigen stärkere Defi zite mit rascherem Verlauf <strong>und</strong> weiter<br />

fortgeschrittenen Alzheimer-Veränderungen (Rapp et al. 2008).<br />

Die Häufi gkeit aff ektiver Störungen bei der AD wird von den meisten Autoren<br />

mit etwa 20–40% angegeben, wobei schwere depressive Episoden weit


13<br />

236 Kapitel 13 · Depression <strong>und</strong> Dissoziation: Ganser-Syndrom <strong>und</strong> andere<br />

seltener s<strong>in</strong>d (Castilla-Puentes u. Habeych 2010). Am häufi gsten <strong>und</strong> am<br />

deutlichsten ausgeprägt ersche<strong>in</strong>en die depressiven Symptome <strong>in</strong> den Frühstadien<br />

der AD. Ang st, Misstrau en, verm<strong>in</strong>derte Energ ie <strong>und</strong> depressive Verstimmung<br />

s<strong>in</strong>d die vorrangig beobachteten Störungen.<br />

Vaskuläre <strong>Demenzen</strong> (VD)<br />

Bei den VD werden depressive Störungen nicht als ungewöhnliche, sondern<br />

typische Symptome angesehen (Castilla-Puentes u. Habeych 201 0). Schwere<br />

depressive Störungen werden bei bis zu 25% der Patienten beschrieben <strong>und</strong><br />

treten damit häufi ger auf als bei der AD. Bei subkortikalen Formen der VD<br />

s<strong>in</strong>d depressive Störungen besonders ausgeprägt. Zwischen der Ausprägung<br />

e<strong>in</strong>er Depression <strong>und</strong> der kognitiven Bee<strong>in</strong>trächtigung besteht ke<strong>in</strong> überzeugender<br />

Zusammenhang.<br />

Vegetative <strong>und</strong> somatische Störungen s<strong>in</strong>d typisch für das Symptommuster<br />

der VD: Dazu gehören E<strong>in</strong>- <strong>und</strong> Durchschlafstörung en mit morgendlichem<br />

Früherwach en, psychomotorische Verlangsamu ng <strong>und</strong> zahlreiche andere<br />

somatische Störungen. Die Überlappung von Depressions- <strong>und</strong> Demenzsymptomen<br />

ist erheblich (Gewichtsverlu st, Schlafstörungen, verm<strong>in</strong>derte<br />

Energie, verm<strong>in</strong>derte Konzentrati on, Antriebssteigeru ng bzw. Apath ie).<br />

> Auf e<strong>in</strong>e frühzeitige antidepressive Behandlung darf nicht verzichtet<br />

werden!<br />

Morbus Park<strong>in</strong>son<br />

Bereits <strong>in</strong> der Erstbeschreibung durch James Park<strong>in</strong>son (1817) wurden depressive<br />

Störungen bei der Schüttellähmung erwähnt. Die Verstimmungen<br />

s<strong>in</strong>d vorwiegend durch Pessimism us <strong>und</strong> Hoff nungslosigke it, verm<strong>in</strong>derte<br />

Motivati on, verm<strong>in</strong>derten Antri eb sowie vermehrte Sorge um die Ges<strong>und</strong>heit<br />

geprägt, während Selbstvorwürfe, Selbstentwertung <strong>und</strong> Schuldgefühle seltener<br />

waren. Hypomim ie, psychomotorische Verlangsamu ng <strong>und</strong> Energieverlu<br />

st aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>es Morbus Park<strong>in</strong>son können je nach E<strong>in</strong>stellung des Untersuchers<br />

zu e<strong>in</strong>er übertrieben häufi gen oder e<strong>in</strong>er zu seltenen Depressionsdiagnose<br />

Anlass geben, da alle genannten Störungen auch im Rahmen des Morbus<br />

Park<strong>in</strong>son auft reten können. Die Bradyphren ie – also die Verlängerung<br />

der normalen Informationsverarbeitungszeit – bei Morbus Park<strong>in</strong>s on ist nicht<br />

sicher von e<strong>in</strong>er depressionsbed<strong>in</strong>gten kognitiven Verlangsamung abzugrenzen.<br />

Daher sollte die Diagnose der Depression auf den subjektiv erfahrbaren<br />

depressiven Symptomen beruhen (Goetz 2010):


1<strong>3.</strong>1 · Depression <strong>und</strong> Demenz<br />

237<br />

Depressionsdiagnose bei Morbus Park<strong>in</strong>son anhand subjektiv<br />

erfahrbarer Symptome<br />

4 Gefühl der Leere <strong>und</strong> Hoffnungslosigkeit<br />

4 Verm<strong>in</strong>derte Reaktion auf emotionale Stimuli<br />

4 Verlust der Fähigkeit, sich zu freuen (Anhedonie)<br />

13<br />

Ärzte beschreiben 40% ihrer Patienten mit Morbus Park<strong>in</strong>son als depressiv<br />

(Riedel et al. 2006), <strong>und</strong> dies deckt sich mit e<strong>in</strong>gehenden Untersuchungen, bei<br />

denen etwa die Hälft e der Patienten depressive Symptome aufweisen <strong>und</strong> 10%<br />

e<strong>in</strong>e schwere depressive Episode (Goetz 2010). Den motorischen <strong>und</strong> kognitiven<br />

Symptomen des Morbus Park<strong>in</strong>son können depressive Störungen viele<br />

Jahre vorausgehen (Fang et al. 2010). E<strong>in</strong> deutlicher Symptomgipfel fi ndet<br />

sich früh nach Manifestation der psychomotorischen Symptome <strong>und</strong> e<strong>in</strong> weiterer<br />

im fortgeschrittenen Krankheitsverlauf.<br />

Der Zusammenhang zwischen den neurodegenerativen Veränderungen<br />

am<strong>in</strong>erger Kerngebiete <strong>und</strong> dem Auft reten aff ektiver Symptome ersche<strong>in</strong>t<br />

hochplausibel <strong>und</strong> ist durch die Ergebnisse von Imag<strong>in</strong>g-Studien zu bestätigen<br />

(z. B. Matsui et al. 2007).<br />

Die D2-Rezeptor-Agonisten Pramipexol <strong>und</strong> Pergolid entfalten neben<br />

günstigen motorischen auch antidepressive Wirkungen. Bei Verdacht auf e<strong>in</strong>e<br />

depressive Störung soll sowohl bei AD, bei VD als auch bei Morbus Park<strong>in</strong>son<br />

e<strong>in</strong> psychotherapeutisch stützender <strong>und</strong> medikamentöser Th erapieversuch<br />

unternommen werden.<br />

> Bei Patienten mit chol<strong>in</strong>ergen Defi zit en, wie bei AD, Morbus Park<strong>in</strong>son<br />

oder e<strong>in</strong>er Demenz mit Lewy-Körperch en, muss vor der Gabe<br />

antichol<strong>in</strong>erger Substanzen gewarnt werden, da hierdurch Verwirrtheitszustände<br />

provoziert werden können. Wegen ihrer ger<strong>in</strong>geren<br />

Nebenwirkungen haben sich deshalb <strong>in</strong> den letzten Jahren selektive<br />

Seroton<strong>in</strong>wiederaufnahmehemm er (SSRI) <strong>und</strong> andere nichtantichol<strong>in</strong>erge<br />

Substanzen zur Behandlung depressiver Störungen bei degenerativen<br />

<strong>und</strong> vaskulären Hirnerkrankungen durchgesetzt.


13<br />

238 Kapitel 13 · Depression <strong>und</strong> Dissoziation: Ganser-Syndrom <strong>und</strong> andere<br />

1<strong>3.</strong>2 Dissoziation <strong>und</strong> Demenz<br />

(Konversionsstörungen <strong>und</strong> Simulation)<br />

Geme<strong>in</strong>same Eigenschaften der dissoziativen Störung en<br />

1. Fehlen e<strong>in</strong>er körperlichen Krankheit<br />

2. Zeitlicher Zusammenhang mit belastenden Ereignissen, Problemen<br />

<strong>und</strong> Bedürfnissen<br />

1<strong>3.</strong>2.1 Histrionisch bed<strong>in</strong>gte kognitive Defi zite<br />

(hysterische Pseudodemenz)<br />

Die typischerweise demonstrativ vorgetragenen Schwierigkeiten können auch<br />

e<strong>in</strong>fachste Aufgaben betreff en <strong>und</strong> damit e<strong>in</strong> atypisches oder sehr spezielles,<br />

auf e<strong>in</strong>zelne Problembereiche bezogenes Defi zitmuster aufweis en. Gelegentlich<br />

tragen die Patienten e<strong>in</strong>e Indiff erenz gegenüber den eigenen Beschwerden<br />

zur Schau (belle <strong>in</strong>diff eren ce). Weitere mögliche Verhaltensmerkmale s<strong>in</strong>d<br />

<strong>in</strong>fantile Züge (Puerilism en) <strong>und</strong> andere Zeichen e<strong>in</strong>er Regressi on: E<strong>in</strong>e<br />

Symptomatik, die sich oft mals auf dem Boden e<strong>in</strong>er leichten M<strong>in</strong>derbegabu ng<br />

entwicke lt.<br />

Diff erenzialdiagnostisch ist zu bedenken, dass sich auch <strong>in</strong> frühen Stadien<br />

e<strong>in</strong>er Demenzerkrankung hysterisch anmutende Züge entwickeln können.<br />

Diskrepant zu den verme<strong>in</strong>tlichen basalen kognitiven Störungen bleiben Orientierung,<br />

Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Konzentration sowie die Alltagsbewältigung<br />

bei den histrionisch bed<strong>in</strong>gten kognitiven Defi ziten weitgehend <strong>in</strong>takt.<br />

1<strong>3.</strong>2.2 Ganser-Syndrom<br />

Auch bei dieser seltenen Störung spielen demonstrative Elemente e<strong>in</strong>e Rol le.<br />

Die Patienten legen e<strong>in</strong> teilweise absurdes Verhalten an den Tag. Sie reden <strong>und</strong><br />

raten daneben (»Wie viele F<strong>in</strong>ger hat die Hand?« Antwort: »Sechs«). Auch<br />

hierbei ist die Alltagsbewältigung oft erhalten. Im Gegensatz zu den histrionisch<br />

bed<strong>in</strong>gten kognitiven Störungen s<strong>in</strong>d Orientierung, Aufmerksamkeit


Literatur<br />

239<br />

13<br />

<strong>und</strong> Konzentration jedoch bee<strong>in</strong>trächtigt (Bewusstse<strong>in</strong>sstöru ng). Nach dem<br />

meist plötzlichen Abkl<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>er Episode zeigen die Patienten e<strong>in</strong>e retrograde<br />

Amnes ie. Ganser (1897) beschrieb neben dem Vorbeireden <strong>und</strong> den<br />

Bewusstse<strong>in</strong>sstörungen vorwiegend akustische Halluz<strong>in</strong>ation en <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e hysterische<br />

Analges ie.<br />

Wie bei den histrionischen Konversionsreaktionen kann sich auch hierbei<br />

e<strong>in</strong> akuter psychogener Auslöser fi nden oder e<strong>in</strong>e chronische Belastungssituati<br />

on. Diagnostisch muss erwogen werden, ob die Störung auf der Basis e<strong>in</strong>er<br />

schizophren en oder aff ektiven Störung, e<strong>in</strong>es Schädel-Hirn-Traum as, e<strong>in</strong>er<br />

beg<strong>in</strong>nenden Demenzerkrankung, e<strong>in</strong>es Hirn<strong>in</strong>farkts mit Aphas ie entstand<br />

oder ob es sich um e<strong>in</strong>en Verwirrtheitszusta nd bei e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>fektiösen oder metabolischen<br />

Gr<strong>und</strong>erkrankung handelt.<br />

1<strong>3.</strong>2.3 Simulierte kognitive Störungen<br />

Versucht e<strong>in</strong> Patient, vorsätzlich den E<strong>in</strong>druck e<strong>in</strong>er Demenz zu vermitteln,<br />

so ist er häufi g bedachtsam <strong>und</strong> erkennbar bemüht, Widersprüche <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Angaben zu vermeiden, ohne sich ständig zu wiederhol en. Beides gel<strong>in</strong>gt<br />

Patienten mit e<strong>in</strong>er tatsächlichen Demenzerkrankung kaum. Kl<strong>in</strong>ische <strong>und</strong><br />

apparative H<strong>in</strong>weise auf e<strong>in</strong>e organische Gr<strong>und</strong>erkrankung fi nden sich typischerweise<br />

nicht, wohl aber auf e<strong>in</strong>e Persönlichkeitsstöru ng oder e<strong>in</strong>e akute<br />

Belastungssituati on.<br />

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241<br />

Spätschizophrenie<br />

<strong>und</strong> chronische Schizophrenie<br />

im höheren Lebensalter<br />

Stefan Leucht <strong>und</strong> Werner Kissl<strong>in</strong>g<br />

14.1 Begriff sbestimmung – 242<br />

14.1.1 Chronische Schizophrenie – 242<br />

14.1.2 Spätschizophrenie – 246<br />

14.2 Diff erenzialdiagnosen – 247<br />

14.3 Untersuchungsbef<strong>und</strong>, Labor-<br />

<strong>und</strong> apparative Diagnostik – 250<br />

14.4 Behandlung – 250<br />

14.4.1 Pharmakologische Behandlung – 250<br />

14.4.2 Nichtmedikamentöse Therapie – 260<br />

Literatur – 261<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_14,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

14


14<br />

242 Kapitel 14 · Spätschizophrenie <strong>und</strong> chronische Schizophrenie<br />

Zum Thema<br />

Schizophrenie ist e<strong>in</strong>e ubiquitär mit e<strong>in</strong>er Lebenszeitwahrsche<strong>in</strong>lichkeit von etwa<br />

1% auftretende Krankheit mit häufig chronischem, sich bis <strong>in</strong>s hohe Lebensalter<br />

fortsetzendem Verlauf. Obwohl die Erkrankung am häufigsten <strong>in</strong> der Adoleszenz<br />

oder im frühen Erwachsenenalter ausbricht, gilt es heute als gesichert, dass es<br />

auch Erstmanifestationen nach dem 40. Lebensjahr <strong>und</strong> <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelfällen sogar<br />

nach dem 65. Lebensjahr gibt, die man als Spätschizophrenie bezeichnet (Jeste<br />

et al. 1995). Bei älteren Patienten ist die differenzialdiagnostische Abgrenzung<br />

von demenziellen Erkrankungen gegenüber schizophrenen Psychosen manchmal<br />

schwierig, da bei beiden Erkrankungen kognitive Störungen auftreten können.<br />

In dem vorliegenden Kapitel wird daher auf die Differenzialdiagnose zwischen<br />

beiden Krankheitsbildern näher e<strong>in</strong>gegangen <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Überblick über<br />

Symptomatik, Verlauf, <strong>und</strong> Therapie schizophrener Erkrankungen bei älteren<br />

Menschen gegeben.<br />

14.1 Begriff sbestimmung<br />

14.1.1 Chronische Schizophrenie<br />

Die Schizophrenie ist e<strong>in</strong>e schwere psychische Störung, die sich durch charakteristische<br />

Störungen des Denkens <strong>und</strong> der Wahrnehmung sowie unpassenden<br />

bzw. fl achen Aff ekt bei klarem Bewusstse<strong>in</strong> ausdrückt. Die charakteristischen<br />

Symptome, die für e<strong>in</strong>e Diagnose nach ICD-10 erforderlich s<strong>in</strong>d,<br />

werden <strong>in</strong> der nachstehenden Übersicht dargestellt. Da viele der <strong>in</strong> dieser<br />

Übersicht dargestellten Symptome sowohl bei der Schizophrenie als auch bei<br />

demenziellen Erkrankungen vorkommen, gibt . Tab. 14.1 (7 1<strong>3.</strong>2) weitere<br />

diff erenzialdiagnostische Kriterien an. Insgesamt können die schizophrenen<br />

Erkrankungen e<strong>in</strong> sehr heterogenes Ersche<strong>in</strong>ungsbild bieten, sodass man<br />

nach ICD-10 weiter <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e paranoid-halluz<strong>in</strong>atorische, e<strong>in</strong>e hebephrene, e<strong>in</strong>e<br />

katatone, e<strong>in</strong>e <strong>und</strong>iff erenzierte <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Simplex-Form unterteilt. Die Symptomatik<br />

muss m<strong>in</strong>destens 4 Wochen lang bestehen, organisch-exogene Ursachen<br />

der Symptomatik (Intoxikationen, <strong>in</strong>ternistische oder neurologische<br />

Erkrankungen etc.) müssen ausgeschlossen werden. Nach 100 Jahren Schizophrenieforschung<br />

s<strong>in</strong>d die Ursachen dieser Störung noch nicht genau bekannt.<br />

Allgeme<strong>in</strong> wird heutzutage von e<strong>in</strong>em multifaktoriellen Vulnerabilitäts-Stress-Modell<br />

ausgegangen . Hiernach haben Menschen, die an e<strong>in</strong>er


14.1 · Begriffsbestimmung<br />

243<br />

14<br />

Schizophrenie leiden, zum e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>e biologische Prädisposition, bei der neben<br />

genetischen Faktoren u. a. <strong>in</strong>trauter<strong>in</strong>e Infektionen <strong>und</strong> Geburtskomplikationen<br />

diskutiert werden. Zum anderen können psychosoziale Stressoren<br />

die Krankheit auslösen bzw. erneut exazerbieren lassen. E<strong>in</strong>e vere<strong>in</strong>fachte<br />

Darstellung des Vulnerabilitäts-Stress-Modells bietet . Abb. 14.1.<br />

Diagnosekriterien für Schizophrenie nach ICD-10 a<br />

(mod. nach Dill<strong>in</strong>g et al. 1993)<br />

1. M<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>es der folgenden Merkmale:<br />

4 »Ich-Störungen«: Gedankene<strong>in</strong>gebung, Gedankenentzug b oder<br />

Gedankenausbreitung, Gedankenlautwerden<br />

4 Wahnsymptome: Bee<strong>in</strong>flussungswahn c , Verfolgungswahnc ,<br />

Kontrollwahn, Wahnwahrnehmungen ,<br />

Gefühl des Gemachten, deutlich bezogen auf Körper- oder<br />

Gliederbewegungen oder bestimmte Gedanken, Tätigkeiten oder<br />

Empf<strong>in</strong>dungen<br />

4 Anhaltend kulturell unangemessener, bizarrer Wahn c , wie der,<br />

das Wetter kontrollieren zu können oder mit Außerirdischen <strong>in</strong><br />

Verb<strong>in</strong>dung zu stehen<br />

4 Akustische Halluz<strong>in</strong>ationen c <strong>in</strong> Form von Stimmenhören:<br />

Kommentierende oder dialogische Stimmen, die über die<br />

Patienten reden oder andere Stimmen, die aus bestimmten<br />

Körperteilen kommen<br />

2. Oder m<strong>in</strong>destens zwei der folgenden Merkmale:<br />

4 Anhaltende Halluz<strong>in</strong>ationen jeder S<strong>in</strong>nesmodalität c , täglich während<br />

m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>es Monats, begleitet von flüchtigen oder<br />

<strong>und</strong>eutlich ausgebildeten Wahngedanken ohne deutliche affektive<br />

Beteiligung oder begleitet von lang anhaltenden überwertigen<br />

Ideen<br />

4 Neologismen b , Gedankenabreißen b oder E<strong>in</strong>schiebungen <strong>in</strong> den<br />

Gedankenfluss b , was zu Zerfahrenheit b oder Danebenreden führt<br />

4 Katatone Symptome wie Erregung c , Haltungsstereotypien oder<br />

wächserne Biegsamkeit (Flexibilitas cerea), Negativismus b ,<br />

Mutismus b <strong>und</strong> Stupor b<br />

6


14<br />

244 Kapitel 14 · Spätschizophrenie <strong>und</strong> chronische Schizophrenie<br />

4 »Negative« Symptome wie auffällige Apathie b , Sprachverarmung b ,<br />

verflachte b oder <strong>in</strong>adequate Affekte b<br />

a Die Symptome müssen m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>en Monat lang die meiste Zeit<br />

bestehen.<br />

b Die Symptome können als Merkmale e<strong>in</strong>er Demenz verkannt werden.<br />

c Positivsymptome, die auch bei demenziellen Erkrankungen auftreten können.<br />

Verlauf<br />

Der Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er schizophrenen Erkrankung ist häufi g schleichend, sich über<br />

Monate bis Jahre entwickelnd, sie kann aber auch sehr akut beg<strong>in</strong>nen. Oft<br />

kommt es vorher zu uncharakteristischen Prodromalersche<strong>in</strong>unge n wie z. B.<br />

e<strong>in</strong>em depressiv-antriebsarmen Vorstadium mit sozialem Rückzug. Typischerweise<br />

verläuft die Krankheit <strong>in</strong> episodischen Schüben, während die <strong>Demenzen</strong><br />

e<strong>in</strong>e progrediente Verschlechterung zeigen. Obwohl es <strong>in</strong> sehr seltenen<br />

Fällen (über e<strong>in</strong>en Zeitraum von 5 Jahren trotz Rout<strong>in</strong>ebehandlung nur<br />

bei etwa 15–20%, Shepherd et al. 1989) nur zu e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen schizophrenen<br />

Episode kommt, treten bei der Mehrzahl der Patienten immer wieder psychotische<br />

Exazerbationen auf.<br />

Bei e<strong>in</strong>igen Patienten kl<strong>in</strong>gen diese Schübe jeweils vollständig ab, <strong>in</strong> der<br />

Mehrzahl der Fälle stellt sich jedoch langfristig e<strong>in</strong>e mehr oder weniger stark<br />

ausgeprägte Residualsymptomati k e<strong>in</strong>. Diese ist durch Negativsymptome<br />

wie Antriebs- <strong>und</strong> Leistungsschwäche, Konzentrationsstörungen, aff ektive<br />

Nivellierung, verm<strong>in</strong>derte Belastbarkeit, Neigung zu depressiven Verstimmungen,<br />

sozialen Rückzug <strong>und</strong> Interesselosigkeit geprägt. Bei Patienten, die<br />

ausschließlich an dieser sogenannten Negativsymptomatik leiden, spricht<br />

man von e<strong>in</strong>em »re<strong>in</strong>en Residuum « .<br />

Treten gleichzeitig auch <strong>in</strong> schwächerem Maße Positivsymptome wie<br />

Wahn, Halluz<strong>in</strong>ationen <strong>und</strong> Ich-Störungen auf, spricht man von e<strong>in</strong>em »gemischten<br />

Residuum«. Fälle mit anhaltender, stark ausgeprägter Positivsymptomatik,<br />

die e<strong>in</strong>e Dauerhospitalisation erforderlich machen, s<strong>in</strong>d durch die<br />

E<strong>in</strong>führung der Neurolepti ka <strong>in</strong> den 1950er Jahren drastisch reduziert worden.<br />

Der Langzeitverlauf e<strong>in</strong>er schizophrenen Psychose ist im E<strong>in</strong>zelfall<br />

schwer vorherzusehen.<br />

Insgesamt kommen groß angelegte europäische <strong>und</strong> amerikanische Langzeitverlaufsstudien<br />

von bis zu 40 Jahren zu dem Ergebnis, dass sich entgegen


14.1 · Begriffsbestimmung<br />

VULNERABILITÄT<br />

– Erbfaktoren<br />

– Hirnfunktionsstörung<br />

(Dopam<strong>in</strong>überschusshypothese)<br />

– Zerebrale Schäden, z.B. auch<br />

durch Geburtskomplikationen<br />

oder <strong>in</strong>trauter<strong>in</strong>e Infektionen<br />

– Lebensgeschichte<br />

SCHIZOPHRENE PSYCHOSE<br />

245<br />

»STRESS«<br />

– belastende Lebensereignisse<br />

– Halluz<strong>in</strong>ogene<br />

– Überforderung am Arbeitsplatz<br />

– »expressed emotions«:<br />

Kommunikationsstil <strong>in</strong> der Familie<br />

– ungünstige Lebensführung (z. B. zu<br />

wenig Schlaf, zu viel/zu wenig<br />

Aktivität)<br />

. Abb. 14.1 Vulnerabilitäts-Stress-Modell der Schizophreniegenese<br />

14<br />

der ursprünglichen Me<strong>in</strong>ung Kraepel<strong>in</strong>s, der die Krankheit als »Dementia<br />

praecox« bezeichnete <strong>und</strong> somit von e<strong>in</strong>em kont<strong>in</strong>uierlichen progredienten<br />

Verfall der Geistesfunktion wie bei den primären <strong>Demenzen</strong> ausg<strong>in</strong>g, nach<br />

etwa 10–15 Jahren e<strong>in</strong> Plateau e<strong>in</strong>zustellen sche<strong>in</strong>t. So kommt es bei <strong>in</strong>sgesamt<br />

sehr heterogenen Verläufen bei e<strong>in</strong>er Vielzahl der Fälle gerade im Alter<br />

zu e<strong>in</strong>er Abschwächung der Symptomatik. Ciompi <strong>und</strong> Müller (1976) untersuchten<br />

<strong>in</strong> ihrer Verlaufsstudie ausschließlich Senioren <strong>und</strong> kamen zu dem<br />

Ergebnis, dass es bei etwa der Hälft e der Fälle im Alter zu e<strong>in</strong>em günstigen<br />

Verlauf kommt, bei dem z. B. Positivsymptome <strong>und</strong> Krankheitsdynamik <strong>in</strong><br />

den H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> treten <strong>und</strong> sich zwischenmenschliche Beziehungen wieder<br />

verbessern. Dies soll aber nicht darüber h<strong>in</strong>wegtäuschen, dass der Verlauf<br />

dennoch deutlich schlechter als bei anderen schweren psychischen Erkrankungen<br />

wie z. B. endogenen Depressionen ist, bei denen e<strong>in</strong>zelne Krankheitsepisoden<br />

typischerweise phasenhaft jeweils wieder vollständig <strong>und</strong> ohne Residuum<br />

abkl<strong>in</strong>gen.


14<br />

246 Kapitel 14 · Spätschizophrenie <strong>und</strong> chronische Schizophrenie<br />

Etwa 10% aller schizophrenen Patienten sterben durch Suiz id, aber auch<br />

die durch organische Krankheiten bed<strong>in</strong>gte Mortalität ist bei Schizophrenen<br />

signifi kant höher als bei der Normalbevölkerung.<br />

14.1.2 Spätschizophrenie<br />

In der deutschsprachigen Tradition nach Bleuler versteht man unter Spätschizophren<br />

ie Erstmanifestationen nach dem 40. Lebensjahr, während im angloamerikanischen<br />

Sprachraum als Altersgrenze das 45. Lebensjahr verwendet<br />

wird. Was die Symptomatik angeht, so gibt es ke<strong>in</strong>e gr<strong>und</strong>sätzlichen Unterschiede<br />

zwischen der im frühen Erwachsenenalter auft retenden Schizophrenie<br />

<strong>und</strong> der Spätschizophrenie. Wenn <strong>in</strong> Studien Unterschiede gef<strong>und</strong>en wurden,<br />

so waren diese meist nur ger<strong>in</strong>gfügig <strong>und</strong> ließen sich häufi g nicht replizieren.<br />

Am ehesten sche<strong>in</strong>t noch gesichert, dass Spätschizophrene häufi ger an<br />

Verfolgungswa hn leiden (Jeste et al. 1995). Der Verlauf der Erkrankungen<br />

sche<strong>in</strong>t eher milder im Vergleich zu Früherkrankten zu se<strong>in</strong> (Ciompi u. Müller<br />

1976). Im Gegensatz zur früh beg<strong>in</strong>nenden Schizophrenie überwiegen bei<br />

den Spätschizophrenien e<strong>in</strong>deutig die Frauen mit e<strong>in</strong>em zwischen 2:1 <strong>und</strong> 4:1<br />

liegenden Geschlechterverhältnis (Häfner et al. 1998). Wahrsche<strong>in</strong>lich liegt<br />

dies an e<strong>in</strong>em Wegfall des Östrogenschutzes bei den Frauen im Verlauf des<br />

Klimakteriums.<br />

Neben dem für die Schizophrenie allgeme<strong>in</strong> geltenden Vulnerabilitäts-<br />

Stress-Modell (s. oben) werden bei der Spätschizophren ie zusätzlich sensorische<br />

Beh<strong>in</strong>derungen als Risiko- bzw. Auslösefaktoren diskutiert. Es wird<br />

angenommen, dass sensorische Beh<strong>in</strong>derungen zu stärkerer Isolation <strong>und</strong> zu<br />

e<strong>in</strong>er Neigung zu paranoider Verarbeitung der Realität führen können. Prager<br />

<strong>und</strong> Jeste (1993) analysierten 22 Studien über visuelle <strong>und</strong> auditorische Defi -<br />

zite bei Patienten mit Psychosen im höheren Lebensalter <strong>und</strong> führten e<strong>in</strong>e<br />

Fall-Kontroll-Studie durch, <strong>in</strong> der Spätschizophrenien mit ges<strong>und</strong>en Probanden<br />

verglichen wurden. Das Ergebnis dieser Studie war, dass ältere schizophrene<br />

Patienten im Vergleich zu Ges<strong>und</strong>en zwar ähnliche visuelle oder auditorische<br />

Defi zite aufwiesen, diese aber bei den schizophrenen Patienten<br />

schlechter korrigiert waren. Obwohl die meisten Untersuchungen methodische<br />

Mängel aufwiesen, wird empfohlen, auf e<strong>in</strong>e optimale Behandlung sensorischer<br />

Defi zite bei älteren schizophrenen Patienten zu achten.


14.2 · Differenzialdiagnosen<br />

> E<strong>in</strong>e Schizophrenie beg<strong>in</strong>nt meistens zwischen dem 20. <strong>und</strong> 40. Lebensjahr.<br />

Ersterkrankungen nach dem 40. Lebensjahr werden als<br />

Spätschizophrenie bezeichnet.<br />

14.2 Diff erenzialdiagnosen<br />

247<br />

14<br />

Gerade bei e<strong>in</strong>er erst im höheren Alter aufgetretenen schizophrenen Erkrankung<br />

kann die Diff erenzialdiagnose schwierig se<strong>in</strong>. Zunächst müssen organische<br />

Erkrankungen ausgeschlossen werden, bei denen schizophrenieähnliche<br />

Symptome auft reten können (z. B. Hirn<strong>in</strong>far kt, Enzephalit is, Neurolu es,<br />

Borrelio se, drogen- oder medikamenten<strong>in</strong>duzierte Psycho se, kortison<strong>in</strong>duzierte<br />

Psychose <strong>und</strong> endokr<strong>in</strong>ologische Enzephalopathien, Vitam<strong>in</strong>mangelzustände,<br />

Epileps ie, <strong>in</strong>trakranielle Tumo re, paraneoplastische Syndrome<br />

etc.) .<br />

Im Rahmen dieses Buches soll die Diff erenzialdiagnose der demenziellen<br />

Erkrankungen besonders hervorgehoben werden. Besonders wichtig ist hierbei<br />

zunächst die genaue Anamnese. So treten schizophrene Erkrankungen<br />

eher selten zum ersten Mal im höheren Lebensalter auf, sodass von den Patienten<br />

oder ihren Angehörigen häufi g über frühere schizophrene Schübe berichtet<br />

werden kann. Das Leitsymptom der <strong>Demenzen</strong> ist der ausgeprägte<br />

kognitive Abbau, <strong>in</strong>sbesondere auch der Gedächtnisfunktionen. Der Verlauf<br />

dieses Abbaus ist nicht schubförmig, sondern kont<strong>in</strong>uierlich progredient.<br />

Auch im Verlauf schizophrener Erkrankungen kommt es häufi g zu kognitiven<br />

Defi ziten, die aber im Gegensatz zu den <strong>Demenzen</strong> deutlich weniger stark<br />

ausgeprägt s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> im Verlauf eher stabil bleiben. Zu e<strong>in</strong>em vollständigen<br />

Verlust der Orientierung wie bei der fortgeschrittenen Demenz kommt es bei<br />

der Schizophrenie allenfalls <strong>in</strong> ausgeprägten akuten Schüben. Auf der anderen<br />

Seite können die Leitsymptome der Schizophrenie, Wa hn <strong>und</strong> Halluz<strong>in</strong>ation<br />

en, <strong>in</strong> fortgeschrittenen Demenzstadien zwar auft reten, sie kommen aber<br />

nicht ohne e<strong>in</strong>e Bee<strong>in</strong>trächtigung der kognitiven Funktionen vor, welche ganz<br />

im Vordergr<strong>und</strong> steht. Weitere diff erenzialdiagnostisch wichtige Kriterien<br />

werden <strong>in</strong> . Tab. 14.1 dargestellt.<br />

Andere psychiatrische Diff erenzialdiagnosen (. Tab. 14.2) s<strong>in</strong>d zum e<strong>in</strong>en<br />

schwere Depressionen mit psychotischen Symptomen wie Wahn <strong>und</strong><br />

extrem selten auch Halluz<strong>in</strong>ationen. Ebenso gibt es schizoaff ektive Störungen<br />

, bei denen <strong>in</strong> derselben Krankheitsphase sowohl ausgeprägte schizo-


14<br />

248 Kapitel 14 · Spätschizophrenie <strong>und</strong> chronische Schizophrenie<br />

. Tab. 14.1 Wichtige Merkmale zur Differenzialdiagnose Demenz <strong>und</strong> Schizophrenie<br />

Merkmal Demenz Schizophrenie<br />

Verlauf Langsam progredient Meist schubweise, oft Entwicklung<br />

e<strong>in</strong>es gewissen Residuums<br />

außerhalb der Schübe<br />

Beg<strong>in</strong>n Meist im höheren bis hohen<br />

Lebensalter<br />

Kognition Leitsymptom, global<br />

<strong>und</strong> zeitlich progredient<br />

bee<strong>in</strong>trächtigt<br />

Aufmerksamkeit<br />

Orientierung<br />

Normal (außer <strong>in</strong> schweren<br />

Stadien)<br />

Bis auf die seltenere Spätschizophrenie<br />

meist zwischen 20. <strong>und</strong><br />

40. Lebensjahr<br />

Eher ger<strong>in</strong>ge, zeitlich wenig<br />

progrediente Störungen s<strong>in</strong>d<br />

möglich<br />

Im akuten Schub häufig gestört<br />

Häufig bee<strong>in</strong>trächtigt Kann im akuten Schub bee<strong>in</strong>trächtigt<br />

se<strong>in</strong><br />

Sprache Wortf<strong>in</strong>dungsstörungen ,<br />

Perseverationen<br />

Psychomotorik<br />

Halluz<strong>in</strong>ationen<br />

In der Akutphase oft formale<br />

Denkstörungen wie Gedankenabreißen<br />

<strong>und</strong> <strong>in</strong>kohärente Sprache<br />

Häufig unauffällig Kann <strong>in</strong> der Akutphase zwischen<br />

Retardierung <strong>und</strong> Hyperaktivität<br />

schwanken<br />

Fehlen häufig <strong>und</strong> treten meist<br />

nur <strong>in</strong> schweren Fällen auf<br />

Wahn Fehlt meist <strong>und</strong> tritt eher <strong>in</strong><br />

fortgeschrittenen Fällen auf<br />

Typisches Leitsymptom der akuten<br />

Erkrankung<br />

Typisches Leitsymptom der akuten<br />

Erkrankung<br />

phrene als auch ausgeprägte aff ektive Symptome vorliegen müssen. Die wahnhafte<br />

Störung (Paranoia ) ist durch e<strong>in</strong>en lang dauernden Wahn ohne weitere<br />

schizophrene Symptome gekennzeichnet. Sie beg<strong>in</strong>nt meist im mittleren Lebensalter<br />

<strong>und</strong> spricht <strong>in</strong>sgesamt schlecht auf medikamentöse Th erapie an.<br />

Akute vorübergehende psychotische Störungen können e<strong>in</strong>er schizo-


14.2 · Differenzialdiagnosen<br />

249<br />

. Tab. 14.2 Abgrenzung e<strong>in</strong>iger wichtiger psychiatrischer Differenzialdiagnosen<br />

von der Schizophrenie<br />

Erkrankung Wichtige Merkmale zur Abgrenzung<br />

von der Schizophrenie<br />

Depression Im Vordergr<strong>und</strong> steht die ausgeprägte Depressivität,<br />

Wahn <strong>und</strong> Halluz<strong>in</strong>ationen treten nur bei sehr schweren<br />

Formen auf<br />

Schizoaffektive Störung Die Kriterien für e<strong>in</strong>e Schizophrenie <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Depression<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Krankheitsepisode gleichzeitig erfüllt<br />

Akute schizophreniforme<br />

Störung<br />

Sehr akutes (kürzer als 4 Wochen) <strong>und</strong> rasch wieder<br />

abkl<strong>in</strong>gendes, schizophreniformes Zustandsbild<br />

Wahnhafte Störung Die Patienten leiden (fast) ausschließlich an Wahnsymptomen,<br />

nicht an anderen Symptomen e<strong>in</strong>er Schizophrenie<br />

wie Halluz<strong>in</strong>ationen oder Denkstörungen<br />

Delir Im Vordergr<strong>und</strong> stehen die Desorientiertheit <strong>und</strong> die<br />

Bewusstse<strong>in</strong>sstörung, Halluz<strong>in</strong>ationen <strong>und</strong> Wahn s<strong>in</strong>d<br />

wenig systematisiert <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d fluktuierend<br />

Borderl<strong>in</strong>e-Persönlichkeitsstörung<br />

Die Persönlichkeitsstörung steht ganz im Vordergr<strong>und</strong>,<br />

<strong>in</strong> Krisen kann es zu kurzen halluz<strong>in</strong>atorischen oder<br />

wahnhaften Phänomenen kommen<br />

14<br />

phrenen Erkrankung vom kl<strong>in</strong>ischen Bild her ebenfalls ähneln, sie erfüllen<br />

aber <strong>in</strong>sbesondere nicht das Zeitkriterium von e<strong>in</strong>em Monat. Gewisse Persönlichkeitsstörungen,<br />

v. a. die Borderl<strong>in</strong>e-Persönlichkeitsstörung , können<br />

mit fl üchtigen psychotischen Symptomen e<strong>in</strong>hergehen. Das Delir kennzeichnet<br />

sich durch Orientierungsstörungen (bei Schizophrenie selten) <strong>und</strong> Störungen<br />

des Bewusstse<strong>in</strong>s. Halluz<strong>in</strong>ationen <strong>und</strong> Wahn fl uktuieren <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d<br />

wenig systematisiert.<br />

> Das Leitsymptom der Demenz ist der kont<strong>in</strong>uierliche kognitive<br />

Abbau, Leitsymptome der Schizophrenie s<strong>in</strong>d Wahn <strong>und</strong> Halluz<strong>in</strong>ationen.


14<br />

250 Kapitel 14 · Spätschizophrenie <strong>und</strong> chronische Schizophrenie<br />

14.3 Untersuchungsbef<strong>und</strong>, Labor-<br />

<strong>und</strong> apparative Diagnostik<br />

E<strong>in</strong>e gründliche körperliche <strong>und</strong> neurologische Untersuchung dient ebenso<br />

wie e<strong>in</strong> Laborscreen<strong>in</strong>g dem Ausschluss organischer Krankheiten, die schizophrenieähnliche<br />

Symptome verursachen können. E<strong>in</strong> Basisprogramm für e<strong>in</strong><br />

solches Laborscreen<strong>in</strong>g wird <strong>in</strong> . Tab. 14.3 vorgeschlagen. In der kranialen<br />

Bildgebung gibt es gut replizierte Bef<strong>und</strong>e, dass jüngere schizophrene Patienten<br />

im Vergleich zu Ges<strong>und</strong>en größere Gehirnventrikel aufweisen. Ähnliche<br />

Bef<strong>und</strong>e werden auch für Patienten mit Spätschizophrenien beschrieben, deren<br />

Ventrikelgrößen gleichzeitig aber kle<strong>in</strong>er als die von altersgleichen Patienten<br />

mit Alzheimer-Demenz mit waren. Hierbei handelt es sich aber nur um<br />

im statistischen Mittel signifi kante Bef<strong>und</strong>e, die für die Diff erenzialdiagnose<br />

im E<strong>in</strong>zelfall nicht relevant s<strong>in</strong>d. Kraniale Computertomographie oder Magnetresonanztomographie<br />

<strong>und</strong> EEG dienen dem Ausschluss organischer<br />

Erkrankungen <strong>und</strong> sollten mit dieser Zielsetzung bei älteren Patienten bei jeder<br />

Erstmanifestation e<strong>in</strong>gesetzt werden. SPECT- <strong>und</strong> PET-Bef<strong>und</strong>e, die Veränderungen<br />

des Gehirnstoff wechsels zeigen, s<strong>in</strong>d derzeit nur von wissenschaft<br />

lichem Interesse <strong>und</strong> höchstens <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelfällen, z. B. für den diff erenzialdiagnostischen<br />

Ausschluss e<strong>in</strong>er Alzheimer-Demenz, relevant.<br />

14.4 Behandlung<br />

14.4.1 Pharmakologische Behandlung<br />

Wie bei jüngeren schizophrenen Patienten ist auch bei den älteren e<strong>in</strong>e konsequente<br />

Medikation mit Neuroleptika die Gr<strong>und</strong>lage. Sie stellt die e<strong>in</strong>zige Th erapieform<br />

mit erwiesener Wirksamkeit auf die Positivsymptome dar, die<br />

durch Psychotherapie alle<strong>in</strong>e <strong>in</strong> der Regel nicht gebessert werden. Andere psychotrope<br />

Medikamente wie Benzodiazep<strong>in</strong>e , Antidepressiva , Lithium oder<br />

Carbamazep<strong>in</strong> werden zwar <strong>in</strong> manchen Fällen als Adjuvanzien e<strong>in</strong>er Neuroleptikatherapie<br />

e<strong>in</strong>gesetzt, sie s<strong>in</strong>d aber als Monotherapie nicht dazu geeignet,<br />

diese Erkrankungen erfolgreich zu behandeln.<br />

Für die medikamentöse Behandlung älterer schizophrener Patienten gelten<br />

im Pr<strong>in</strong>zip die gleichen Gr<strong>und</strong>sätze wie bei jüngeren Patienten. Auf e<strong>in</strong>ige<br />

wenige altersbed<strong>in</strong>gte Unterschiede wird im Folgenden besonders h<strong>in</strong>gewiesen.<br />

. Tab. 14.4 stellt die unter e<strong>in</strong>er neuroleptischen Behandlung erforder-


14.4 · Behandlung<br />

251<br />

. Tab. 14.3 Rout<strong>in</strong>ediagnostik im Rahmen der organischen Aufklärung.<br />

(Mod. nach Gaebel et al. 2006)<br />

Diagnostischer Parameter Mit schizophrenen Symptomen e<strong>in</strong>hergehende<br />

Krankheit a<br />

Obligat<br />

Körperliche <strong>und</strong> neurologische Untersuchung b<br />

Diff erenzialblutbild b<br />

z. B. perniziöse Anämie, v. a. aber auch als<br />

Ausgangswert vor neuroleptischer Medikation<br />

C-reaktives Prote<strong>in</strong> b<br />

Infektionen, Tumore, Autoimmunkrankheiten<br />

Leberwerte b , Nierenwerte b<br />

v. a. auch Ausgangswert vor neuroleptischer<br />

Medikation<br />

TSH Hyper- oder Hypothyreose können mit psychischen<br />

Störungen e<strong>in</strong>hergehen<br />

Computertomographie oder<br />

Magnetresonanztomographie<br />

Fakultativ<br />

Hirntumore, zerebrovaskuläre oder degenerative<br />

Erkrankungen, entzündliche Prozesse, Infektionen<br />

Lues-Serologie<br />

Neurolues<br />

(bei entsprechendem Verdacht)<br />

HIV-Test<br />

HIV-<strong>in</strong>duzierte Psychose<br />

(bei entsprechendem Verdacht)<br />

Vitam<strong>in</strong> B12 <strong>und</strong> Folsäure Durch Vitam<strong>in</strong>mangelzustände bed<strong>in</strong>gte Psychose<br />

Kupferspiegel <strong>und</strong> Coeruloplasm<strong>in</strong> Morbus Wilson<br />

(bei entsprechendem Verdacht)<br />

Drogenscreen<strong>in</strong>g<br />

Drogen<strong>in</strong>duzierte Psychose<br />

(bei entsprechendem Verdacht)<br />

Liquorpunktion<br />

z. B. Enzephalitiden, multiple Sklerose<br />

(v. a. bei diagnostisch unklaren<br />

Bildern)<br />

EEG Epileptische Psychose <strong>und</strong> als Ausgangswert vor<br />

neuroleptischer Medikation<br />

EKG v. a. auch Ausgangswert vor neuroleptischer<br />

Medikation<br />

Röntgen-Thorax<br />

(bei entsprechender Indikation, d. h.<br />

Verdacht auf Lungenerkrankung)<br />

a<br />

Diese Aufstellung ist nicht vollständig <strong>und</strong> listet nur e<strong>in</strong>ige wichtige manchmal mit<br />

Psychosen e<strong>in</strong>hergehende körperliche Erkrankungen auf.<br />

b Auch bei Wiedererkrankung erforderliche Diagnostik, hier sollten auch pathologische<br />

Vorbef<strong>und</strong>e kontrolliert <strong>und</strong> evtl. Medikamentenspiegel bestimmt werden.<br />

14


14<br />

252 Kapitel 14 · Spätschizophrenie <strong>und</strong> chronische Schizophrenie<br />

. Tab. 14.4 Empfehlungen für Rout<strong>in</strong>euntersuchungen unter Antipsychotika . (Aus Benkert u. Hippius 2011)<br />

Untersuchung Vorher Monate Monatlich Vierteljährlich Halbjährlich<br />

1 2 3 4 5 6<br />

Blutbild<br />

Trizyklische AP a (!) XX X X X X X X – X –<br />

Clozap<strong>in</strong>, Thioridaz<strong>in</strong> X XXXX XXXX XXXX XXXX XX X X – –<br />

Andere AP X X – X – – X – X c<br />

–<br />

Blutzucker b , Blutfette<br />

Clozap<strong>in</strong>, Olanzap<strong>in</strong> X X m<br />

– X – – X – X –<br />

Quetiap<strong>in</strong>, Risperidon X X m<br />

– X – – Xm – – X<br />

Andere AP X – – X – – X m<br />

– – X d<br />

Kreat<strong>in</strong><strong>in</strong> X X – X – – X – – X<br />

Leberenzyme<br />

Trizyklische AP a (!) X X X X – – X – X –<br />

Andere AP X X – X – – X – X c<br />

–<br />

EKG (QTc) e<br />

X XX – X – – X – X –<br />

Clozap<strong>in</strong> f<br />

Thioridaz<strong>in</strong>, Pimozid X XX X X X X X X – –<br />

Sert<strong>in</strong>dol g<br />

X X – X – – X – X –<br />

Andere AP h<br />

X X – – – – X – – Xi


14.4 · Behandlung<br />

. Tab. 14.4 Empfehlungen Fortsetzung<br />

für Rout<strong>in</strong>euntersuchungen unter Antipsychotika . (Aus Benkert u. Hippius 2011)<br />

Untersuchung Vorher Monate Monatlich Vierteljährlich Halbjährlich<br />

1 2 3 4 5 6<br />

EEG k<br />

–<br />

Clozap<strong>in</strong> X – – X – – X – X d<br />

RR, Puls X X – X – – X – X –<br />

Körpergewicht (BMI) l , X X X X – – X – X –<br />

Taillenumfang<br />

253<br />

14<br />

X Anzahl der notwendigen Rout<strong>in</strong>ekontrollen; bei e<strong>in</strong>maliger Messempfehlung im 1. Monat kann die Messung zwischen der 4.<strong>und</strong> 6. Woche erfolgen; AP<br />

Antipsychotika.<br />

a<br />

Achtung (!): Die atypischen AP Olanzap<strong>in</strong> <strong>und</strong> Quetiap<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d strukturchemisch ebenfalls Trizyklika.<br />

b<br />

Ggf. auch Blutzuckertagesprofi l, Glukosetoleranztest <strong>und</strong> HbA1c , <strong>in</strong>sbesondere bei Clozap<strong>in</strong> <strong>und</strong> Olanzap<strong>in</strong>.<br />

c<br />

Bei unauff älligen Konstellationen bzw. stabilen Patienten können halbjährliche Kontrollen ausreichen.<br />

d<br />

Bei unauff älligen Konstellationen bzw. langfristig stabilen Patienten können jährliche Kontrollen ausreichen.<br />

e<br />

Absolutwerte von > 440 ms (Männer) > 450 ms (Frauen) sowie medikamenten<strong>in</strong>duzierte Zunahmen > 60 ms s<strong>in</strong>d auff ällig.<br />

f<br />

Unter Clozap<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d toxisch-allergische Myokarditiden beschrieben; daher empfehlen sich unter Clozap<strong>in</strong> zusätzliche EKG-Kontrollen bei Auftreten von<br />

kardialen Symptomen <strong>und</strong> Fieber bzw. nach 14 Tagen Behandlungsdauer.<br />

g<br />

Unter Sert<strong>in</strong>dol s<strong>in</strong>d EKG-Kontrollen vor Beg<strong>in</strong>n der Therapie, nach Erreichen des Steady State (3 Wochen) oder bei e<strong>in</strong>er Dosis von 16 mg, nach 3 Monaten<br />

<strong>und</strong> danach <strong>in</strong> 3-monatigen Intervallen, vor <strong>und</strong> nach jeder Dosiserhöhung während der Erhaltungstherapie, nach jeder zusätzlichen Gabe oder<br />

Erhöhung der Dosis e<strong>in</strong>er Begleitmedikation, die zu e<strong>in</strong>er Erhöhung der Sert<strong>in</strong>dol-Konzentration führen könnte, empfohlen (bevorzugt morgens).<br />

h<br />

Beim Vorliegen oder Auftreten kardialer Symptome ist e<strong>in</strong>e kardiologische Abklärung notwendig; durch sie wird auch die Häufi gkeit von EKG-<br />

Untersuchungen im Verlauf festgelegt.<br />

i<br />

Kontrolle bei allen Patienten > 60 Jahre empfehlenswert sowie bei kardialen Risiken; bei Ziprasidon, Peraz<strong>in</strong>, Fluspirilen <strong>und</strong> hochpotenten<br />

Butyrophenonen eher häufi gere EKG-Kontrollen empfohlen.<br />

k<br />

Häufi gere EEG-Kontrollen auch bei zerebraler Vorschädigung, erhöhter Anfallsbereitschaft, unklaren Bewusstse<strong>in</strong>sveränderungen (DD: nichtkonvulsiver<br />

Status) vor <strong>und</strong> während e<strong>in</strong>er AP-Behandlung.<br />

l<br />

Messungen des Taillenumfangs werden empfohlen; zusätzlich monatliche Gewichtskontrollen durch den Patienten selbst.<br />

m<br />

Nur Blutzucker.<br />

Die Empfehlungen entsprechen der S3-Leitl<strong>in</strong>ie Schizophrenie der DGPPN (2005), gehen teilweise jedoch darüber h<strong>in</strong>aus.


14<br />

254 Kapitel 14 · Spätschizophrenie <strong>und</strong> chronische Schizophrenie<br />

lichen Rout<strong>in</strong>euntersuchungen dar. Insgesamt beziehen sich diese Empfehlungen<br />

aus Benkert <strong>und</strong> Hippius (2011) auf »normale« Erwachsene, nicht auf<br />

ältere Patienten. Aufgr<strong>und</strong> der größeren Empfi ndlichkeit älterer Menschen<br />

s<strong>in</strong>d eher noch häufi ger Kontrolluntersuchungen durchzuführen.<br />

Neuroleptikagruppen<br />

Neuroleptika können zum e<strong>in</strong>en nach ihrer chemischen Struktur e<strong>in</strong>geteilt<br />

werden, die aber wenig über ihre Wirkung <strong>und</strong> ihr Nebenwirkungsprofi l aussagt.<br />

Kl<strong>in</strong>isch relevanter ist e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>teilung nach der Affi nität der Substanzen<br />

zu zentralen Dopam<strong>in</strong>rezeptoren. Die Blockade von Dopam<strong>in</strong>rezeptoren im<br />

mesolimbischen System ist e<strong>in</strong> Wirkpr<strong>in</strong>zip aller auf dem Markt erhältlichen<br />

Neuroleptika. Wenn e<strong>in</strong>e Substanz darüber h<strong>in</strong>aus auch die Dopam<strong>in</strong>rezeptoren<br />

des nigrostriatalen Systems blockiert, führt das zu extrapyramidalmotorischen<br />

Nebenwirkungen. Je nach Stärke der B<strong>in</strong>dungsaffi nität von Neuroleptikazu<br />

Dopam<strong>in</strong>rezeptoren kann man diese als hochpotent (z. B. Haloperidol ,<br />

Benperidol , Flupentixol oder Fluphenaz<strong>in</strong> ), mittelpotent (z. B. Peraz<strong>in</strong> ) oder<br />

niedrigpotent (z. B. Levomepromaz<strong>in</strong> , Melperon , Pipamperon ) e<strong>in</strong>teilen.<br />

Hochpotente Neuroleptika werden <strong>in</strong> der Regel zur Behandlung akuter Positivsymptomatik<br />

e<strong>in</strong>gesetzt, niedrigpotente eher zur Sedierung <strong>und</strong> zur<br />

Schlafanstoßung. Gr<strong>und</strong>sätzlich ist zur Vermeidung von Interaktionen e<strong>in</strong>e<br />

Monotherapie anzustreben.<br />

In den letzten Jahren wurden die o. g. Präparate zunehmend von den sogenannten<br />

»atypischen« Neuroleptika verdrängt, die sich entweder durch e<strong>in</strong>e<br />

zusätzliche Blockade von zentralen Seroton<strong>in</strong>rezeptoren auszeichnen (Clozap<strong>in</strong><br />

, Risperidon , Olanzap<strong>in</strong> , Quetiap<strong>in</strong> , Ziprasidon , Sert<strong>in</strong>dol ) oder selektiv<br />

nur auf mesolimbische Dopam<strong>in</strong>rezeptoren wirken (Amisulprid ). Das neueste<br />

Neuroleptikum, Aripiprazol , soll e<strong>in</strong> partieller Dopam<strong>in</strong>agonist se<strong>in</strong>. Allen<br />

diesen neuen Substanzen ist geme<strong>in</strong>sam, dass sie bei gleich guter Wirksamkeit<br />

weniger extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen als hochpotente konventionelle<br />

Neuroleptika hervorrufen. Da ältere Patienten für extrapyramidalmotorische<br />

Nebenwirkungen besonders empfi ndlich s<strong>in</strong>d, spielen diese<br />

atypischen Neuroleptika <strong>in</strong> der Gerontopsychiatrie e<strong>in</strong>e große Rolle . Gleichzeitig<br />

s<strong>in</strong>d dabei aber andere unerwünschte Eff ekte der Atypika zu beachten.<br />

Insbesondere hat aufgr<strong>und</strong> von erhöhten Raten vaskulärer Komplikationen<br />

<strong>und</strong> Todesfällen <strong>in</strong> Prüfstudien nur Risperidon e<strong>in</strong>e Zulassung bei demenzassoziierten<br />

Problemen wie Unruhe, Aggressivität – <strong>und</strong> auch diese nur unter<br />

e<strong>in</strong>er strengen Kosten-Risiko-Abwägung.


14.4 · Behandlung<br />

255<br />

14<br />

> Daher ist im E<strong>in</strong>zelfall gut zu prüfen, ob e<strong>in</strong> Medikament e<strong>in</strong>e offi zielle<br />

Indikation hat oder ob man sich im »Off-label-Bereich« befi ndet.<br />

Dosierung<br />

Ältere Patienten tolerieren <strong>und</strong> benötigen im Allgeme<strong>in</strong>en deutlich niedrigere<br />

Neuroleptikadosen als jüngere (Jeste et al. 1993) . Als grobe Dosierungsrichtl<strong>in</strong>ie<br />

kann gelten, dass man die für jüngere Patienten üblichen Dosen im Alter<br />

auf etwa e<strong>in</strong> Drittel reduzieren sollte. Der Gr<strong>und</strong> hierfür liegt <strong>in</strong> den durch<br />

den Alterungsprozess veränderten pharmakok<strong>in</strong>etischen Bed<strong>in</strong>gungen. Im<br />

Alter kommt es zu e<strong>in</strong>er Abnahme des Körperwassers <strong>und</strong> der Muskelmasse<br />

<strong>und</strong> zu e<strong>in</strong>em Anstieg an Körperfetten. Ältere Patienten haben niedrigere<br />

Plasmaprote<strong>in</strong>konzentrationen, was zu höheren Plasmaspiegeln der ungeb<strong>und</strong>enen<br />

(d. h. wirksamen) Teile e<strong>in</strong>es Pharmakons führen kann. Die Nierenfunktion<br />

verschlechtert sich mit steigendem Alter, <strong>und</strong> die meisten psychotropen<br />

Substanzen werden langsamer als bei jungen Patienten ausgeschieden.<br />

Weitere E<strong>in</strong>fl ussvariablen könnten z. B. altersbed<strong>in</strong>gte Veränderungen<br />

zerebraler Rezeptoren se<strong>in</strong>, diese s<strong>in</strong>d bislang aber kaum erforscht.<br />

> Bei älteren Patienten genügt meist e<strong>in</strong> Drittel der bei jungen Erwachsenen<br />

üblichen Neuroleptikadosis.<br />

Auswahl des Neuroleptikums<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich ist festzustellen, dass die psychopharmakologische Forschung<br />

bislang ke<strong>in</strong>e validen Auswahlkriterien zwischen den zahlreichen auf dem<br />

Markt erhältlichen Neuroleptika hervorgebracht hat. Daher muss <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie<br />

auf pragmatisch-plausible Auswahlkriterien zurückgegriff en werden. Zunächst<br />

sollte e<strong>in</strong>em Patienten das Medikament gegeben werden, mit dem er<br />

bereits bei e<strong>in</strong>er früheren Episode erfolgreich behandelt wurde. Es ist auch<br />

s<strong>in</strong>nvoll, e<strong>in</strong> Medikament e<strong>in</strong>zusetzen, mit dem der Th erapeut bereits ausreichende<br />

Erfahrungen gesammelt hat. Die Präferenzen des Patienten für e<strong>in</strong>e<br />

bestimmte Substanz sollten ebenfalls berücksichtigt werden. Weitere Kriterien<br />

können die verfügbaren Darreichungsformen e<strong>in</strong>es Präparats se<strong>in</strong>. So<br />

kann ungenügender Compliance, die bei älteren Patienten auch durch kognitive<br />

Defi zite bed<strong>in</strong>gt se<strong>in</strong> kann, durch die Gabe e<strong>in</strong>es Depot-Neuroleptikums<br />

entgegengewirkt werden. Je nach Präparat (z. B. Fluspirilen, Flupentixoldecanoat,<br />

Risperidon als Depotpräparat, Haloperidoldecanoat) s<strong>in</strong>d hierbei i.m.-<br />

Injektionen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>-, zwei-, drei- oder vierwöchentlichen Abständen erforder-


14<br />

256 Kapitel 14 · Spätschizophrenie <strong>und</strong> chronische Schizophrenie<br />

lich. E<strong>in</strong> Nachteil der Depotpräparate ist allerd<strong>in</strong>gs, dass beim Auft reten von<br />

Nebenwirkungen das hierfür verantwortliche Neuroleptikum nicht sofort abgesetzt<br />

werden kann, sondern der langsame Abbau der Depotsubstanz abgewartet<br />

werden muss. Da ältere Menschen empfi ndlicher für neuroleptische<br />

Nebenwirkungen s<strong>in</strong>d als jüngere, ist das jeweilige Nebenwirkungsprofi l der<br />

e<strong>in</strong>zelnen Substanzen e<strong>in</strong> besonders maßgebliches Auswahlkriterium. Die<br />

wichtigsten Nebenwirkungen der Neuroleptika werden im Folgenden ausführlicher<br />

dargestellt.<br />

Extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen<br />

Zu den extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen (EPS) gehören akute<br />

Dystonien, medikamentös <strong>in</strong>duzierter Park<strong>in</strong>sonismus, Akathisie <strong>und</strong> tardive<br />

Dysk<strong>in</strong>esien. Alle diese Nebenwirkungen s<strong>in</strong>d dosisabhängig, <strong>und</strong> sie treten<br />

bei hochpotenten konventionellen Neuroleptika deutlich häufi ger auf als bei<br />

niedrigpotenten Substanzen. Die atypischen Neuroleptika zeichnen sich <strong>in</strong>sgesamt<br />

durch e<strong>in</strong> niedrigeres EPMS-Risiko aus.<br />

Akute Dystonien<br />

Unter akuten Dystonien versteht man spastische Kontraktionen von Muskelgruppen,<br />

typischerweise im Bereich des Kopfes <strong>und</strong> Nackens (z. B. Zungenschl<strong>und</strong>krämpfe<br />

, Blickkrämpfe ), die meist <strong>in</strong> den ersten 3 Tagen e<strong>in</strong>er neuroleptischen<br />

Th erapie auft reten . Sie s<strong>in</strong>d für den Patienten äußerst unangenehm<br />

<strong>und</strong> werden häufi g als sehr bedrohlich erlebt. Durch die Gabe von Antichol<strong>in</strong>ergika<br />

, wie z. B. Biperiden als Tablette oder <strong>in</strong>travenös können sie rasch beseitigt<br />

werden.<br />

Akathisie<br />

Unter Akathisie versteht man e<strong>in</strong>e durch Neuroleptika ausgelöste Sitzunruhe .<br />

Die Patienten s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>nerlich getrieben <strong>und</strong> unruhig, sie können nicht still sitzen.<br />

Dieser Zustand wird von den Patienten als sehr quälend empf<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

führt manchmal sogar zu Suizidversuchen. Th erapeutische Gegenmaßnahmen<br />

können neben der Dosisreduktion die Gabe von Benzodiazep<strong>in</strong>en , β-<br />

Blockern oder Antichol<strong>in</strong>ergika se<strong>in</strong>, häufi g ist es aber auch erforderlich, die<br />

neuroleptische Medikation auf e<strong>in</strong> niedrigpotenteres oder atypisches Neuroleptikum<br />

umzustellen.


14.4 · Behandlung<br />

Park<strong>in</strong>sonoid<br />

257<br />

14<br />

Der medikamentös <strong>in</strong>duzierte Park<strong>in</strong>sonismus ist e<strong>in</strong>e weitere häufi ge Nebenwirkung<br />

von Neuroleptika, die oft von der Symptomatik her nur schwer von<br />

e<strong>in</strong>er echten Park<strong>in</strong>son-Krankheit unterschieden werden kann . Bei älteren<br />

Patienten ist diese Nebenwirkung mit e<strong>in</strong>er erhöhten Sturzgefahr verb<strong>und</strong>en.<br />

Behandlungsstrategien s<strong>in</strong>d die Dosisreduktion, die Umstellung auf e<strong>in</strong> niedrigpotenteres<br />

konventionelles oder e<strong>in</strong> atypisches Neuroleptikum oder die<br />

Zugabe von Antipark<strong>in</strong>sonmedikation (z. B. Biperiden).<br />

Spätdysk<strong>in</strong>esien<br />

Unter Spätdysk<strong>in</strong>esien bzw. tardiven Dysk<strong>in</strong>esien versteht man unwillkürliche<br />

Bewegungen der perioralen Muskulatur , der Zunge oder anderer Gesichtsmuskeln,<br />

weniger häufi g auch der Extremitäten <strong>und</strong> des Rumpfes. Als wichtige<br />

Diff erenzialdiagnosen bei älteren Patienten sollten schlecht sitzende<br />

Zahnprothesen <strong>und</strong> Zungenbewegungen, die durch medikamentöse M<strong>und</strong>trockenheit<br />

bed<strong>in</strong>gt s<strong>in</strong>d, beachtet werden. Bei jungen Patienten unter neuroleptischer<br />

Medikation mit hochpotenten konventionellen Neuroleptika wie Haloperidol<br />

beträgt die jährliche Inzidenz neu aufgetretener Spätdysk<strong>in</strong>esien etwa<br />

5%, sodass nach 5 Jahren etwa 20–25% der Patienten an diesen leiden.<br />

Schwere <strong>und</strong> irreversible Formen von Spätdysk<strong>in</strong>esien treten unter konventionellen<br />

Neuroleptika aber nur bei wenigen Patienten auf (Kissl<strong>in</strong>g et al. 1991).<br />

Da neben der kumulativ erhaltenen Neuroleptikamenge das Lebensalter der<br />

wichtigste Risikofaktor für Spätdysk<strong>in</strong>esien ist, ist die Inzidenz von Spätdysk<strong>in</strong>esien<br />

bei Alterspatienten deutlich höher, <strong>und</strong> der Verlauf ist <strong>in</strong> bei diesen<br />

Patienten oft besonders schwer.<br />

Obwohl im Laufe der Zeit zahlreiche Behandlungsmethoden erprobt wurden,<br />

gibt es ke<strong>in</strong>e mit Sicherheit erwiesen eff ektive Th erapie gegen Spätdysk<strong>in</strong>esien.<br />

Auch ist nicht sicher, ob Dosisreduktion <strong>und</strong> Umstellung auf e<strong>in</strong><br />

anderes Medikament (vorgeschlagen wird v. a. Clozap<strong>in</strong> ) Erfolg versprechend<br />

s<strong>in</strong>d. Umso wichtiger ist es, die Spätdysk<strong>in</strong>esien von vornhere<strong>in</strong> zu vermeiden.<br />

Hierbei ist auf das niedrigere Spätdysk<strong>in</strong>esierisiko der neueren, sogenannten<br />

atypischen Neuroleptika h<strong>in</strong>zuweisen (Correll et al. 2004).<br />

> Ältere Patienten s<strong>in</strong>d für extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen<br />

von Neuroleptika besonders empfi ndlich.


14<br />

258 Kapitel 14 · Spätschizophrenie <strong>und</strong> chronische Schizophrenie<br />

Sedierung<br />

Sedierung ist e<strong>in</strong>e der am häufi gsten bei älteren Patienten auft retende Nebenwirkung.<br />

Sie wird u. a. mit e<strong>in</strong>er Blockade zentraler Histam<strong>in</strong>rezeptoren <strong>in</strong><br />

Verb<strong>in</strong>dung gebracht. Die besonders sedierenden niedrigpotenten konventionellen<br />

Neuroleptika werden gerne dazu e<strong>in</strong>gesetzt, agitierte schizophrene <strong>und</strong><br />

auch agitierte demente Patienten zu beruhigen oder deren Schlaf zu verbessern.<br />

Orthostatische Hypotension<br />

Besonders die niedrigpotenten Neuroleptika, aber auch e<strong>in</strong>ige atypische Neuroleptika<br />

(Clozap<strong>in</strong>, Risperidon, Quetiap<strong>in</strong>) haben e<strong>in</strong>e starke Affi nität zu α 1 -<br />

Adrenozeptoren , was zu Blutdrucksenkung <strong>und</strong> orthostatischen Dysregulationen<br />

führen kann. Ältere Patienten s<strong>in</strong>d hierfür aufgr<strong>und</strong> verm<strong>in</strong>derter zentraler<br />

Vasoregulationsmechanismen besonders anfällig. Dies kann zu gefährlichen<br />

Synkopen <strong>und</strong> Stürzen führen. Neben der Auswahl e<strong>in</strong>es weniger blutdrucksenkenden<br />

Neuroleptikums (z. B. Amisulprid , Haloperidol oder Olanzap<strong>in</strong><br />

) <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er möglichst ger<strong>in</strong>gen Dosierung sollte e<strong>in</strong>er solchen Gefahr<br />

durch e<strong>in</strong>e entsprechende Information des Patienten, sich ganz langsam aus<br />

dem Liegen oder Sitzen zu erheben, entgegengewirkt werden. Manchmal ist<br />

die Gabe von den Kreislauf anregenden Medikamenten (z. B. Dihydroergotam<strong>in</strong><br />

oder Etilefr<strong>in</strong>) s<strong>in</strong>nvoll.<br />

Antichol<strong>in</strong>erge Nebenwirkungen<br />

Besonders die niedrigpotenten konventionellen Neuroleptika <strong>und</strong> verschiedene<br />

atypische Neuroleptika (v. a. Olanzap<strong>in</strong> <strong>und</strong> Clozap<strong>in</strong> ) s<strong>in</strong>d mit antichol<strong>in</strong>ergen<br />

Nebenwirkungen verb<strong>und</strong>en. Der Ausdruck peripherer antichol<strong>in</strong>erger<br />

Wirkungen s<strong>in</strong>d trockener M<strong>und</strong>, Erhöhung des Augen<strong>in</strong>nendrucks (cave<br />

bei Glaukom!), Obstipation <strong>und</strong> Harnverhalt (cave bei Prostatahyperplasie!).<br />

Besonders gefährlich s<strong>in</strong>d zentrale antichol<strong>in</strong>erge Nebenwirkungen wie Verwirrtheit,<br />

Orientierungsstörungen bis h<strong>in</strong> zum potenziell lebensbedrohlichen<br />

Delir. Bereits vorliegende altersbed<strong>in</strong>gte oder beg<strong>in</strong>nende demenzielle kognitive<br />

Defi zite können durch die antichol<strong>in</strong>ergen Eigenschaft en bestimmter<br />

Neuroleptika weiter verstärkt werden. Dem ist am besten entweder durch e<strong>in</strong>e<br />

Dosisreduktion oder e<strong>in</strong>en Substanzwechsel (z. B. auf Amisulprid ) entgegenzuwirken.<br />

Bei Harnverhalt kann die Gabe von Chol<strong>in</strong>ergika erforderlich<br />

se<strong>in</strong>.


14.4 · Behandlung<br />

> Viele Neuroleptika gehen mit antichol<strong>in</strong>ergen Eigenschaften e<strong>in</strong>her,<br />

die kognitive Defi zite älterer Patienten verstärken können.<br />

259<br />

14<br />

Kardiovaskuläre Nebenwirkungen<br />

Neuroleptika können über verschiedene Mechanismen, z. B. antichol<strong>in</strong>erge<br />

Eigenschaft en oder e<strong>in</strong>e Blockade von α 1 -adrenergen Rezeptoren nicht nur<br />

S<strong>in</strong>ustachykardien, sondern auch höhergradige Rhythmusstörungen wie e<strong>in</strong>e<br />

Verlängerung der QT-Zeit hervorrufen. Da ältere Patienten häufi g bereits vorgeschädigte<br />

Herzen haben, sollten bei diesen regelmäßige EKG-Kontrollen<br />

vor <strong>und</strong> nach Th erapiebeg<strong>in</strong>n <strong>und</strong> im Verlauf zum<strong>in</strong>dest vierteljährlich durchgeführt<br />

werden. Das am häufi gsten mit e<strong>in</strong>er QT-Zeit-Verlängerung e<strong>in</strong>hergehende<br />

Neuroleptikum ist Th ioridaz<strong>in</strong> . Es kann daher bei älteren Menschen<br />

nicht bedenkenlos empfohlen werden. Sert<strong>in</strong>dol wurde aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er<br />

im Mittel auft retenden QT-Zeit-Verlängerung vorübergehend vom Markt<br />

genommen. Es kann jetzt aber unter EKG-Aufl agen wieder verschrieben<br />

werden. Ziprasidon geht im Mittel auch mit e<strong>in</strong>er QT-Zeit-Verlängerung e<strong>in</strong>her.<br />

Blutbildveränderungen<br />

Insbesondere die trizyklischen Neuroleptika können Leukozytopenien bis h<strong>in</strong><br />

zur lebensbedrohlichen Agranulozytose verursachen. Daher sollten regelmäßige<br />

Blutbildkontrollen erfolgen, anfangs <strong>in</strong> e<strong>in</strong>- bis zweiwöchigen Intervallen.<br />

Das Neuroleptikum Clozap<strong>in</strong> ist mit e<strong>in</strong>em besonders hohen Agranulozytoserisiko<br />

von 1% behaft et. Daher darf es nur durch bei der Herstellerfi rma<br />

registrierte Ärzte unter zunächst wöchentlichen, später monatlichen Diff erenzialblutbildkontrollen<br />

verordnet werden.<br />

Gewichtszunahme <strong>und</strong> assoziierte Probleme<br />

Die meisten Neuroleptika können mit e<strong>in</strong>er Gewichtszunahme e<strong>in</strong>hergehen.<br />

Diese wird u. a. mit der Blockade von zentralen Histam<strong>in</strong>rezeptoren <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung<br />

gebracht. Besonders stark sche<strong>in</strong>t sie unter e<strong>in</strong>igen atypischen Substanzen<br />

aufzutreten, <strong>in</strong>sbesondere Clozap<strong>in</strong> <strong>und</strong> Olanzap<strong>in</strong> , weniger, aber auch<br />

<strong>in</strong> relevanter Weise unter Risperidon <strong>und</strong> Quetiap<strong>in</strong>. Amisulprid <strong>und</strong> Aripiprazol<br />

s<strong>in</strong>d mit e<strong>in</strong>er nur sehr ger<strong>in</strong>gen, Ziprasidon ist mit ke<strong>in</strong>er signifi kanten<br />

Gewichtszunahme assoziiert. Es ist bekannt, dass Patienten mit e<strong>in</strong>er Schizophrenie<br />

häufi ger erhöhte Blutfette aufweisen <strong>und</strong> häufi ger an Diabetes erkranken.<br />

Hierbei ist davon auszugehen, dass die mit besonders starker Gewichts-


14<br />

260 Kapitel 14 · Spätschizophrenie <strong>und</strong> chronische Schizophrenie<br />

zunahme e<strong>in</strong>hergehenden Medikamente auch häufi ger diese Probleme nach<br />

sich ziehen.<br />

Rückfallprophylaxe<br />

Da es sich bei der Schizophrenie um e<strong>in</strong>e chronisch rezidivierende Erkrankung<br />

handelt, ist auch nach dem Abkl<strong>in</strong>gen der Akutsymptomatik e<strong>in</strong>e Fortsetzung<br />

der neuroleptischen Medikation erforderlich, um Rückfälle zu vermeiden.<br />

Was die Dauer e<strong>in</strong>er solchen Rückfallprophylaxe angeht, so wird von<br />

der Guidel<strong>in</strong>e der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie <strong>und</strong><br />

Nervenheilk<strong>und</strong>e (Gaebel et al. 2006) e<strong>in</strong>e Dauer von m<strong>in</strong>destens 12 Monaten<br />

bei Ersterkrankten, von m<strong>in</strong>destens 2–5 Jahren beim ersten Rezidiv <strong>und</strong> gegebenenfalls<br />

lebenslang bei wiederholten Rezidiven empfohlen. Die <strong>in</strong> der<br />

Rückfallschutzbehandlung erforderliche Dosis kann deutlich unter der der<br />

Akutbehandlung liegen. Um das Rückfallrisiko zu reduzieren, sollte jede Dosisreduktion<br />

sehr langsam, z. B. um 20% alle 6 Monate, durchgeführt werden.<br />

> Nach Abkl<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>er akuten schizophrenen Episode ist e<strong>in</strong>e neuroleptische<br />

Rezidivprophylaxe erforderlich.<br />

14.4.2 Nichtmedikamentöse Therapie<br />

Viele akut schizophrene Patienten können ambulant behandelt werden. Wenn<br />

e<strong>in</strong> Patient aber selbst- oder fremdgefährdend ist , wenn se<strong>in</strong>e Compliance<br />

schlecht ist oder e<strong>in</strong>e engmaschige ambulante Betreuung aus anderen Gründen<br />

nicht möglich, ist e<strong>in</strong>e stationäre E<strong>in</strong>weisung erforderlich. Obwohl Psychotherapie<br />

im engeren S<strong>in</strong>ne alle<strong>in</strong>e nicht dazu geeignet ist, e<strong>in</strong>e akute Psychose<br />

zum Abkl<strong>in</strong>gen zu br<strong>in</strong>gen, bedürfen die durch ihre Erkrankung sehr<br />

gequälten <strong>und</strong> verängstigten schizophrenen Patienten ganz besonders e<strong>in</strong>er<br />

kont<strong>in</strong>uierlichen Begleitung <strong>in</strong> Form stützender Gespräche oder <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er<br />

kognitiven Verhaltenstherapie. Nach Abkl<strong>in</strong>gen der Akutphase ist es<br />

wichtig, die Patienten <strong>und</strong> ihre Angehörigen durch psychoedukative Gespräche<br />

über Art <strong>und</strong> Ursachen der Erkrankung sowie die Notwendigkeit e<strong>in</strong>er<br />

Weiterbehandlung zu <strong>in</strong>formieren. Psychiatrische Krankenhäuser, sozialpsychiatrische<br />

Dienste <strong>und</strong> z. T. auch niedergelassene Nervenärzte bieten<br />

hierfür Angehörigen- <strong>und</strong> Patientengruppen an. Hauptziel ist es dabei, durch


Literatur<br />

261<br />

14<br />

Informationsvermittlung die Prophylaxe-Compliance zu verbessern, Stressoren<br />

im S<strong>in</strong>ne des Vulnerabilitäts-Stress-Modells zu reduzieren <strong>und</strong> Patienten<br />

<strong>und</strong> Angehörigen bei der Krankheitsbewältigung zu helfen. Der Austausch<br />

mit anderen Betroff enen wird von den Teilnehmern meist als sehr entlastend<br />

erlebt. Bei jüngeren schizophrenen Patienten ist gesichert, dass sich bereits<br />

durch e<strong>in</strong>ige wenige Gruppensitzungen die Rückfallraten um etwa 20% senken<br />

lassen. E<strong>in</strong>er Residualsymptomatik kann durch Rehabilitationsmaßnahmen<br />

entgegengewirkt werden. Tagesstrukturierung, Ergotherapie <strong>und</strong><br />

verhaltenstherapeutische Programme s<strong>in</strong>d ebenfalls oft hilfreich. Besonders<br />

wichtig ist es, durch entsprechende sozialpsychiatrische Angebote, Tageskl<strong>in</strong>iken,<br />

Patientenclubs etc. der bei älteren Patienten oft drohenden sozialen<br />

Isolation entgegenzuwirken.<br />

Literatur<br />

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Spr<strong>in</strong>ger, Berl<strong>in</strong> Heidelberg New York<br />

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Bd 12. Spr<strong>in</strong>ger, Berl<strong>in</strong> Heidelberg New York<br />

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Jeste DV, Lacro JP, Gilbert PL et al (1993) Treatment of late-life schizophrenia with neuroleptics.<br />

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14<br />

262 Kapitel 14 · Spätschizophrenie <strong>und</strong> chronische Schizophrenie<br />

Prager S, Jeste DV (1993) Sensory impairment <strong>in</strong> late-life schizophrenia. Schizophr Bull 19:<br />

755–772<br />

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Psychol Med Monograph Suppl. 15. Cambridge University Press, Cambridge


Rationelle Diagnostik<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong><br />

15.1 Syndromdiagnose – 266<br />

265<br />

15.2 Diff erenzialdiagnostik demenzieller<br />

Erkrankungen – 268<br />

15.2.1 Verlauf – 268<br />

15.2.2 Symptommuster – 270<br />

15.2.3 Somatische <strong>und</strong> psychische Vorerkrankungen<br />

<strong>und</strong> aktuelle Komorbidität – 271<br />

15.2.4 Familiarität – 272<br />

15.3 Drei Gr<strong>und</strong>gedanken zum praktischen<br />

Vorgehen – 273<br />

15.<strong>3.</strong>1 Häufi gkeit der neuropathologischen<br />

Hirnveränderungen – 273<br />

15.<strong>3.</strong>2 Somatische Komorbidität – 273<br />

15.<strong>3.</strong>3 Reversible <strong>Demenzen</strong> – 274<br />

15.4 Diagnoserichtl<strong>in</strong>ien – 275<br />

Literatur – 276<br />

15.5 Addendum: Aktuelle NIA-AA-Kriterien (2011) – 279<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_15,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

15


15<br />

266 Kapitel 15 · Rationelle Diagnostik<br />

Zum Thema<br />

Bereits der vage Anfangsverdacht auf e<strong>in</strong>e Demenz verpflichtet zur konsequenten<br />

Untersuchung! Die Diagnostik erfolgt <strong>in</strong> zwei Schritten: erstens durch die<br />

Syndromdiagnose <strong>und</strong> zweitens durch die Differenzialdiagnose der Demenz en.<br />

Im ersten Schritt kann das Syndrom Demenz nach Ausprägung (DD leichte kognitive<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigung) <strong>und</strong> Art (DD Amnesie, Verwirrtheitszustand, De pres sion<br />

etc.) von verwandten Syndromen differenziert werden. Beim Vorliegen e<strong>in</strong>es<br />

Demenzsyndroms werden im zweiten Schritt die zugr<strong>und</strong>e liegenden Erkran kungen<br />

differenziert. Dabei helfen die folgenden fünf Kriterien:<br />

1. Bisheriger Verlauf,<br />

2. Symptommuster,<br />

<strong>3.</strong> somatische <strong>und</strong> psychische Vorerkrankungen sowie aktuelle Komorbidität,<br />

4. Familiarität,<br />

5. Häufigkeit der vermuteten Gr<strong>und</strong>erkrankung.<br />

15.1 Syndromdiagnose<br />

E<strong>in</strong>e positive Antwort auf e<strong>in</strong>e der drei nachfolgenden Fragen muss Anlass zu<br />

e<strong>in</strong>er sorgfältigen Diagnostik se<strong>in</strong> , sofern die Ursache der Störung bisher noch<br />

nicht zuverlässig aufgeklärt ist:<br />

4 Hat Ihre Leistungsfähigkeit im Vergleich zu früher nachgelassen?<br />

4 Können Sie sich weniger als früher merken?<br />

4 F<strong>in</strong>den Sie seltener die richtigen Worte?<br />

Wird e<strong>in</strong>er dieser Punkte vom Patienten oder durch e<strong>in</strong>en nahe stehenden<br />

Informanten bejaht, s<strong>in</strong>d die folgenden Fragen zum Bef<strong>und</strong> zu klären (. Abb.<br />

15.1):<br />

4 Handelt es sich tatsächlich um e<strong>in</strong>e Abnahme des Gedächtnisses <strong>und</strong> anderer<br />

kognitiver Leistungen oder um e<strong>in</strong> vorbestehendes Defi zit (wie bei<br />

e<strong>in</strong>er vorbestehenden M<strong>in</strong>derbegabung)?<br />

4 Ist die Störung von ausreichender Schwere, um die gewohnte Leistungsfähigkeit<br />

im täglichen Leben wesentlich zu bee<strong>in</strong>trächtigen (oder ist es e<strong>in</strong>e<br />

»leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung«, die weiter beobachtet werden muss)?<br />

(7 Kap. 3)<br />

4 Treten weitere <strong>in</strong>tellektuelle Störungen h<strong>in</strong>zu, oder handelt es sich um<br />

e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Gedächtnisstörung (also um e<strong>in</strong> amnestisches Syndrom )?<br />

(7 Kap. 10)


15.1 · Syndromdiagnose<br />

. Abb. 15.1 Schema zur Syndromdiagnose<br />

267<br />

15<br />

4 Entwickelte sich die Störung über e<strong>in</strong>en Zeitraum von 6 Monaten oder<br />

mehr (bei kürzer dauernden Defi ziten müssen v. a. reversible depressive<br />

oder Verwirrtheitssyndrome erwogen werden)? (7 Kap. 11 <strong>und</strong> 7 Kap.<br />

13).<br />

Sowohl <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er sche<strong>in</strong>bar zuverlässigen Selbste<strong>in</strong>schätzung als auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

sche<strong>in</strong>bar zuverlässigen Fremdanamnese können die Defi zite e<strong>in</strong>es Patienten<br />

aus unterschiedlichen Gründen unter- bzw. überbewertet werden. Auch erfahrene<br />

Ärzte werden mitunter von der Fassade e<strong>in</strong>es Patienten unabsichtlich<br />

getäuscht. Berichtete oder beobachtete Störungen müssen unbed<strong>in</strong>gt durch<br />

e<strong>in</strong>en zum<strong>in</strong>dest kurzen »neuropsychologischen« Test objektiviert werden.<br />

Der Bef<strong>und</strong> e<strong>in</strong>es Kurztests, z. B. M<strong>in</strong>i-Mental State Exam<strong>in</strong>ation (MMSE) ist<br />

nicht isoliert zu betrachten <strong>und</strong> beweist alle<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>esfalls das Vorliegen e<strong>in</strong>es<br />

Demenzsyndroms. E<strong>in</strong>e sensorische oder motorische Bee<strong>in</strong>trächtigung kann<br />

ohne Vorliegen kognitiver Störungen zu e<strong>in</strong>em schlechten Testergebnis führen.<br />

E<strong>in</strong> Demenzsyndrom ist nur durch e<strong>in</strong>e sorgfältige Anamnese <strong>und</strong> den<br />

psychopathologischen Bef<strong>und</strong> zusammen mit e<strong>in</strong>em objektiven Testergebnis<br />

nachzuweisen.


15<br />

268 Kapitel 15 · Rationelle Diagnostik<br />

15.2 Diff erenzialdiagnostik demenzieller Erkrankungen<br />

Fünf Kriterien weisen den Weg zu e<strong>in</strong>er Diff erenzialdiagnostik demenzieller<br />

Erkrankungen : Bisheriger Verlauf, Symptomprofi l, Vorerkrankungen <strong>und</strong> aktuelle<br />

Komorbidität, Familiarität <strong>und</strong> Häufi gkeit der zugr<strong>und</strong>e liegenden Erkrankungen.<br />

15.2.1 Verlauf<br />

Die Alzheimer-Demenz (AD) ist häufi g, aber nicht immer stetig <strong>und</strong> langsam<br />

progredient, sondern kann bei entsprechenden Belastungsbed<strong>in</strong>gungen<br />

sche<strong>in</strong>bar akut beg<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en wechselhaft en Verlauf mit zeitweisen Plateaus<br />

oder vorübergehender funktioneller Verbesserung aufweisen. Sehr starke<br />

Schwankungen s<strong>in</strong>d im Verlauf e<strong>in</strong>er AD bei überlagerten Verwirrtheitszuständen<br />

zu beobachten. Die Demenz mit Lewy-Körperchen ist geradezu gekennzeichnet<br />

durch häufi ge Verwirrtheitszustände mit Halluz<strong>in</strong>ationen .<br />

Beim Normaldruckhydrozephalus (NDH) zeigen sich Schwankungen der kognitiven<br />

Leistungsfähigkeit <strong>in</strong> Abhängigkeit von der zerebralen Kompression.<br />

Unstete Verläufe s<strong>in</strong>d ferner bei e<strong>in</strong>er vaskulären Schädigungskomponente<br />

mit schwankender Perfusion <strong>und</strong> Substratversorgung oder rezidivierenden,<br />

kle<strong>in</strong>en Infarkten mit Teilremissionen zu beobachten. Die charakteristische<br />

stufenweise Verschlechterung fi ndet sich bei wiederholten größeren Hirn<strong>in</strong>farkten<br />

(Multi<strong>in</strong>farktdemenz , MID). Bei besonders rascher Verschlechterung<br />

ohne identifi zierbaren Auslöser muss <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong>e Creutzfeldt-Jakob-<br />

Erkrankung mit ihren Varianten erwogen werden. Weitere Erkrankungen,<br />

die e<strong>in</strong> rasch progredientes demenzielles Bild verursachen können, s<strong>in</strong>d die<br />

kortikobasale Degeneration , Demenz mit Lewy-Körperchen, frontotemporale<br />

Lobärdegenerationen , Hashimoto-Enzephalitis sowie andere entzündliche,<br />

maligne <strong>und</strong> metabolische Erkrankungen (Geschw<strong>in</strong>d et al. 2008). Bei akutem<br />

Beg<strong>in</strong>n muss <strong>in</strong> jedem Fall e<strong>in</strong>e sofortige <strong>und</strong> energische Suche nach<br />

Ursachen oder Auslösern erfolgen (ischämischer Hirn<strong>in</strong>farkt , Blutung, Infektion,<br />

Trauma etc.) (. Abb. 15.2).


15.2 · Differenzialdiagnostik demenzieller Erkrankungen<br />

Gleichbleibend<br />

schlechtes<br />

Leistungsniveau<br />

Wechselhaft<br />

rezidivierend<br />

Akute Verschlechterung<br />

mit psychosozialem<br />

Auslöser <strong>und</strong><br />

vollständiger Normalisierung<br />

Akuter E<strong>in</strong>bruch nach<br />

identifizierbarer somatischer<br />

Erkrankung<br />

oder Trauma<br />

Langsam<br />

progredient<br />

Rasche<br />

Verschlechterung<br />

Wechselhafte<br />

Verschlechterung<br />

Stufenweise<br />

Verschlechterung<br />

Verläufe, die mit e<strong>in</strong>er<br />

AD vere<strong>in</strong>bar s<strong>in</strong>d<br />

. Abb. 15.2 Verläufe kognitiver Störungen<br />

269<br />

• M<strong>in</strong>derbegabung<br />

• schizophrenes<br />

Residualsystem<br />

• Verwirrtheitszustand<br />

• Depression <strong>und</strong><br />

• Dissoziation<br />

• Schädel-Hirn-Trauma<br />

oder andere<br />

• zerebrale Erkrankung<br />

mit Rehabilitationspotenzial<br />

• Typische AD <strong>und</strong><br />

• andere degenerative<br />

Demenz<br />

• Creutzfeldt-Jakob-<br />

Erkrankung<br />

• AD + Verwirrtheitszustand<br />

• Lewy-Körperchen-<br />

Demenz<br />

• Normaldruckhydrozephalus<br />

• vaskuläre <strong>Demenzen</strong><br />

• Typische<br />

»Multi-Infarkt-<br />

Demenz«<br />

• AD<br />

15


15<br />

270 Kapitel 15 · Rationelle Diagnostik<br />

15.2.2 Symptommuster<br />

Auch hier s<strong>in</strong>d Verlaufsaspekte von Bedeutung, <strong>und</strong> die Reihenfolge im Auftreten<br />

der e<strong>in</strong>zelnen Symptome kann diagnostisch richtungweisend se<strong>in</strong>.<br />

Neuropsychologische Defi zite<br />

Die Frühzeichen der AD im Vorstadium e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>deutigen Demenzsyndroms<br />

s<strong>in</strong>d uncharakteristisch . Die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit für das Vorliegen e<strong>in</strong>er AD<br />

erhöht sich, wenn Gedächtnisstörungen im Stadium der leichten Demenz<br />

das kl<strong>in</strong>ische Bild bestimmen. Seltener s<strong>in</strong>d die aphasischen, apraktischen<br />

oder agnostischen Störungen bei e<strong>in</strong>er AD stärker ausgeprägt als die Amnesie.<br />

Bei e<strong>in</strong>er lange Zeit isolierten Aphasie mit Wortfi ndungsstörungen ,<br />

Agrammatismus oder e<strong>in</strong>er Wortverständnisstörung <strong>und</strong> agnostischen Störungen<br />

muss e<strong>in</strong>e l<strong>in</strong>kstemporal beg<strong>in</strong>nende Lobäratrophie erwogen werden.<br />

Stehen zunächst visuokonstruktive, räumliche Orientierungsstörungen im<br />

Vordergr<strong>und</strong> – vor allem wenn gleichzeitig visuelle Halluz<strong>in</strong>ationen auft reten<br />

–, ist die sehr seltene posteriore kortikale Atrophie zu erwägen (e<strong>in</strong>e okzipitale<br />

Verlaufsform der AD).<br />

Störungen von Aff ekt <strong>und</strong> Verhalten<br />

Jede Art von Verhaltensstörung kann auch bei der AD auft reten. Beg<strong>in</strong>nt die<br />

Erkrankung jedoch mit e<strong>in</strong>er Veränderung der Persönlichkeit , mit Apathie<br />

oder mit e<strong>in</strong>er Enthemmung , <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> den ersten 1–2 Jahren ke<strong>in</strong>e nennenswerten<br />

neurologischen Defi zite nachzuweisen, handelt es sich möglicherweise<br />

um e<strong>in</strong>e frontotemporal beg<strong>in</strong>nende Lobäratrophie. Auch bei vaskulären<br />

<strong>Demenzen</strong> fi nden sich häufi g depressive Verstimmungszustände<br />

<strong>und</strong> Störungen des Antriebs, jedoch s<strong>in</strong>d diese bei älteren Patienten meist mit<br />

Gedächtnisstörungen <strong>und</strong> neurologischen Symptomen assoziiert.<br />

Neurologische Symptomatik<br />

Herdsymptome (Schw<strong>in</strong>del, Paresen, Sehstörungen etc.) <strong>und</strong> Herdzeichen<br />

(pathologische Refl exe etc.) kennzeichnen die <strong>in</strong>farktbed<strong>in</strong>gten <strong>Demenzen</strong>.<br />

Bei den subkortikalen vaskulären Marklagerveränderungen (Leukoaraiose)<br />

kann die neurologische Symptomatik diskreter ausgeprägt se<strong>in</strong>, aber e<strong>in</strong> unsicher<br />

apraktisches Gangbild auff allen. Gangstörungen , Harn<strong>in</strong>kont<strong>in</strong>enz <strong>und</strong><br />

fl uktuierender Verlauf s<strong>in</strong>d die Merkmale des Normaldruckhydrozephalus .<br />

Neben Morbus Park<strong>in</strong>son <strong>und</strong> der Lewy-Körperchen-Variante der AD können


15.2 · Differenzialdiagnostik demenzieller Erkrankungen<br />

271<br />

15<br />

viele verschiedene , aber jeweils weit seltenere hypok<strong>in</strong>etische extrapyramidalmotorische<br />

Erkrankungen zu e<strong>in</strong>er Demenz führen (progressive supranukleäre<br />

Parese , Multisystematrophie , kortikobasale Degeneration , subkortikale arteriosklerotische<br />

Enzephalopathie etc.). Auch jene Basalganglienerkrankungen,<br />

die mit überschießenden Bewegungen e<strong>in</strong>hergehen (Chorea Hunt<strong>in</strong>gton,<br />

Morbus Wilson <strong>und</strong> andere) s<strong>in</strong>d meist so charakteristisch, dass sie nicht mit<br />

e<strong>in</strong>er AD verwechselt werden. Neben der raschen Verschlechterung ist die<br />

Creutzfeldt-Jakob-Demenz durch das Auft reten von Myokloni <strong>und</strong> pyramidal-<br />

sowie extrapyramidalmotorischen Störungen charakterisiert. Epileptische<br />

Anfälle können im Verlauf aller <strong>Demenzen</strong> beobachtet werden <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d vergleichsweise<br />

häufi ger bei Tumoren, Infarkten, Infektionen <strong>und</strong> metabolischtoxischen<br />

Störungen. In den späteren Stadien der Demenz verwischen sich die<br />

Symptommuster <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d meist nicht mehr klar unterscheidbar.<br />

15.2.3 Somatische <strong>und</strong> psychische Vorerkrankungen<br />

<strong>und</strong> aktuelle Komorbidität<br />

Die folgende Aufl istung kann als Gedächtnisstütze bei der Vervollständigung<br />

von Anamnese <strong>und</strong> Untersuchung dienen. Sämtliche erwähnten akuten <strong>und</strong><br />

chronischen somatischen <strong>und</strong> psychischen Vor- oder Begleiterkrankungen<br />

können möglicherweise als behandelbare Haupt- oder Mitursache e<strong>in</strong>er Demenz<br />

fungieren.<br />

Akute Ereignisse<br />

Dazu gehören Schädel-Hirn-Trauma , Operationen <strong>und</strong> deren Komplikationen,<br />

<strong>in</strong>vasive diagnostische <strong>und</strong> therapeutische E<strong>in</strong>griff e (z. B. Gefäßdarstellung,<br />

Bestrahlung), Herz<strong>in</strong>farkte, Schlaganfälle, Migräne oder andere Kopfschmerzsyndrome,<br />

epileptische Anfälle, Men<strong>in</strong>gitis/Enzephalitis, Arbeitsunfälle,<br />

Intoxikationen <strong>und</strong> andere.<br />

Chronische somatische Vorerkrankungen <strong>und</strong> Risikofaktoren<br />

Neben den meisten Erkrankungen des zentralen Nervensystems können auch<br />

die folgenden Erkrankungen schwere kognitive Defi zite bed<strong>in</strong>gen: Herz-<br />

Kreislauf-Erkrankungen (Herz<strong>in</strong>suffi zienz, arterielle Verschlusskrankheit,<br />

Hypertonus), die Risikofaktoren Apolipoprote<strong>in</strong> E4, Cholester<strong>in</strong>, Diabetes<br />

mellitus, Anämie, Koagulopathie, gastroenterologische Erkrankungen (Mal-


15<br />

272 Kapitel 15 · Rationelle Diagnostik<br />

assimilationssyndrome, Leber<strong>in</strong>suffi zienz, Urämie etc.), Infektionen (HIV,<br />

Borrelien etc.), Medikamente, Drogen, berufsbed<strong>in</strong>gte Noxen.<br />

Psychische Vorerkrankungen <strong>und</strong> Risikofaktoren<br />

Neben Tabletten-, Alkohol- <strong>und</strong> Drogenmissbrauch soll nach auff allenden<br />

Reaktionen <strong>in</strong> früheren Stresssituationen gefragt werden (z. B. frühere Verwirrtheitszustände<br />

) sowie ggf. nach früheren Behandlungen <strong>und</strong> Krankenhause<strong>in</strong>weisungen<br />

wegen anderer psychischer Störungen (Depression , Schizophrenie<br />

) . Psychische Vorerkrankungen erhöhen die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit,<br />

dass es sich um die erneute Manifestation e<strong>in</strong>er psychischen Erkrankung ohne<br />

e<strong>in</strong>deutige <strong>und</strong> ausreichende organische Gr<strong>und</strong>lagen handelt. Psychische Erkrankungen<br />

können im höheren Alter ihr Ersche<strong>in</strong>ungsbild wandeln. Falls<br />

kognitive Störungen nachzuweisen s<strong>in</strong>d, ist unbed<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e sorgfältige Ursachenaufk<br />

lärung zu betreiben <strong>und</strong> es darf nicht e<strong>in</strong>fach von der erneuten Manifestation<br />

e<strong>in</strong>er bereits bekannten Erkrankung ausgegangen werden. Frühere<br />

depressive Episoden erhöhen das Demenzrisiko (Ownby et al. 2006).<br />

15.2.4 Familiarität<br />

Die »Familiarität« e<strong>in</strong>er Erkrankung lässt sich leichter bei e<strong>in</strong>er präsenilen<br />

Manifestation vor dem 65. Lebensjahr nachweisen . Familiär auft retende <strong>Demenzen</strong><br />

gelten daher häufi g als präsenile Erkrankungen. Zu den autosomaldom<strong>in</strong>ant<br />

vererbten Demenzformen zählen u. a. präsenile AD bei Mutationen<br />

der Präsenil<strong>in</strong> - oder Amyloidvorläuferprote<strong>in</strong>gene , CADASIL (zerebrale autosomal-dom<strong>in</strong>ante<br />

Arteriopathie mit subkortikalen Infarkten <strong>und</strong> Leukenzephalopathie),<br />

Chorea Hunt<strong>in</strong>gton <strong>und</strong> die Gerstmann-Sträussler-Sche<strong>in</strong>ker-<br />

Prionkrankheit . E<strong>in</strong>e familiäre Belastung, die ke<strong>in</strong>em Mendelschen Erbmodus<br />

unterliegt, ist ferner für die sporadische AD, die frontotemporale Degeneration<br />

sowie e<strong>in</strong>e Reihe von Basalganglienerkrankungen nachgewiesen. Mongolismus<br />

, Morbus Park<strong>in</strong>son <strong>und</strong> Alzheimer-Demenz bei Blutsverwandten erhöhen<br />

das Risiko, zu e<strong>in</strong>em bestimmten Alter e<strong>in</strong>e Demenz zu entwickeln.<br />

Das zu erwartende Krankheitsspektrum ist <strong>in</strong> unterschiedlichen Lebensabschnitten<br />

verschieden. Während sich vor dem 65. Lebensjahr neben den Frühformen<br />

der AD <strong>und</strong> den vaskulären <strong>Demenzen</strong> re<strong>in</strong>e Formen anderer degenerativer<br />

Erkrankungen nachweisen lassen, s<strong>in</strong>d <strong>Demenzen</strong> ohne Alzheimer-Pathologie<br />

<strong>und</strong> ohne vaskuläre Hirnveränderungen im Senium sehr selten.


15.3 · Drei Gr<strong>und</strong>gedanken zum praktischen Vorgehen<br />

15.3 Drei Gr<strong>und</strong>gedanken zum praktischen Vorgehen<br />

273<br />

15<br />

Aufgr<strong>und</strong> der hohen Zahl dementer Menschen muss jeder Arzt imstande<br />

se<strong>in</strong>, <strong>in</strong>nerhalb kurzer Zeit e<strong>in</strong> Demenzsyndrom festzustellen <strong>und</strong> die diagnostisch<br />

notwendigen Schritte zu veranlassen (. Abb. 15.3) .<br />

Die weiteren diff erenzialdiagnostischen Überlegungen müssen sich an<br />

drei Leitgedanken orientieren (s. unten).<br />

15.<strong>3.</strong>1 Häufi gkeit der neuropathologischen<br />

Hirnveränderungen (. Abb. 15.3 �)<br />

Bei fast allen alten dementen Patienten lässt sich post mortem e<strong>in</strong>e erhebliche<br />

Neurofi brillen- (>> 90%) <strong>und</strong> Plaque-Pathologie (> 80%) nachweisen. E<strong>in</strong><br />

hoher Anteil weist gleichzeitig mikroangiopathische (75%), makroangiopathische<br />

(Hirn<strong>in</strong>farkte; 50%) oder andere degenerative Hirnveränderungen<br />

auf, wie bei e<strong>in</strong>em Morbus Park<strong>in</strong>son oder e<strong>in</strong>er Lobäratrophie. AD, frontotemporale<br />

Demenz, vaskuläre <strong>Demenzen</strong> <strong>und</strong> Demenz mit Lewy-Körperchen<br />

werden jeweils bei deutlich mehr als 1% der Patienten als alle<strong>in</strong>ige Demenzursache<br />

diagnostiziert. Bei etwas mehr als 1% werden die Diagnosen Alkoholdemenz<br />

, drogen- oder medikamenten<strong>in</strong>duzierte Demenz oder die Diagnose<br />

Demenzsyndrom der Depression gestellt. Die anderen zu e<strong>in</strong>er Demenz führenden<br />

Erkrankungen treten bei weniger als 1% der dementen Patienten auf,<br />

zeigen jedoch häufi g e<strong>in</strong>e so prägnante Bef<strong>und</strong>konstellation, dass sie durch<br />

gewissenhaft e Anamnese <strong>und</strong> Fremdanamnese, kl<strong>in</strong>ische Untersuchung <strong>und</strong><br />

Testung, Laboruntersuchung sowie CT oder MRT zuverlässig festgestellt werden<br />

können (7 Kap. 19).<br />

15.<strong>3.</strong>2 Somatische Komorbidität (. Abb. 15.3 �)<br />

Da das Alter den Hauptrisikofaktor für die Manifestation der häufi gsten Demenzformen<br />

darstellt, muss bei den meisten Patienten mit e<strong>in</strong>er erheblichen<br />

somatischen, zerebralen <strong>und</strong> psychischen Komorbidität gerechnet werden.<br />

E<strong>in</strong>e angemessene Hydrierung, behutsame Blutdrucke<strong>in</strong>stellung, Diabetes-<br />

<strong>und</strong> Schmerzbehandlung können die geistige Leistungsfähigkeit deutlicher<br />

bessern als die bloße Gabe von Antidementiva. Daran muss aber zunächst erst


15<br />

274 Kapitel 15 · Rationelle Diagnostik<br />

Symptom: Kognitive Störungen<br />

– Anamnese<br />

– somatischer Bef<strong>und</strong><br />

– psychischer Bef<strong>und</strong><br />

– kurze kognitive Testung<br />

– kle<strong>in</strong>es Labor<br />

– MRT/CT<br />

� >> 50 Jahre<br />

– Neurofi brillen<br />

– Plaques<br />

– Mikroangiopathie<br />

– Makroangiopathie<br />

– Lewy-Körper<br />

– Pick/FTD<br />

– . . .<br />

– Creutzfeldt-Jakob<br />

. Abb. 15.3 Diagnostisch notwendige Schritte bei der Feststellung e<strong>in</strong>es Demenzsyndroms<br />

e<strong>in</strong>mal gedacht werden, <strong>und</strong> durch die mediz<strong>in</strong>ische Spezialisierung <strong>und</strong> Arbeitsteiligkeit<br />

kommen e<strong>in</strong>fache <strong>und</strong> allgeme<strong>in</strong>e mediz<strong>in</strong>ische Aspekte <strong>in</strong> der<br />

Diagnostik <strong>und</strong> Behandlung alter dementer Patienten häufi g zu kurz.<br />

15.<strong>3.</strong>3 Reversible <strong>Demenzen</strong> (. Abb. 15.3 �)<br />

� Reversible <strong>Demenzen</strong>, z. B.<br />

– Depression<br />

– Benzodiazep<strong>in</strong>e<br />

– Antichol<strong>in</strong>ergika<br />

– Hypothyreose<br />

– Hypotension<br />

– Schlafapnoe<br />

– zerebrale Raumforderung<br />

– . . .<br />

� Komorbidität, z. B.<br />

– Exsikkose<br />

– Diabetes mellitus<br />

– Hyperlipidämie<br />

– Hyperhomozyste<strong>in</strong>ämie<br />

– Hyperurikämie<br />

– Hypertension<br />

– (Schmerzen)<br />

– . . .<br />

Selbst wenn beim älteren dementen Patienten nahezu immer auch ausgeprägte<br />

Alzheimer-Veränderungen vorliegen, rechtfertigt diese Gr<strong>und</strong>annahme<br />

ke<strong>in</strong>e diagnostische Nachlässigkeit. Das Erkennen kausal behandelbarer<br />

Demenzformen ist e<strong>in</strong> vordr<strong>in</strong>gliches diagnostisches Ziel. Von weit ger<strong>in</strong>gerer<br />

kl<strong>in</strong>ischer Bedeutung ist die akademische Korrektheit e<strong>in</strong>er Verdachtsdiagnose,<br />

die nur durch den Neuropathologen bestätigt werden kann .<br />

Das Übersehen e<strong>in</strong>er reversiblen <strong>und</strong> behandelbaren Demenzform ist e<strong>in</strong><br />

Kunstfehler! E<strong>in</strong>e Reihe von reversiblen Ursachen ist aufgr<strong>und</strong> von Verlauf<br />

<strong>und</strong> Bef<strong>und</strong>en kl<strong>in</strong>isch zu vermuten, aber nur mit Laboruntersuchungen <strong>und</strong><br />

CT oder MRT sicher festzustellen (Traumafolgen, Hirn<strong>in</strong>farkte, Subduralhämatome,<br />

Entzündungsherde, Abzesse, Hirntumore <strong>und</strong> andere). Der ver-


15.4 · Diagnoserichtl<strong>in</strong>ien<br />

275<br />

15<br />

me<strong>in</strong>tlich rückläufi ge hohe Anteil reversibler Demenzformen (Clarfi eld 2003)<br />

ist auf zwei Faktoren zurückzuführen:<br />

1. die Prävalenz relevanter neurodegenerativer <strong>und</strong> irreversibler vaskulärer<br />

Hirnveränderungen im höheren Lebensalter,<br />

2. die verbesserte <strong>und</strong> frühere Diagnostik für jene Erkrankungen, die – falls<br />

längere Zeit unerkannt <strong>und</strong> unbehandelt – e<strong>in</strong>e Demenz verursachen<br />

können.<br />

15.4 Diagnoserichtl<strong>in</strong>ien<br />

In den letzten Jahren wurden von nationalen <strong>und</strong> <strong>in</strong>ternationalen Gremien<br />

zahlreiche verdienstvolle Versuche unternommen, evidenzbasierte Empfehlungen<br />

für die Diagnostik der <strong>Demenzen</strong> zu entwerfen . E<strong>in</strong>ige Beispiele s<strong>in</strong>d<br />

unten aufgeführt (. Tab. 15.1). Diese Arbeiten s<strong>in</strong>d sehr anerkennenswert, da<br />

e<strong>in</strong>e Fülle wissenschaft licher Quellen systematisch verarbeitet wurde; sie bieten<br />

e<strong>in</strong>e wichtige Orientierungshilfe <strong>in</strong> der aktuellen Literatur. Die diagnostischen<br />

Präferenzen von eher psychiatrisch oder neurologisch orientierten Expertengruppen<br />

weichen deutlich vone<strong>in</strong>ander ab. Mitunter wird der Versuch<br />

unternommen, zwischen wissenschaft licher Erkenntnis, praktischer Relevanz<br />

<strong>und</strong> praktischer Empfehlung zu unterscheiden, aber dies gel<strong>in</strong>gt nicht immer,<br />

<strong>und</strong> manche Empfehlungen wirken etwas abstrakt <strong>und</strong> weltfremd. Dies liegt<br />

zum Teil daran, dass die Aussagen der zugr<strong>und</strong>e liegenden Literatur meist von<br />

gut vorsortierten Patienten- <strong>und</strong> Kontrollgruppen auf anders zusammengesetzte<br />

Populationen übertragen werden oder verallgeme<strong>in</strong>ert werden sollen.<br />

Meist wurde weder <strong>in</strong> den Orig<strong>in</strong>alarbeiten noch <strong>in</strong> deren Auswertung konzeptionell<br />

klar zwischen den <strong>Demenzen</strong>, AD <strong>und</strong> Alzheimer-Hirnveränderungen<br />

unterschieden. E<strong>in</strong>ige Leitl<strong>in</strong>ien s<strong>in</strong>d so abgefasst, dass man die Diagnose<br />

– meistens »Alzheimer« – vorher kennen sollte, um die richtigen Verfahren<br />

zur Bestätigung zielstrebig e<strong>in</strong>zusetzen. Diese Zirkularität kommt e<strong>in</strong>er<br />

häufi geren »Alzheimer-Diagnose« zugute, bee<strong>in</strong>trächtigt aber das Entdecken<br />

anderer Demenzformen. Aufgr<strong>und</strong> der großen Häufi gkeit der Alzheimer-<br />

Veränderungen (> 80% der dementen älteren Patienten) <strong>und</strong> der heute bereits<br />

häufi g gestellten kl<strong>in</strong>ischen Alzheimer-Diagnose (> 60% der dementen älteren<br />

Patienten) stellt aber gerade deren Diagnostik ke<strong>in</strong>e besondere geistige<br />

Herausforderung dar.


15<br />

276 Kapitel 15 · Rationelle Diagnostik<br />

Leitl<strong>in</strong>ien (Beispiele)<br />

4 Österreich:<br />

Schmidt R, Markste<strong>in</strong>er J, dal Bianco P et al. (2010)<br />

Konsensusstatement »Demenz 2010« . Konsensusstatement »Demenz<br />

2010« der Österreichischen Alzheimer Gesellschaft. Neuropsychiatrie<br />

24: 67–87<br />

4 Kanada:<br />

Canadian Consensus Conference on the Diagnosis and Treatment of<br />

Dementia, Guidel<strong>in</strong>es (2008)<br />

4 Deutschland:<br />

Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie <strong>und</strong><br />

Nervenheilk<strong>und</strong>e (DGPPN) <strong>und</strong> Deutsche Gesellschaft für Neurologie<br />

(DGN) (2009) S3-Leitl<strong>in</strong>ie »<strong>Demenzen</strong>«<br />

4 Europa:<br />

European Federation of the Neurological Sciences (2007)<br />

Recommendations for the diagnosis and management of Alzheimer’s<br />

disease and other disorders associated with dementia: EFNS Guidel<strong>in</strong>e.<br />

Eur J Neurol 14: e1–e26<br />

4 Italien:<br />

Società Italiana di Neurologia (2004) Guidel<strong>in</strong>es for the diagnosis of<br />

dementia, revision 1. Neurol Sci 25: 154–182<br />

Literatur<br />

Clarfi eld AM (2003) The decreas<strong>in</strong>g prevalence of reversible dementias – an updated metaanalysis.<br />

Arch Intern Med 163: 2219–2229<br />

Geschw<strong>in</strong>d MD, Shu H, Haman A et al (2008) Rapidly progressive dementia. Ann Neurol 64:<br />

97–108<br />

Ownby RL et al (2006) Depression and risk for Alzheimer disease – systematic review, metaanalysis,<br />

and metaregression analysis. Arch Gen Psychiatry 63: 530–538


15.4 · Diagnoserichtl<strong>in</strong>ien<br />

. Tab. 15.1 Diagnostik der <strong>Demenzen</strong>: Leitl<strong>in</strong>ien aus Österreich, Kanada, Deutschland<br />

(weitgehende Aktualisierung <strong>und</strong> Adaption der englischen NICE-Leitl<strong>in</strong>ie),<br />

Europa <strong>und</strong> Italien a<br />

Region AU CAN GER EU I<br />

Anamnese A (A) D A √<br />

Kl<strong>in</strong>ischer Bef<strong>und</strong> A (A) B D √<br />

Kurze kognitive Testung A B B A √<br />

Neuropsychologische Diagnostik f- A f- B B C f-<br />

Störungen des Erlebens <strong>und</strong> Verhaltens (BPSD) A – B A –<br />

Alltagsbewältigung (ADL) – – – A –<br />

Röntgen-Thorax – – – – √<br />

Kraniales CT oder MRT A f- B A A √<br />

SPECT oder PET: Perfusion, Metabolismus C f- B f- A f- B f-<br />

SPECT: Rezeptor, z. B. Dopam<strong>in</strong>transporter C – f- f- B –<br />

EEG C – f- B f- B √<br />

Blutbild A B B A √<br />

Differenzialblutbild A B D – –<br />

Elektrolyte (Na + , K + , Cl – ) A B B A √<br />

Kalzium A B – – –<br />

Phosphat A – D – –<br />

Parathormon C – D – –<br />

Glukose A B B A √<br />

HbA 1c – – D – –<br />

TSH A B B A √<br />

T4 A – D – –<br />

T3 – – D – –<br />

Schilddrüsenantikörper (TAK, MAK) C – D – –<br />

GOT, γ-GT A – B A √<br />

277<br />

15


15<br />

278 Kapitel 15 · Rationelle Diagnostik<br />

. Tab. 15.1 Fortsetzung<br />

Region AU CAN GER EU I<br />

Ger<strong>in</strong>nungsanalyse – – D – –<br />

Kreat<strong>in</strong><strong>in</strong> A – B A √<br />

Harnstoff A – B – –<br />

BKS (oder CRP) – – B A –<br />

Vitam<strong>in</strong> B 12 A B B D √<br />

Homocyste<strong>in</strong> – – D – –<br />

Folsäure A E D – √<br />

Vitam<strong>in</strong> B 6 – – D – –<br />

Lues C – D D √<br />

Borrelien – – D D –<br />

HIV C – D D f-<br />

Toxikologie (Pb, Hg etc.) – - D – –<br />

Drogenscreen<strong>in</strong>g – – D – –<br />

Coeruloplasm<strong>in</strong>, Kupfer – – D – f-<br />

u. v. a. … … … … …<br />

CSF: Ausschluss Entzündung – – D D –<br />

CSF: β-Amyloid 1-42 & Tau (Gesamt- + Phospho-<br />

Tau)<br />

C f- B B f- B –<br />

CSF: 14-3-3-Prote<strong>in</strong> bei v. a. CJD C – – f- B –<br />

Genetische Beratung, z. B. bei familiärer Häufung C – C D f-<br />

a Die Interpretation <strong>und</strong> Verwendung der Evidenzgrade weicht zwischen den<br />

Leitl<strong>in</strong>ien stark ab <strong>und</strong> wurde hier vere<strong>in</strong>fachend so verwendet:<br />

A »Soll-Empfehlung«, B »sollte«, C »kann«, D niedrigerer Evidenzgrad, good cl<strong>in</strong>ical<br />

practice, bei speziellem Verdacht,<br />

√ obligat, f- fakultativ bei besonderer Indikation.<br />

AU Österreich, CAN Kanada, GER Deutschland, EU Europa, I Italien.<br />

TSH Thyreotrop<strong>in</strong>, T3 Trijodthyron<strong>in</strong>, T4 Thyrox<strong>in</strong>, GOT Glutamat-Oxalacetat-Trans -<br />

am<strong>in</strong>ase, γ-GT γ-Glutamyltransferase, BKS Blutkörperchensenkungsgeschw<strong>in</strong>digkeit,<br />

CRP C-reaktives Prote<strong>in</strong>, CSF Liquor cerebrosp<strong>in</strong>alis, CJD Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung.


15.5 · Addendum: Aktuelle NIA-AA-Kriterien (2011)<br />

279<br />

15.5 Addendum: Aktuelle NIA-AA-Kriterien (2011)<br />

15<br />

Kriterien des US-amerikanischen National Institute on Ag<strong>in</strong>g (NIA) <strong>und</strong> der<br />

dortigen Alzheimer‘s Association (AA) zur Diagnose von<br />

4 leichter kognitiver Bee<strong>in</strong>trächtigung (mild cognitive impairment) bei Alzheimer-Krankheit,<br />

4 Demenz, allgeme<strong>in</strong> bzw. bei unterschiedlichen Ursachen (all-cause dementia),<br />

4 Demenz bei wahrsche<strong>in</strong>licher Alzheimer Krankheit (probable AD dementia),<br />

4 Demenz bei wahrsche<strong>in</strong>licher Alzheimer-Krankheit mit erhöhter diagnostischer<br />

Sicherheit,<br />

4 Demenz bei möglicher Alzheimer-Krankheit (possible AD dementia).<br />

E<strong>in</strong>e Zusammenschau der biologischen <strong>und</strong> kl<strong>in</strong>ischen Bef<strong>und</strong>e von Alzheimer-Krankheit,<br />

leichter kognitiver Bee<strong>in</strong>trächtigung <strong>und</strong> Demenz bei Alzheimer-Krankheit<br />

zeigt . Tab. 15.2.<br />

jLeichte<br />

kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung (mild cognitive impairment, MCI)<br />

bei Alzheimer-Krankheit (Albert et al. 2011; . Tab. 15.2):<br />

Kl<strong>in</strong>isch:<br />

4 Berichtete oder beobachtete Abnahme der kognitiven Leistung,<br />

4 objektiv messbare Bee<strong>in</strong>trächtigung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em oder mehreren kognitiven<br />

Leistungsbereichen, die typischerweise das Gedächtnis mit betreff en,<br />

4 Erhalt der unabhängigen Funktionsfähigkeit,<br />

4 nicht dement.<br />

Neurobiologische H<strong>in</strong>weise auf e<strong>in</strong>e Alzheimer-Krankheit:<br />

4 Wenn möglich, Ausschluss vaskulärer, traumatischer, anderer mediz<strong>in</strong>ischer<br />

Ursachen des Leistungsverlusts,<br />

4 wenn möglich, prospektive H<strong>in</strong>weise auf e<strong>in</strong>en Leistungsverlust,<br />

4 mögliche H<strong>in</strong>weise auf genetische Alzheimer-Krankheit.<br />

jDemenzsyndrom<br />

(all-cause dementia): Kernkriterien<br />

(McKhann et al. 2011; . Tab. 15.2)<br />

Symptome im Bereich von Kognition <strong>und</strong> Verhalten:<br />

1. Bee<strong>in</strong>trächtigung bei der Arbeit oder bei anderen gewohnten Tätigkeiten;<br />

<strong>und</strong>


280 Kapitel 15 · Rationelle Diagnostik<br />

2. Funktionsverschlechterung im Vergleich zum früheren Leistungsniveau;<br />

<strong>und</strong><br />

<strong>3.</strong> nicht durch e<strong>in</strong> Delir oder andere psychische Erkrankungen verursacht;<br />

4. die Feststellung kognitiver Defi zite durch (1) Eigen- <strong>und</strong> Fremdanamnese<br />

<strong>und</strong> (2) e<strong>in</strong>e objektive kognitive Untersuchung, entweder durch e<strong>in</strong>en<br />

Kurztest oder durch e<strong>in</strong>e neuropsychologische Untersuchung, falls Anamnese<br />

<strong>und</strong> Kurztest nicht ausreichend aussagekräft ig s<strong>in</strong>d.<br />

5. Die Störungen von Kognition <strong>und</strong> Verhalten umfassen m<strong>in</strong>destens zwei<br />

der folgenden Bereiche:<br />

a) Bee<strong>in</strong>trächtigte Fähigkeit, neue Informationen aufzunehmen <strong>und</strong> zu<br />

er<strong>in</strong>nern – e<strong>in</strong>schließlich folgender Symptome: sich wiederholende<br />

Fragen <strong>und</strong> Gespräche, Verlegen persönlicher Gegenstände, Vergessen<br />

von Ereignissen <strong>und</strong> Verabredungen, Verirren <strong>in</strong> bekanntem Terra<strong>in</strong>.<br />

b) Bee<strong>in</strong>trächtigung von Denkvermögen <strong>und</strong> beim Lösen anspruchsvoller<br />

Aufgaben – e<strong>in</strong>schließlich: fehlendes Gefühl für Gefahren, Unfähigkeit,<br />

fi nanzielle Fragen zu beurteilen <strong>und</strong> richtige Entscheidungen<br />

zu treff en sowie anspruchsvolle (komplexe) <strong>und</strong> aufe<strong>in</strong>ander aufb auende<br />

(sequentielle) Aufgaben zu planen.<br />

c) Bee<strong>in</strong>trächtigte visuell-räumliche Fähigkeiten – e<strong>in</strong>schließlich: Unfähigkeit,<br />

Gesichter <strong>und</strong> gewöhnliche Gegenstände zu erkennen, oder –<br />

trotz guter Sehschärfe – Objekte im Blickfeld zu fi nden, e<strong>in</strong>fache Vorrichtungen<br />

zu handhaben oder die Kleidung richtig zu verwenden.<br />

d) Bee<strong>in</strong>trächtigte Sprachleistungen (Sprechen, Lesen, Schreiben) – e<strong>in</strong>schließlich:<br />

Wortfi ndungsstörungen bei gewöhnlichen Ausdrücken,<br />

stockende Sprache; Sprech-, Buchstabier- <strong>und</strong> Schreibfehler.<br />

e) Veränderungen von Persönlichkeit, Verhalten <strong>und</strong> Benehmen – e<strong>in</strong>schließlich:<br />

Stimmungsschwankungen wie Agitation, bee<strong>in</strong>trächtigte<br />

Motivation <strong>und</strong> Initiative, Apathie, Antriebsverlust, sozialer Rückzug,<br />

Verlust von Empathie, zwanghaft es oder sozial <strong>in</strong>akzeptables Verhalten.<br />

jDemenz<br />

bei wahrsche<strong>in</strong>licher Alzheimer-Krankheit<br />

(probable AD dementia)*: Kernkriterien (McKhann et al. 2011;<br />

. Tab. 15.2)<br />

Erfüllt die oben ausgeführten Kriterien e<strong>in</strong>er Demenz <strong>und</strong> weist zusätzlich<br />

folgende Merkmale auf:


15.5 · Addendum: Aktuelle NIA-AA-Kriterien (2011)<br />

281<br />

15<br />

A Schleichender Beg<strong>in</strong>n. Die Symptome entwickeln sich langsam über Monate<br />

<strong>und</strong> Jahre, nicht plötzlich über St<strong>und</strong>en oder Tage;<br />

B E<strong>in</strong>deutige Anamnese e<strong>in</strong>er kognitiven Verschlechterung durch Bericht<br />

oder Beobachtung; <strong>und</strong><br />

C Die <strong>in</strong>itialen oder dom<strong>in</strong>anten kognitiven Defi zite anhand von Anamnese<br />

<strong>und</strong> Bef<strong>und</strong> gehören zu e<strong>in</strong>er der folgenden Kategorien:<br />

a) Amnestischer Beg<strong>in</strong>n: die häufi gste syndromale Präsentation der Demenz<br />

bei Alzheimer-Krankheit (AD dementia). Die Defi zite sollten<br />

e<strong>in</strong>e Bee<strong>in</strong>trächtigung von Lernen <strong>und</strong> Er<strong>in</strong>nern neu gelernter Information<br />

umfassen. Zusätzlich sollten kognitive Defi zite <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em anderen<br />

Leistungsbereich vorliegen.<br />

b) Non-amnestischer Beg<strong>in</strong>n:<br />

4 Sprache: die dom<strong>in</strong>anten Defi zite betreff en die Wortfi ndung, aber<br />

Defi zite <strong>in</strong> anderen Bereichen sollten auch vorhanden se<strong>in</strong>.<br />

4 Visuell-räumlich: die dom<strong>in</strong>anten Defi zite betreff en die räumliche<br />

Wahrnehmung e<strong>in</strong>schließlich Objektagnosie, Gesichter-Erkennen,<br />

Simultanagnosie <strong>und</strong> Alexie. Defi zite <strong>in</strong> anderen Bereichen sollten<br />

auch vorhanden se<strong>in</strong>.<br />

4 Exekutiv: die dom<strong>in</strong>anten Defi zite s<strong>in</strong>d bee<strong>in</strong>trächtigtes Denken,<br />

Urteil <strong>und</strong> Problemlösen. Defi zite <strong>in</strong> anderen Bereichen sollten<br />

auch vorhanden se<strong>in</strong>.<br />

D Die Diagnose e<strong>in</strong>er Demenz bei wahrsche<strong>in</strong>licher Alzheimer-Krankheit<br />

(probable AD dementia) sollte nicht gestellt werden bei H<strong>in</strong>weisen auf<br />

a) e<strong>in</strong>e relevante gleichzeitige zerebrovaskuläre Erkrankung durch e<strong>in</strong>en<br />

anamnestischen Zusammenhang zwischen Schlaganfall <strong>und</strong> kognitiver<br />

Verschlechterung; oder das Vorhandense<strong>in</strong> von multiplen oder<br />

ausgedehnten Infarkten oder schweren Marklagerveränderungen;<br />

oder<br />

b) Kernmerkmale e<strong>in</strong>er Demenz mit Lewy-Körperchen (außer dem Demenzsyndrom!);<br />

oder<br />

c) die Verhaltensvariante der frontotemporalen Demenz; oder<br />

d) die semantische Variante oder die nichtfl üssige/agrammatische Variante<br />

der primär progressiven Aphasie; oder<br />

e) e<strong>in</strong>e andere, gleichzeitig bestehende aktive neurologische Erkrankung<br />

oder nichtneurologische <strong>in</strong>ternistische Komorbidität oder den Gebrauch<br />

von Medikamenten, die e<strong>in</strong>e relevante Wirkung auf die Kognition<br />

ausüben können.


282 Kapitel 15 · Rationelle Diagnostik<br />

f) Anmerkung: Alle Patienten, die Kriterien e<strong>in</strong>er wahrsche<strong>in</strong>lichen Alzheimer-Krankheit<br />

(probable AD) nach den NINCDS-ADRDA-Kriterien<br />

aus dem Jahr 1984 erfüllten, würden die aktuellen Kriterien für<br />

die Demenz bei wahrsche<strong>in</strong>licher Alzheimer-Krankheit (probable AD<br />

dementia) erfüllen.<br />

Anmerkung des Übersetzers: Dafür hat es sich gelohnt, nahezu 30 Jahre zu<br />

warten (immerh<strong>in</strong> haben uns diese 3 Dekaden auch die Errungenschaft der<br />

»Prozent-Punkte« beschert).<br />

* Geme<strong>in</strong>t ist: Demenz auf der Basis e<strong>in</strong>er Alzheimer-Krankheit (Alzheimer’s<br />

dis ease, AD) mit entsprechenden neurodegenerativen Hirnveränderungen.<br />

jDemenz<br />

bei wahrsche<strong>in</strong>licher Alzheimer Krankheit (probable AD<br />

dementia) mit erhöhter diagnostischer Sicherheit (McKhann et al. 2011)<br />

1. Prospektiv dokumentierter Leistungsverlust oder<br />

2. Träger e<strong>in</strong>er genetischen Mutation (im APP-, PSEN1-, oder PSEN2-Gen).<br />

jDemenz<br />

bei möglicher Alzheimer-Krankheit (possible AD dementia;<br />

McKhann et al. 2011)<br />

1. Atypischer Verlauf mit plötzlichem Beg<strong>in</strong>n oder unklarer Anamnese bei<br />

ansonsten erfüllten Kernkriterien e<strong>in</strong>er Demenz bei wahrsche<strong>in</strong>licher<br />

Alzheimer-Krankheit.<br />

2. Ätiologisch gemischte Demenz: Alle kl<strong>in</strong>ischen Kernkriterien e<strong>in</strong>er Demenz<br />

bei wahrsche<strong>in</strong>licher Alzheimer-Krankheit werden erfüllt, allerd<strong>in</strong>gs<br />

bei H<strong>in</strong>weisen auf e<strong>in</strong>e<br />

a) gleichzeitige zerebrovaskuläre Erkrankung (anamnestisch oder <strong>in</strong> der<br />

Bildgebung),<br />

b) e<strong>in</strong>e Demenz mit Lewy-Körperchen (zusätzlich zu dem Vorliegen<br />

e<strong>in</strong>es Demenzsyndroms),<br />

c) e<strong>in</strong>e andere neurologische oder nichtneurologische Erkrankung bzw.<br />

Medikation, die zu e<strong>in</strong>er relevanten Bee<strong>in</strong>trächtigung der kognitiven<br />

Leistung führen kann.<br />

Die Diagnose e<strong>in</strong>er möglichen Alzheimer-Demenz (probable AD) nach den<br />

NINCDS-ADRDA-Kriterien aus dem Jahr 1984 würde die aktuellen Kriterien<br />

e<strong>in</strong>er Demenz bei wahrsche<strong>in</strong>licher Alzheimer-Krankheit (probable AD dementia)<br />

nicht notwendigerweise erfüllen. Diese Patienten müssten nachuntersucht<br />

werden.


15.5 · Addendum: Aktuelle NIA-AA-Kriterien (2011)<br />

283<br />

15<br />

. Tab. 15.2 Stadien der Alzheimer-Krankheit (AK); diagnostische Sicherheit von<br />

leichter kognitiver Bee<strong>in</strong>trächtigung (mild cognitive impairment, MCI) bei AK <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Demenz bei AK nach den Kriterien des NIA <strong>und</strong> der AA (National Institute on Ag<strong>in</strong>g <strong>und</strong><br />

US-amerikanische Alzheimer‘s Association) (übersetzt <strong>und</strong> zusammengefasst nach<br />

Albert et al. 2011, McKhann et al. 2011, Sperl<strong>in</strong>g et al. 2011)<br />

AK Stadium I:<br />

Asymptomatische zerebrale Amyloidose<br />

AK Stadium II:<br />

Asymptomatische Amyloidose plus<br />

Neurodegeneration<br />

AK Stadium III:<br />

Amyloidose plus Neurodegeneration<br />

plus leichte Bee<strong>in</strong>trächtigung von<br />

Kognition <strong>und</strong> Verhalten<br />

Zerebrale<br />

Amyloidose a<br />

Alzheimer-<br />

Neurodegeneration<br />

b<br />

+ – –<br />

+ + –<br />

+ + +<br />

MCI, AK unwahrsche<strong>in</strong>lich – – +<br />

MCI, AK möglich + ? +<br />

MCI, AK wahrsche<strong>in</strong>lich + + +<br />

Demenz, AK unwahrsche<strong>in</strong>lich – – +<br />

Kl<strong>in</strong>ik<br />

Demenz, AK möglich ? ? Atypisch<br />

Demenz, AK möglich + + Atypisch<br />

Demenz, AK wahrsche<strong>in</strong>lich ? ? Typisch<br />

Demenz, AK recht wahrsche<strong>in</strong>lich ? + Typisch<br />

Demenz, AK hoch wahrsche<strong>in</strong>lich + ? Typisch<br />

Demenz, AK höchst wahrsche<strong>in</strong>lich + + Typisch<br />

a Nachweis durch Amyloid-PET oder verm<strong>in</strong>dertes Aβ1–42 im Liquor.<br />

b Typische H<strong>in</strong>weise auf neuronale Läsionen durch Gesamt-Tau- oder Phospo-Tau-<br />

Erhöhung im Liquor, typische Muster des Hypometabolismus im FDG-PET oder<br />

typische Atrophiemuster im strukturellen MRT.


284 Kapitel 15 · Rationelle Diagnostik<br />

Referenzen<br />

Albert MS, DeKosky ST, Dickson D et al (2011) The diagnosis of mild cognitive impairment<br />

due to Alzheimer’s disease: recommendations from the National Institute on Ag<strong>in</strong>g and<br />

Alzheimer’s Association workgroup. Alzheimers Dement Apr 20 (Epub ahead of pr<strong>in</strong>t)<br />

McKhann GM, Knopman DS, Chertkow H et al (2011) The diagnosis of dementia due to Alzheimer’s<br />

disease: recommendations from the National Institute on Ag<strong>in</strong>g and the Alzheimer’s<br />

Association workgoup. Alzheimers Dement Apr 20 (Epub ahead of pr<strong>in</strong>t)<br />

Sperl<strong>in</strong>g RA, Aisen PS, Beckett LA et al (2011) Toward defi n<strong>in</strong>g the precl<strong>in</strong>ical stages of Alzheimer’s<br />

disease: recommendations from the National Institute on Ag<strong>in</strong>g and the Alzheimer’s<br />

Association workgroup. Alzheimers Dement Apr 20 (Epub ahead of pr<strong>in</strong>t)


<strong>Praxis</strong><br />

15 Rationelle Diagnostik – 265<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong><br />

16 Rationelle Beratung – 285<br />

<strong>Hans</strong> Gutzmann <strong>und</strong> Lydia Steenweg<br />

17 Rationelle Therapie – 299<br />

<strong>Hans</strong> Gutzmann <strong>und</strong> Richard Mahlberg<br />

18 Behandelbare somatische Risikofaktoren – 317<br />

Th orleif Etgen<br />

19 Neuropsychologische Untersuchung – 337<br />

T<strong>in</strong>a Th eml <strong>und</strong> Th omas Jahn<br />

20 Bildgebende Verfahren – 353<br />

Frank Hentschel <strong>und</strong> <strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong><br />

21 Labordiagnostik – 375<br />

Robert Perneczky <strong>und</strong> Panagiotis Alexopoulos<br />

22 Neurophysiologie – 389<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong><br />

23 Konsil- <strong>und</strong> Liaisonpsychiatrie bei Demenz – 395<br />

Torsten Kratz<br />

263<br />

II


24 Gedächtnissprechst<strong>und</strong>en (Memory-Kl<strong>in</strong>iken) – 419<br />

Jan<strong>in</strong>e Diehl-Schmid, Nicola T. Lautenschlager<br />

<strong>und</strong> Alexander Kurz<br />

25 Geriatrische Stationen – 437<br />

Not-Rupprecht Siegel<br />

26 Gerontopsychiatrische Stationen – 453<br />

Ra<strong>in</strong>er Kortus<br />

27 Alten- <strong>und</strong> Pfl egeheime – 467<br />

Jens Bruder<br />

28 Zur Psychotherapie – 481<br />

Rolf D. Hirsch<br />

29 Sozialpädagogische Hilfen – 503<br />

Bett<strong>in</strong>a Förtsch, <strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong> <strong>und</strong> Eva Gratzl-Pabst


Rationelle Beratung<br />

<strong>Hans</strong> Gutzmann <strong>und</strong> Lydia Steenweg<br />

16.1 E<strong>in</strong>führung – 286<br />

285<br />

16.2 Aufklärung als Aufgabe <strong>und</strong> Chance – 286<br />

16.3 Die Rolle der Angehörigen <strong>und</strong> die damit<br />

zusammenhängenden Gefährdungen – 287<br />

16.4 Probleme beim Umgang<br />

mit Verhaltensauff älligkeiten – 289<br />

16.5 Strategien zur Vermeidung<br />

von Krisensituationen – 291<br />

16.6 Körperliche Krankheiten <strong>und</strong> Sterben – 292<br />

16.7 Familiäre Betreuung <strong>und</strong> professionelle Hilfen – 293<br />

16.8 Wichtige rechtliche Aspekte – 295<br />

Literatur – 297<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_16,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

16


16<br />

286 Kapitel 16 · Rationelle Beratung<br />

Zum Thema<br />

Die Beratung der Patienten <strong>und</strong> ihrer Angehörigen ist e<strong>in</strong> zentrales Aufgabenfeld<br />

des niedergelassenen Arztes. Dazu zählt die Information über die Erkrankung<br />

<strong>und</strong> ihre Prognose ebenso wie das Wecken von Verständnis für die Belange der<br />

Patienten, für die notwendigen Anpassungsschritte im täglichen Umfeld <strong>und</strong> für<br />

die Änderung eigenen Verhaltens. Gleichzeitig dürfen die Bedürfnisse der pflegenden<br />

Angehörigen nicht aus dem Blick geraten: Ohne ihr Mittun wäre e<strong>in</strong>e<br />

verantwortliche Dementenbetreuung zum Scheitern verurteilt.<br />

16.1 E<strong>in</strong>führung<br />

Zur Konsultation <strong>in</strong> der <strong>Praxis</strong> kommen ältere Menschen – alle<strong>in</strong> oder <strong>in</strong> Begleitung<br />

ihrer Angehörigen ‒, die oft nur unspezifi sche Beschwerden schildern.<br />

E<strong>in</strong>e detailliertere Frühsymptomatik wird oft von Betroff enen <strong>und</strong> Angehörigen<br />

erst auf genaues Befragen berichtet. Ergebnis des ärztlichen Bemühens<br />

ist schließlich e<strong>in</strong>e durch entsprechende Untersuchungsergebnisse<br />

gestützte Verdachtsdiagnose. Diese gilt es, <strong>in</strong> Gesprächen zu vermitteln, um<br />

die <strong>in</strong>itial nur sehr unscharf formulierten Fragen nach dem »Was« <strong>und</strong> »Warum«<br />

der Krankheit zu beantworten. Wesentlich für den Umfang dieser Aufklärung<br />

ist neben den Wünschen von Patient <strong>und</strong> Angehörigem v. a. die Frage<br />

nach den Konsequenzen e<strong>in</strong>er Information über Diagnose <strong>und</strong> Prognose für<br />

die Beteiligten. Nach der <strong>in</strong>itialen Erschütterung bei der Mitteilung der Verdachtsdiagnose<br />

muss e<strong>in</strong>e hausärztlich begleitete Phase der akzeptierenden<br />

Beschäft igung mit der Krankheit e<strong>in</strong>setzen. In vielen Bereichen wird sich Beratungsbedarf<br />

ergeben.<br />

16.2 Aufklärung als Aufgabe <strong>und</strong> Chance<br />

Die verantwortungsvolle Aufk lärung zu e<strong>in</strong>em frühen Zeitpunkt bietet Möglichkeiten<br />

für Formen der Krankheitsbewältigung , die später bei Fortschreiten<br />

der Demenz weniger gut oder gar nicht mehr möglich s<strong>in</strong>d. Im Gegensatz<br />

zu den meisten <strong>in</strong>fausten Erkrankungen tritt bei der Demenz als Kernsymptomatik<br />

e<strong>in</strong>e erhebliche Bee<strong>in</strong>trächtigung der <strong>in</strong>tellektuellen Funktionen auf.<br />

E<strong>in</strong>e Aufk lärung erst <strong>in</strong> späteren Phasen der Demenz hat daher zur Folge, dass<br />

der Betroff ene selbst aufgr<strong>und</strong> der bereits bestehenden E<strong>in</strong>bußen ke<strong>in</strong>e oder<br />

nur noch sehr reduzierte Möglichkeiten des Krankheitsverständnisses <strong>und</strong>


16.3 · Die Rolle der Angehörigen<br />

287<br />

16<br />

der Krankheitsbewältigung hat, dass ihn mit anderen Worten die Bedeutung<br />

des Gesagten nicht mehr erreicht. Entscheidet man sich gegen e<strong>in</strong>e frühzeitige<br />

Aufk lärung, so bedeutet dies letztendlich auch e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> die Autonomie<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schränkung des Selbstbestimmungsrechts der Betroffenen.<br />

Wie bei allen anderen chronischen <strong>und</strong> letztlich fi nalen Erkrankungen<br />

auch, kann nur <strong>in</strong>dividuell bestimmt werden, <strong>in</strong>wieweit für den Patienten <strong>und</strong><br />

se<strong>in</strong>e Angehörigen die Information über die Erkrankung e<strong>in</strong>e erwünschte<br />

<strong>und</strong> benötigte Hilfe darstellt oder aber ob auch e<strong>in</strong>e behutsame Aufk lärung<br />

e<strong>in</strong>e Überforderung bedeutet. Meist wird es allerd<strong>in</strong>gs als e<strong>in</strong>e Entlastung erlebt,<br />

dass die schon länger wahrgenommenen Beschwerden <strong>und</strong> Veränderungen<br />

endlich e<strong>in</strong>en Namen bekommen haben, dass das Puzzle sich zu e<strong>in</strong>em<br />

Bild fügt. Durch e<strong>in</strong>e verständliche <strong>und</strong> e<strong>in</strong>fühlsame Aufk lärung, die gerade<br />

auch die langfristigen Konsequenzen der Erkrankung nicht ausblendet, haben<br />

Patienten <strong>und</strong> Angehörige die Möglichkeit, sich rechtzeitig mit den auf sie<br />

zukommenden Veränderungen ause<strong>in</strong>anderzusetzen <strong>und</strong> sie <strong>in</strong> ihre Lebensplanung<br />

e<strong>in</strong>zubeziehen.<br />

> Die aktive Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der Krankheit <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e ausreichende<br />

soziale Unterstützung s<strong>in</strong>d die wichtigsten psychosozialen<br />

Prädiktoren e<strong>in</strong>er erfolgreichen Krankheitsverarbeitung. Gr<strong>und</strong>lage<br />

dafür ist e<strong>in</strong> f<strong>und</strong>iertes Wissen über die Natur der Erkrankung. In den<br />

Aufklärungsgesprächen sollte man sich immer wieder der Formulierung<br />

von Max Frisch er<strong>in</strong>nern, nach der es darum geht, im Dialog dem<br />

anderen die Wahrheit wie e<strong>in</strong>en Mantel h<strong>in</strong>zuhalten, <strong>in</strong> den er schlüpfen<br />

kann, <strong>und</strong> sie ihm nicht wie e<strong>in</strong>en nassen Lappen um die Ohren zu<br />

schlagen.<br />

16.3 Die Rolle der Angehörigen <strong>und</strong> die damit<br />

zusammenhängenden Gefährdungen<br />

Bei K<strong>in</strong>dern s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>tensive Pfl ege <strong>und</strong> Fürsorge durch die Eltern Etappen auf<br />

dem Weg <strong>in</strong> die zukünft ige Selbstständigkeit . Bei Demenzpatienten ist die<br />

Richtung des Prozesses umgekehrt. Bei ihnen nimmt die Selbstständigkeit ab,<br />

<strong>und</strong> basale körperliche Bedürfnisse treten immer mehr <strong>in</strong> den Vordergr<strong>und</strong>.<br />

Die bei der Versorgung von Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>dern zukunft sgerichtete <strong>und</strong> optimistische<br />

Gr<strong>und</strong>haltung wird ersetzt durch e<strong>in</strong> Trauer- <strong>und</strong> Ablösungserleben. Der<br />

Krankheitsprozess ändert zudem die gewachsenen Beziehungen, bedeutet oft


16<br />

288 Kapitel 16 · Rationelle Beratung<br />

e<strong>in</strong>e Aufl ösung des bestehenden sozialen Rollengefüges. Geschieht dies <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er vielleicht schon zuvor gespannten Beziehung, kann die psychologische<br />

Arbeit mit den Angehörigen ausschlaggebend für das Gel<strong>in</strong>gen der weiteren<br />

Betreuung se<strong>in</strong>. Wegen der allmählichen Veränderungen im Rahmen des Demenzprozesses<br />

geraten viele pfl egende Angehörige <strong>in</strong> die Gefahr, aus Überfürsorglichkeit<br />

eigene Freiräume zunächst unmerklich e<strong>in</strong>zuschränken, um<br />

sie schließlich gänzlich zu verlieren. Die Umkehrung von Machtverhältnissen<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er jahrelangen Beziehung kann sich aber auch im Ausbrechen vorher<br />

unterdrückter Aggressionen <strong>und</strong> <strong>in</strong> Rachegefühlen des pfl egenden Angehörigen<br />

ausdrücken. Auch <strong>in</strong> diesem Fall ist die psychologische Betreuung nicht<br />

zuletzt zum Schutz des Patienten notwendig.<br />

Frühzeitig sollten pfl egende Bezugspersonen im Beratungsgespräch<br />

(s. unten, Beratungsziele) auf Hilfsangebote aufmerksam gemacht werden, die<br />

ihre psychischen <strong>und</strong> physischen Belastungen durch die Pfl ege des Patienten<br />

mit Demenz erleichtern können (Selbsthilfegruppen , Alzheimer-Gesellschaft<br />

en ). Für viele Angehörige erleichtert der Kontakt zu anderen pfl egenden<br />

Angehörigen <strong>in</strong> der Gruppe das Zusammenleben mit e<strong>in</strong>em dementen Patienten.<br />

Oft werden dort wichtige Tipps für den Alltag gegeben, die von Leidensgenossen<br />

<strong>in</strong> ähnlicher Lage entwickelt wurden. Auch s<strong>in</strong>d erfahrene Angehörige<br />

eher <strong>in</strong> der Lage als Außenstehende, Verständnis für die oft unterdrückten<br />

Aggressionen gegen den Patienten <strong>und</strong> die Hoff nungslosigkeit der<br />

Situation aufzubr<strong>in</strong>gen.<br />

Ziele der Beratung von pfl egenden Angehörigen<br />

4 Wissen über die Krankheit vermitteln<br />

4 Verständnis für Verhaltensweisen des dementen Patienten wecken<br />

4 Die Aufmerksamkeit für Warnzeichen beim dementen Patienten schärfen<br />

4 Die Aufmerksamkeit für Warnzeichen beim Angehörigen selbst schärfen<br />

4 H<strong>in</strong>weise zur Verhaltensänderung beim Angehörigen geben<br />

4 Hilfen zum Stressmanagement bereitstellen<br />

4 Mögliche Anpassungen der äußeren Lebensbed<strong>in</strong>gungen anregen<br />

4 Den Angehörigen ermutigen, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen<br />

4 Die Entlastung der Angehörigen als Hilfe für den Patienten deutlich<br />

machen<br />

4 Die Angehörigen <strong>in</strong> die Lage versetzen, gezielt weitere Hilfsangebote zu<br />

suchen


16.4 · Probleme bei Verhaltensauffälligkeiten<br />

289<br />

16<br />

Dass pfl egende Angehörige nicht nur im Sonderfall der eigenen Krankheit<br />

oder Beh<strong>in</strong>derung, sondern auch bei zunächst bester Ges<strong>und</strong>heit e<strong>in</strong> hohes<br />

Risiko tragen, unter der Belastung der Pfl ege selbst ernstlich zu erkranken, ist<br />

unbestritten. Am bekanntesten ist wohl das erhöhte Risiko für depressive Störungen.<br />

Das kann auch nicht verw<strong>und</strong>ern, wenn man sich vor Augen hält,<br />

dass häufi ge Begleitersche<strong>in</strong>ungen der Pfl ege Dementer gleichzeitig auch als<br />

klassische depressionsauslösende Faktoren gelten. Dazu zählen Probleme wie<br />

e<strong>in</strong>e zunehmende soziale Isolierung , Schuldgefühle gegenüber den anderen<br />

Familienmitgliedern, denen man sich nicht mehr <strong>in</strong> gewünschtem Umfang<br />

widmen kann, <strong>und</strong> Gefühle der Hoff nungslosigkeit <strong>und</strong> Ohnmacht gegenüber<br />

dem Fortschreiten der Erkrankung. Ke<strong>in</strong> W<strong>und</strong>er ist angesichts dieser Situation,<br />

dass pfl egende Angehörige auch selbst erheblich mehr Medikamente im<br />

Allgeme<strong>in</strong>en <strong>und</strong> Psychopharmaka im Besonderen zu sich nehmen als nicht<br />

gleichermaßen belastete Gleichaltrige. In letzter Zeit mehren sich H<strong>in</strong>weise,<br />

dass pfl egende Angehörige auch e<strong>in</strong> höheres Risiko für Infektionskrankheiten<br />

tragen als nicht solchen Dauerbelastungen ausgesetzte Altersgenossen. Als<br />

Erklärung für diese Beobachtungen bietet sich der enge Zusammenhang zwischen<br />

Immunabwehr <strong>und</strong> seelischer Belastung an.<br />

> Der Dauerstress der Pfl ege von Dementen hat psychische <strong>und</strong> physische<br />

Aspekte <strong>und</strong> kann verschiedenen Krankheiten bei den betreuenden<br />

Angehörigen den Weg bereiten. Entlastende <strong>und</strong> stützende<br />

Hilfsangebote <strong>in</strong> verschiedensten Lebensbereichen erhöhen deshalb<br />

nicht nur die Pfl egemotivation, sie s<strong>in</strong>d auch geeignet, die Ges<strong>und</strong>heit<br />

der pfl egenden Angehörigen zu stabilisieren.<br />

16.4 Probleme beim Umgang<br />

mit Verhaltensauff älligkeiten<br />

Körperliche Probleme wie Harn- oder Stuhl<strong>in</strong>kont<strong>in</strong>enz s<strong>in</strong>d für pfl egende<br />

Angehörige <strong>in</strong> aller Regel leichter zu bewältigen als die bei <strong>Demenzen</strong> auft retenden<br />

Verhaltensänderungen. Das Verständnis dafür, dass es sich dabei nicht<br />

nur um Komplikationen der Krankheit handelt, sondern dass <strong>in</strong> ihnen oft<br />

auch das Erleben des Betroff enen zum Ausdruck kommt, kann den Umgang<br />

mit solchen Symptomen erheblich erleichtern. E<strong>in</strong>ige häufi ge Verhaltensauffälligkeiten<br />

<strong>und</strong> die Probleme, die sie für die Betreuenden mit sich br<strong>in</strong>gen,<br />

seien kurz skizziert.


16<br />

290 Kapitel 16 · Rationelle Beratung<br />

Gerade im Frühstadium e<strong>in</strong>er <strong>Demenzen</strong>twicklung verlieren die Betroffenen<br />

oft D<strong>in</strong>ge, verlegen wichtige Dokumente, wissen nicht mehr genau, wofür<br />

sie wie viel Geld ausgegeben haben. E<strong>in</strong>e Variante, die eigenen Insuffi zienzen<br />

zu verarbeiten, ist auch für Demente, die Schuld bei anderen zu suchen.<br />

Diese anderen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Regel Nachbarn, Bekannte, oft auch die pfl egenden<br />

Familienangehörigen selbst. In solchen Situationen auf der eigenen Position<br />

zu beharren, würde den Konfl ikt eskalieren lassen.<br />

Für viele Betroff ene geht die Erkrankung mit e<strong>in</strong>er schmerzlichen Selbstwerte<strong>in</strong>buße<br />

e<strong>in</strong>her. Sie reagieren darauf mit Rückzug, Interesselosigkeit,<br />

Herabgestimmtheit. Sie gehen seltener aus <strong>und</strong> vermeiden soziale Kontakte.<br />

Schließlich wirkt auch die eigentlich vertraute Umgebung zunehmend fremd<br />

<strong>und</strong> beunruhigend. Eigentlich banalen Beobachtungen kann wegen der mangelhaft<br />

en Rückgriff smöglichkeit auf das immer schlechter funktionierende<br />

Gedächtnis nicht mehr die korrekte Bedeutung zugeordnet werden. Deshalb<br />

mischen sich <strong>in</strong> die negativ getönte Stimmungslage oft auch Ängste.<br />

Bei schwer dementen Patienten kann es notwendig werden, Spiegel <strong>und</strong><br />

spiegelnde Oberfl ächen <strong>in</strong> der Wohnung zu entfernen, weil diese e<strong>in</strong>e häufi ge<br />

Quelle von Verkennungen darstellen (das nicht erkannte Spiegelbild wird als<br />

E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gl<strong>in</strong>g <strong>in</strong>terpretiert). E<strong>in</strong>e ausgeprägte paranoide Vorstellung kann<br />

man nicht ausreden. Das heißt aber nicht, dass man versuchen soll, den Patienten<br />

glauben zu machen, man teile se<strong>in</strong>e Überzeugung. Viele nehmen<br />

e<strong>in</strong>em das zu Recht nicht ab. E<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltlich neutrale Position, die dem Patienten<br />

gleichzeitig deutlich macht, dass er trotz se<strong>in</strong>er Überzeugungen akzeptiert<br />

ist, wirkt glaubhaft er <strong>und</strong> ist auch besser durchzuhalten.<br />

Bei vielen Patienten ist e<strong>in</strong>e psychomotorische Unruhe zu beobachten.<br />

H<strong>in</strong>- <strong>und</strong> herwandern, nesteln, kramen, Schränke e<strong>in</strong>- <strong>und</strong> ausräumen zählen<br />

dazu. Auch aggressive Verhaltensweisen , gerade gegenüber nahen Bezugspersonen,<br />

kommen vor. Dass sich Patienten mit Demenz oft nicht helfen lassen<br />

wollen, weil sie me<strong>in</strong>en, alles alle<strong>in</strong> schaff en zu können, macht Angehörigen<br />

den Umgang schwer. Häufi g reagieren die Betroff enen gereizt <strong>und</strong> unwirsch,<br />

wenn ihnen immer wieder Inkompetenz nachgewiesen wird. Bei gründlichem<br />

Nachdenken fi ndet sich aber meist doch e<strong>in</strong> häuslicher Bereich, <strong>in</strong> dem auch<br />

der schwerer Kranke noch Verantwortung übernehmen kann, wo es aber auch<br />

ke<strong>in</strong>e Katastrophe bedeutet, wenn etwas dann doch nicht klappt.<br />

> Der Umgang mit dementen Patienten erfordert neben der Geduld zur<br />

Förderung <strong>und</strong> Erhaltung vorhandener Fähigkeiten auch viel Kreativität<br />

<strong>und</strong> Bereitschaft, sich <strong>in</strong> die veränderte Welt des Kranken e<strong>in</strong>zufühlen.


16.5 · Strategien bei Krisensituationen<br />

16.5 Strategien zur Vermeidung von Krisensituationen<br />

291<br />

16<br />

Der Tag braucht e<strong>in</strong>en natürlichen Rhythmus, der sich an den Aktivitäten des<br />

Alltags orientiert. Dazu gehört auch e<strong>in</strong>e plausible Lichtregie : tagsüber hat es<br />

hell, nachts dunkel zu se<strong>in</strong> .<br />

Man sollte stets versuchen, die Umgebung so e<strong>in</strong>fach wie möglich zu gestalten<br />

<strong>und</strong> sie damit für den Dementen übersichtlicher zu machen. Vere<strong>in</strong>fachung<br />

heißt hier auch, e<strong>in</strong>fache, kurze Sätze <strong>in</strong> ruhigem Ton zu äußern, statt<br />

e<strong>in</strong> verbales Trommelfeuer loszulassen.<br />

Die Zahl der Gegenstände, die sich im Blickfeld des Patienten befi nden,<br />

während er mit e<strong>in</strong>er Aktivität befasst ist, die Konzentration erfordert, sollte<br />

so kle<strong>in</strong> wie möglich gehalten werden. Jede Ablenkung ist für Demente noch<br />

störender als für Ges<strong>und</strong>e.<br />

Oft lohnt sich der Versuch, e<strong>in</strong> Reaktionsmuster zu identifi zieren (z. B.<br />

wann <strong>und</strong> unter welchen Umständen problematische Verhaltensweisen aufzutreten<br />

pfl egen), um dauerhaft Abhilfe zu schaff en.<br />

Unnötiger Stress sollte so weit als möglich reduziert <strong>und</strong> jede möglicherweise<br />

zu Verwirrung Anlass gebende Situation sollte vermieden werden. E<strong>in</strong>deutigkeit<br />

schafft oft erst die Möglichkeit zur Beruhigung.<br />

Die Erhöhung der objektiven Sicherheit des Patienten <strong>und</strong> die Vermittlung<br />

e<strong>in</strong>es subjektiven Gefühls der Sicherheit für ihn ist e<strong>in</strong>e Daueraufgabe.<br />

Wenn der Patient sich sicherer fühlt, ist e<strong>in</strong>e wesentliche Quelle für Unruhe<br />

schon besser unter Kontrolle. Auch das Sicherheitsgefühl des Betreuenden<br />

kann e<strong>in</strong>e Quelle der Beruhigung für den Betreuten se<strong>in</strong>.<br />

Zu viel Ruhe <strong>und</strong> verme<strong>in</strong>tlich fürsorgliche Schonung können aber auch<br />

schaden. Tätige <strong>und</strong> für den Dementen vorhersehbare Unruhe (z. B. Haushaltsaktivitäten),<br />

nicht aber Hektik, ist e<strong>in</strong> Weg zu mehr Normalität. Schädlich<br />

s<strong>in</strong>d dagegen jede optische oder akustische Überreizung, jedes Durche<strong>in</strong>ander<br />

<strong>in</strong> Wort, Tat oder <strong>in</strong> der Umgebung.<br />

Trotz allen Engagements sollte man versuchen, das »Fördern durch Fordern«<br />

nicht zu übertreiben. Auch e<strong>in</strong> verme<strong>in</strong>tlich therapeutisches »Dauerquiz«<br />

(ständige Fragen zu allen Belangen des häuslichen Lebens, Kreuzworträtselmarathons<br />

etc.) kann zu Aggressionen des genervten Patienten Anlass<br />

geben; <strong>und</strong> wenn man es sich recht überlegt, kann man ihn gut verstehen!<br />

Die mechanische Unterdrückung e<strong>in</strong>es ausgeprägten Bewegungsdrangs<br />

verstärkt meist nur die Probleme, die sie l<strong>in</strong>dern sollte.


16<br />

292 Kapitel 16 · Rationelle Beratung<br />

Immer <strong>und</strong> <strong>in</strong> jedem Fall muss die Frage, ob mediz<strong>in</strong>ische Komplikationen<br />

oder gar ärztliche Maßnahmen dem Fehlverhalten des Patienten vorausgegangen<br />

s<strong>in</strong>d, gestellt <strong>und</strong> befriedigend geklärt werden.<br />

> Manchmal haben auch kle<strong>in</strong>e Ursachen große Wirkungen, <strong>und</strong> viel<br />

ist oft schon mit ger<strong>in</strong>ggradigen Veränderungen <strong>in</strong> der Umgebung<br />

oder auch durch Modifi zierung von Rout<strong>in</strong>eabläufen im Haushalt zu<br />

erreichen.<br />

16.6 Körperliche Krankheiten <strong>und</strong> Sterben<br />

Jede Verhaltensänderung e<strong>in</strong>es verbal kaum noch mitteilungsfähigen Patienten<br />

sollte die Pfl egenden aufmerksam machen <strong>und</strong> nach möglichen behebbaren<br />

E<strong>in</strong>schränkungen des Wohlbefi ndens suchen lassen. Solche Verhaltensänderungen<br />

können z. B. e<strong>in</strong>e vermehrte Unruhe, Rufen, Stöhnen oder e<strong>in</strong><br />

gequälter Gesichtsausdruck se<strong>in</strong>. Erst wenn ke<strong>in</strong> behebbarer Gr<strong>und</strong> zu identifi<br />

zieren ist, kann an den Versuch e<strong>in</strong>er medikamentösen Schmerzl<strong>in</strong>derung<br />

gedacht werden. Häufi g ist bei diesen Patienten e<strong>in</strong>e Medikation zur Bee<strong>in</strong>fl<br />

ussung des lauten Rufens oder Lärmens <strong>in</strong>eff ektiv. Gelegentlich kann es dann<br />

helfen, dem Betroff enen, der nicht auf die Medikation reagiert, die Möglichkeit<br />

zu geben, se<strong>in</strong>en Lautäußerungen nachzugehen, ohne jemanden zu belästigen.<br />

Auch das Angebot angenehmer Musik (z. B. per Kopfh örer) kann Unruhezustände<br />

<strong>und</strong> Schreiattacken im E<strong>in</strong>zelfall auskl<strong>in</strong>gen lassen.<br />

Wenn der Patient sich kaum noch mit Worten mitteilen kann <strong>und</strong> nur mit<br />

größter Aufmerksamkeit <strong>und</strong> E<strong>in</strong>fühlung grobe Missdeutungen se<strong>in</strong>es Verhaltens<br />

verh<strong>in</strong>dert werden können, ist e<strong>in</strong>e detaillierte Identifi kation der e<strong>in</strong>zelnen<br />

Begleiterkrankungen ohne erheblichen Untersuchungsaufwand kaum<br />

noch möglich. Vorrang vor diagnostischer Detailanalyse sollte dann die Abwehr<br />

von Befi ndlichkeitsstörungen haben. Schließlich stellt sich oft die Frage,<br />

<strong>in</strong>wieweit noch <strong>in</strong>tensivmediz<strong>in</strong>ische Maßnahmen zur Lebensverlängerung<br />

durchgeführt werden sollen. Diese Frage ist nur im E<strong>in</strong>zelfall verantwortlich<br />

zu entscheiden <strong>und</strong> richtet sich am ehesten nach dem mutmaßlichen Willen<br />

<strong>und</strong> der zu erwartenden Verbesserung der Lebensqualität des Betroff enen.<br />

Bei guter Beratung sollten solche Situationen allerd<strong>in</strong>gs nicht überraschend<br />

auft reten <strong>und</strong> zu überhasteten Entscheidungen zw<strong>in</strong>gen, sodass sich e<strong>in</strong>e optimale<br />

mediz<strong>in</strong>ische Versorgung unter E<strong>in</strong>satz aller verfügbaren <strong>und</strong> ange-


16.7 · Familiäre Betreuung <strong>und</strong> professionelle Hilfen<br />

293<br />

16<br />

messenen Mittel <strong>und</strong> der Respekt vor dem Recht e<strong>in</strong>es jeden Menschen auf<br />

e<strong>in</strong>en würdigen Sterbeverlauf nicht widersprechen müssen.<br />

In den term<strong>in</strong>alen Phasen demenzieller Erkrankungen s<strong>in</strong>d schwere Probleme<br />

mit der Nahrungszufuhr fast die Regel. Viele Patienten werden appetitlos,<br />

verweigern die Nahrung oder haben das Essen »verlernt«. Im Verlauf der<br />

Erkrankung kann sich deshalb die Notwendigkeit ergeben, die Strategien <strong>und</strong><br />

Techniken der Nahrungszufuhr immer wieder den neuen Gegebenheiten anzupassen.<br />

Auch das Ziel der Aufrechterhaltung e<strong>in</strong>es bestimmten M<strong>in</strong>destgewichts<br />

kann se<strong>in</strong>e Bedeutung verlieren.<br />

> Je weiter der Demenzprozess voranschreitet, desto wahrsche<strong>in</strong>licher<br />

s<strong>in</strong>d auch körperliche Begleiterkrankungen oder m<strong>in</strong>destens potenziell<br />

bedrohliche körperliche Befi ndlichkeitsstörungen. Die therapeutischen<br />

Prioritäten verschieben sich gegen Ende des Krankheitsverlaufs<br />

eher <strong>in</strong> Richtung palliativer Strategien .<br />

16.7 Familiäre Betreuung <strong>und</strong> professionelle Hilfen<br />

Die Hauptlast der Betreuung <strong>und</strong> Pfl ege Dementer tragen die Angehörigen.<br />

Sie nehmen damit sowohl e<strong>in</strong>e große physische, psychische wie auch fi nanzielle<br />

Belastung auf sich. Ohne sie wäre jegliche professionelle Betreuung von<br />

vornhere<strong>in</strong> zum Scheitern verurteilt, unsere sozialen Netze würden reißen.<br />

Jegliche wirksame Entlastung der Angehörigen ist geeignet, ihre Motivation<br />

<strong>und</strong> ihren Pfl egewillen zu stützen. Je nach regionaler Situation steht zur niederschwelligen<br />

Hilfe für pfl egende Angehörige auch e<strong>in</strong> mehr oder weniger<br />

breites Spektrum organisierter Bürgerhilfe zur Verfügung. Diese kann von<br />

E<strong>in</strong>zel- oder Gruppenbetreuung durch Kirchengeme<strong>in</strong>den oder Wohlfahrtsverbände<br />

bis h<strong>in</strong> zur ehrenamtlichen Hospizpfl ege reichen. Auch semiprofessionelle<br />

Dienste werden zahlreicher, die als »Demenz-« oder »Alltagsbegleiter«<br />

den Angehörigen kurzfristig Entlastung br<strong>in</strong>gen können.<br />

Um den Angehörigen Urlaub von der Betreuungssituation zu ermöglichen,<br />

bieten Kurzzeitpfl egestätten stationäre Unterbr<strong>in</strong>gungsmöglichkeiten<br />

an. Besteht e<strong>in</strong>e Pfl egestufe, werden die Kosten hierfür für bis zu 4 Wochen<br />

jährlich auch von der Pfl egekasse fi nanziell gefördert. Allerd<strong>in</strong>gs stehen Plätze<br />

für Übergangs-, Entlastungs- <strong>und</strong> Urlaubs- sowie Kurzzeitpfl ege noch viel zu<br />

selten zur Verfügung.


16<br />

294 Kapitel 16 · Rationelle Beratung<br />

Der Besuch gerontopsychiatrischer <strong>und</strong> geriatrischer Tagespfl egestätten<br />

, die zum Teil auch auf die Betreuung dementer Patienten spezialisiert<br />

s<strong>in</strong>d, kann sich sowohl für die Besucher selbst als auch für ihre Angehörigen<br />

positiv auswirken. Die aktuelle Nutzung der Tagespfl egee<strong>in</strong>richtungen ist allerd<strong>in</strong>gs<br />

wesentlich e<strong>in</strong>e Funktion der F<strong>in</strong>anzierungsmodalitäten ‒ etwa bezüglich<br />

der Frage, welche <strong>in</strong>dividuelle Zuzahlung im E<strong>in</strong>zelfall zu leisten ist.<br />

Sozialstationen bieten Pfl egeleistungen <strong>und</strong> Hilfe bei der Haushaltsführung<br />

an <strong>und</strong> können Angehörige auch <strong>in</strong> professionelle Pfl egemaßnahmen<br />

e<strong>in</strong>führen. Es soll allerd<strong>in</strong>gs schon vorgekommen se<strong>in</strong>, dass Sozialstationen<br />

sich diesem Transfer ihres Wissens mit dem H<strong>in</strong>weis verweigert haben, sie<br />

würden sich ja sonst selbst das Wasser abgraben.<br />

Im optimalen Fall können ambulante oder teilstationäre Hilfen e<strong>in</strong>e stabile<br />

Versorgung e<strong>in</strong>es Patienten <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em vertrauten Umfeld lange sichern.<br />

Schreitet der Verlauf der Demenz voran, wird aber dennoch nicht selten die<br />

stationäre Versorgung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Seniorenheim notwendig . Allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d<br />

Heime, die sich speziell auf die Belange verhaltensauff älliger Dementer e<strong>in</strong>gestellt<br />

haben, noch die Ausnahme. Immer weitere Verbreitung fi ndet auch bei<br />

uns, wie seit Jahren schon <strong>in</strong> Schweden, als Betreuungsform die eng betreute<br />

Wohngeme<strong>in</strong>schaft für Demente .<br />

F<strong>in</strong>anziert werden diese professionellen Betreuungsformen von der Pfl egekasse,<br />

im E<strong>in</strong>zelfall auch aus eigenen Mitteln. Zu bedenken ist dabei, dass<br />

Ersparnisse e<strong>in</strong>es älteren Menschen bei hoher ambulanter Betreuungsdichte<br />

schnell verbraucht se<strong>in</strong> können. Die dann notwendige Beantragung dieser<br />

Leistungen beim Sozialamt br<strong>in</strong>gt die Möglichkeit e<strong>in</strong>er Zuzahlungspfl icht<br />

der nahen Angehörigen <strong>in</strong>s Spiel <strong>und</strong> eröff net damit e<strong>in</strong> völlig neues Konfl iktfeld.<br />

Abschließend soll an dieser Stelle noch das Th ema der systematischen Informationsvermittlung<br />

(Psychoedukation) für Angehörige angesprochen<br />

werden . Zwar wurde Psychoedukation zunächst für jüngere psychisch Kranke<br />

entwickelt, sie richtet sich bei Demenzerkrankungen aber primär an pfl egende<br />

Angehörige <strong>und</strong> gehört dort zu den wissenschaft lich am besten abgesicherten<br />

nichtmedikamentösen Interventionen. Sie zielt schwerpunktmäßig auf e<strong>in</strong>en<br />

Informations- bzw. Erfahrungsaustausch bezüglich des Umgangs mit der<br />

Pfl egesituation <strong>und</strong> gleichzeitig auf die emotionale Unterstützung der Betreuenden.<br />

Im Zentrum stehen die von professionellen Experten geleistete Wissens-<br />

<strong>und</strong> Informationsvermittlung <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e strukturierte emotionale Unterstützung,<br />

die oft für den Gruppenprozess prägend ist. Programme, die e<strong>in</strong>e


16.8 · Wichtige rechtliche Aspekte<br />

295<br />

16<br />

aktive Mitwirkung erfordern (z. B. Rollenspiel <strong>und</strong> Hausaufgaben) s<strong>in</strong>d Erfolg<br />

versprechender als e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Wissensvermittlung. Auch Patienten mit ausgeprägteren<br />

<strong>Demenzen</strong> s<strong>in</strong>d für diese Interventionen (mittelbar) empfänglich<br />

<strong>und</strong> reagieren etwa mit e<strong>in</strong>er Abnahme von Angst- oder Unruhezuständen.<br />

Beste Ergebnisse werden mit Maßnahmen erzielt, die nach sorgfältiger Analyse<br />

<strong>in</strong>dividuell zugeschnitten s<strong>in</strong>d.<br />

> Im E<strong>in</strong>zelfall ist zu klären, am besten durch gezielte Beratung e<strong>in</strong>es<br />

kompetenten Sozialdienstes, welche Hilfen zu welcher Zeit für den<br />

Patienten <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Angehörigen angemessen ersche<strong>in</strong>en <strong>und</strong> wie<br />

sie fi nanzierbar s<strong>in</strong>d. Die Berücksichtigung der Erschöpfbarkeit der<br />

psychischen <strong>und</strong> materiellen Ressourcen der Angehörigen ist dabei<br />

für alle Beratungen e<strong>in</strong>e wesentliche Leitl<strong>in</strong>ie.<br />

16.8 Wichtige rechtliche Aspekte<br />

Im Verlauf e<strong>in</strong>er Demenz verlieren die Betroff enen die Fähigkeit, die eigene<br />

Situation zu überblicken <strong>und</strong> ihre Angelegenheiten selbst ordnen zu können.<br />

Spätesten dann sehen sich die pfl egenden Angehörigen mit e<strong>in</strong>er Anzahl<br />

rechtlicher Fragen konfrontiert, von denen hier nur e<strong>in</strong>ige angerissen werden<br />

können<br />

Schwer an Demenz erkrankte Patienten s<strong>in</strong>d nicht mehr geschäft sfähig ,<br />

wenn ihre freie Willensbestimmung aufgr<strong>und</strong> der Erkrankung ausgeschlossen<br />

ist. Rechtsgeschäft e dementer Patienten s<strong>in</strong>d unter diesen Umständen<br />

nichtig <strong>und</strong> können rückgängig gemacht werden. Für die Rechtsgültigkeit<br />

e<strong>in</strong>es Testaments gelten pr<strong>in</strong>zipiell ähnliche Bestimmungen wie bei der Geschäftsfähigkeit.<br />

Im günstigsten Fall haben die Betroff enen beizeiten <strong>in</strong> Absprache mit den<br />

von ihnen dafür vorgesehenen Bezugspersonen e<strong>in</strong>e Vorsorgevollmacht h<strong>in</strong>terlegt,<br />

die es den Angehörigen ermöglicht, <strong>in</strong> ihrem S<strong>in</strong>ne tätig zu werden .<br />

Zum Nachweis der erforderlichen Geschäft sfähigkeit <strong>und</strong> zur besseren Anerkennung<br />

im Rechtsleben empfi ehlt sich e<strong>in</strong>e notarielle Beurk<strong>und</strong>ung. E<strong>in</strong>e<br />

Vollmacht kann <strong>in</strong> vielerlei H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong>e gesetzliche Betreuung ersetzen<br />

bzw. überfl üssig machen. E<strong>in</strong>e Vorsorgevollmacht wird am besten beim Notar<br />

h<strong>in</strong>terlegt <strong>und</strong> tritt erst <strong>in</strong> Kraft , wenn e<strong>in</strong> ärztliches Attest vorliegt. Haft ungsprobleme<br />

können umgangen werden, wenn die Vollmacht e<strong>in</strong>e Klausel ent-


16<br />

296 Kapitel 16 · Rationelle Beratung<br />

hält, die besagt, dass jegliche Haft ung des Bevollmächtigten bei der Vollmachtsausübung<br />

ausgeschlossen ist. Neben der Betreuungsvorsorge mittels<br />

privater Vollmachten gibt es auch noch den gerichtlich kontrollierten Weg der<br />

schrift lichen Betreuungsverfügung , <strong>in</strong> der der an Demenz Erkrankte Wünsche<br />

für die spätere Lebensgestaltung niederlegen <strong>und</strong> z. B. bestimmen kann,<br />

wer die Betreuung übernehmen soll. Sie macht das gerichtliche Betreuungsverfahren<br />

nicht entbehrlich, nimmt jedoch erheblichen E<strong>in</strong>fl uss auf den Inhalt<br />

des Verfahrens. Seit dem 1.9.2009 gilt e<strong>in</strong>e neue gesetzliche Regelung, die<br />

als Ergänzung des bisherigen Betreuungsrechts angelegt ist. Der § 1901 BGB<br />

(»Handeln zum Wohl des Betreuten <strong>und</strong> Beachtung der Wünsche des Betreuten«)<br />

wurde ergänzt durch § 1901a BGB (»Patientenverfügung«) <strong>und</strong> § 1901b<br />

BGB (»Gespräch zur Feststellung des Patientenwillens«). Der § 1901a BGB<br />

sieht vor, dass bei Vorliegen e<strong>in</strong>er Patientenverfügung zunächst zu prüfen ist,<br />

ob die <strong>in</strong> der Verfügung getroff enen Anweisungen die jetzige Behandlungssituation<br />

treff en. Falls dies zutrifft , hat der Betreuer oder der Bevollmächtigte<br />

dem Willen des Patienten Ausdruck <strong>und</strong> Geltung zu verschaff en. E<strong>in</strong>e gesetzliche<br />

Regelung über die Patientenverfügung gilt unabhängig von Art <strong>und</strong> Stadium<br />

der Erkrankung für e<strong>in</strong>en nicht e<strong>in</strong>gegrenzten Zeitraum, sie hat also<br />

ke<strong>in</strong>e Reichweitenbegrenzung. Im Gegensatz zur Vollmacht müssen die Betreuungs-<br />

<strong>und</strong> die Patientenverfügung auch beachtet werden, wenn sie von<br />

nicht voll geschäft sfähigen Personen erteilt worden s<strong>in</strong>d, solange ihr Inhalt<br />

s<strong>in</strong>nvoll ist.<br />

Ist e<strong>in</strong>e erwachsene Person »aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er psychischen Krankheit oder<br />

e<strong>in</strong>er körperlichen, geistigen oder seelischen Beh<strong>in</strong>derung« nicht <strong>in</strong> der Lage,<br />

ihre Angelegenheiten zu besorgen, sollte e<strong>in</strong>e gesetzliche Betreuung durch das<br />

Betreuungsgericht e<strong>in</strong>gerichtet werden. Die E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>er Betreuung ist<br />

aber nicht notwendig, wenn e<strong>in</strong>e andere rechtliche Regelung wie z. B. e<strong>in</strong>e<br />

Vollmacht besteht, die für anstehende Entscheidungen ausreicht. E<strong>in</strong>e gesetzliche<br />

Betreuung entzieht e<strong>in</strong>em Menschen ke<strong>in</strong>e Rechte, sondern beschränkt<br />

sich im Wesentlichen darauf, wichtige Entscheidungen geme<strong>in</strong>sam mit ihm<br />

oder für ihn zu treff en, die er aufgr<strong>und</strong> se<strong>in</strong>er Erkrankung oder Beh<strong>in</strong>derung<br />

nicht mehr übernehmen kann . Das Gericht beschränkt die Aufgabenfelder<br />

der gesetzlichen Betreuer, die meist Ehepartner oder K<strong>in</strong>der des Patienten<br />

s<strong>in</strong>d, auf genau beschriebene Wirkungskreise wie »Aufenthaltsbestimmung «,<br />

»Ges<strong>und</strong>heitssorg e« oder »Vermögensverwaltun g«.<br />

In immer weniger Lebensbereichen können die Betroff enen beim Fortschreiten<br />

der Demenz Kompetenz zeigen <strong>und</strong> Unabhängigkeit erleben. Aus


Literatur<br />

297<br />

16<br />

lebenslang erprobten Zuständigkeitsbereichen werden Konfl iktfelder, um die<br />

heft ige Ause<strong>in</strong>andersetzungen geführt werden. Autofahren ist häufi g e<strong>in</strong>e<br />

Aktivität, bei der sich der Demente lange durchsetz t. Für Angehörige ist es<br />

nicht leicht e<strong>in</strong>zuschätzen, ab wann beim Fahren Risiken mit möglicherweise<br />

schwerwiegenden Folgen entstehen, <strong>und</strong> noch schwerer, die gewonnene E<strong>in</strong>sicht<br />

dann auch durchzusetzen. Rechtlich ist die Situation klarer: In e<strong>in</strong>em<br />

Gutachten der B<strong>und</strong>esverkehrsm<strong>in</strong>isteriums <strong>und</strong> des M<strong>in</strong>isteriums für Jugend,<br />

Familie <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit wird e<strong>in</strong>deutig festgestellt, dass Menschen, die<br />

unter e<strong>in</strong>er senilen oder präsenilen Hirnkrankheit leiden, nicht fahrtauglich<br />

s<strong>in</strong>d. Die ärztliche Schweigepfl icht kann dann nach e<strong>in</strong>em Urteil des B<strong>und</strong>esgerichtshofs<br />

gebrochen werden, wenn dies zur Wahrung e<strong>in</strong>es höherwertigen<br />

Rechtsgutes (z. B. Leben, Ges<strong>und</strong>heit) erforderlich ist <strong>und</strong> dieses nicht anders<br />

geschützt werden kann. Daraus ergeben sich für den Arzt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er solchen<br />

schwierigen Situation nach sorgfältiger Güterabwägung klare Handlungsmöglichkeiten.<br />

Angehörige <strong>und</strong> der betreuende Arzt sollten deshalb frühzeitig<br />

auf den Patienten e<strong>in</strong>wirken, um solche Konfl ikte zu vermeiden. Gelegentlich<br />

hilft bei diesem Problem e<strong>in</strong> Appell an das Verantwortungsgefühl des<br />

Patienten als erfahrener Verkehrsteilnehmer.<br />

> Neben e<strong>in</strong>er Vorsorgevollmacht oder e<strong>in</strong>er Betreuungsverfügung<br />

können <strong>in</strong> ges<strong>und</strong>en Tagen oder zu Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er Demenzerkrankung<br />

auch Wünsche niedergeschrieben werden, die dann, wenn die<br />

Fähigkeit zu e<strong>in</strong>er bewussten Willensäußerung verlorengeht, Beachtung<br />

fi nden sollen. In e<strong>in</strong>er sogenannten Patientenverfügung kann<br />

beispielsweise der Wunsch festgehalten werden, im Endstadium e<strong>in</strong>er<br />

schweren Erkrankung auf Maßnahmen zu verzichten, die nur e<strong>in</strong>e<br />

Sterbens- oder Leidensverlängerung zur Folge haben.<br />

Literatur<br />

<strong>Förstl</strong> H, Bickel H, Kurz A, Borasio GD (2010) Sterben mit Demenz. Versorgungssituation <strong>und</strong><br />

palliativmediz<strong>in</strong>ischer Ausblick. Fortschr Neurol Psychiatr 78: 203–122.<br />

Molyneux GJ, McCarthy GM, McEniff S et al (2008) Prevalence and predictors of carer burden<br />

and depression <strong>in</strong> carers of patients referred to an old age psychiatric service. Int Psychogeriatr<br />

20: 1193–1202<br />

Powell J (2009) Hilfen zur Kommunikation bei Demenz, 4. Aufl . Kuratorium Deutsche Altershilfe,<br />

Köln<br />

Schwarz G (2009) Basiswissen: Umgang mit demenzkranken Menschen. Psychiatrie-Verlag,<br />

Bonn


16<br />

298 Kapitel 16 · Rationelle Beratung<br />

Literaturempfehlungen für Angehörige<br />

Alzheimer Europe (<strong>Hrsg</strong>) (1999) Handbuch der Betreuung <strong>und</strong> Pfl ege von Alzheimer-Patienten.<br />

Thieme, Stuttgart<br />

Niemann-Mirmehdi M, Mahlberg R (2003) Alzheimer – Was tun, wenn die Krankheit beg<strong>in</strong>nt?<br />

TRIAS Verlag, Stuttgart<br />

Crawley H (2005) Essen <strong>und</strong> Tr<strong>in</strong>ken bei Demenz. Kuratorium Deutsche Altershilfe, Köln<br />

Flemm<strong>in</strong>g D (2003) Mutbuch für pfl egende Angehörige <strong>und</strong> professionell Pfl egende altersverwirrter<br />

Menschen. Beltz, We<strong>in</strong>heim<br />

Fuhrmann L, Gutzmann H, Neumann E-M, Niemann-Mirmehdi M (2002) Abschied vom<br />

Ich – Stationen der Alzheimer-Krankheit. Herder, Freiburg<br />

Gutzmann H, Zank S (2005) Demenzielle Erkrankungen. Kohlhammer, Stuttgart<br />

Inoue Y (1990) Me<strong>in</strong>e Mutter. Suhrkamp (Taschenbuch 1775), Frankfurt<br />

Schill<strong>in</strong>ger E (1989) Das Lächeln des Narren. E<strong>in</strong>e Geschichte vom Sterben <strong>und</strong> von der Liebe.<br />

Herder, Freiburg<br />

Vetter P (2009) Selbstbestimmung am Lebensende – Patientenverfügung <strong>und</strong> Vorsorgevollmacht,<br />

2. Aufl . Boorberg Verlag, Stuttgart


Rationelle Therapie<br />

<strong>Hans</strong> Gutzmann <strong>und</strong> Richard Mahlberg<br />

17.1 Kosten-Nutzen-Debatte – 300<br />

17.2 Behandlungsziele – 301<br />

17.3 Basistherapie der Demenz – 301<br />

17.4 Psychopharmakotherapie<br />

des kognitiven Kernsyndroms – 303<br />

17.4.1 Chol<strong>in</strong>erge Therapieansätze – 304<br />

17.4.2 Nichtchol<strong>in</strong>erge Therapieansätze – 305<br />

299<br />

17.5 Psychopharmakotherapie psychischer<br />

Begleitsymptome bei <strong>Demenzen</strong> – 307<br />

17.5.1 Neuroleptika – 307<br />

17.5.2 Antidepressiva – 309<br />

17.5.3 Andere Therapiepr<strong>in</strong>zipien – 311<br />

17.6 Milieu-, Psycho- <strong>und</strong> Soziotherapie – 312<br />

Literatur – 314<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_17,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

17


17<br />

300 Kapitel 17 · Rationelle Therapie<br />

Zum Thema<br />

Dieser Beitrag ist Therapiestrategien gewidmet, die bei <strong>Demenzen</strong> bisher schon<br />

erfolgreich e<strong>in</strong>gesetzt worden s<strong>in</strong>d. Nur im Ausnahmefall sollen auch Ansätze<br />

angesprochen werden, die angesichts unseres aktuellen Wissensstandes zwar als<br />

viel versprechend gelten können, bei denen aber noch die breitere kl<strong>in</strong>ische<br />

Erprobung aussteht. Medikamentöse <strong>und</strong> nichtmedikamentöse Strategien werden<br />

<strong>in</strong> der Darstellung gleichermaßen berücksichtigt. Da sich das kl<strong>in</strong>ische Bild<br />

demenzieller Erkrankungen nicht auf kognitive E<strong>in</strong>bußen beschränkt, werden<br />

auch Interventionen dargestellt, die auf nichtkognitive Störungen zielen.<br />

17.1 Kosten-Nutzen-Debatte<br />

In Deutschland hat das Institut für Qualität <strong>und</strong> Wirtschaft lichkeit im Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

(IQWiG) e<strong>in</strong>e moderat positive E<strong>in</strong>schätzung zur Wirksamkeit der<br />

Chol<strong>in</strong>esterasehemmer Donepezil, Galantam<strong>in</strong> <strong>und</strong> Rivastigm<strong>in</strong> abgegeben<br />

(IQWiG 2007). Trotzdem ist die Diskussion um den E<strong>in</strong>satz von Antidementiva<br />

weiterh<strong>in</strong> voll im Gange. Wenn bei der öff entlichen Diskussion über die<br />

Th erapie dementer Patienten zunehmend Kostenargumente als evaluatives<br />

Hauptkriterium <strong>in</strong> den Vordergr<strong>und</strong> gestellt werden, so ist es der Ehrlichkeit<br />

geschuldet, von e<strong>in</strong>er drohenden Rationierungsdebatte zu sprechen. Es wäre<br />

fatal, wenn dabei e<strong>in</strong>e diskrim<strong>in</strong>ierende E<strong>in</strong>stellung gegenüber älteren Menschen<br />

(»Ageismus«) <strong>und</strong> die immer noch zu beobachtende fatalistische E<strong>in</strong>stellung<br />

gegenüber kognitiven E<strong>in</strong>bußen im Alter wesentlich zur Entscheidungsfi<br />

ndung beitragen würden. Methodisch fehlerhaft e Untersuchungen,<br />

wie z. B. die AD 2000 Studie (Courtney et al. 2004), dürfen vor diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong><br />

nicht unkritisch aufgenommen werden. Ebenso steht es mit der<br />

Empfehlung des National Institute for Health and Cl<strong>in</strong>ical Excellence (NICE),<br />

die die Wirksamkeit e<strong>in</strong>zelner Antidementiva zwar nicht bestreiten, jedoch<br />

ke<strong>in</strong> angemessenes Verhältnis zwischen Kosten <strong>und</strong> Wirkung sehen. Die Th erapiekosten<br />

e<strong>in</strong>er pharmakologischen antidementiven Behandlung liegen <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Größenordnung, wie sie nicht wenige Patienten <strong>in</strong> frei verkäufl iche, aber<br />

wirkungsarme Arzneimittel <strong>in</strong>vestieren.<br />

Angesichts des Tempos des mediz<strong>in</strong>ischen Fortschritts müssen das Machbare<br />

ebenso wie das F<strong>in</strong>anzierbare immer wieder aufs Neue <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em off enen<br />

gesellschaft lichen Diskurs entlang ethisch plausibler Kriterien bestimmt werden.


17.3 · Basistherapie der Demenz<br />

17.2 Behandlungsziele<br />

301<br />

17<br />

Das Ziel aller therapeutischen Bemühungen bei <strong>Demenzen</strong> besteht derzeit <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er symptomatischen L<strong>in</strong>derung der Leistungse<strong>in</strong>buße <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Verbesserung<br />

der Lebensqualität der Patienten <strong>und</strong> ihrer Angehörigen (. Tab. 17.1) .<br />

Das Ziel e<strong>in</strong>er Sek<strong>und</strong>ärprävention ist lediglich die Verzögerung des Verlaufs.<br />

Untersuchungen zeigen, dass beispielsweise die Aufnahme <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Pfl egeheim<br />

durch e<strong>in</strong>e geeignete Intervention – sei sie pharmakologischer Natur (Geldmacher<br />

et al. 2003) oder aber primär auf die Stärkung der Pfl egekompetenz<br />

von Angehörigen gerichtet (Mittelman et al. 1996) – bis zu e<strong>in</strong>em Jahr verzögert<br />

werden kann. Von e<strong>in</strong>er Primärprävention kann aber wohl noch lange<br />

nicht die Rede se<strong>in</strong>. Dies gilt <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie für die Alzheimer-Demenz (AD)<br />

<strong>und</strong> für seltenere primär degenerative <strong>Demenzen</strong>. Vaskuläre <strong>Demenzen</strong> s<strong>in</strong>d<br />

über die Bee<strong>in</strong>fl ussung vaskulärer Pathologie oder die Kontrolle vaskulärer<br />

Risikofaktoren h<strong>in</strong>sichtlich therapeutischer Interventionen möglicherweise<br />

günstiger zu beurteilen (Sturmer et al. 1996). Im Bereich der Endstrecke des<br />

Syndroms »Demenz« dürft en die therapeutischen Ansätze jedoch nicht mehr<br />

so stark diff erieren. Gr<strong>und</strong>voraussetzung für den Erfolg aller Behandlungsansätze<br />

ist e<strong>in</strong> therapeutisches Gesamtkonzept, das von Arzt, Angehörigen <strong>und</strong><br />

dem Patienten selbst gleichermaßen getragen wird. Es sollte sich nicht nur auf<br />

die Bee<strong>in</strong>fl ussung der kognitiven Kompetenz beschränken, sondern sich vielmehr<br />

ebenfalls auf die Optimierung basaler Parameter <strong>und</strong> die Intervention<br />

bei Verhaltensauff älligkeiten richten.<br />

> Für alle bei demenziellen Erkrankungen auftretenden Kern- <strong>und</strong><br />

Begleitsyndrome steht neben pharmakologischen Therapiemöglichkeiten<br />

pr<strong>in</strong>zipiell auch e<strong>in</strong>e nichtmedikamentöse Behandlungsalternative<br />

bzw. -ergänzung zur Verfügung.<br />

17.3 Basistherapie der Demenz<br />

Lange wurde vermutet, dass Patienten mit Demenz e<strong>in</strong>e überdurchschnittliche<br />

körperliche Ges<strong>und</strong>heit aufweisen. Wahrsche<strong>in</strong>licher sche<strong>in</strong>t aber <strong>in</strong>zwischen,<br />

dass sie häufi g nur gesünder wirken, weil sie somatische Symptome<br />

seltener mitteilen (oder mitzuteilen <strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d) als ihre nichtdementen<br />

Altersgenossen (McCormick et al. 1994). Umso größer ist also die Verantwortung<br />

des behandelnden Arztes. Bei der <strong>in</strong>ternistischen Behandlung s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>s-


17<br />

302 Kapitel 17 · Rationelle Therapie<br />

. Tab. 17.1 Zielsyndrome <strong>und</strong> Interventionsstrategien<br />

Syndrom Nichtmedikamentös (Beispiele) Medikamentös (Beispiele)<br />

Basisfunktionen<br />

Prothetische Umgebung,<br />

Stützung erhaltener Funktionen,<br />

Kont<strong>in</strong>enztra<strong>in</strong><strong>in</strong>g, Ernährung<br />

Kognition Alltagstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g, ROT Antidementiva<br />

Depression Stützend: ET, SET Antidepressiva<br />

Paranoid Stabilisierende MT, E<strong>in</strong>deutigkeit Neuroleptika<br />

Unruhe Tagesstrukturierung, basale<br />

Stimulation, Validation,<br />

Psychoedukation der Pflegenden<br />

Angst Verhaltenstherapie, E<strong>in</strong>deutigkeit<br />

<strong>in</strong> der Kommunikation,<br />

Orientierungshilfen<br />

Schlaf-Wach-<br />

Rhythmus<br />

Tagesstrukturierung , Lichtregie ,<br />

Aktivitätsförderung<br />

Medikamentöse Intervention<br />

kritisch prüfen (z. B. Elektrolyte,<br />

Schilddrüsenfunktion, RR,<br />

Zuckerstoffwechsel)<br />

Neuroleptika, Carbamazep<strong>in</strong><br />

Neuroleptika, SSRI<br />

Clomethiazol, Melaton<strong>in</strong><br />

ET Er<strong>in</strong>nerungstherapie , ROT Realitätsorientierungstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g , SET Selbsterhaltungstherapie<br />

, MT Milieutherapie , SSRI selektive Seroton<strong>in</strong>wiederaufnahmehemmer.<br />

besondere Defi zite im Wasser- <strong>und</strong> Elektrolythaushalt auszugleichen. Andere<br />

metabolische Defi zite, etwa beim Zuckerstoff wechsel, sollten befriedigend<br />

e<strong>in</strong>gestellt werden, da sonst e<strong>in</strong>e massive Verschlechterung der zerebralen Reservekapazität<br />

droht. E<strong>in</strong>e häufi ge Ursache von Phasen längerfristiger psychomotorischer<br />

Unruhe oder Angst s<strong>in</strong>d Fehlfunktionen der Schilddrüse . Nach<br />

ihnen gilt es gezielt zu fahnden, bevor e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>adäquate Medikation (z. B. Tranquilizer)<br />

selbst zusätzlich neue Probleme für die Patienten aufwirft ! Ebenfalls<br />

e<strong>in</strong>e kritische Größe stellt der Blutdruck dar. Schließlich ist bei e<strong>in</strong>er auf e<strong>in</strong>e<br />

gleichzeitig bestehende Erkrankung zielenden Komedikation auf off ene oder<br />

versteckte Antichol<strong>in</strong>ergika (z. B. auch Mydriatika) zu achten, die ihrerseits<br />

die kognitive Leistung zusätzlich e<strong>in</strong>schränken können <strong>und</strong> gleichzeitig e<strong>in</strong><br />

erhöhtes Delirrisiko bergen. E<strong>in</strong> weiteres Störfeld im Zusammenhang mit der


17.4 · Psychopharmakotherapie des Kernsyndroms<br />

303<br />

17<br />

Basistherapie bei Demenz s<strong>in</strong>d Probleme im Umfeld von Miktion <strong>und</strong> Defäkation.<br />

Nicht selten s<strong>in</strong>d es Inkont<strong>in</strong>enzprobleme, die den Patienten von der<br />

gesellschaft lichen Teilhabe ausschließen <strong>und</strong> nicht die kognitive E<strong>in</strong>buße. E<strong>in</strong><br />

Kont<strong>in</strong>enztra<strong>in</strong><strong>in</strong>g kann auch bei dementen Patienten mit Aussicht auf Erfolg<br />

durchgeführt werden. Neben der erwähnten ausreichenden Flüssigkeitszufuhr<br />

ist e<strong>in</strong>e ballaststoff -, kohlenhydrat- <strong>und</strong> vitam<strong>in</strong>reiche Ernährung anzustreben.<br />

17.4 Psychopharmakotherapie<br />

des kognitiven Kernsyndroms<br />

Parallel zu den Fortschritten bei der Entwicklung e<strong>in</strong>er evidenzbasierten Mediz<strong>in</strong><br />

s<strong>in</strong>d die Zulassungsvoraussetzungen für Pharmaka <strong>in</strong> Deutschland<br />

deutlich anspruchsvoller geworden. Aus früheren Zeiten ist e<strong>in</strong>e Reihe von<br />

Präparaten für die Behandlung von Demenzerkrankungen zugelassen, die<br />

diesen neuen Kriterien nicht entsprechen. Wir werden daher im Folgenden <strong>in</strong><br />

erster L<strong>in</strong>ie über die nach neuesten Richtl<strong>in</strong>ien zugelassenen Medikamente<br />

berichten (. Tab. 17.2). Derzeit s<strong>in</strong>d die Acetylchol<strong>in</strong>esterasehemmer für die<br />

Behandlung der leichten bis mittelschweren Alzheimer-Demenz zugelassen,<br />

Memant<strong>in</strong> für mittelschwere bis schwere Alzheimer-Demenz. Erweiterungen<br />

der Zulassungen z. B. für vaskuläre Demenz oder Demenz bei Morbus Park<strong>in</strong>son<br />

stehen für verschiedene Präparate aus. Weiterh<strong>in</strong> muss angemerkt<br />

werden, dass die meisten Antidementiva entweder für die Alzheimer-Demenz<br />

oder für Demenzerkrankungen ohne nosologische E<strong>in</strong>schränkung untersucht<br />

wurden. Lediglich für <strong>Demenzen</strong> bei Morbus Park<strong>in</strong>son (Rivastigm<strong>in</strong>) <strong>und</strong><br />

vaskuläre Demenz (Memant<strong>in</strong>) gibt es ausreichende Evidenzen, die hiervon<br />

abweichen. Man geht heute davon aus, dass zum<strong>in</strong>dest die Alzheimer-Demenz,<br />

vaskuläre <strong>Demenzen</strong> <strong>und</strong> <strong>Demenzen</strong> mit Lewy-Körperchen , die geme<strong>in</strong>sam<br />

ca. 90% aller Demenzerkrankungen ausmachen, <strong>in</strong> vergleichbarer<br />

Weise durch Antidementiva mit h<strong>in</strong>länglichem Wirkungsnachweis profi tieren.<br />

Für die Gruppe der frontotemporalen <strong>Demenzen</strong> triff diese Aussage nicht<br />

zu. In Ermangelung schlüssiger Studien können hier ke<strong>in</strong>e gesonderten Empfehlungen<br />

ausgesprochen werden.


17<br />

304 Kapitel 17 · Rationelle Therapie<br />

. Tab. 17.2 Medikamentöse Interventionen (kognitiv)<br />

Substanz Dosierung (mg/Tag) Wichtige UAW<br />

Donepezil 5–10 Alle: gastro<strong>in</strong>test<strong>in</strong>ale Beschwerden,<br />

Unruhezustände, Schw<strong>in</strong>del<br />

Galantam<strong>in</strong> 8–16 –<br />

Rivastigm<strong>in</strong> 3–12 –<br />

Memant<strong>in</strong> 20 Unruhe, Schw<strong>in</strong>del, Übelkeit<br />

G<strong>in</strong>kgo-Biloba-Extrakt 120–240 Ke<strong>in</strong>e Unterschiede zu Plazebo<br />

Vitam<strong>in</strong> E 400–800 Gastro<strong>in</strong>test<strong>in</strong>ale Beschwerden<br />

Vitam<strong>in</strong> C 500–1000 Cave! Oxalat-Urolithiasis<br />

UAW unerwünschte Arzneimittelwirkung.<br />

17.4.1 Chol<strong>in</strong>erge Therapieansätze<br />

Auch wenn bei der Alzheimer-Demenz noch wenig über die Ursachen gesagt<br />

werden kann, so ist gut belegt, dass der Grad kognitiver E<strong>in</strong>bußen <strong>und</strong> das<br />

Ausmaß neuropathologischer Auff älligkeiten mit den Insuffi zienzen chol<strong>in</strong>erger<br />

Funktionen korrelieren. Chol<strong>in</strong>erge Th erapiestrategien zielen auf e<strong>in</strong>e<br />

Substitution dieses Defi zits. Die Wirkstoff gruppe der Acetylchol<strong>in</strong>esterasehemmer<br />

stellt drei der <strong>in</strong>sgesamt vier Medikamente der ersten Wahl zur Behandlung<br />

von <strong>Demenzen</strong> zur Verfügung. Hierbei s<strong>in</strong>d die drei Wirkstoff e<br />

Donepezil, Galantam<strong>in</strong> <strong>und</strong> Rivastigm<strong>in</strong> als gleichwertig h<strong>in</strong>sichtlich ihrer<br />

Wirkung auf Kognition, Alltagsaktivitäten <strong>und</strong> Verhaltensauff älligkeiten anzusehen<br />

(IQWiG 2007, Birks 2006). Bisher wurde nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Studie e<strong>in</strong> Vergleich<br />

zwischen zwei Acetylchol<strong>in</strong>esterasehemmern gezogen, bei dem sich<br />

alle<strong>in</strong> h<strong>in</strong>sichtlich der Verträglichkeit Unterschiede darstellten. Patienten klagen<br />

bei Acetylchol<strong>in</strong>esterasehemmern zu Beg<strong>in</strong>n nicht selten (10%) über<br />

Übelkeit <strong>und</strong> andere gastro<strong>in</strong>test<strong>in</strong>ale Beschwerden, wobei Rivastigm<strong>in</strong> im<br />

Vergleich zu Donepezil etwas schlechter verträglich zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t.


17.4 · Psychopharmakotherapie des Kernsyndroms<br />

305<br />

17<br />

Die Wirksamkeit ist v. a. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Verzögerung der weiteren Krankheitsprogredienz<br />

zu sehen. In der Regel folgt <strong>in</strong> den Studien e<strong>in</strong>em anfänglichen<br />

Th erapieeff ekt e<strong>in</strong> kognitiver Abbau, der <strong>in</strong> Umfang <strong>und</strong> Geschw<strong>in</strong>digkeit der<br />

Progredienz etwa dem der Kontrollen entspricht. Es kann also von e<strong>in</strong>em<br />

durch die Th erapie bewirkten Zeitgew<strong>in</strong>n gesprochen werden. Derzeit wird<br />

dieser Eff ekt auf e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>- bis zweijährige Verzögerung geschätzt. Das negativ<br />

formulierte Th erapieziel (»Verzögerung e<strong>in</strong>er Verschlechterung«), lässt nicht<br />

nur Patienten <strong>und</strong> Angehörige oft unbefriedigt, sondern frustriert auch die<br />

behandelnden Ärzte, die zudem ihr Arzneimittelbudget im Auge haben. So<br />

wird häufi g diese nachweislich wirksame Pharmakotherapie vorzeitig abgebrochen<br />

oder gar den Patienten gänzlich vorenthalten. Als Faustregel sollte<br />

aber gelten, dass e<strong>in</strong>e Th erapie so lange fortgesetzt wird, wie e<strong>in</strong> Th erapieerfolg<br />

im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Verzögerung der Progredienz nachweisbar ist. Manche Nebenwirkungen<br />

treten wahrsche<strong>in</strong>lich spezifi sch für e<strong>in</strong>e Substanz <strong>und</strong> nicht für<br />

die Gesamtgruppe der Chol<strong>in</strong>esterasehemmer auf. Deshalb kann e<strong>in</strong> Wechsel<br />

zwischen zwei Medikamenten dieser Gruppe im E<strong>in</strong>zelfall s<strong>in</strong>nvoll se<strong>in</strong>.<br />

17.4.2 Nichtchol<strong>in</strong>erge Therapieansätze<br />

Auch für den NMDA-Modulator Memant<strong>in</strong> liegen Wirksamkeitsbelege auf<br />

der Basis von Studien vor, die aktuellen Standards genügen. Bemerkenswert<br />

ist, dass für diese Substanz auch e<strong>in</strong> Wirksamkeitsnachweis bei schweren <strong>Demenzen</strong><br />

erbracht werden konnte. Beschrieben ist e<strong>in</strong>e günstige Bee<strong>in</strong>fl ussung<br />

sowohl des Antriebs <strong>und</strong> der Vigilanz als auch der Kognition sowie des Essverhaltens,<br />

wobei Kl<strong>in</strong>iker e<strong>in</strong>en relativ raschen Wirkungse<strong>in</strong>tritt beobachten.<br />

Als häufi gste Nebenwirkungen werden Unruhe <strong>und</strong> Schw<strong>in</strong>delzustände berichtet.<br />

Die E<strong>in</strong>schätzung des IQWiG sieht allerd<strong>in</strong>gs nur <strong>in</strong> wenigen Bereichen<br />

e<strong>in</strong>en Nutzen von Memant<strong>in</strong> <strong>und</strong> stellt <strong>in</strong>sgesamt e<strong>in</strong>e negative Bewertung<br />

aus (IQWiG 2009a).<br />

Freie Radikale vermögen als Stoff wechselprodukte des Sauerstoff s Zellmembranen<br />

<strong>und</strong> vergleichbare Strukturen zu schädigen. Sie werden bei <strong>Demenzen</strong><br />

als ursächlich bedeutsam diskutiert. Antioxidative Substanzen sollen<br />

hier als Schutzfaktoren e<strong>in</strong>greifen. Deshalb wurde die Gabe von Radikalfängern<br />

wie den Vitam<strong>in</strong>en A, C <strong>und</strong> E sowohl unter prophylaktischen als auch unter<br />

therapeutischen Gesichtspunkten empfohlen. Insbesondere für Vitam<strong>in</strong> E wurde<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnen Studien e<strong>in</strong> primär präventiver Eff ekt auf die Entwicklung der


17<br />

306 Kapitel 17 · Rationelle Therapie<br />

Alzheimer-Demenz gef<strong>und</strong>en. Trotz des theoretisch plausiblen Wirkungsmechanismus<br />

reicht die Studienlage jedoch nicht für e<strong>in</strong>e Empfehlung aus.<br />

Die Wirksamkeit von G<strong>in</strong>kgo Biloba , die <strong>in</strong> früheren Jahren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Fülle<br />

methodisch nicht zufrieden stellender Studien beschrieben worden war, zeigt<br />

sich <strong>in</strong> drei aktuellen <strong>und</strong> methodisch anspruchsvolleren Arbeiten widersprüchlich.<br />

Trotzdem gibt das IQWiG e<strong>in</strong>e moderat positive Empfehlung für<br />

G<strong>in</strong>kgo Biloba ab <strong>und</strong> verweist auf positive Eff ekte für das Th erapieziel »Aktivitäten<br />

des täglichen Lebens« <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er hohen Dosierung von 240 mg/Tag<br />

(IQWiG 2008). Es wird allerd<strong>in</strong>gs auch auf e<strong>in</strong>e höhere Nebenwirkungsrate<br />

im Vergleich mit Plazebo h<strong>in</strong>gewiesen.<br />

Die <strong>in</strong> epidemiologischen Studien aufgefallene neuroprotektive Wirkung<br />

von Östrogenen hat <strong>in</strong> ihrer therapeutischen Umsetzung bei der Alzheimer-<br />

Demenz enttäuscht. Auch die ebenfalls aus epidemiologischen Bef<strong>und</strong>en geschöpft<br />

en Hoff nungen auf mögliche therapeutische Eff ekte der nichtsteroidalen<br />

Antirheumatika sowie der Stat<strong>in</strong>e harren der therapeutischen E<strong>in</strong>lösung.<br />

Aufgr<strong>und</strong> der unterschiedlichen Wirkmechanismen der Acetylchol<strong>in</strong>esterasehemmer<br />

auf der e<strong>in</strong>en <strong>und</strong> von Memant<strong>in</strong> auf der anderen Seite sche<strong>in</strong>t<br />

e<strong>in</strong>e Komb<strong>in</strong>ation beider Substanzgruppen s<strong>in</strong>nvoll zu se<strong>in</strong>. Hierzu laufen<br />

Untersuchungen, deren Ergebnisse mit Spannung erwartet werden. Ob e<strong>in</strong>e<br />

Komb<strong>in</strong>ation anderer Interventionsstrategien <strong>in</strong> der Zukunft die therapeutischen<br />

Resultate br<strong>in</strong>gt, die man sich unter theoretischen Aspekten von ihr<br />

erwarten könnte, ist off en. Für e<strong>in</strong> solches Vorgehen spricht die E<strong>in</strong>schätzung,<br />

dass es sich bei demenziellen Prozessen, auch bei der Alzheimer-Demenz, um<br />

multifaktorielle Geschehen handelt, sowie die daraus abgeleitete Annahme,<br />

dass alle bisher geschilderten therapeutischen Ansätze für sich nur jeweils e<strong>in</strong>en<br />

sehr begrenzten Teil des komplexen Krankheitsgeschehens bee<strong>in</strong>fl ussen<br />

können. Bisherige Studien haben zunächst nur H<strong>in</strong>weise auf weiteren Forschungsbedarf<br />

<strong>und</strong> noch nicht auf e<strong>in</strong> gültiges Th erapiekonzept ergeben.<br />

> Es gibt sehr große <strong>in</strong>ter<strong>in</strong>dividuelle Differenzen bezüglich Wirksamkeit<br />

<strong>und</strong> Nebenwirkungen. Beim derzeitigen Stand unseres Wissens<br />

sche<strong>in</strong>t es gerechtfertigt, antidementiv wirksame Substanzen gezielt<br />

e<strong>in</strong>zusetzen, wenn nach e<strong>in</strong>er sorgfältigen Diagnostik e<strong>in</strong>e verlässliche<br />

Therapiekontrolle gewährleistet ist. Auch e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>ggradige<br />

Verbesserung kann aus Sicht der Angehörigen <strong>und</strong> der Patienten<br />

von großer praktischer Bedeutung se<strong>in</strong>. Für die optimale Wirkung<br />

jeglicher medikamentösen Behandlung ist die E<strong>in</strong>bettung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />

strukturierten therapeutischen Kontext unverzichtbar.


17.5 · Psychopharmakotherapie<br />

307<br />

17.5 Psychopharmakotherapie psychischer<br />

Begleitsymptome bei <strong>Demenzen</strong><br />

17<br />

Nichtkognitive Störungen bei Patienten mit Demenz s<strong>in</strong>d außerordentlich<br />

häufi g. Sie s<strong>in</strong>d weniger eng mit den strukturellen Veränderungen verknüpft<br />

als die kognitiven E<strong>in</strong>bußen <strong>und</strong> refl ektieren eher die pathologischen Verarbeitungsmechanismen<br />

des von der Demenz betroff enen Individuums. Psychomotorische<br />

Unruhe gilt als bedeutsamster E<strong>in</strong>zelfaktor, der das Verbleiben<br />

<strong>in</strong> häuslicher Umgebung <strong>in</strong>frage stellt. Wahnsymptome <strong>und</strong> depressive Verstimmungen<br />

s<strong>in</strong>d demgegenüber etwas seltener, treten zudem eher episodisch<br />

<strong>und</strong> nicht als langzeitige Befi ndlichkeitsänderungen <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung. Die Th erapieeff<br />

ekte medikamentöser Interventionen erweisen sich allerd<strong>in</strong>gs bei metaanalytischer<br />

Betrachtung als nur begrenzt (S<strong>in</strong>k et al. 2005). Im Folgenden<br />

sollen wesentliche Psychopharmakagruppen <strong>und</strong> ihre Wirkung <strong>in</strong> Bezug auf<br />

diese Problemfelder bei dementen Patienten dargestellt <strong>und</strong> diskutiert werden.<br />

In . Tab. 17.3 wird e<strong>in</strong>e kurze Übersicht zu häufi g benutzten Substanzen<br />

gegeben.<br />

17.5.1 Neuroleptika<br />

Die Behandlungsnotwendigkeit von psychotischen Phänomenen richtet sich<br />

<strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie nach ihrem subjektiven Stellenwert für den Patienten bzw. nach<br />

den hieraus folgenden Verhaltensproblemen mit Konsequenzen für die Betreuung.<br />

Als Indikationsschwerpunkte für Neuroleptika gelten im gegebenen<br />

Zusammenhang Agitiertheit /psychomotorische Erregtheit, aggressives Verhalten,<br />

produktiv-psychotische Zustandsbilder <strong>und</strong> Schlafstörungen . Die<br />

Th erapie sollte im Wesentlichen an den Nebenwirkungen <strong>und</strong> nicht an den<br />

Erfolgen e<strong>in</strong>er forcierten Symptombee<strong>in</strong>fl ussung orientiert werden.<br />

Typische Neuroleptika s<strong>in</strong>d bei dementen Patienten sehr gut untersucht.<br />

Für sie ist <strong>in</strong>sgesamt e<strong>in</strong> mittelgradig ausgeprägter Eff ekt <strong>in</strong> diesem Indikationsgebiet<br />

belegt, der etwa <strong>in</strong> der Größenordnung von 15–20% gegenüber<br />

Plazebo angesiedelt ist (Schneider u. Pollock 1990). Bei dieser Patientengruppe<br />

ist der E<strong>in</strong>satz typischer Neuroleptika allerd<strong>in</strong>gs nicht unproblematisch, da<br />

vermehrt extrapyramidalmotorische Störungen auft reten können, die als Park<strong>in</strong>sonoid<br />

mit e<strong>in</strong>em erhöhten Sturzrisiko verb<strong>und</strong>en s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong> besonderes<br />

Problem stellen im Alter zudem tardive Dysk<strong>in</strong>esien dar. Bei Patienten mit


17<br />

308 Kapitel 17 · Rationelle Therapie<br />

. Tab. 17.3 Medikamentöse Interventionen (nichtkognitiv)<br />

Substanzgruppe Beispiele Dosierung (mg)<br />

Neuroleptika Risperidon 0,5–2<br />

Antidepressiva Moclobemid<br />

SSRI (z. B. Citalopram)<br />

Antikonvulsiva Carbamazep<strong>in</strong><br />

Valproat<br />

Anxiolytika Buspiron<br />

Oxazepam<br />

300–600<br />

10–40<br />

100–300<br />

500–1000<br />

10–45<br />

20–80<br />

Andere Clomethiazol 200–400 (bis 1000)<br />

e<strong>in</strong>er zerebralen Vorschädigung ist auch die Senkung der Krampfschwelle<br />

durch Neuroleptika zu bedenken. Bei <strong>Demenzen</strong> vom Lewy-Körperchen-Typ<br />

s<strong>in</strong>d typische Neuroleptika zudem strikt kontra<strong>in</strong>diziert.<br />

Atypische Neuroleptika ersche<strong>in</strong>en bei dementen Patienten vorteilhaft er .<br />

Der E<strong>in</strong>satz von Clozap<strong>in</strong> als ältestem Vertreter dieser Gruppe dürft e allerd<strong>in</strong>gs<br />

problematischen Situationen vorbehalten se<strong>in</strong>, da se<strong>in</strong>e erhebliche antichol<strong>in</strong>erge<br />

– <strong>und</strong> damit auch deliriogene – Potenz besondere Aufmerksamkeit<br />

erfordert . Risperidon ist h<strong>in</strong>sichtlich se<strong>in</strong>er Th erapieeff ekte <strong>in</strong> dem hier<br />

diskutierten Indikationsgebiet das am besten untersuchte Neuroleptikum<br />

(Doody et al. 2001) <strong>und</strong> hat sich als erfolgreich bei Verhaltensstörungen im<br />

Rahmen von <strong>Demenzen</strong> unterschiedlicher Ätiologie erwiesen.<br />

In den letzten Jahren wurden für verschiedene Präparate offi zielle Warnungen<br />

ausgesprochen, da bei dementen Patienten unter Th erapie mit atypischen<br />

Neuroleptika vermehrt kardiovaskuläre Ereignisse mit Todesfolge<br />

aufgetreten waren (Ballard et al. 2006). Auch wenn für zwei Atypika (Olanzap<strong>in</strong><br />

<strong>und</strong> Risperidon) e<strong>in</strong> vergleichbar erhöhtes Risikopotenzial ermittelt wurde,<br />

könnte es sich um e<strong>in</strong> Risiko handeln, das alle Neuroleptika als Gruppe<br />

teilen. E<strong>in</strong>e Verm<strong>in</strong>derung dieses Risikos kann nur durch e<strong>in</strong>e strikte Kontrolle<br />

der vaskulären Risikofaktoren erzielt werden. Dazu zählen: Bluthochdruck,<br />

Erkrankungen der Herzkranzgefäße, Schlaganfall, transiente ischämische Attacke<br />

(TIA), Diabetes, Sichelzellanämie, Nikot<strong>in</strong>abusus, erhöhte Blutfette, erhöhter<br />

Hämatokrit. Natürlich zählt auch e<strong>in</strong>e vaskuläre Demenz zu den hier


17.5 · Psychopharmakotherapie<br />

309<br />

17<br />

zu benennenden Risikokonstellationen. Auf zerebrovaskuläre Ereignisse muss<br />

bei der Gabe aller Neuroleptika – also nicht nur der Atypika – sorgfältig geachtet<br />

werden. Der schwer kranke Patient, der sich oder se<strong>in</strong>e Umgebung<br />

durch aggressives Verhalten gefährdet oder der durch psychotische Symptome<br />

bei Demenz erheblich bee<strong>in</strong>trächtigt ist, kann aber weiter neuroleptisch behandelt<br />

werden, wenn die vaskulären Risikofaktoren sorgfältig kontrolliert<br />

werden. E<strong>in</strong>e therapeutische Strategie kann wegen des rascheren Wirkungse<strong>in</strong>tritts<br />

<strong>in</strong> der <strong>in</strong>itialen Gabe e<strong>in</strong>es trizyklischen Neuroleptikums wie Haloperidol<br />

bestehen, das dann überlappend von e<strong>in</strong>em atypischen Neuroleptikum,<br />

etwa dem e<strong>in</strong>zigen <strong>in</strong> Deutschland <strong>in</strong> dieser Indikation zugelassenen Risperidon,<br />

abgelöst wird.<br />

Bei den niedrigpotenten Neuroleptika steht die sedierende Wirkung im<br />

Vordergr<strong>und</strong>. Sie werden daher bei psychomotorischen Unruhe- <strong>und</strong> Erregungszuständen,<br />

bei aggressiven Verhaltensweisen <strong>und</strong> Insomnie , gelegentlich<br />

auch bei Angststörungen e<strong>in</strong>gesetzt. Sie weisen aber e<strong>in</strong>e höhere Rate an<br />

vegetativen (M<strong>und</strong>trockenheit, Obstipation) <strong>und</strong> kardiovaskulären (Hypotension)<br />

Nebenwirkungen auf als hochpotente Neuroleptika.<br />

> Bei der Gabe von Neuroleptika muss stets bedacht werden, dass<br />

es zwar zahlreiche Daten zu unterschiedlichsten Langzeitschäden,<br />

allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>e zum Langzeitnutzen dieser Substanzgruppe bei<br />

Dementen gibt. Etwa alle 3–6 Monate sollte daher e<strong>in</strong>e kritische<br />

Evaluation der Indikation erfolgen. Alle Neuroleptika können, wenn<br />

es die kl<strong>in</strong>ische Situation erfordert, mit Antidementiva komb<strong>in</strong>iert<br />

werden. Allerd<strong>in</strong>gs ist bei Unruhezuständen stets zu prüfen, ob diese<br />

nicht selbst als unerwünschte Wirkung des Antidementivums anzusehen<br />

s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> ob deshalb nicht vor der Gabe e<strong>in</strong>es Neuroleptikums<br />

e<strong>in</strong>e entsprechende Dosisanpassung zu erfolgen hat.<br />

17.5.2 Antidepressiva<br />

Die depressiven Störungen im Rahmen von <strong>Demenzen</strong> werden medikamentös<br />

nach den gleichen Richtl<strong>in</strong>ien behandelt wie vergleichbare Syndrome bei<br />

Nichtdementen . Die Orientierung am Nebenwirkungsspektrum der <strong>in</strong>s Auge<br />

gefassten Substanz ist also ebenso zu berücksichtigen wie die Ausgestaltung<br />

des Zielsyndroms.


17<br />

310 Kapitel 17 · Rationelle Therapie<br />

Die selektiven Seroton<strong>in</strong>wiederaufnahmehemmer (SSRI) werden aufgr<strong>und</strong><br />

der ger<strong>in</strong>geren Affi nität zu chol<strong>in</strong>ergen, histam<strong>in</strong>ergen <strong>und</strong> adrenergen<br />

Rezeptoren <strong>und</strong> dem daraus resultierenden ger<strong>in</strong>geren Risiko für entsprechende<br />

Nebenwirkungen besonders für ältere Patienten vielfach favorisiert.<br />

Die am besten untersuchte Substanz ist hier Citalopram , e<strong>in</strong>e ähnliche Wirksamkeit<br />

der übrigen SSRI ist jedoch zu vermuten. Am häufi gsten klagen Patienten,<br />

die mit diesen Substanzen behandelt werden, <strong>in</strong>itial über gastro<strong>in</strong>test<strong>in</strong>ale<br />

Beschwerden, Kopfschmerzen <strong>und</strong> Schlafstörungen. E<strong>in</strong>e spezifi sche,<br />

wenn auch seltenere Nebenwirkung der SSRI stellt das Seroton<strong>in</strong>syndrom dar<br />

(psychomotorische Unruhe, Tremor, Erbrechen, Delir). Neben den <strong>in</strong>sgesamt<br />

günstigeren Nebenwirkungsspektren spricht die anxiolytische Wirkung der<br />

SSRI für ihre Anwendung bei den oft auch von Angstsymptomen begleiteten<br />

Depressionen dementer Patienten. Auch Substanzen mit anderen Wirkungspr<strong>in</strong>zipien<br />

(z. B. atypische Antidepressiva wie Trazodon , Mirtazap<strong>in</strong> <strong>und</strong> Venlafax<strong>in</strong><br />

oder der reversible MAO-Hemmer Moclobemid ) werden <strong>in</strong> diesem<br />

Indikationsbereich e<strong>in</strong>gesetzt, wobei nicht selten auch Th erapieeff ekte jenseits<br />

der aff ektiven Regulierung beobachtet werden<br />

Wenn trizyklische Antidepressiva bei Dementen – etwa wegen der Schwere<br />

des depressiven Syndroms – e<strong>in</strong>gesetzt werden, sollten Substanzen mit<br />

möglichst ger<strong>in</strong>ger antichol<strong>in</strong>erger Potenz wie Nortriptyl<strong>in</strong> oder Doxep<strong>in</strong> gewählt<br />

werden.<br />

> Die gleichzeitige Gabe von Antidementiva <strong>und</strong> Antidepressiva ist<br />

möglich <strong>und</strong> wird <strong>in</strong> der <strong>Praxis</strong> häufi g durchgeführt. Wichtig ist<br />

dabei, die Dosis der e<strong>in</strong>en Therapiekomponente stabil zu halten,<br />

während die andere Substanz e<strong>in</strong>geschlichen wird. Wird bei e<strong>in</strong>em<br />

bisher unmediz<strong>in</strong>ierten Patienten an e<strong>in</strong>e Behandlung mit beiden<br />

Substanzgruppen gedacht, sollte zunächst mit dem Antidepressivum<br />

begonnen werden, um die mögliche depressiogene kognitive E<strong>in</strong>buße<br />

besser abschätzen zu können. Bei e<strong>in</strong>em Therapieerfolg sollte etwa<br />

nach e<strong>in</strong>em halben Jahr die Notwendigkeit e<strong>in</strong>er Weiterverordnung<br />

kritisch überprüft werden.


17.5 · Psychopharmakotherapie<br />

17.5.3 Andere Therapiepr<strong>in</strong>zipien<br />

311<br />

17<br />

Antidementiva zeigen nicht nur therapeutische Eff ekte <strong>in</strong> Richtung kognitiver<br />

E<strong>in</strong>bußen, sondern bee<strong>in</strong>fl ussen oft auch nichtkognitive Störungen günstig.<br />

Insbesondere für die Acetylchol<strong>in</strong>esterasehemmer , <strong>in</strong> zweiter L<strong>in</strong>ie auch für<br />

Memant<strong>in</strong> , liegen viel versprechende Studienergebnisse vor. Carbamazep<strong>in</strong><br />

<strong>und</strong> Valproat wurden <strong>in</strong> der Indikation psychomotorische Unruhe <strong>und</strong> Aggressivität<br />

bei Patienten mit Demenz erfolgreich e<strong>in</strong>gesetzt, die Studienlage<br />

spricht eher für Carbamazep<strong>in</strong>. β-Blocker haben gelegentlich Eff ekte auf psychomotorische<br />

Unruhe <strong>und</strong> Aggressivität bei dementen Patienten gezeigt. Sofern<br />

ke<strong>in</strong>e somatischen Kontra<strong>in</strong>dikationen vorliegen, kann e<strong>in</strong> entsprechender<br />

Th erapieversuch lohnend se<strong>in</strong>. Benzodiazep<strong>in</strong>e werden wohl noch<br />

immer, trotz der Gefahren e<strong>in</strong>er zusätzlichen E<strong>in</strong>buße an kognitiver Kompetenz,<br />

e<strong>in</strong>er verstärkten Fallneigung, der auch im Alter vorhandenen Gefahr<br />

der Abhängigkeitsentwicklung <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er zu starken Sedierung häufi g bei Patienten<br />

mit Demenz e<strong>in</strong>gesetzt. Sofern für diese Substanzgruppe überhaupt<br />

e<strong>in</strong>e – zeitlich sehr begrenzte! – Indikation besteht, sollten Präparate mit<br />

mittleren Halbwertszeiten <strong>und</strong> ohne aktive Metabolite (z. B. Oxazepam ) e<strong>in</strong>gesetzt<br />

werden. Für Buspiron liegen bei ängstlichen, agitierten-perseverierenden<br />

oder im Sozialverhalten grob auff älligen Patienten mit Demenz<br />

positive Erfahrungen vor. Zur sedierenden Schlafanbahnung kann neben den<br />

erwähnten niedrigpotenten Neuroleptika, sedierenden Antidepressiva oder<br />

»Nichtbenzodiazep<strong>in</strong>-Tranquilizern« auch Clomethiazo l genutzt werden. Mit<br />

se<strong>in</strong>er kurzen Halbwertszeit ist es gut steuerbar. Allerd<strong>in</strong>gs darf auch bei dieser<br />

Klientel die Gefahr e<strong>in</strong>er Abhängigkeitsentwicklung nicht vernachlässigt<br />

werden.<br />

Zeigen sich Verhaltensstörungen mit e<strong>in</strong>er ausgeprägt zirkadianen Komponente<br />

wie z. B. das s<strong>und</strong>own<strong>in</strong> g – nachmittägliche Unruhe- <strong>und</strong> Aggressionszustände<br />

– oder e<strong>in</strong>e Aufh ebung des Tag-Nacht-Rhythmu s, wie im letzten<br />

Drittel von Demenzerkrankungen häufi g, ist der für die Patienten wenig belastende<br />

E<strong>in</strong>satz chronotherapeutischer Maßnahmen zu bedenken. An nichtpharmakologischen<br />

Maßnahmen steht hierfür zunächst e<strong>in</strong>e ausgeprägte Tagesstrukturierun<br />

g mit sozialen <strong>und</strong> motorischen Aktivitäten <strong>in</strong> der ersten<br />

Tageshälft e sowie e<strong>in</strong>er ausreichenden Lichtzufuhr an, die ggf. über Th erapielampen<br />

(3000–6000 Lux über 30 M<strong>in</strong>uten morgens) unterstützt werden<br />

kann. Der E<strong>in</strong>satz von Melatoni n (beispielsweise 3 mg zu e<strong>in</strong>em konstanten<br />

abendlichen E<strong>in</strong>nahmezeitpunkt) wird aus dem kl<strong>in</strong>ischen E<strong>in</strong>satz als wirk-


17<br />

312 Kapitel 17 · Rationelle Therapie<br />

sam <strong>und</strong> ohne Belastung für die Patienten berichtet, muss se<strong>in</strong>e Wirksamkeit<br />

jedoch erst noch <strong>in</strong> kl<strong>in</strong>ischen Studien beweisen (Mahlberg u. Kunz 2009).<br />

> Viele nichtkognitive Störungen s<strong>in</strong>d psychopharmakologisch mit Erfolg<br />

angehbar, wenn man dem Pr<strong>in</strong>zip start low, go slow folgt. Darüber<br />

h<strong>in</strong>aus ist festzuhalten, dass e<strong>in</strong>e häufi ge Ursache von Phasen längerfristiger<br />

psychomotorischer Unruhe oder Angst auch durch e<strong>in</strong>e<br />

gezielte Anpassung basaler Parameter (z. B. der Schilddrüsenfunktion)<br />

dauerhaft günstig zu bee<strong>in</strong>fl ussen s<strong>in</strong>d. Noch viel zu oft werden<br />

Probleme, die durch e<strong>in</strong>e Optimierung der Betreuung zu bewältigen<br />

wären, aus der »Not der Umstände« heraus alle<strong>in</strong> medikamentös<br />

angegangen.<br />

17.6 Milieu-, Psycho- <strong>und</strong> Soziotherapie<br />

Für alle bei demenziellen Erkrankungen auft retenden kognitiven <strong>und</strong> nichtkognitiven<br />

Syndrome steht neben e<strong>in</strong>er pharmakologischen Th erapieoption<br />

pr<strong>in</strong>zipiell auch e<strong>in</strong>e nichtmedikamentöse Behandlungsalternative zur Verfügung<br />

(Gutzmann u. Zank 2005), die stets vorab zu prüfen ist. Nichtmedikamentöse<br />

Th erapieansätze bei dementen Patienten haben das Ziel, den Patienten<br />

zu helfen, sich an äußere oder <strong>in</strong>nere Anforderungen besser anzupassen<br />

<strong>und</strong> auf diesem Weg die Lebensqualität zu steigern. Dabei muss berücksichtigt<br />

werden, dass e<strong>in</strong>e Änderung der Umgebungsbed<strong>in</strong>gungen je nach Ausgangslage<br />

sehr unterschiedlich wirken kann. Sie kann e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>en erheblichen<br />

Fortschritt bedeuten, wenn sich durch die Intervention neue Erlebens-<br />

oder auch Leistungswelten erschließen. Sie kann sich aber auch durch das<br />

Setzen von vornehere<strong>in</strong> unerreichbaren Standards demotivierend auswirken.<br />

Zur Stabilisierung e<strong>in</strong>es Th erapieerfolgs ist das gezielte E<strong>in</strong>beziehen von Betreuenden<br />

<strong>in</strong> das therapeutische Geschehen oft e<strong>in</strong>e kritische Größe. Ihr Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />

<strong>in</strong> klientenzentrierten Strategien (z. B. zur Förderung von Selbstständigkeit<br />

oder zum Abbau von Aggressionen) wird zunehmend als therapeutische<br />

Intervention eigener Wertigkeit wahrgenommen <strong>und</strong> erweist sich als Intervention,<br />

die <strong>in</strong> der Eff ektstärke medikamentösen Strategien durchaus vergleichbar<br />

ist (Liv<strong>in</strong>gston et al. 2005).<br />

Verhaltenstherapeutische Techniken gelten als die im gerontopsychiatrischen<br />

Bereich erprobtesten Verfahren (Ehrhardt u. Plattner 1999). Die<br />

meisten Erfahrungen liegen mit der Technik des operanten Lernens vor, wel-


17.6 · Milieu-, Psycho- <strong>und</strong> Soziotherapie<br />

313<br />

17<br />

ches e<strong>in</strong>e Verhaltensänderung ohne die aktive Mitarbeit des Patienten ermöglicht.<br />

Nach anfänglicher professioneller Anleitung können verhaltenstherapeutische<br />

Interventione n auch von angelerntem Pfl egepersonal oder von Angehörigen<br />

zu Hause umgesetzt werden. Die Realitätsorientierungstherapi e<br />

(ROT) <strong>in</strong> ihrer strikten Form bemüht sich, die Orientierung dementer Patienten<br />

durch stets wiederholte Informationen (z. B. zu Person, Ort, Tageszeit) zu<br />

verbessern. Sie fi ndet entweder <strong>in</strong> Form von schulklassenartigen Lerngruppen<br />

oder <strong>in</strong>dividualisiert <strong>und</strong> über den Tag verteilt statt. Im Alltag können<br />

e<strong>in</strong>e Vielzahl realitätsorientierender Interventionen durchgeführt werden, die<br />

von der <strong>in</strong>dividuellen biographischen Orientierung bis h<strong>in</strong> zum Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g sensorischer<br />

Qualitäten reichen. Die Selbsterhaltungstherapi e (SET) ist diagnostisch<br />

spezifi scher als die bisher genannten Verfahren. Sie orientiert sich an<br />

den Ausfallsmustern von Patienten mit Alzheimer-Demenz <strong>und</strong> kann als neuropsychologisches<br />

Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gsverfahren aufgefasst werden, das das längere Erhaltenbleiben<br />

der personalen Identität anstrebt. Gedächtnistra<strong>in</strong><strong>in</strong>gsprogramm<br />

e stellen, je strukturierter <strong>und</strong> anspruchsvoller sie s<strong>in</strong>d, umso größere<br />

Anforderungen an die Patienten. Wenn also vorwiegend Leistungen tra<strong>in</strong>iert<br />

werden, die aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Demenz zunehmend bee<strong>in</strong>trächtigt s<strong>in</strong>d, besonders<br />

also das verbale Gedächtnis, droht rasch Überforderung.<br />

Es gibt derzeit ke<strong>in</strong>en verlässlichen H<strong>in</strong>weis, nach dem e<strong>in</strong>e nichtmedikamentöse<br />

Th erapie an spezifi schen Demenzursachen ausgerichtet werden<br />

könnte. Anders sieht es dagegen mit dem Schweregrad aus. Je schwerer die<br />

Demenz ausgeprägt ist, desto eher kommen <strong>in</strong>tegrative sozialtherapeutische<br />

Konzept e zum E<strong>in</strong>satz, die sich milieu- <strong>und</strong> verhaltenstherapeutischer Ansätze<br />

bedienen. Milieutherapi e umfasst die Veränderung des gesamten Wohn-<br />

<strong>und</strong> Lebensbereiches <strong>in</strong> Richtung auf e<strong>in</strong>e vermehrte Anregung <strong>und</strong> Förderung<br />

ansonsten brachliegender Fähigkeiten. Für die dementen Patienten kann<br />

durch die gezielte Anpassung der d<strong>in</strong>glichen Umgebung an die Störungen von<br />

Gedächtnis <strong>und</strong> Orientierung e<strong>in</strong>e bessere »Ablesbarkeit« der Umgebung <strong>und</strong><br />

damit e<strong>in</strong> höherer Grad von Autonomie erzielt werden. E<strong>in</strong>e noch gr<strong>und</strong>legendere<br />

Ebene soll mit dem Konzept der »basalen Stimulation« erreicht werden,<br />

bei dem gr<strong>und</strong>legende S<strong>in</strong>nesqualitäten (z. B. Lage-, Tast-, Geruchs- <strong>und</strong><br />

Geschmackss<strong>in</strong>n) sowohl als Quelle von Lebensqualität als auch als Elemente<br />

wiederzuentdeckender sozialer Kompetenz gezielt gefördert werden.<br />

Bei ke<strong>in</strong>er der geschilderten Interventionen wird auf die Kooperation der<br />

Angehörigen verzichtet werden können, für manche stellt sie vielmehr erst die<br />

Basis jeglicher Behandlungsmöglichkeit dar. Das IQWiG stellt den nichtmedi-


17<br />

314 Kapitel 17 · Rationelle Therapie<br />

kamentösen Th erapieverfahren <strong>in</strong>sgesamt e<strong>in</strong>e negative Beurteilung aus<br />

(IQWiG 2009b). Lediglich den kognitiven Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gsverfahren bei Früherkrankten<br />

<strong>und</strong> dem Angehörigentra<strong>in</strong><strong>in</strong>g wird e<strong>in</strong>e potenzielle Wirksamkeit<br />

attestiert. Aus kl<strong>in</strong>ischer Sicht entwickelt sich der Erhalt der Pfl egemotivation<br />

<strong>und</strong> der Pfl egekraft der Angehörigen im Fortschreiten der Erkrankung zu<br />

e<strong>in</strong>em wesentlichen Ziel jeglicher Th erapie bei demenziellen Erkrankungen<br />

(Gutzmann 2009).<br />

> Stets s<strong>in</strong>d vor e<strong>in</strong>er pharmakologischen Intervention die nichtpharmakologischen<br />

Therapiealternativen zu prüfen. Neben dem Zielsyndrom<br />

ist dabei gleichermaßen der Umgebung Aufmerksamkeit zu<br />

schenken. Schließlich dürfen nie die Interessen der Angehörigen aus<br />

den Augen verloren werden, die <strong>in</strong> der Demenztherapie als unverzichtbare<br />

Partner e<strong>in</strong>e zentrale Rolle spielen.<br />

Literatur<br />

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Literatur<br />

315<br />

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317<br />

Behandelbare somatische<br />

Risikofaktoren<br />

Th orleif Etgen<br />

18.1 E<strong>in</strong>führung – 318<br />

18.2 Kardiovaskuläre Erkrankungen – 319<br />

18.2.1 Hypertonus – 319<br />

18.2.2 Diabetes mellitus – 320<br />

18.2.3 Hyperlipidämie – 321<br />

18.2.4 Herz<strong>in</strong>suffi zienz – 323<br />

18.3 Pulmonale Erkrankungen – 323<br />

18.<strong>3.</strong>1 Chronisch-obstruktive Lungenerkrankung – 323<br />

18.<strong>3.</strong>2 Asthma bronchiale – 324<br />

18.4 Metabolische Faktoren – 324<br />

18.4.1 Chronische Nieren<strong>in</strong>suffi zienz – 324<br />

18.4.2 Vitam<strong>in</strong>-B12-Mangel – 325<br />

18.4.3 Hyperhomozyste<strong>in</strong>ämie – 326<br />

18.4.4 Vitam<strong>in</strong>-D-Mangel – 327<br />

18.5 Endokr<strong>in</strong>e Faktoren – 327<br />

18.5.1 Testosteronmangel – 327<br />

18.5.2 Hormonersatztherapie – 328<br />

18.5.3 Subkl<strong>in</strong>ische Schilddrüsenfunktionsstörung – 329<br />

18.6 Infektionen – 330<br />

18.6.1 Hepatitis-C-Virus-Infektion – 330<br />

18.6.2 Humanes-Imm<strong>und</strong>efi zienzvirus-Infektion – 331<br />

18.7 Lebensstil – 331<br />

18.7.1 Bewegungsmangel – 331<br />

18.7.2 Ernährung – 332<br />

18.8 Zusammenfassung – 334<br />

Literatur – 334<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_18,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

18


18<br />

318 Kapitel 18 · Behandelbare somatische Risikofaktoren<br />

Zum Thema<br />

<strong>Demenzen</strong> <strong>und</strong> das häufige Vorstadium der leichten kognitiven Störung zeigen<br />

oft e<strong>in</strong>e heterogene Ätiologie, sodass der Erkennung <strong>und</strong> Behandlung aller beteiligten<br />

kausalen Faktoren e<strong>in</strong>e wichtige Rolle zukommt. Daher muss gezielt nach<br />

somatischen Risikofaktoren gesucht werden, um diese optimal zu behandeln,<br />

da dies zu e<strong>in</strong>er kognitiven Leistungsverbesserung führen oder e<strong>in</strong>e Progredienz<br />

e<strong>in</strong>er kognitiven Störung verh<strong>in</strong>dern kann.<br />

18.1 E<strong>in</strong>führung<br />

Kognitive Störungen unterschiedlicher Genese können Menschen aller Altersstufen<br />

betreff en. Sie können durch biologische <strong>und</strong> psychische Erkrankungen<br />

– z. B. e<strong>in</strong>e depressive Störung –, deren Diagnose <strong>und</strong> Behandlung entscheidend<br />

für den Verlauf se<strong>in</strong> kann, unmittelbar verursacht oder verstärkt werden.<br />

Häufi g ist e<strong>in</strong>e zeitliche Parallele zwischen dem Verlauf der Gr<strong>und</strong>erkrankung<br />

<strong>und</strong> der Symptomatik erkennbar. Mitunter gehen die Risikoerkrankungen<br />

aber der Manifestation kognitiver Störungen lange voraus. Dies ist besonders<br />

relevant h<strong>in</strong>sichtlich der leichten kognitiven Störungen vorwiegend älterer<br />

Menschen, die <strong>in</strong> den letzten Jahren als fragliches Vorstadium der <strong>Demenzen</strong><br />

vermehrte wissenschaft liche Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben.<br />

Der Begriff »leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung« (mild cognitive impairment,<br />

MCI) beschreibt e<strong>in</strong>e erworbene E<strong>in</strong>schränkung von Merkfähigkeit,<br />

Aufmerksamkeit oder Denkvermögen, die e<strong>in</strong>erseits über den Durchschnitt<br />

der entsprechenden Alters- <strong>und</strong> Ausbildungsstufe h<strong>in</strong>ausgeht <strong>und</strong> die andererseits<br />

– im Gegensatz zu e<strong>in</strong>er Demenz – nicht zu signifi kanten E<strong>in</strong>schränkungen<br />

im Alltagsleben führt.<br />

Die Ätiologie der MCI ist heterogen. Neuropathologische Bef<strong>und</strong>e zeigen<br />

bei e<strong>in</strong>em Teil der Patienten, dass die morphologischen Kriterien e<strong>in</strong>er Alzheimer-Demen<br />

z (AD) vorliegen, sodass e<strong>in</strong>e MCI, <strong>in</strong>sbesondere e<strong>in</strong>e amnestische<br />

MCI, e<strong>in</strong>e Art »Prä-Alzheimer-Demenzstadium« darstellen kann.<br />

Ebenso liegen bei Patienten mit MCI <strong>und</strong> zerebrovaskulären Erkrankungen<br />

gehäuft Läsionen der weißen Substanz vor. Der Anteil e<strong>in</strong>er MCI mit nichtklassifi<br />

zierbarer Ätiologie ist aber mit > 30% relativ hoch, sodass somatischen<br />

Faktoren, die noch eff ektiver als vaskuläre <strong>und</strong> neurodegenerative Hirnerkrankungen<br />

zu bee<strong>in</strong>fl ussen s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>e wichtige Rolle zukommt (<strong>Förstl</strong> et al.<br />

2008).


18.2 · Kardiovaskuläre Erkrankungen<br />

319<br />

18<br />

Im Folgenden wird anhand der aktuellen Literatur e<strong>in</strong>e Zusammenfassung<br />

mit Empfehlungen für die <strong>Praxis</strong> über den Stellenwert <strong>und</strong> die Th erapie<br />

der wichtigsten somatischen Faktoren gegeben, die bei der Entwicklung leichter<br />

kognitiver Störungen bzw. <strong>Demenzen</strong> e<strong>in</strong>e Rolle spielen oder für die dies<br />

vermutet wird (Etgen et al. 2009a).<br />

18.2 Kardiovaskuläre Erkrankungen<br />

18.2.1 Hypertonus<br />

Hypertonu s beschleunigt arteriosklerotische Veränderungen, die über e<strong>in</strong>e<br />

Hypoperfusion mit zerebralen Infarkten <strong>und</strong> diff usen ischämischen Veränderungen<br />

(sog. Leukoaraiose) e<strong>in</strong>e vaskuläre kognitive Störung verursachen.<br />

Patienten mit behandeltem Hypertonus wiesen weniger neuropathologische<br />

Veränderungen auf als nichthypertensive Kontrollpersonen, was für e<strong>in</strong>en<br />

günstigen Eff ekt e<strong>in</strong>er antihypertensiven Th erapie spricht.<br />

E<strong>in</strong> Zusammenhang zwischen Bluthochdruck <strong>und</strong> kognitiven Defi ziten<br />

wurde zunächst durch 28 Querschnittuntersuchungen nahe gelegt, wobei es<br />

allerd<strong>in</strong>gs sowohl positive, negative, J- <strong>und</strong> U-förmige Zusammenhänge gab.<br />

Die Mehrzahl der prospektiven populationsbezogenen Langzeitstudien bestätigte<br />

e<strong>in</strong>e deutliche Assoziation zwischen erhöhtem Blutdruck <strong>und</strong> kognitiver<br />

Leistungsabnahme (Birns u. Kalra 2008).<br />

E<strong>in</strong>e konsequente antihypertensive Th erapi e sollte also e<strong>in</strong>en protektiven<br />

Eff ekt h<strong>in</strong>sichtlich der Entwicklung e<strong>in</strong>er kognitiven Störung darstellen. Subanalysen<br />

aus großen plazebokontrollierten Studien, die die Bee<strong>in</strong>fl ussung der<br />

Entwicklung e<strong>in</strong>er kognitiven Störung durch e<strong>in</strong>e antihypertensive Th erapie<br />

untersuchten, kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen.<br />

4 Studien (MRC Trial of Hypertension, Systolic Hypertension <strong>in</strong> the Elderly<br />

Program SHEP, Study on Cognition and Prognosis <strong>in</strong> the Elderly SCOPE,<br />

Hypertension <strong>in</strong> the Very Elderly Trial – cognitive function assessment HYVET-<br />

COG) zeigten ke<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>deutigen protektiven Eff ekt. Dagegen demonstrierten<br />

2 andere Studien (Per<strong>in</strong>dopril Protection aga<strong>in</strong>st Recurrent Stroke Study<br />

PROGRESS, Syst-Eur Trial) e<strong>in</strong>en schützenden Eff ekt. Aufgr<strong>und</strong> der – im<br />

Vergleich zu den anderen Studien – ger<strong>in</strong>gen falsch-positiven Behandlungsquote<br />

im Plazeboarm <strong>in</strong> der Studie Syst-Eur Trial ist der Eff ekt e<strong>in</strong>er antihypertensiven<br />

Th erapie wahrsche<strong>in</strong>lich. Der jüngste Cochrane-Review off en-


18<br />

320 Kapitel 18 · Behandelbare somatische Risikofaktoren<br />

barte trotz signifi kanter Blutdruckreduktion ke<strong>in</strong>en die kognitive Leistung<br />

erhaltenden Eff ekt durch Antihypertensiva (McGu<strong>in</strong>ness et al. 2009), während<br />

e<strong>in</strong>e andere Metaanalyse e<strong>in</strong>en grenzwertigen Trend für e<strong>in</strong>en positiven<br />

Behandlungseff ekt ergab (HR 0,87; 0,76–1,00, p = 0,045) (Peters et al. 2008).<br />

Die unterschiedlichen Studienergebnisse beruhen u. a. auf methodischen<br />

Problemen <strong>und</strong> Unterschieden im Studiendesign (Poon 2008):<br />

4 hohe Abbruchzahlen,<br />

4 Unterschiede bei E<strong>in</strong>schlusskriterien, Beobachtungszeit <strong>und</strong> kognitiver<br />

Testung,<br />

4 hoher Anteil an Patienten im Plazeboarm mit antihypertensiver Th erapie<br />

bei Studienende,<br />

4 verschiedene Antihypertensiva mit möglichen Unterschiede <strong>in</strong> der Schutzwirkung.<br />

> Es existiert e<strong>in</strong> altersabhängiger Zusammenhang zwischen Bluthochdruck<br />

<strong>und</strong> kognitiver Störung. Bluthochdruck im mittleren Lebensalter<br />

ist mit e<strong>in</strong>em erhöhten Risiko e<strong>in</strong>es kognitiven Abbaus assoziiert,<br />

dagegen ist dies für das höhere Lebensalter nicht e<strong>in</strong>deutig belegt.<br />

Die Evidenz e<strong>in</strong>er antihypertensiven Therapie h<strong>in</strong>sichtlich Kogni tion<br />

bleibt jedoch kontrovers, wobei aus kardiovaskulären Gründen e<strong>in</strong>e<br />

Behandlung ohneh<strong>in</strong> <strong>in</strong>diziert ist. Offene Fragen be<strong>in</strong>halten das<br />

Ausmaß der erforderlichen Blutdrucksenkung (aktueller Zielwert<br />

140/90 mmHg), die Latenz <strong>und</strong> Dauer der Therapie.<br />

18.2.2 Diabetes mellitus<br />

Daten aus Biochemie (Dysfunktion des Insul<strong>in</strong>-degrad<strong>in</strong>g-Enzyms), Neuroradiologie<br />

(Volumenreduktion gedächtnisrelevanter Strukturen) <strong>und</strong> Pathologie<br />

(mikrovaskuläre Infarkte) deuten auf e<strong>in</strong>e Assoziation zwischen Diabetes<br />

mellitu s <strong>und</strong> kognitivem Abbau h<strong>in</strong>. Als potenzielle Mechanismen für e<strong>in</strong>e<br />

kognitive Störung bei Diabetes mellitus werden diskutiert:<br />

4 zerebrovaskuläre Schädigung,<br />

4 durch freie Radikale vermittelter oxidativer Stress,<br />

4 Erhöhung der Glykosilierungsendprodukte,<br />

4 e<strong>in</strong>e Bee<strong>in</strong>trächtigung des zerebralen Insul<strong>in</strong>signalsystems.


18.2 · Kardiovaskuläre Erkrankungen<br />

321<br />

18<br />

Fall-Kontroll-Studien zeigten erstmals schlechtere kognitive Leistungen bei<br />

Patienten mit Diabetes, <strong>in</strong>sbesondere beim verbalen Gedächtnis. E<strong>in</strong> systematischer<br />

Review von 14 Längsschnittstudien ergab e<strong>in</strong>e höhere Inzidenz von<br />

MCI bei Diabetikern (Biessels et al. 2006). Zahlreiche prospektive Studien<br />

(u. a. Nurses' Health Study, Physicians' Health Study II, Women's Health Study)<br />

untermauern diesen Zusammenhang, e<strong>in</strong>e Risikoerhöhung sche<strong>in</strong>en <strong>in</strong>sbesondere<br />

die Dauer des Diabetes, e<strong>in</strong>e fehlende orale Medikation <strong>und</strong> die Zahl<br />

der hypoglykämischen Episoden zu verursachen.<br />

> E<strong>in</strong>e kausale Assoziation zwischen Diabetes mellitus <strong>und</strong> der Entwicklung<br />

e<strong>in</strong>er kognitiven Störung ist gut belegt. Allerd<strong>in</strong>gs gibt es nur<br />

<strong>in</strong>direkte H<strong>in</strong>weise, dass e<strong>in</strong>e antidiabetische Therapie diese Entwicklung<br />

verh<strong>in</strong>dern kann, da entsprechende kontrollierte Studien bisher<br />

nicht vorliegen (Etgen et al. 2010a).<br />

18.2.3 Hyperlipidämie<br />

Autopsiestudien deuten auf e<strong>in</strong>en Zusammenhang zwischen Hyperlipidämie<br />

<strong>und</strong> kognitiver Störung h<strong>in</strong>, denn hier ergab sich bei dementen Patienten e<strong>in</strong>e<br />

Korrelation zwischen Hypercholester<strong>in</strong>ämie <strong>und</strong> der Ablagerung von Amyloid<br />

bzw. Arteriosklerose der Hirnbasisarterien.<br />

Mehrere Studien ergaben, dass e<strong>in</strong>e Hypercholester<strong>in</strong>ämie im mittleren<br />

Lebensalter mit e<strong>in</strong>em langfristig erhöhten Risiko der Entwicklung e<strong>in</strong>er kognitiven<br />

Störung assoziiert ist. So zeigte z. B. e<strong>in</strong>e retrospektive Kohortenstudie<br />

mit 8845 Teilnehmern zwischen 40–44 Jahren, dass erhöhtes Cholester<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e Risikoerhöhung von 40% für die Entstehung e<strong>in</strong>er Demenz nach 30 Jahren<br />

bedeutet (Whitmer et al. 2005). Andere Studien mit überwiegend älteren<br />

Teilnehmern (> 65 Jahre) konnten dagegen ke<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>deutigen Zusammenhang<br />

zwischen e<strong>in</strong>er Hyperlipidämie <strong>und</strong> kognitivem Abbau belegen.<br />

Die meisten Beobachtungsstudien mit lipidsenkenden Medikamenten<br />

konnten e<strong>in</strong>en positiven E<strong>in</strong>fl uss auf den kognitiven Abbau nachweisen, der<br />

bei Stat<strong>in</strong>en (. Abb. 18.1) etwa e<strong>in</strong>e Halbierung des Risikos bewirkte, aber bei<br />

Nichtstat<strong>in</strong>en (z. B. Fibraten) nicht nachweisbar war. Dieser Eff ekt konnte<br />

aber <strong>in</strong> 2 großen plazebokontrollierten Studien mit vaskulären Hochrisikopatienten<br />

(Heart Protection Study HPS: 20.536 Teilnehmer, Alter 40–80 Jahre,<br />

5 Jahre Simvastat<strong>in</strong>; Th e Prospective Study of Pravastat<strong>in</strong> <strong>in</strong> the Elderly at Risk<br />

PROSPER: 5084 Teilnehmer, Alter 70–82 Jahre, 3 Jahre Pravastat<strong>in</strong>) nicht be-


18<br />

322 Kapitel 18 · Behandelbare somatische Risikofaktoren<br />

Acetyl-CoA Tau-Phosphorylierung<br />

3-HMG-CoA Sph<strong>in</strong>golipide<br />

g g<br />

Stat<strong>in</strong>e Amyloid β 40 Amyloid β 42<br />

Mevalonat<br />

g<br />

Cholester<strong>in</strong> γ-Sekretase<br />

APP<br />

. Abb. 18.1 Vere<strong>in</strong>fachter hypothetischer Wirkmechanismus von Stat<strong>in</strong>en. 3-HMG-CoA<br />

3-Hydroxy-3-Methylglutaryl-Coenzym-A, APP Amyloidvorläuferprote<strong>in</strong>. (Aus Etgen et al.<br />

2010a, mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

legt werden (Group 2002, Shepherd et al. 2002). Probleme dieser Studien bestanden<br />

<strong>in</strong> dem weiten Altersspektrum der Teilnehmer, dem Fehlen e<strong>in</strong>er<br />

Kognitionsuntersuchung zu Studienbeg<strong>in</strong>n <strong>und</strong> der Tatsache, dass die kognitive<br />

Funktion nicht das primäre Studienziel war.<br />

Für die sche<strong>in</strong>bar widersprüchlichen Eff ekte der Hypercholester<strong>in</strong>ämie –<br />

im mittleren Lebensalter e<strong>in</strong> Risikofaktor <strong>und</strong> im höheren Lebensalter e<strong>in</strong><br />

potenziell protektiver Faktor – werden verschiedene Ursachen diskutiert. So<br />

könnte e<strong>in</strong>e Hypercholester<strong>in</strong>ämie <strong>in</strong> höherem Lebensalter Ausdruck e<strong>in</strong>er<br />

»guten« Ernährung <strong>und</strong> damit Ausdruck geistiger Ges<strong>und</strong>heit se<strong>in</strong>. Im Gegensatz<br />

dazu könnten niedrige Cholester<strong>in</strong>werte auf Ernährungsprobleme im<br />

Rahmen e<strong>in</strong>er kognitiven Störung sowie anderer mediz<strong>in</strong>ischer <strong>und</strong> psychosozialer<br />

Probleme h<strong>in</strong>weisen. Falls die Abnahme des Cholester<strong>in</strong>spiegels <strong>in</strong><br />

höherem Alter jedoch Ausdruck e<strong>in</strong>er kognitiven Störung ist, könnte auch e<strong>in</strong><br />

neurobiologischer Zusammenhang bestehen.<br />

g


18.3 · Pulmonale Erkrankungen<br />

> Es sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong> bidirektionaler Zusammenhang zwischen Hypercholester<strong>in</strong>ämie<br />

<strong>und</strong> kognitiver Störung zu bestehen (Risikofaktor<br />

im mittleren Lebensalter <strong>und</strong> Abnahme im höheren Lebensalter).<br />

Die Effektivität e<strong>in</strong>er Intervention mit Stat<strong>in</strong>en ist h<strong>in</strong>sichtlich der<br />

kognitiven Leistung bisher nicht zuverlässig nachgewiesen.<br />

18.2.4 Herz<strong>in</strong>suffi zienz<br />

323<br />

18<br />

Im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er »kardiogenen Demenz« wurde schon früh über die Herz<strong>in</strong>suffi<br />

zien z als mögliche Ursache e<strong>in</strong>er kognitiven Dysfunktion berichtet. E<strong>in</strong>e<br />

Metaanalyse von 22 Studien ergab bei e<strong>in</strong>er gepoolten Stichprobe von 2937<br />

Patienten mit Herz<strong>in</strong>suffi zienz <strong>und</strong> 14.848 Kontrollpersonen e<strong>in</strong>e Odds Ratio<br />

(OR) von 1,62 (95% Konfi denz<strong>in</strong>tervall KI: 1,48–1,79) für die Entwicklung<br />

von kognitiven Störungen bei Patienten mit Herz<strong>in</strong>suffi zienz (Vogels et al.<br />

2007).<br />

Pathophysiologisch wird e<strong>in</strong>e chronische zerebrale Hypoperfusion durch<br />

reduzierten kardialen Output angenommen, da kognitive Störungen nach<br />

Herztransplantation aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Verbesserung des kardialen Outputs reversibel<br />

waren. Darüber h<strong>in</strong>aus werden kardiale Embolien oder e<strong>in</strong>e höhere<br />

Empfi ndlichkeit <strong>in</strong> der zerebralen Mikrozirkulation von Patienten mit Herz<strong>in</strong>suffi<br />

zienz bei Störungen <strong>in</strong> der Rheologie diskutiert. E<strong>in</strong>e rechtzeitige Diagnose<br />

ist hierbei entscheidend, da durch e<strong>in</strong>e adäquate Th erapie der Herz<strong>in</strong>suffi<br />

zienz e<strong>in</strong>e Verbesserung der Kognition erreicht wird, wie dies auch bei Patienten<br />

mit Bradykardien durch e<strong>in</strong>e Schrittmacherimplantation gezeigt werden<br />

konnte.<br />

18.3 Pulmonale Erkrankungen<br />

18.<strong>3.</strong>1 Chronisch-obstruktive Lungenerkrankung<br />

Bei Patienten mit e<strong>in</strong>er chronisch-obstruktive Lungenerkrankun g (COPD)<br />

wurden kognitive Störungen berichtet, deren Ausmaß vom Grad der Hypoxie<br />

abhängt. So lag der Anteil an Patienten mit kognitiven Störungen bei leichter<br />

Hypoxie bei 27% <strong>und</strong> stieg bei schwerer Hypoxie auf 61% an. Diese Störungen,<br />

die <strong>in</strong>sbesondere die Bereiche abstraktes Denken, Gedächtnis <strong>und</strong> Koord<strong>in</strong>a-


18<br />

324 Kapitel 18 · Behandelbare somatische Risikofaktoren<br />

tion bei e<strong>in</strong>fachen motorischen Aufgaben betrafen, waren unter e<strong>in</strong>er Langzeittherapie<br />

mit Sauerstoff partiell reversibel (Hjalmarsen et al. 1999).<br />

18.<strong>3.</strong>2 Asthma bronchiale<br />

Bei Asthmatikern zeigten 2 kle<strong>in</strong>e Studien kognitive Probleme, die auf e<strong>in</strong>em<br />

nächtlichen Abfall des maximalen Ausatemstroms mit konsekutivem nächtlichem<br />

Aufwachen <strong>und</strong> schlechter kognitiver Leistung tagsüber beruhte. Die<br />

kognitive Störung war durch e<strong>in</strong>e adäquate Asthmatherapi e reversibel (Weers<strong>in</strong>k<br />

et al. 1997).<br />

18.4 Metabolische Faktoren<br />

18.4.1 Chronische Nieren<strong>in</strong>suffi zienz<br />

Metabolische <strong>und</strong> biochemische Veränderungen im ZNS bei Tieren mit chronischer<br />

Nieren<strong>in</strong>suffi zien z (chronic kidney disease, CKD) wurden schon früh<br />

beschrieben.<br />

Erste Querschnittstudien bestätigten e<strong>in</strong>e positive Korrelation zwischen<br />

CKD <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er kognitiven Störung, was teilweise schwerpunktmäßig die Bereiche<br />

Lernen, Konzentration <strong>und</strong> visuelle Aufmerksamkeit betraf. Die meisten<br />

Längsschnittstudien der letzten Jahre fanden ebenfalls e<strong>in</strong>e vom Grad der<br />

Nieren<strong>in</strong>suffi zienz abhängige kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung, die unabhängig<br />

von zahlreichen anderen Risikofaktoren war (Etgen et al. 2009b).<br />

Ursachen für kognitive Störungen bei CKD<br />

1. In Betracht kommen traditionelle vaskuläre Risikofaktoren (Bluthochdruck,<br />

Diabetes mellitus, Hypercholester<strong>in</strong>ämie, Nikot<strong>in</strong>abusus etc.),<br />

die zu e<strong>in</strong>er höheren Prävalenz von subkl<strong>in</strong>ischen zerebrovaskulären<br />

Erkrankungen führen.<br />

2. Neuere vaskuläre Risikofaktoren, die mit kognitiven Störungen e<strong>in</strong>hergehen,<br />

spielen e<strong>in</strong>e Rolle, wie z. B. Hyperhomozyste<strong>in</strong>ämie, Störungen<br />

der Hämostase oder Koagulabilität, Entzündungen <strong>und</strong> oxidativer<br />

Stress. 7


18.4 · Metabolische Faktoren<br />

<strong>3.</strong> Nichtvaskuläre Faktoren wie renale Anämie (Besserung der Kognition<br />

nach Behandlung der Anämie), Pharmakotherapie (multiple Medikamente<br />

mit Dosisproblemen, Interaktionen <strong>und</strong> Nebenwirkungen bei<br />

CKD) <strong>und</strong> Schlafstörungen (Tagesmüdigkeit) tragen zu e<strong>in</strong>er kognitiven<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigung bei.<br />

325<br />

18<br />

> CKD ist als unabhängiger Risikofaktor für e<strong>in</strong>e kognitive Störung<br />

mittlerweile etabliert, allerd<strong>in</strong>gs gibt es kaum Untersuchungen über<br />

spezifi sche therapeutische Optionen.<br />

18.4.2 Vitam<strong>in</strong>-B 12 -Mangel<br />

Seit der Beschreibung der perniziösen Anämie im Jahre 1849 ist e<strong>in</strong> Zusammenhang<br />

zwischen e<strong>in</strong>em Vitam<strong>in</strong>-B 12 -Mangel <strong>und</strong> neuropsychiatrischen<br />

Störungen bekannt. Tierexperimentelle Daten belegen, dass e<strong>in</strong>e Vitam<strong>in</strong>-B-<br />

Mangeldiät zu e<strong>in</strong>er kognitiven Dysfunktion führt <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Verdünnung der<br />

hippokampalen Mikrovaskulatur bewirkt (Troen et al. 2008). Die Prävalenz<br />

e<strong>in</strong>es reduzierten Vitam<strong>in</strong>-B 12-Spiegels steigt mit zunehmendem Alter an <strong>und</strong><br />

liegt bei Personen > 75 Jahre bei 20% (Clarke et al. 2003).<br />

Sowohl <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er großen Querschnitt- als auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er prospektiven Kohortenstudie<br />

zeigten Personen mit niedrigem Vitam<strong>in</strong>-B 12-Spiegel auch nach<br />

Adjustierung für andere Kovariaten e<strong>in</strong> etwa doppelt so hohes Risiko für e<strong>in</strong>e<br />

kognitive Störung. Dagegen belegten alle bisherigen randomisierten doppelbl<strong>in</strong>den<br />

plazebokontrollierten Studien mit e<strong>in</strong>er Substitution von Vitam<strong>in</strong><br />

B ke<strong>in</strong>erlei positiven Eff ekt auf die Kognition.<br />

> Es bestehen zwar H<strong>in</strong>weise für e<strong>in</strong>e mögliche Assoziation zwischen<br />

e<strong>in</strong>em Vitam<strong>in</strong>-B 12 -Mangel <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er kognitiven Störung, aber aktuell<br />

gibt es ke<strong>in</strong>e Evidenz, dass die Gabe von Vitam<strong>in</strong> B 12 dem Auftreten<br />

e<strong>in</strong>er kognitiven Bee<strong>in</strong>trächtigung vorbeugt oder diese verlangsamt.


18<br />

326 Kapitel 18 · Behandelbare somatische Risikofaktoren<br />

18.4.3 Hyperhomozyste<strong>in</strong>ämie<br />

Der Serumspiegel von Homozyste<strong>in</strong> steigt zwar mit dem Alter <strong>und</strong> e<strong>in</strong>geschränkter<br />

Nierenfunktion an, wird aber hauptsächlich durch die Nahrungsaufnahme<br />

<strong>und</strong> die Vitam<strong>in</strong>e B 6 , B 12 <strong>und</strong> Folsäure, die Homozyste<strong>in</strong> <strong>in</strong> Methion<strong>in</strong><br />

<strong>und</strong> Zyste<strong>in</strong> umwandeln, bestimmt. Daten aus Tierstudien belegen, dass<br />

e<strong>in</strong>e Hyperhomozyste<strong>in</strong>ämie die Produktion von β-Amyloid steigert, was das<br />

räumliche Gedächtnis bee<strong>in</strong>trächtigt. Die Gabe von Folsäure <strong>und</strong> Vitam<strong>in</strong> B 12<br />

wiederum konnte diesen Eff ekt partiell aufh eben.<br />

Die meist kle<strong>in</strong>en (< 600 Teilnehmer) Querschnittstudien belegen e<strong>in</strong>e<br />

Assoziation zwischen Hyperhomozyste<strong>in</strong>ämie <strong>und</strong> kognitiver Störung, <strong>in</strong> der<br />

größten Querschnittstudie konnte dieser Trend aber nur für Personen mit<br />

gleichzeitig niedrigem Folsäurespiegel dokumentiert werden (Vidal et al.<br />

2008). Dagegen s<strong>in</strong>d die Ergebnisse der wenigen Längsschnittstudien widersprüchlich.<br />

Der Eff ekt e<strong>in</strong>er Th erapie auf die Kognition durch Senkung des erhöhten<br />

Homozyste<strong>in</strong>spiegels mittels Gabe von Vitam<strong>in</strong> B 12 <strong>und</strong> Folsäure wurde <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>igen doppelbl<strong>in</strong>den plazebokontrollierten randomisierten Studien untersucht.<br />

Obwohl <strong>in</strong> den Studien die Homozyste<strong>in</strong>konzentration gesenkt werden<br />

konnte, ergab sich ke<strong>in</strong> globaler Eff ekt auf die kognitive Performance. Möglicherweise<br />

beruht dies auf methodischen Problemen (kurze Studiendauer von<br />

≤ 12 Wochen, verschiedene Kriterien der Homozyste<strong>in</strong>reduktion, unterschiedliche<br />

Studienpopulationen). Positive Eff ekte wurden immerh<strong>in</strong> bei Subgruppen<br />

beobachtet, z. B. ges<strong>und</strong>e ältere Personen mit hohen Homozyste<strong>in</strong>werten<br />

oder Personen mit AD <strong>und</strong> Th erapie mit Chol<strong>in</strong>esterasehemmern<br />

(Malouf u. Grimley Evans 2008).<br />

> Die vorhandenen Daten deuten auf e<strong>in</strong> gehäuftes gleichzeitiges Vorliegen<br />

von Hyperhomozyste<strong>in</strong>ämie <strong>und</strong> kognitiver Störung h<strong>in</strong>. Der<br />

schlüssige Beweis, dass die Normalisierung der Homozyste<strong>in</strong>konzentration<br />

durch die Gabe von Folsäure <strong>und</strong> Vitam<strong>in</strong> B 12 neuroprotektiv,<br />

kognitionserhaltend oder therapeutisch wirksam ist, konnte jedoch<br />

nicht geführt werden.


18.5 · Endokr<strong>in</strong>e Faktoren<br />

18.4.4 Vitam<strong>in</strong>-D-Mangel<br />

327<br />

18<br />

Ger<strong>in</strong>gere Sonnenlichtexposition, e<strong>in</strong>geschränkte Fähigkeit der Haut zur<br />

Vitam<strong>in</strong>-D-Produktion <strong>und</strong> niedrigere alimentäre Vitam<strong>in</strong>-D-Aufnahme<br />

führen zu e<strong>in</strong>er Prävalenz e<strong>in</strong>es Vitam<strong>in</strong>-D-Mangels von bis 50% bei älteren<br />

Personen.<br />

Experimentelle Ergebnisse deuten auf e<strong>in</strong>e wichtige Rolle von Vitam<strong>in</strong> D<br />

im ZNS h<strong>in</strong>, da sich Vitam<strong>in</strong>-D-Rezeptoren im Gehirn fi nden <strong>und</strong> Vitam<strong>in</strong> D<br />

bei der Synthese von Neurotransmittern <strong>und</strong> der Rezeptorregulation <strong>in</strong> gedächtnisrelevanten<br />

Regionen beteiligt ist.<br />

3 größere Querschnittstudien fanden e<strong>in</strong> etwa doppelt so hohes Risiko für<br />

e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>geschränkte kognitive Funktion bei e<strong>in</strong>em erniedrigten Vitam<strong>in</strong>-D-<br />

Spiegel, e<strong>in</strong>e andere Studie konnte dies nicht bestätigen. Ob Vitam<strong>in</strong>-D-Mangel<br />

primär zu e<strong>in</strong>er kognitiven Störung führt oder kognitiv bee<strong>in</strong>trächtigte<br />

Personen sek<strong>und</strong>är e<strong>in</strong>en Vitam<strong>in</strong>-D-Mangel entwickeln, lässt sich nicht<br />

durch Querschnittstudien klären. Die e<strong>in</strong>zige prospektive Kohortenstudie zu<br />

diesem Th ema, die Osteoporotic Fractures <strong>in</strong> Men-Studie (MrOS) mit 1604<br />

Männern ≥ 65 Jahre, konnte nach mehr als 4 Jahren ke<strong>in</strong>en Zusammenhang<br />

von kognitiven Funktionen mit Vitam<strong>in</strong>-D-Quartilen nachweisen (Sl<strong>in</strong><strong>in</strong><br />

et al. 2010).<br />

> Bisher gibt es ke<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>deutigen Beweis e<strong>in</strong>er Assoziation von<br />

Vitam<strong>in</strong>-D-Mangel <strong>und</strong> kognitiver Bee<strong>in</strong>trächtigung, sodass im<br />

Falle e<strong>in</strong>er kognitiven Störung weder e<strong>in</strong> Laborscreen<strong>in</strong>g noch<br />

e<strong>in</strong>e Substitution empfohlen werden kann.<br />

18.5 Endokr<strong>in</strong>e Faktoren<br />

18.5.1 Testosteronmangel<br />

Mit zunehmendem Alter s<strong>in</strong>kt bei Männern der Testosteronspiegel um bis zu<br />

50%. Tierexperimentelle Daten deuten auf e<strong>in</strong>e wichtige Funktion von Testosteron<br />

bei kognitiven Prozessen h<strong>in</strong>:<br />

4 Lokalisation testosteronassoziierter Aromatase- <strong>und</strong> Androgenrezeptoren<br />

<strong>in</strong> lernrelevanten Regionen,<br />

4 Erhöhung des Nervenwachstumsfaktors im Hippokampus,<br />

4 Hochregulation entsprechender Rezeptoren im Frontalhirn.


18<br />

328 Kapitel 18 · Behandelbare somatische Risikofaktoren<br />

Bildgebende Studien unter Verwendung von Positronenemissionstomographie<br />

(PET) demonstrierten bei Männern mit Hypogonadismus nach Testosteronsubstitution<br />

e<strong>in</strong>e Erhöhung der zerebralen Perfusion bei teilweise gleichzeitig<br />

verbesserter kognitiver Leistung.<br />

Die Studienlage über e<strong>in</strong>e Assoziation zwischen Testosteronspiegel <strong>und</strong><br />

kognitiver Performance ist <strong>in</strong>konsistent, da e<strong>in</strong>ige Studien e<strong>in</strong>en positiven Zusammenhang<br />

fanden, der <strong>in</strong> anderen Studien nicht bestätigt wurde (Warren<br />

et al. 2008). Die Unterschiede s<strong>in</strong>d partiell durch Unterschiede <strong>in</strong> der Studienpopulation<br />

(< 1200 Männer) <strong>und</strong> ihrer Größe sowie e<strong>in</strong>e Variabilität bei den<br />

kognitiven Testverfahren <strong>und</strong> der Testosteronbestimmung zu erklären. Die<br />

meisten Studien über e<strong>in</strong>e Testosterondeprivation (alle Studien mit < 100 Teilnehmern)<br />

zeigten e<strong>in</strong>en Zusammenhang mit der kognitiven Funktion, die<br />

sich z. T. nach Beendigung der Androgenblockade wieder besserte.<br />

Randomisierte plazebokontrollierte Studien (meist < 50 Teilnehmer) mit<br />

Testosteronsubstitution waren widersprüchlich, auch hier lagen die Gründe<br />

<strong>in</strong> methodischen Problemen.<br />

> Es ist e<strong>in</strong> Zusammenhang zwischen Testosteronmangel <strong>und</strong> kognitiven<br />

E<strong>in</strong>schränkungen möglich, <strong>in</strong>sgesamt ist die Datenlage hierzu<br />

aber nicht ausreichend. Im E<strong>in</strong>zelfall kann bei nachgewiesenem<br />

Testosteronmangel <strong>und</strong> kognitiver Störung nach Ausschluss anderer<br />

Ursachen <strong>und</strong> regelmäßiger fachurologischer Betreuung e<strong>in</strong>e Substitution<br />

durchgeführt werden (Nieschlag et al. 2005).<br />

18.5.2 Hormonersatztherapie<br />

Östrogene umfassen verschiedene endogene Hormone (Östradiol, Östriol<br />

etc.), synthetische Östrogene (Bestandteil oraler Kontrazeptiva) oder andere<br />

Stoff e (z. B. das aus Pferdeur<strong>in</strong> gewonnene <strong>und</strong> bei Hormonersatztherapie<br />

verwendete Equil<strong>in</strong>). Progest<strong>in</strong>e (oder Gestagene) be<strong>in</strong>halten endogene Hormone<br />

(z. B. Progesteron) oder synthetische Substanzen.<br />

Laborergebnisse belegen neuroprotektive Eff ekte von Östrogenen wie z. B.<br />

die Förderung neuronaler Aussprossung, die Reduktion des zerebralen Amyloidspiegels<br />

sowie anti<strong>in</strong>fl ammatorische Eigenschaft en.<br />

Zwar deuteten Querschnittstudien auf e<strong>in</strong>e bessere kognitive Leistung bei<br />

postmenopausalen Frauen mit Östrogentherapie h<strong>in</strong>, aber prospektive Studien<br />

konnten diesen Eff ekt nicht bestätigen.


18.5 · Endokr<strong>in</strong>e Faktoren<br />

329<br />

18<br />

Auch <strong>in</strong> randomisierten plazebokontrollierten Studien zeigte sich ke<strong>in</strong><br />

positiver E<strong>in</strong>fl uss e<strong>in</strong>er Hormonersatztherapie auf die kognitive Leistung. Die<br />

Women's Health Initiative Memory Study (WHIMS) mit 4532 postmenopausalen<br />

Frauen > 65 Jahre ergab nach 4 Jahren komb<strong>in</strong>ierter Hormonersatztherapie<br />

(Östrogen <strong>und</strong> Progest<strong>in</strong>) sogar e<strong>in</strong> erhöhtes Risiko für die Entwicklung<br />

e<strong>in</strong>er Demenz (HR: 2.05; 95% CI 1.21–<strong>3.</strong>48). Ähnliche Ergebnisse resultierten<br />

auch bei re<strong>in</strong>er Östrogentherapie. E<strong>in</strong>e große Metaanalyse unter Berücksichtigung<br />

von 16 Studien mit <strong>in</strong>sgesamt 10.114 Frauen zeigte entsprechend weder<br />

für die re<strong>in</strong>e Östrogen- noch für die komb<strong>in</strong>ierte Hormonersatztherapie<br />

e<strong>in</strong>en positiven Eff ekt auf die Kognition. Im Gegenteil ergab sich sogar e<strong>in</strong><br />

Trend für e<strong>in</strong>e mögliche negative Auswirkung (Lethaby et al. 2008).<br />

E<strong>in</strong>e detaillierte Betrachtung dieser Ergebnisse off enbart allerd<strong>in</strong>gs, dass<br />

e<strong>in</strong>e nicht ausreichende Berücksichtigung wichtiger E<strong>in</strong>zelfaktoren (unterschiedliche<br />

Altersgruppen, Art der Menopause, Modus der Hormonersatztherapie<br />

etc.) zu dem negativen Gesamtergebnis geführt haben könnte.<br />

Unter diesem Aspekt sche<strong>in</strong>t zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Östrogentherapie bei<br />

jüngeren (< 65 Jahre) postmenopausalen Frauen e<strong>in</strong>en positiven Eff ekt auf<br />

das verbale Gedächtnis zu haben, während andere Formen der Hormonersatztherapie<br />

ke<strong>in</strong>en oder e<strong>in</strong>en negativen E<strong>in</strong>fl uss auf die kognitive Leistung<br />

haben (Etgen et al. 2010b). Diese Interpretation wird durch bildgebende <strong>und</strong><br />

pharmakologische Daten gestützt, die e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fl uss von Östrogen auf chol<strong>in</strong>erge<br />

<strong>und</strong> serotonerge Systeme bei Er<strong>in</strong>nerungsprozessen nur bei jüngeren<br />

Frauen belegen konnten (Maki u. Dumas 2009).<br />

> E<strong>in</strong>e Hormonersatztherapie sollte bei kognitiven Störungen nur bei<br />

jüngeren (< 65 Jahre) postmenopausalen Frauen auf Östrogenbasis<br />

erwogen werden.<br />

18.5.3 Subkl<strong>in</strong>ische Schilddrüsenfunktionsstörung<br />

Der Zusammenhang zwischen e<strong>in</strong>er Demenz <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er manifesten Schilddrüsenfunktionsstörung<br />

ist gut bekannt. Da tierexperimentell e<strong>in</strong>e besondere<br />

Sensitivität des Hippokampus bei e<strong>in</strong>er Schilddrüsendysfunktion (subkl<strong>in</strong>ischer<br />

Hypo- bzw. Hyperthyreoidismus) demonstriert wurde, könnte dies<br />

ebenfalls mit kognitiven Störungen assoziiert se<strong>in</strong>.<br />

E<strong>in</strong> subkl<strong>in</strong>ischer Hypothyreoidismus (TSH erhöht, T3 <strong>und</strong> T4 normal)<br />

steigt mit zunehmendem Alter an, sodass die Prävalenz bei über 60-jährigen


18<br />

330 Kapitel 18 · Behandelbare somatische Risikofaktoren<br />

Personen ca. 25% beträgt. Kle<strong>in</strong>ere Studien berichteten über e<strong>in</strong> erhöhtes<br />

Risiko für e<strong>in</strong>en kognitiven Abbau bei Patienten mit subkl<strong>in</strong>ischem Hypothyreoidismus<br />

bzw. über e<strong>in</strong>e Besserung nach Substitution. In 3 größeren Querschnittstudien<br />

(zusammen > 7000 Teilnehmer) fand sich allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong> Zusammenhang<br />

zwischen subkl<strong>in</strong>ischem Hypothyreoidismus <strong>und</strong> kognitiver<br />

Störung (Roberts et al. 2006).<br />

Die Prävalenz des subkl<strong>in</strong>ischen Hyperthyreoidismus (TSH subnormal,<br />

T3 <strong>und</strong> T4 normal) ist ebenfalls im Alter erhöht <strong>und</strong> beträgt je nach Jod-Versorgungssituation<br />

1–8%. 2 größere Studien berichteten über e<strong>in</strong> 2- bis 3fach<br />

erhöhtes Risiko für die Entwicklung e<strong>in</strong>er kognitiven Dysfunktion im Falle<br />

e<strong>in</strong>es subkl<strong>in</strong>ischen Hyperthyreoidismus, während e<strong>in</strong>e andere Studie unter<br />

Berücksichtigung zahlreicher Kovariaten dies nicht bestätigen konnte.<br />

> Es kann e<strong>in</strong> Zusammenhang zwischen e<strong>in</strong>er latenten Schilddrüsenfunktion<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er kognitiven Störung nicht ausgeschlossen werden,<br />

aber die derzeitige Datenlage ist unzureichend, sodass größere<br />

Längsschnittstudien <strong>und</strong> kontrollierte Studien erforderlich s<strong>in</strong>d.<br />

18.6 Infektionen<br />

18.6.1 Hepatitis-C-Virus-Infektion<br />

Die chronische Hepatitis-C-Virus(HCV)-Infektion ist die zweithäufi gste auf<br />

dem Blutweg übertragene Infektionskrankheit (Prävalenz ca. 2% weltweit).<br />

Die Zahl der HCV-Infi zierten mit chronischen Komplikationen wird sich voraussichtlich<br />

<strong>in</strong> den nächsten 10 Jahren verdreifachen. Insgesamt sche<strong>in</strong>t bei<br />

etwa e<strong>in</strong>em Drittel der Patienten mit HCV-Infektion e<strong>in</strong>e leichte kognitive<br />

Störung vorzuliegen, die überwiegend frontal-subkortikale Bereiche wie Aufmerksamkeit,<br />

Konzentration <strong>und</strong> psychomotorische Geschw<strong>in</strong>digkeit betrifft<br />

(Perry et al. 2008). Ursächlich konnte e<strong>in</strong>e ZNS-Beteiligung verursacht werden<br />

durch<br />

4 E<strong>in</strong>wanderung von <strong>in</strong>fi zierten Monozyten,<br />

4 e<strong>in</strong>en zentralen Eff ekt von peripher entstandenen Zytok<strong>in</strong>en,<br />

4 e<strong>in</strong>e Nebenwirkung der Interferonbehandlung.<br />

Spezifi sche Th erapien s<strong>in</strong>d bisher nicht bekannt.


18.7 · Lebensstil<br />

331<br />

18.6.2 Humanes-Imm<strong>und</strong>efi zienzvirus-Infektion<br />

18<br />

Bei e<strong>in</strong>er Infektion mit dem humanen Imm<strong>und</strong>efi zienzvirus (HIV) existieren<br />

neben e<strong>in</strong>er HIV-1-assoziierten Demenz auch leichte kognitive Störungen,<br />

die v. a. Informationsverarbeitung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Abstraktionsvermögen<br />

<strong>und</strong> exekutive Funktionen umfassen. Vor E<strong>in</strong>führung der<br />

hochaktiven antiretroviralen Th erapie (HAART) waren ca. 22–30% aller HIV-<br />

Patienten im asymptomatischen Stadium von kognitiven Störungen betroff en<br />

(White et al. 1995). Nach neueren Schätzungen ist die Inzidenz der HIV-assoziierten<br />

kognitiven Störung sogar steigend, da e<strong>in</strong>erseits durch HAART die<br />

HIV-assoziierte Demenz rückläufi g ist <strong>und</strong> andererseits viele HIV-Patienten<br />

deutlich länger leben. Die Ursache der kognitiven Defi zite besteht im Wesentlichen<br />

<strong>in</strong> der trotz aller Fortschritte noch teilweise ungeklärten HIV-Neurotoxizität,<br />

die größtenteils auf der zerebralen viralen Replikation bzw. Immunaktivierung<br />

<strong>in</strong> Monozyten, Mikroglia <strong>und</strong> Astrozyten beruht (Hult et al. 2008).<br />

18.7 Lebensstil<br />

18.7.1 Bewegungsmangel<br />

Körperliche Aktivität reduziert das Risiko des Auft retens von kardiovaskulären<br />

Erkrankungen (Hypertonus, Diabetes mellitus, Schlaganfall etc.), die<br />

mit e<strong>in</strong>em Verlust an kognitiven Funktionen assoziiert s<strong>in</strong>d. Körperliche Aktivität<br />

führt darüber h<strong>in</strong>aus zu e<strong>in</strong>er direkten Verbesserung der zerebralen<br />

Perfusion, e<strong>in</strong>er Angiogenese im zerebralen Kortex, e<strong>in</strong>er Steigerung der Neurogenese<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er vermehrten Bildung von neurotrophen Faktoren, <strong>in</strong>sbesondere<br />

im Hippokampus.<br />

Die meisten prospektiven Kohortenstudien, die die Beziehung zwischen<br />

körperlicher Bewegung <strong>und</strong> kognitivem Abbau untersuchten, kamen zu divergenten<br />

Ergebnissen, was wahrsche<strong>in</strong>lich auf methodischen Problemen<br />

beruht (teilweise kle<strong>in</strong>e Teilnehmerzahl < 500 Personen ohne suffi ziente Berücksichtigung<br />

von Störfaktoren; große Diskrepanzen <strong>in</strong>nerhalb der e<strong>in</strong>zelnen<br />

Studienpopulationen; große Variabilität bezüglich der Adjustierung für<br />

mögliche E<strong>in</strong>fl ussfaktoren; Inhomogenität der kognitiven Testverfahren; ger<strong>in</strong>ge<br />

Berücksichtigung e<strong>in</strong>er möglichen reversen Kausalität) (Etgen et al.<br />

2010c). Die jüngste Metaanalyse von 16 prospektiven Studien fand trotz die-


18<br />

332 Kapitel 18 · Behandelbare somatische Risikofaktoren<br />

ser Probleme e<strong>in</strong> verr<strong>in</strong>gertes relatives Risiko für die Entwicklung e<strong>in</strong>er Demenz<br />

<strong>in</strong> der Gruppe mit höchster körperlicher Aktivität im Vergleich zu der<br />

Gruppe mit niedrigster körperlicher Aktivität (gepooltes relatives Risiko: 0,72;<br />

95% KI 0,60–0,86) (Hamer u. Chida 2009).<br />

Zwar gibt es bisher nur e<strong>in</strong>ige kle<strong>in</strong>e kontrollierte Interventionsstudien<br />

mit kurzer Beobachtungsdauer, aber hier ergab sich e<strong>in</strong>e Verbesserung der<br />

Kognition durch körperliche Aktivität.<br />

> E<strong>in</strong> protektiver Effekt auf die kognitive Leistung durch körperliche Aktivität<br />

ist vorhanden, allerd<strong>in</strong>gs bedürfen zahlreiche Detailfragen (z. B.<br />

Dauer <strong>und</strong> Art der Aktivität) noch der Klärung durch weitere Studien.<br />

18.7.2 Ernährung<br />

Die mediterrane Ernährung ist gekennzeichnet durch<br />

4 e<strong>in</strong>en hohen Anteil an Fisch, Gemüse, Obst <strong>und</strong> ungesättigten Fettsäuren<br />

(überwiegend <strong>in</strong> Form von Olivenöl),<br />

4 e<strong>in</strong>en niedrigen Anteil an Milchprodukten, Fleisch <strong>und</strong> gesättigten Fettsäuren,<br />

4 regelmäßigen, moderaten Alkoholgenuss.<br />

Neben den bereits bekannten positiven Auswirkungen dieser Ernährungsform<br />

auf kardiovaskuläre Erkrankungen wurde <strong>in</strong> den letzten Jahren e<strong>in</strong> ähnlicher<br />

Eff ekt auf kognitiven Abbau diskutiert. Neben der Reduktion kardiovaskulärer<br />

Risikofaktoren könnten weitere Mechanismen (z. B. verbesserter<br />

Kohlenhydratmetabolismus, höherer Anteil an Antioxidanzien <strong>und</strong> anti<strong>in</strong>fl<br />

ammatorische Eigenschaft en) hierzu beitragen.<br />

Diese Überlegungen werden durch zahlreiche Beobachtungsstudien gestützt,<br />

<strong>in</strong> denen sich unter mediterraner Ernährung e<strong>in</strong> niedrigeres Risiko für<br />

die Entwicklung e<strong>in</strong>er Demenz zeigte. So ergab z. B. e<strong>in</strong>e neuere Metaanalyse<br />

unter E<strong>in</strong>schluss von 3 prospektiven Kohortenstudien mit > 130.000 Teilnehmern<br />

für den komb<strong>in</strong>ierten Endpunkt M. Park<strong>in</strong>son <strong>und</strong> AD e<strong>in</strong> um 13%<br />

niedrigeres Risiko unter mediterraner Ernährung (Sofi et al. 2008). Randomisierte<br />

kontrollierte Studien, die jeweils Teilaspekte dieser Ernährung (z. B.<br />

Vitam<strong>in</strong> E oder mehrfach ungesättigte Fettsäuren) untersuchten, konnten allerd<strong>in</strong>gs<br />

ke<strong>in</strong>en Eff ekt h<strong>in</strong>sichtlich der Kognition belegen (Middleton u. Yaff e<br />

2009).


18.7 · Lebensstil<br />

. Tab. 18.1 Zusammenhang somatischer Risikofaktoren bei kognitiven Störungen<br />

<strong>und</strong> Screen<strong>in</strong>g- <strong>und</strong> Therapieempfehlungen<br />

333<br />

Somatischer Faktor Assoziation Screen<strong>in</strong>g Therapie<br />

Hypertonus Sicher Ja Blutdrucksenkung<br />

Diabetes mellitus Sicher Ja Normoglykämie<br />

Hyperlipidämie Möglich Empfohlen Unklar<br />

Herz<strong>in</strong>suffizienz Sicher Empfohlen Optimierung<br />

COPD Sicher Empfohlen Vermeidung der<br />

Hypoxie<br />

Asthma bronchiale Sicher Empfohlen Optimierung<br />

Chronische Nieren<strong>in</strong>suffizienz<br />

Sicher Ja Optimierung<br />

Vitam<strong>in</strong>-B 12 -Mangel Unwahrsche<strong>in</strong>lich Ne<strong>in</strong> Ke<strong>in</strong>e Substitution<br />

Hyperhomozyste<strong>in</strong>ämie Unwahrsche<strong>in</strong>lich Ne<strong>in</strong> Ke<strong>in</strong>e Substitution<br />

Vitam<strong>in</strong>-D-Mangel Unwahrsche<strong>in</strong>lich Ne<strong>in</strong> Ke<strong>in</strong>e Substitution<br />

Testosteronmangel Möglich Ne<strong>in</strong> Substitution im<br />

E<strong>in</strong>zelfall<br />

Hormonersatztherapie Möglich Unklar Substitution im<br />

E<strong>in</strong>zelfall<br />

Subkl<strong>in</strong>ische Schilddrüsendysfunktion<br />

Möglich Unklar Substitution im<br />

E<strong>in</strong>zelfall<br />

18<br />

Hepatitis-C-Infektion Möglich Ja Antivirale Therapie<br />

HIV-Infektion Sicher Ja Antiretrovirale<br />

Therapie<br />

Bewegungsmangel Sicher Ja Körperliche<br />

Aktivität<br />

Ernährung Möglich Unklar Mediterrane<br />

Ernährung<br />

COPD chronisch-obstruktive Lungenerkrankung


18<br />

334 Kapitel 18 · Behandelbare somatische Risikofaktoren<br />

> Es ist zwar e<strong>in</strong>e kausale Assoziation zwischen mediterraner Ernährung<br />

<strong>und</strong> protektiver Wirkung bei der Entwicklung kognitiver Störungen<br />

bisher nicht klar belegt, aber aufgr<strong>und</strong> der anderweitig gut dokumentierten<br />

Effekte sollte diese Ernährungsform empfohlen werden.<br />

18.8 Zusammenfassung<br />

E<strong>in</strong>e Übersicht über den Zusammenhang somatischer Risikofaktoren bei<br />

kognitiven Störungen <strong>und</strong> Empfehlungen für Screen<strong>in</strong>g <strong>und</strong> Th erapie gibt<br />

. Tab. 18.1.<br />

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18<br />

336 Kapitel 18 · Behandelbare somatische Risikofaktoren<br />

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Neuropsychologische<br />

Untersuchung<br />

T<strong>in</strong>a Th eml <strong>und</strong> Th omas Jahn<br />

19.1 E<strong>in</strong>führung – 338<br />

337<br />

19.2 Kennzeichen des neuropsychologischen<br />

Untersuchungsansatzes – 339<br />

19.2.1 Wichtige Datenquellen e<strong>in</strong>er neuropsychologischen<br />

Untersuchung – 339<br />

19.3 Indikationen zur neuropsychologischen<br />

Untersuchung – 340<br />

19.<strong>3.</strong>1 Möglichst frühzeitige Erfassung kognitiver E<strong>in</strong>bußen – 341<br />

19.<strong>3.</strong>2 Analyse bee<strong>in</strong>trächtigter <strong>und</strong> erhaltener<br />

kognitiver Funktionen als Beitrag<br />

zu diff erenzialdiagnostischen Fragestellungen – 342<br />

19.<strong>3.</strong>3 Verlaufskontrolle kognitiver Defi zite – 343<br />

19.<strong>3.</strong>4 Indikationsgrenzen – 343<br />

19.4 Untersuchungsbeispiele – 344<br />

19.4.1 Früherkennung Alzheimer-Demenz – 344<br />

19.4.2 Diff erenzialdiagnose Depression<br />

vs. Alzheimer-Demenz – 346<br />

19.4.3 Diff erenzialdiagnose Alzheimer-Demenz<br />

vs. frontotemporale Demenz – 348<br />

19.5 Resümee – 350<br />

Literatur – 351<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_19,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

19


19<br />

338 Kapitel 19 · Neuropsychologische Untersuchung<br />

Zum Thema<br />

Die Erfassung kognitiver <strong>und</strong> affektiver (Dys)Funktionen im Rahmen der Demenzdiagnostik<br />

fällt <strong>in</strong> den Aufgabenbereich des kl<strong>in</strong>ischen Neuropsychologen.<br />

Sie erfolgt hypothesengeleitet aufgr<strong>und</strong> von Fragestellung, Vorbef<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

Patientenmerkmalen. Zentrale Bestandteile der neuropsychologischen Untersuchung<br />

s<strong>in</strong>d neben psychometrischen Tests <strong>und</strong> Fragebogen auch Anamnese,<br />

Exploration <strong>und</strong> Verhaltensbeobachtung. Wichtigste Indikationen zur neuropsychologischen<br />

Untersuchung s<strong>in</strong>d<br />

1. Früherkennung <strong>und</strong> Quantifizierung kognitiver Defizite,<br />

2. Leistungsprofilanalyse bei differenzialdiagnostischen Entscheidungen <strong>und</strong><br />

<strong>3.</strong> Verlaufsbeurteilung kognitiver Leistungse<strong>in</strong>bußen.<br />

19.1 E<strong>in</strong>führung<br />

Die kl<strong>in</strong>ische Neuropsychologie ist e<strong>in</strong> wissenschaft liches Anwendungsfach,<br />

welches auf Erkenntnissen der experimentellen Neuropsychologie, der allgeme<strong>in</strong>en<br />

<strong>und</strong> kl<strong>in</strong>ischen Psychologie, aber auch auf der Neurologie, Neuroanatomie<br />

<strong>und</strong> Neurophysiologie aufb aut (Hartje u. Poeck 2006, Karnath u. Th ier<br />

2003).<br />

Bei Patienten mit Verdacht auf e<strong>in</strong>e Demenz erfasst <strong>und</strong> analysiert der<br />

kl<strong>in</strong>ische Neuropsychologe kognitive <strong>und</strong> aff ektive (Dys)Funktionen <strong>und</strong> leistet<br />

damit e<strong>in</strong>en Beitrag zur Beantwortung diagnostischer <strong>und</strong> diff erenzialdiagnostischer<br />

Fragestellungen. Die Ergebnisse der neuropsychologischen<br />

Untersuchung sollten <strong>in</strong> die Beratung <strong>und</strong> Th erapie von Patienten <strong>und</strong> Angehörigen<br />

e<strong>in</strong>fl ießen. Schließlich kann der kl<strong>in</strong>ische Neuropsychologe neuropsychologisch<br />

f<strong>und</strong>ierte Th erapiemaßnahmen planen <strong>und</strong> durchführen (Werheid<br />

u. Th öne-Otto 2010) sowie psychologische <strong>und</strong> pharmakologische Interventionen<br />

nach wissenschaft lichen Kriterien evaluieren (Jahn 2010).<br />

Das vorliegende Kapitel konzentriert sich auf die Erfassung kognitiver<br />

(Dys)Funktionen im Rahmen der Demenzdiagnostik . Es wird dargestellt,<br />

welche Merkmale neuropsychologische Untersuchungsmethoden auszeichnen,<br />

wann sie <strong>in</strong>diziert s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> wie bei der Untersuchung vorgegangen<br />

wird.


19.2 · Kennzeichen<br />

339<br />

19.2 Kennzeichen des neuropsychologischen<br />

Untersuchungsansatzes<br />

19<br />

E<strong>in</strong>e Besonderheit der neuropsychologischen Diagnostik ist die Verwendung<br />

standardisierter, psychometrischen Gütekriterien genügender Tests, deren Ergebnisse<br />

e<strong>in</strong>e Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Patienten relativ zur (ggf.<br />

alters-, geschlechts- <strong>und</strong> bildungsspezifi schen) Normpopulation ermöglichen .<br />

Derartige Tests im engeren S<strong>in</strong>ne basieren auf Erkenntnissen der psychologischen<br />

Forschung über die Struktur psychischer Funktionen sowie deren<br />

Veränderungen im Alter bzw. nach Hirnschädigungen. Als kl<strong>in</strong>isch e<strong>in</strong>setzbare<br />

Untersuchungs<strong>in</strong>strumente erlauben sie die quantifi zierende Erfassung<br />

verschiedener kognitiver Funktionen wie z. B. Wahrnehmung, Gedächtnis,<br />

Aufmerksamkeit, Sprache, Visuokonstruktion, Psychomotorik, Planung <strong>und</strong><br />

Handlungskontrolle, schlussfolgerndes Denken <strong>und</strong> Intelligenz (Lezak et al.<br />

2004, Sturm et al. 2009). Gegenüber kürzeren Screen<strong>in</strong>g-Verfahren zeichnen<br />

sich psychometrische Tests i. e. S. durch höhere Testgüte, größere Sensitivität<br />

<strong>und</strong> Spezifi tät <strong>und</strong> sorgfältigere Normierung aus, was reliablere (genauere)<br />

<strong>und</strong> validere (gültigere) Ergebnisse gewährleistet. Die Komb<strong>in</strong>ation mehrerer<br />

Tests für verschiedene kognitive Funktionen mit dem Ziel e<strong>in</strong>er Leistungsprofi<br />

lanalyse ist dabei häufi g von zusätzlichem diagnostischem <strong>und</strong> diff erenzialdiagnostischem<br />

Nutzen, <strong>in</strong>sbesondere bei der Erfassung von leicht ausgeprägten<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigungen wie auch bei der Beschreibung von Veränderungen<br />

im Verlauf (s. unten).<br />

19.2.1 Wichtige Datenquellen<br />

e<strong>in</strong>er neuropsychologischen Untersuchung<br />

Die neuropsychologische Untersuchung erfolgt hypothesengeleitet, je nach<br />

Fragestellung müssen dabei auch andere Datenquellen berücksichtigt werden.<br />

Dazu gehört e<strong>in</strong>e Befragung des Patienten, ggf. auch der Angehörigen, h<strong>in</strong>sichtlich<br />

kognitiver <strong>und</strong> aff ektiver Beschwerden, deren Beg<strong>in</strong>n <strong>und</strong> Verlauf.<br />

Um Bedeutung <strong>und</strong> Konsequenzen der Beschwerden e<strong>in</strong>schätzen zu können,<br />

bedarf es auch genauer Informationen über familiäre, berufl iche <strong>und</strong> soziale<br />

Kontextbed<strong>in</strong>gungen. Nicht nur während Anamnese <strong>und</strong> Exploration, auch<br />

im Zuge der Testbearbeitung gibt die Verhaltensbeobachtung Aufschlüsse<br />

über emotionales Erleben, Motivation <strong>und</strong> Leistungsorientierung, soziales


19<br />

340 Kapitel 19 · Neuropsychologische Untersuchung<br />

Verhalten <strong>und</strong> Handlungssteuerung. Ergänzend können von Fall zu Fall auch<br />

Fragebogen, Selbst- <strong>und</strong> Fremd-Rat<strong>in</strong>gs sowie nichtstandardisierte kl<strong>in</strong>ische<br />

Prüfungen wertvolle Informationen liefern. Die systematische Erhebung all<br />

dieser Informationen unter Berücksichtigung relevanter Patientenmerkmale<br />

(z. B. Medikamentene<strong>in</strong>nahme, Testerfahrung, Wahrnehmungse<strong>in</strong>schränkungen,<br />

motorische Beh<strong>in</strong>derungen u. a.) verlangt <strong>in</strong> jedem e<strong>in</strong>zelnen Fall<br />

e<strong>in</strong>e entsprechend sorgfältige Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung der neuropsychologischen<br />

Untersuchung (. Abb. 19.1).<br />

Aus der Sicht des praktisch tätigen Arztes mag die neuropsychologische<br />

Untersuchung zwei Nachteile haben: sie ist sehr zeitaufwendig <strong>und</strong> ohne spezielles<br />

Fachwissen kaum lege artis durchzuführen. Spezifi sche Kenntnisse s<strong>in</strong>d<br />

weniger für die konkrete Durchführung <strong>und</strong> numerische Auswertung psychometrischer<br />

Tests vonnöten, die aus Gründen der Objektivität <strong>und</strong> Standardisierung<br />

<strong>in</strong> detaillierten Manualen beschrieben s<strong>in</strong>d, als vielmehr im H<strong>in</strong>blick<br />

auf Fragen der Test<strong>in</strong>dikation, der zugr<strong>und</strong>e liegenden messtechnischen<br />

Operationen <strong>und</strong> der dah<strong>in</strong>ter stehenden psychologischen Th eorien, die bei<br />

der zusammenfassenden Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden<br />

müssen (Jahn 2005).<br />

19.3 Indikationen zur neuropsychologischen<br />

Untersuchung<br />

Indikationsbereiche e<strong>in</strong>er neuropsychologischen Untersuchung<br />

4 Früherkennung kognitiver Veränderungen, <strong>in</strong>sbesondere bei fraglichen,<br />

leichten oder atypischen Defiziten<br />

4 Subjektiv beklagte Leistungse<strong>in</strong>bußen überdurchschnittlich leistungsfähiger<br />

Personen mit <strong>und</strong> ohne depressive Verstimmungen<br />

4 Feststellung bee<strong>in</strong>trächtigter, aber auch erhaltener kognitiver Funk tionen<br />

im H<strong>in</strong>blick auf differenzialdiagnostische Entscheidungen (psychometrische<br />

Profilanalyse)<br />

4 Quantifizierung des Schweregrades der kognitiven Leistungse<strong>in</strong>bußen<br />

<strong>und</strong> deren Verlaufsbeurteilung


19.3 · Indikationen<br />

Anamnese <strong>und</strong><br />

Exploration<br />

Vorbef<strong>und</strong>e Fragestellung<br />

Präzisierung der Fragestellung <strong>und</strong><br />

Planung der neuropsychologischen<br />

Untersuchung<br />

Psychometrische Tests<br />

(ggf. ergänzt um<br />

Fragebogen <strong>und</strong><br />

kl<strong>in</strong>ische Prüfungen)<br />

Auswertung <strong>und</strong> Interpretation<br />

der Untersuchungsergebnisse<br />

Neuropsychologischer Bef<strong>und</strong><br />

. Abb. 19.1 Vorgehensweise <strong>und</strong> Komponenten e<strong>in</strong>er neuropsychologischen Untersuchung<br />

341<br />

Verhaltensbeobachtung<br />

19<br />

19.<strong>3.</strong>1 Möglichst frühzeitige Erfassung kognitiver E<strong>in</strong>bußen<br />

Gedächtnisdefi zite, aber auch andere Bee<strong>in</strong>trächtigungen der geistigen Leistungsfähigkeit<br />

s<strong>in</strong>d zentrale diagnoseleitende Symptome e<strong>in</strong>er Demenz . Um<br />

kognitive E<strong>in</strong>bußen, die über normale Alterungsprozesse h<strong>in</strong>ausgehen, möglichst<br />

frühzeitig <strong>und</strong> genau zu erfassen, ist e<strong>in</strong>e psychometrische Untersuchung<br />

unabd<strong>in</strong>gbar. Zwar liefern Screen<strong>in</strong>g-Verfahren wie die M<strong>in</strong>i-Mental


19<br />

342 Kapitel 19 · Neuropsychologische Untersuchung<br />

State Exam<strong>in</strong>ation (MMSE), die vom Hausarzt durchgeführt werden können,<br />

hierfür erste Anhaltspunkte (Ivemeyer u. Zerfaß 2006). S<strong>in</strong>d die Defi zite jedoch<br />

diskret, betreff en sie Funktionsbereiche, die im Screen<strong>in</strong>g nicht geprüft<br />

werden, oder war der Patient prämorbid überdurchschnittlich leistungsfähig,<br />

so s<strong>in</strong>d derartige Verfahren nicht sensitiv genug, <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e beg<strong>in</strong>nende Demenz<br />

kann leicht übersehen werden (Jahn 2010).<br />

19.<strong>3.</strong>2 Analyse bee<strong>in</strong>trächtigter <strong>und</strong> erhaltener kognitiver<br />

Funktionen als Beitrag zu diff erenzialdiagnostischen<br />

Fragestellungen<br />

Die möglichen Ursachen von Bee<strong>in</strong>trächtigungen des Gedächtnisses <strong>und</strong> anderen<br />

kognitiven Funktionen s<strong>in</strong>d außerordentlich vielfältig. Neben zahlreichen<br />

neurologischen <strong>und</strong> auch psychiatrischen Erkrankungen – etwa die<br />

sog. Pseudodemenz im Rahmen e<strong>in</strong>er Depression – können beispielsweise<br />

Alkohol- <strong>und</strong> Medikamentenabusus , ja selbst anhaltende Schlafstörungen<br />

oder Stress mit erheblichen kognitiven Defi ziten assoziiert se<strong>in</strong>, die e<strong>in</strong>e diff erenzialdiagnostische<br />

Abgrenzung erschweren. Allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d gerade neurodegenerative<br />

Erkrankungen zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> leichten Stadien durch charakteristische<br />

Leistungsprofi le gekennzeichnet, die im Zusammenhang mit zugr<strong>und</strong>e<br />

liegenden neuropathologischen Veränderungen stehen (Pasquier 1999). Dabei<br />

ist das vorhandene Wissen über normale alterungssassoziierte Veränderungen<br />

<strong>in</strong> spezifi schen kognitiven Leistungsbereichen zu berücksichtigen<br />

(Kalbe u. Kessler 2009), was technisch über die Verwendung altersnormierter<br />

Testverfahren geschieht.<br />

> E<strong>in</strong>e neuropsychologische Untersuchung mit genauer Analyse bee<strong>in</strong>trächtigter<br />

<strong>und</strong> erhaltener kognitiver Funktionen kann bei differenzialdiagnostischen<br />

Fragestellungen entscheidende H<strong>in</strong>weise liefern.<br />

Das typische Leistungsprofi l e<strong>in</strong>er depressiven Störung im Alter unterscheidet<br />

sich von dem e<strong>in</strong>er beg<strong>in</strong>nenden Alzheimer-Demenz (AD)<br />

(Jahn et al. 2004). E<strong>in</strong>e beg<strong>in</strong>nende frontotemporale Degeneration<br />

oder e<strong>in</strong> alkoholbed<strong>in</strong>gtes amnestisches Syndrom gehen mit teilweise<br />

anderen Veränderungen von kognitiven <strong>und</strong> Verhaltensmerkmalen<br />

e<strong>in</strong>her als e<strong>in</strong>e beg<strong>in</strong>nende AD. Bei der Abgrenzung dieser Erkrankungen<br />

ist e<strong>in</strong>e neuropsychologische Untersuchung <strong>in</strong>diziert.


19.3 · Indikationen<br />

343<br />

19<br />

Bei anderen diff erenzialdiagnostischen Fragestellungen kann die Analyse des<br />

Leistungsprofi ls hilfreich se<strong>in</strong>, wenngleich die Aussagekraft neurologischer<br />

<strong>und</strong> bildgebender Bef<strong>und</strong>e überwiegt. Beispiele s<strong>in</strong>d die Abgrenzung der beg<strong>in</strong>nenden<br />

AD von Park<strong>in</strong>son-Erkrankungen oder von vaskulär bed<strong>in</strong>gten<br />

<strong>Demenzen</strong>.<br />

Schließlich gibt es auch e<strong>in</strong>e Reihe von Erkrankungen, bei denen ke<strong>in</strong>e charakteristischen<br />

Unterschiede im kognitiven Leistungsprofi l zu erwarten s<strong>in</strong>d.<br />

So wäre beispielsweise e<strong>in</strong> Vergleich der Leistungsprofi le zwischen den »subkortikalen«<br />

Erkrankungen Morbus Park<strong>in</strong>son vs. Chorea Hunt<strong>in</strong>gton <strong>in</strong> diff erenzialdiagnostischer<br />

H<strong>in</strong>sicht wenig Erfolg versprechend (Rosenste<strong>in</strong> 1998).<br />

19.<strong>3.</strong>3 Verlaufskontrolle kognitiver Defi zite<br />

Dem Verlaufsaspekt kommt bei der Diagnose e<strong>in</strong>er Demenz besondere Bedeutung<br />

zu . Insbesondere <strong>in</strong>itial ger<strong>in</strong>ggradige Leistungse<strong>in</strong>bußen prämorbid<br />

überdurchschnittlich leistungsfähiger Personen s<strong>in</strong>d bei e<strong>in</strong>maliger Untersuchung<br />

nicht sicher zu bewerten. Auch bei schwierigen diff erenzialdiagnostischen<br />

Fragestellungen wie etwa der Unterscheidung zwischen e<strong>in</strong>em demenziellen<br />

Prozess <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Depression mit kognitiven Leistungse<strong>in</strong>bußen kann<br />

e<strong>in</strong>e Verlaufsbeurteilung relevante Informationen liefern. Schließlich ist auch<br />

bei älteren Menschen mit der Diagnose e<strong>in</strong>er leichten kognitiven Bee<strong>in</strong>trächtigung<br />

(LKB) e<strong>in</strong>e Verlaufsuntersuchung nach 30 Monaten zu empfehlen, da<br />

deren Risiko erhöht ist, <strong>in</strong>nerhalb dieses Zeitraums e<strong>in</strong>e Demenz zu entwickeln<br />

(7 Kap. 3).<br />

Zur Verlaufsuntersuchung eignen sich psychometrische Tests, die änderungssensitiv<br />

s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> <strong>in</strong> verschiedenen Parallelformen angewendet werden<br />

können, um Wiederholungseff ekte zu m<strong>in</strong>imieren. Erst <strong>in</strong> späteren Krankheitsstadien<br />

s<strong>in</strong>d zur Verlaufsbeurteilung Beobachtungsskalen , die ohne direkte<br />

Leistungsmessung auskommen, oder diagnostische Interviews vorzuziehen<br />

(7 Kap. 4).<br />

19.<strong>3.</strong>4 Indikationsgrenzen<br />

Die Entscheidung, ob e<strong>in</strong>e neuropsychologische Untersuchung s<strong>in</strong>nvoll <strong>und</strong><br />

notwendig ist, erfordert e<strong>in</strong> Abwägen von <strong>in</strong>dividueller Belastung für den Pa-


19<br />

344 Kapitel 19 · Neuropsychologische Untersuchung<br />

tienten <strong>und</strong> potenziellem Informationsgew<strong>in</strong>n. Häufi g bedeutet e<strong>in</strong>e neuropsychologische<br />

Untersuchung die Konfrontation mit kognitiven Defi ziten.<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigungen der Motorik oder der Wahrnehmung stellen die<br />

Durchführbarkeit vieler Tests <strong>in</strong> Frage bzw. verlangen nach sorgfältiger Auswahl<br />

geeigneter Alternativen. Generell wird sowohl die Untersuchungsdurchführung<br />

als auch die Ergebnis<strong>in</strong>terpretation mit zunehmendem Schweregrad<br />

der Erkrankung <strong>und</strong> bestehender Multimorbidität erschwert. Im Zweifelsfall<br />

sollte der Arzt dem Neuropsychologen die Entscheidung überlassen, ob e<strong>in</strong>e<br />

psychometrische Untersuchung überhaupt noch möglich <strong>und</strong> <strong>in</strong> welchem<br />

Umfang sie s<strong>in</strong>nvoll ist. E<strong>in</strong> »Overtest<strong>in</strong>g« sollte vermieden werden.<br />

19.4 Untersuchungsbeispiele<br />

Nachfolgende, der eigenen kl<strong>in</strong>ischen Tätigkeit entnommene Fallbeispiele<br />

verdeutlichen die Aussagekraft , aber auch die Grenzen der neuropsychologischen<br />

Untersuchung im Rahmen der Demenzdiagnostik anhand e<strong>in</strong>iger<br />

häufi g vorkommender Fragestellungen (die Patientenangaben wurden anonymisiert).<br />

19.4.1 Früherkennung Alzheimer-Demenz<br />

Fallbeispiel<br />

Patient<strong>in</strong> 1, 72 Jahre, pensionierte Kosmetiker<strong>in</strong>, klagt über seit etwa 2 Jahren<br />

zunehmende Vergesslichkeit. Im Haushalt sei sie <strong>in</strong>zwischen auf die Unterstützung<br />

durch ihren Ehemann angewiesen . Von den ärztlichen Kollegen werden<br />

zunächst e<strong>in</strong>e ausführliche Anamnese sowie e<strong>in</strong> körperlicher, neurologischer<br />

<strong>und</strong> labormediz<strong>in</strong>ischer Bef<strong>und</strong> erhoben. Die Ergebnisse liefern ke<strong>in</strong>e<br />

h<strong>in</strong>reichende Erklärung der Beschwerden. Auch das kraniale MRT ist altersgemäß,<br />

<strong>in</strong> der Positronenemissionstomographie (PET) zeigt sich jedoch e<strong>in</strong>e<br />

Hypoperfusion temporoparietal beidseits sowie l<strong>in</strong>ks frontal, während Zentralregion<br />

<strong>und</strong> subkortikale Strukturen unauff ällig s<strong>in</strong>d. Die Patient<strong>in</strong> ist<br />

bewusstse<strong>in</strong>sklar, im MMSE erreicht sie 27 von 30 Punkten . Die neuropsychologische<br />

Untersuchung soll zur Klärung der Frage beitragen, ob die<br />

Beschwerden auf e<strong>in</strong>e beg<strong>in</strong>nende AD h<strong>in</strong>weisen.


19.4 · Untersuchungsbeispiele<br />

345<br />

19<br />

Im psychometrischen Teil der Untersuchung werden deutliche Defi zite <strong>in</strong><br />

verbalen Lern- <strong>und</strong> Gedächtnisleistungen (California Verbal Learn<strong>in</strong>g Test<br />

CVLT) festgestellt . Aus e<strong>in</strong>er Liste von 16 Wörtern kann die Patient<strong>in</strong> auch<br />

nach 5-maligem Vorlesen nur 6 Wörter unmittelbar wiedergeben. Nach e<strong>in</strong>er<br />

zeitlichen Verzögerung von 20 M<strong>in</strong>uten kann sie nur noch 2 Wörter er<strong>in</strong>nern,<br />

daneben nennt sie auch e<strong>in</strong>ige listenfremde Wörter (Intrusionen ). Beim anschließenden<br />

Wiedererkennen soll entschieden werden, welche Wörter e<strong>in</strong>er<br />

nunmehr um sog. Distraktoren verlängerten Wortliste <strong>in</strong> der ursprünglichen<br />

Liste enthalten waren <strong>und</strong> welche nicht. Die Patient<strong>in</strong> ordnet der ursprünglichen<br />

Liste fälschlicherweise viele listenfremde Wörter zu <strong>und</strong> erkennt gleichzeitig<br />

nicht alle Wörter wieder. Sämtliche Teilergebnisse dieses Tests s<strong>in</strong>d im<br />

Vergleich zu e<strong>in</strong>er Normstichprobe von Frauen gleichen Alters deutlich unterdurchschnittlich,<br />

wie . Abb. 19.2 anhand der erzielten Prozentränge verdeutlicht.<br />

Auch visuokonstruktive Leistungen , wie das Nachlegen von Mustern mit<br />

farbigen Würfeln (Hamburg-Wechsler Intelligenztest für Erwachsene, HA-<br />

WIE-R: Subtest Mosaiktest ), s<strong>in</strong>d im Vergleich zu ihrer Altersgruppe unterdurchschnittlich.<br />

Die zentralnervöse Informationsverarbeitungsgeschw<strong>in</strong>digkeit<br />

ist leicht reduziert (Nürnberger Alters<strong>in</strong>ventar NAI: Zahlenverb<strong>in</strong>dungstest<br />

). Das Benennen graphisch dargestellter Objekte, Situationen <strong>und</strong> Handlungen<br />

ist ebenfalls leicht bee<strong>in</strong>trächtigt (Aachener Aphasietest : Subtest Benennen;<br />

<strong>in</strong> . Abb. 19.2 nicht dargestellt). Die Fehler, die der Patient<strong>in</strong> dabei<br />

unterlaufen, s<strong>in</strong>d meist semantisch bed<strong>in</strong>gt (z. B. »Dosenöff ner« statt »Schraubenzieher«).<br />

Fazit: Das Leistungsprofi l von Patient<strong>in</strong> 1 ist charakteristisch für e<strong>in</strong>e beg<strong>in</strong>nende<br />

AD. Das früheste beobachtbare Symptom ist <strong>in</strong> der Regel e<strong>in</strong>e Bee<strong>in</strong>trächtigung<br />

des Abspeicherns von neu zu lernenden Informationen. Der<br />

verzögerte freie Abruf von Lernmaterial erwies sich vielfach als sensitivstes<br />

Maß für e<strong>in</strong>e beg<strong>in</strong>nende AD (Zakzanis 1998). Bereits früh treten meist auch<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigungen der semantisch-lexikalischen Sprachdimension <strong>und</strong> des<br />

Gesprächsverhaltens (Romero 1997) sowie visuokonstruktive Defi zite <strong>und</strong><br />

örtliche Orientierungse<strong>in</strong>bußen h<strong>in</strong>zu (Pasquier 1999).


19<br />

346 Kapitel 19 · Neuropsychologische Untersuchung<br />

CVLT: Lernmenge<br />

CVLT: delayed free recall<br />

CVLT: delayed cued recall<br />

CVLT: Intrusionen<br />

CVLT: Wiedererkennen<br />

NAI: Zahlenverb<strong>in</strong>dungstest<br />

. Abb. 19.2 Vergleichendes Leistungsprofi l dreier Patienten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen ausgewählten<br />

psychometrischen Tests (CVLT California Verbal Learn<strong>in</strong>g Tes t, HAWIE-R Hamburg-Wechsler<br />

Intelligenztest für Erwachsen e, rev. Fassung, NAI Nürnberger Alters<strong>in</strong>venta r). Prozentränge<br />

< 16 signalisieren unterdurchschnittliche Leistungen (Erläuterungen s. Text)<br />

19.4.2 Diff erenzialdiagnose Depression<br />

vs. Alzheimer-Demenz<br />

Prozentränge<br />

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100<br />

Pat. 1 Pat. 2 Pat. 3<br />

Fallbeispiel<br />

Patient<strong>in</strong> 2, 58 Jahre, Physiotherapeut<strong>in</strong>, klagt über seit etwa e<strong>in</strong>em halben<br />

Jahr bestehende Bee<strong>in</strong>trächtigungen des Gedächtnisses, der Konzentration,<br />

der Wortfi ndung <strong>und</strong> der Orientierun g. So könne sie sich beispielsweise Namen,<br />

Telefonnummern oder anstehende Erledigungen nicht mehr merken. In<br />

ihrer berufl ichen Tätigkeit fühle sie sich dadurch bee<strong>in</strong>trächtigt. Während sie


19.4 · Untersuchungsbeispiele<br />

347<br />

19<br />

schon lange an depressiven Verstimmungen leide (aufgr<strong>und</strong> derer sie wiederholt<br />

<strong>in</strong> nervenärztlicher Behandlung gewesen sei), seien die kognitiven Beschwerden<br />

erst später h<strong>in</strong>zugekommen.<br />

Zum Untersuchungszeitpunkt nimmt die Patient<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e Medikamente<br />

e<strong>in</strong>. Im MMSE erreicht sie die maximale Punktzahl von 3 0, im Beck-Depressions-Inventa<br />

r bildet sich mit 37 Punkten e<strong>in</strong>e ausgeprägte depressive Verstimmung<br />

ab. Das kraniale MRT ist altersentsprechend, die Laborbef<strong>und</strong>e<br />

s<strong>in</strong>d normal. Die neuropsychologische Untersuchung soll klären helfen, ob<br />

zur depressiven Störung möglicherweise e<strong>in</strong>e beg<strong>in</strong>nende AD h<strong>in</strong>zugetreten<br />

ist.<br />

In der psychometrischen Untersuchung zeigen sich bei durchschnittlicher<br />

Intelligenz leicht reduzierte Leistungen beim Erlernen sowie beim unmittelbaren<br />

<strong>und</strong> verzögerten freien Abrufen verbalen Materials (CVLT, . Abb. 19.2).<br />

Die Patient<strong>in</strong> erkennt jedoch alle 16 Wörter der ursprünglich gelernten Liste<br />

richtig wieder <strong>und</strong> ordnet nur e<strong>in</strong> Wort fälschlicherweise der Liste zu, was<br />

e<strong>in</strong>er durchschnittlichen Wiedererkennensleistung entspricht. Visuokonstruktive<br />

Defi zite (Mosaiktes t) lassen sich nicht feststellen, ebensowenig<br />

sprachliche Bee<strong>in</strong>trächtigungen (Aachener Aphasietes t; <strong>in</strong> . Abb. 19.2 nicht<br />

dargestellt).<br />

Fazit: Somit liegen bei Patient<strong>in</strong> 2 ke<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>weise auf e<strong>in</strong> demenzielles<br />

Syndrom vor, die ger<strong>in</strong>ggradigen Bee<strong>in</strong>trächtigungen <strong>in</strong> bestimmten Aspekten<br />

der verbalen Lern- <strong>und</strong> Gedächtnisleistun g lassen sich noch im Rahmen der<br />

depressiven Symptomatik erklären. Ärztlicherseits wird daraufh <strong>in</strong> die Diagnose<br />

e<strong>in</strong>er mittelgradigen depressiven Episode bei rezidivierender depressiver<br />

Störung (ICD-10: F3<strong>3.</strong>1) gestellt <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e entsprechende Behandlung e<strong>in</strong>geleitet.<br />

Exkurs: Gedächtnisstörung bei Depression im Alter<br />

Wie das Beispiel von Patient<strong>in</strong> 2 verdeutlicht, kann bei Depression im Alter<br />

die kognitive Leistungsfähigkeit nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv<br />

herabgesetzt se<strong>in</strong>, häufi g sogar noch deutlicher als <strong>in</strong> dem hier vorgestellten<br />

Fal l. Derartige Bee<strong>in</strong>trächtigungen können Gedächtnis, Aufmerksamkeit, kognitives<br />

<strong>und</strong> psychomotorisches Tempo sowie exekutive Funktionen betreffen.<br />

Die Bee<strong>in</strong>trächtigungen s<strong>in</strong>d jedoch meist ger<strong>in</strong>ger ausgeprägt, als es die<br />

subjektiven Beschwerden erwarten lassen. Vor allem s<strong>in</strong>d sie reversibel, wenn<br />

sie sich oft auch erst e<strong>in</strong>ige Zeit nach Abkl<strong>in</strong>gen der aff ektiven Symptomatik<br />

zurückbilden. Nicht nur der Verlauf, auch das Profi l der kognitiven Leistungs-


19<br />

348 Kapitel 19 · Neuropsychologische Untersuchung<br />

bee<strong>in</strong>trächtigungen unterscheidet sich meist von dem bei beg<strong>in</strong>nender AD<br />

(Jahn et al. 2004). Während bei Patienten mit AD beispielsweise schon das<br />

Abspeichern von Lernmaterial bee<strong>in</strong>trächtigt ist, beruht die Gedächtnisstörung<br />

bei Depressiven eher auf e<strong>in</strong>er Bee<strong>in</strong>trächtigung des freien Abrufs gelernter<br />

Informationen. Dies bildet sich auch im Gedächtnisprofi l von Patient<strong>in</strong><br />

2 mit leicht bee<strong>in</strong>trächtigter freier Abrufl eistung <strong>und</strong> durchschnittlicher<br />

Wiedererkennensleistung ab (. Abb. 19.2) . E<strong>in</strong> ausgeprägter Recency-Eff ek t<br />

(bevorzugte Wiedergabe der zuletzt dargebotenen Informationen), e<strong>in</strong>e hohe<br />

Anzahl von Intrusione n (listenfremde Wörter) bei freier <strong>und</strong> vor allem bei<br />

gestützter Wiedergabe sowie viele falsch positive Antworten beim Wiedererkennen<br />

wären eher bei Patienten mit AD denn bei depressiven Patienten zu<br />

erwarten. Auch sprachliche Bee<strong>in</strong>trächtigungen, die bei vielen Patienten mit<br />

AD schon früh auft reten, s<strong>in</strong>d bei älteren Depressiven eher die Ausnahme<br />

<strong>und</strong> allenfalls ger<strong>in</strong>ggradig ausgeprägt.<br />

> Besondere Bedeutung kommt hier auch der kl<strong>in</strong>isch-psychiatrischen<br />

Beurteilung der Depressivität zu, die wie im vorliegenden Fall durch<br />

Selbst- oder Fremdbeurteilungsskalen gestützt werden sollte.<br />

19.4.3 Diff erenzialdiagnose Alzheimer-Demenz<br />

vs. frontotemporale Demenz<br />

Fallbeispiel<br />

Patient 3, 66 Jahre, pensionierter Apotheker, kommt geme<strong>in</strong>sam mit se<strong>in</strong>er<br />

Ehefrau <strong>in</strong> unsere Kl<strong>in</strong>ik . Der Patient klagt über Vergesslichkeit, die seit etwa<br />

3 Jahren schleichend zunehme, se<strong>in</strong>er Frau jedoch mehr als ihm selbst auff alle.<br />

Die Ehefrau bemerkt nach eigener Aussage an ihrem Mann Anzeichen von<br />

Verlangsamung, Aff ektverfl achung, Orientierungslosigkeit <strong>und</strong> Schwierigkeiten<br />

beim Bedienen elektrischer Geräte. Patient 3 ist bewusstse<strong>in</strong>sklar, im<br />

MMSE erreicht er 25 von 30 möglichen Punkten , es werden ke<strong>in</strong>e nennenswerten<br />

depressiven Symptome berichtet (Beck-Depressions-Inventar : 5 Punkte).<br />

Die ausführliche Anamnese, der körperliche <strong>und</strong> der neurologische Bef<strong>und</strong><br />

liefern ke<strong>in</strong>e h<strong>in</strong>reichende Erklärung für die Beschwerden des Patienten.<br />

Im kranialen MRT zeigt sich e<strong>in</strong>e leicht- bis mittelgradige Erweiterung der<br />

Temporalhornspitze, e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>ggradige Hemiatrophie rechts <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e<br />

schwach ausgeprägte Kle<strong>in</strong>hirnatrophie. Im kranialen PET fi ndet sich e<strong>in</strong><br />

deutlicher Hypometabolismus beidseits frontal, wobei rechtsseitig bis auf den


19.4 · Untersuchungsbeispiele<br />

349<br />

19<br />

prämotorischen Kortex nahezu der gesamte Frontallappen betroff en ist. Diff erenzialdiagnostisch<br />

werden e<strong>in</strong>e AD mit frontaler Beteiligung vs. e<strong>in</strong>e frontotemorale<br />

Degeneration diskutiert.<br />

In der neuropsychologischen Untersuchung reagiert Patient 3 nur auf<br />

direkte Auff orderung. Dennoch bearbeitet er alle ihm gestellten Aufgaben bereitwillig<br />

<strong>und</strong> ausreichend konzentriert. In den Ergebnissen (. Abb. 19.2) zeigen<br />

sich e<strong>in</strong>e relative Verlangsamung der zentralnervösen Informationsverarbeitungsgeschw<strong>in</strong>digkeit<br />

(Nürnberger Alters<strong>in</strong>ventar : Zahlenverb<strong>in</strong>dungstest<br />

), e<strong>in</strong>e Abrufstörung gelernter verbaler Informationen (unterdurchschnittlicher<br />

freier Abruf, jedoch durchschnittliche Wiedererkennensleistung im<br />

CVLT) , aber gute visuokonstruktive Fähigkeiten (HAWIE-R: Mosaiktest ).<br />

Weitere psychometrische Ergebnisse tragen zur Klärung der diff erenzialdiagnostischen<br />

Frage bei (<strong>in</strong> . Abb. 19.2 nicht dargestellt): Während Sprachsystematik<br />

(Spontansprache, Benennen) <strong>und</strong> Wortfl üssigkeit nach semantischem<br />

Kriterium (Demenztest : Subtest Supermarktaufgabe ) unauff ällig s<strong>in</strong>d,<br />

ist die Wortfl üssigkeit nach formalem Kriterium (je e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>ute lang Worte<br />

nennen, die mit den Buchstaben F, A bzw. S beg<strong>in</strong>nen) deutlich reduziert.<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigungen zeigen sich außerdem beim planenden <strong>und</strong> problemlösenden<br />

Denken (Transformationsaufgabe »Turm von Hanoi «).<br />

Fazit: Im Leistungsprofi l überwiegen somit Defi zite, die meist mit e<strong>in</strong>er<br />

Schädigung des präfrontalen Kortex assoziiert s<strong>in</strong>d, während die charakteristischen<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigungen e<strong>in</strong>er AD fehlen. Im abschließenden Arztbrief<br />

lautet die Diagnose: »Leichtgradiges demenzielles Syndrom, am ehesten bei<br />

frontotemporaler Degeneration (ICD-10: F02.0)«.<br />

Exkurs: Defi zite bei frontotemporaler Demenz<br />

Die sog. frontotemporale Demenz, e<strong>in</strong>e von drei prototypischen kl<strong>in</strong>ischen<br />

Manifestationen der fokal beg<strong>in</strong>nenden Hirndegenerationen (7 Kap. 9; Neary<br />

et al. 1998, Pasquier 1999), ist durch frühe emotionale Defi zite <strong>und</strong> Verhaltensänderungen<br />

gekennzeichnet, die sich bei Patient 3 <strong>in</strong> Aff ektverfl achung ,<br />

reduziertem Antrieb <strong>und</strong> Aspontaneität äußern . In der psychometrischen<br />

Untersuchung s<strong>in</strong>d v. a. exekutive Funktionen wie Aufmerksamkeit, Planen,<br />

problemlösendes <strong>und</strong> abstraktes Denken sowie formale Wortproduktion bee<strong>in</strong>trächtigt.<br />

M<strong>in</strong>derleistungen <strong>in</strong> Gedächtnisaufgaben lassen sich typischerweise<br />

auf Aufmerksamkeitsschwankungen <strong>und</strong> Abrufdefi zite zurückführen,<br />

während das Abspeichern von Informationen meist relativ erhalten ist. M<strong>in</strong>derleistungen<br />

<strong>in</strong> visuokonstruktiven Aufgaben ergeben sich eher aus dem we-


19<br />

350 Kapitel 19 · Neuropsychologische Untersuchung<br />

nig planvollen Vorgehen der Patienten, also e<strong>in</strong>em Defi zit der Handlungssteuerung,<br />

denn aufgr<strong>und</strong> von visuell-räumlichen oder räumlich-konstruktiven<br />

Defi ziten. Außerdem ist die Sprachsemantik meist erhalten.<br />

Der E<strong>in</strong>satz h<strong>in</strong>reichend diff erenzierter Tests zur Erfassung von exekutiven<br />

Funktionen, Gedächtnis <strong>und</strong> Sprache ist zur Abgrenzung der frontotemporalen<br />

Degenerationen gegenüber beg<strong>in</strong>nender AD von entscheidender Bedeutung.<br />

Während sich die Leistungsprofi le dieser <strong>Demenzen</strong> zum<strong>in</strong>dest im<br />

frühen Krankheitsstadium unterscheiden (Pasquier 1999, Neary et al. 1998),<br />

ist schon <strong>in</strong> mittleren Erkrankungsstadien e<strong>in</strong>e zuverlässige Abgrenzung anhand<br />

des kl<strong>in</strong>ischen <strong>und</strong> neuropsychologischen Querschnittbef<strong>und</strong>s meist<br />

nicht mehr möglich (<strong>Förstl</strong> et al. 1996). Dies unterstreicht e<strong>in</strong>mal mehr die<br />

Bedeutung, die e<strong>in</strong>er möglichst frühzeitigen neuropsychologischen Untersuchung<br />

von Patienten mit der Verdachtsdiagnose e<strong>in</strong>er Demenz zukommt.<br />

19.5 Resümee<br />

Dem kl<strong>in</strong>ischen Neuropsychologen stehen heute zahlreiche bewährte Untersuchungsmethoden<br />

zur Verfügung, wobei psychometrische Leistungstests<br />

i. e. S. für die möglichst frühzeitige In-vivo-Diagnose demenzieller Erkrankungen<br />

nahezu unverzichtbar s<strong>in</strong>d. Zusammen mit anamnestischen, labormediz<strong>in</strong>ischen<br />

<strong>und</strong> bildgebenden Bef<strong>und</strong>en unterstützen diese auch diff erenzialdiagnostische<br />

Entscheidungen (Mathias u. Burke 2009). Besonders gilt<br />

dies im H<strong>in</strong>blick auf die <strong>in</strong> den letzten Jahren vermehrt diskutierten mild cognitive<br />

impairments (MCI; leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigungen, LKB), die e<strong>in</strong>erseits<br />

von alterstypischen Veränderungen schwierig abzugrenzen s<strong>in</strong>d, für<br />

die andererseits aber gerade <strong>in</strong> Abhängigkeit von Art <strong>und</strong> Umfang kognitiver<br />

Defi zite verschiedene Subtypen defi niert wurden (Petersen 2005), mit teilweise<br />

unterschiedlichem Risiko für den späteren Übergang <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Demenz (Ravaglia<br />

et al. 2006).<br />

Die quantitativen Ergebnisse <strong>und</strong> qualitativen Beobachtungen e<strong>in</strong>er lege<br />

artis durchgeführten neuropsychologischen Untersuchung müssen stets vor<br />

dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> der subjektiven Beschwerden, der <strong>in</strong>dividuellen Krankheitsgeschichte<br />

<strong>und</strong> der aktuellen Lebenssituation des Patienten sowie im<br />

Kontext neuro- <strong>und</strong> labordiagnostischer Bef<strong>und</strong>e <strong>in</strong>terpretiert werden. Erfolgt<br />

die neuropsychologische Untersuchung frühzeitig genug <strong>und</strong> wird<br />

sie – was leider immer noch zu selten geschieht – <strong>in</strong> geeigneten Abständen


Literatur<br />

351<br />

19<br />

konsequent wiederholt, leistet sie wertvolle Hilfe bei anstehenden diagnostischen<br />

<strong>und</strong> diff erenzialdiagnostischen Entscheidungen <strong>und</strong> damit bei der<br />

Behandlung betroff ener Patienten.<br />

Literatur<br />

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19<br />

352 Kapitel 19 · Neuropsychologische Untersuchung<br />

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Bildgebende Verfahren<br />

Frank Hentschel <strong>und</strong> <strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong><br />

20.1 Gr<strong>und</strong>lagen – 354<br />

20.2 »Normales« Altern – 358<br />

20.3 Leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung<br />

(mild cognitive impairment) – 358<br />

20.4 Alzheimer-Demenz – 360<br />

353<br />

20.5 Demenz <strong>und</strong> extrapyramidalmotorische<br />

Erkrankungen – 360<br />

20.6 Frontotemporale Degenerationen – 364<br />

20.7 Vaskuläre <strong>Demenzen</strong> – 364<br />

20.8 Creutzfeldt-Jakob-Demenz – 368<br />

20.9 Normaldruckhydrozephalus – 369<br />

20.10 Alkoholassoziierte Hirnveränderungen – 370<br />

20.11 Andere Hirnveränderungen mit schwerwiegenden<br />

kognitiven Komplikationen – 371<br />

Literatur – 374<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_20,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

20


20<br />

354 Kapitel 20 · Bildgebende Verfahren<br />

Zum Thema<br />

Die strukturelle Bildgebung mit Magnetresonanztomographie (MRT) oder<br />

Computertomographie (CT) ist e<strong>in</strong> unverzichtbarer Bestandteil der Demenzdiagnostik.<br />

Rezeptorstudien <strong>und</strong> funktionelle Darstellungen mit funktioneller<br />

Magnetresonanztomographie (f-MRT), S<strong>in</strong>gle-Photon Emission Computed<br />

Tomography (SPECT) oder Positronenemissionstomographie (PET) s<strong>in</strong>d speziellen<br />

Indikationen vorbehalten.<br />

Vorwiegend <strong>in</strong>novative MRT-Techniken leisten Beiträge zur Aufdeckung der<br />

Pathophysiologie psychischer Erkrankungen. Die Ergebnisse s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Regel<br />

statistische Aussagen <strong>und</strong> nicht von <strong>in</strong>dividual-diagnostischer Bedeutung.<br />

20.1 Gr<strong>und</strong>lagen<br />

Bei bis zu 30% der Patienten mit vermuteten demenziellen Erkrankungen verändert<br />

die Bildgebung die diagnostische Zuordnung (. Tab. 20.1). Gelegentlich<br />

liefert die strukturelle Bildgebung e<strong>in</strong>deutige H<strong>in</strong>weise auf e<strong>in</strong>e qualitativ<br />

andere Ursache der kognitiven Störungen, die e<strong>in</strong>e spezielle Behandlung erfordert,<br />

z. B.<br />

4 Raumforderungen (hirneigenes oder metastatisches Malignom, Abszess,<br />

<strong>in</strong>trazerebrales, Sub- oder Epiduralhämatom),<br />

4 Liquorabfl ussstörungen (okklusiver oder Normaldruckhydrozephalus),<br />

4 Entzündungen (Herpes-simplex-Enzephalitis, limbische Enzephalitis;<br />

. Abb. 20.1),<br />

4 metabolische Erkrankungen (Wernicke-Korsakoff -Enzephalopathie, zentrale<br />

pont<strong>in</strong>e Myel<strong>in</strong>olyse).<br />

Meist zeigt die strukturelle Bildgebung jedoch die quantitative Ausprägung<br />

der häufi gsten degenerativen <strong>und</strong> vaskulären Demenzursachen, die häufi ger<br />

geme<strong>in</strong>sam als getrennt auft reten:<br />

4 kortikale Atrophie, z. B. bei Alzheimer-Demenz (AD) <strong>und</strong> frontotemporaler<br />

Degeneration,<br />

4 subkortikale Atrophie bei degenerativen Basalganglienerkrankungen, z. B.<br />

Chorea Hunt<strong>in</strong>gton <strong>und</strong> Morbus Park<strong>in</strong>son,<br />

4 makroangiopathische kortikale oder subkortikale Infarkte z. B. bei der sogenannten<br />

Multi<strong>in</strong>farktdemenz oder den strategischen Th alamus- <strong>und</strong><br />

Gyrus-angularis-Infarkten,


20.1 · Gr<strong>und</strong>lagen<br />

. Tab. 20.1 Vor- <strong>und</strong> Nachteile von CT <strong>und</strong> MRT<br />

CT MRT<br />

Bessere Akzeptanz<br />

Vertretbare Strahlenbelastung bei<br />

älteren Patienten bei korrekter Indikationsstellung<br />

Kürzere Untersuchungszeit<br />

Besonders geeignet zur Untersuchung<br />

von Dichteunterschieden wie Blutungen<br />

oder Knochenprozessen<br />

Breite Verfügbarkeit<br />

Ger<strong>in</strong>gere strukturelle Aufl ösung <strong>und</strong><br />

e<strong>in</strong>geschränkte funktionelle Innovationen<br />

Ke<strong>in</strong>e Kontra<strong>in</strong>dikationen bei korrekter<br />

Indikationsstellung<br />

355<br />

20<br />

Bessere räumliche Aufl ösung<br />

Ke<strong>in</strong>e Röntgenstrahlen<br />

Untersuchung dauert länger <strong>und</strong> ist lauter<br />

(Gradientenschaltung)<br />

Ebenen frei defi nierbar, daher besser<br />

geeignet zur Untersuchung von<br />

Hirnstamm, h<strong>in</strong>terer Schädelgrube,<br />

Mittell<strong>in</strong>ie, Hypophyse<br />

Umfangreichere, auf die wählbare<br />

Relaxationszeit der Gewebe bezogene<br />

Darstellung (»<strong>in</strong>novatives Entwicklungspotenzial«)<br />

Kontra<strong>in</strong>dikationen!<br />

. Abb. 20.1 Limbische Enzephalitis (MRT, 1,5 Tesla). L<strong>in</strong>kes Bild (T1w): beidseits unscharfe<br />

Abgrenzung von R<strong>in</strong>de <strong>und</strong> Marklager, <strong>in</strong> der rechten Hemisphäre (im Bild l<strong>in</strong>ks) mit Verlagerung<br />

des Temporalhorns nach rostral-lateral; rechtes Bild (T2w): hyper<strong>in</strong>tenses Signal<br />

durch Störung der Blut-Hirn-Schranke <strong>in</strong> der Amygdala-Hippokampus-Formation, rechts<br />

deutlicher als l<strong>in</strong>ks


20<br />

356 Kapitel 20 · Bildgebende Verfahren<br />

4 mikroangiopathische Parenchymläsionen, die von <strong>in</strong>kompletten Marklager<strong>in</strong>farkten<br />

(Leukoaraiose, white matter lesions, WML), bis zu kle<strong>in</strong>en<br />

kompletten Infarkten reichen (Lakunen, Status lacunaris).<br />

Es ist die Aufgabe des (Neuro)Radiologen, das Verteilungsmuster <strong>und</strong> die<br />

Ausprägung dieser Veränderungen zu quantifi zieren <strong>und</strong> den kl<strong>in</strong>isch <strong>und</strong><br />

praktisch tätigen Arzt mit Bezug auf kl<strong>in</strong>ische Angaben <strong>und</strong> Fragestellung<br />

darüber zu <strong>in</strong>formieren.<br />

Bei begrenzter, uniformer Reaktion des Gehirns auf Toxen <strong>und</strong> Noxen<br />

s<strong>in</strong>d die mit hoher Sensitivität erhobenen strukturellen Bef<strong>und</strong>e häufi g unspezifi<br />

sch. Pathologisch bedeutsame Bef<strong>und</strong>e s<strong>in</strong>d von altersnormalen Veränderungen<br />

häufi g nur <strong>in</strong> Quantität <strong>und</strong> Verteilungsmuster zu unterscheiden.<br />

»Inzidente« Zufallsbef<strong>und</strong>e wie asymptomatische Men<strong>in</strong>geome oder P<strong>in</strong>ealiszysten<br />

bedürfen ke<strong>in</strong>er Th erapie <strong>und</strong> daher auch ke<strong>in</strong>er Ausweitung der<br />

Diagnostik.<br />

Letztlich hat die Bildgebung bei der Demenz auch e<strong>in</strong>e forensische Bedeutung.<br />

Dies gilt <strong>in</strong> gleicher Weise z. B. für die Untersuchung zur Fahrtauglichkeit<br />

wie für die gutachterliche E<strong>in</strong>schätzung nach stattgehabtem Unfall oder<br />

anderen Delikten.<br />

Subjektiv können die Enge des Geräts <strong>und</strong> die lauten Geräusche belastend<br />

für Patienten se<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>e Klaustrophobie ist medikamentös <strong>und</strong> nichtmedikamentös<br />

zu behandeln. Hochgradig verwirrte <strong>und</strong> <strong>in</strong>kooperative Patienten<br />

s<strong>in</strong>d ggf. nicht zu untersuchen. Objektiv führt die Untersuchung im Magnetfeld<br />

zur Erwärmung oder Verlagerung ferromagnetischer Materialien <strong>und</strong><br />

stört die Funktion aktiver biomediz<strong>in</strong>ischer Implantate. Daher ist bei Patienten<br />

mit z. B. Herzschrittmachern, Kochlea-Implantaten, Eisene<strong>in</strong>sprengseln<br />

im Auge <strong>und</strong> Aneurysma-Clips zu prüfen, ob nicht e<strong>in</strong>e andere Untersuchungstechnik<br />

(CT, Ultraschall) e<strong>in</strong>zusetzen ist.<br />

> Bei unumgänglichen Untersuchungen s<strong>in</strong>d besondere Vorsichtsmaßnahmen<br />

zu treffen!<br />

Unabhängig davon s<strong>in</strong>d Bee<strong>in</strong>trächtigungen der Diagnostik durch lokale Artefakte<br />

ferromagnetischer Materialien zu berücksichtigen.<br />

Auch bei älteren Menschen kommen Tätowierungen <strong>und</strong> – seltener –<br />

Pierc<strong>in</strong>gs vor. Besonders bei Untersuchung im 3T-Gerät kann mittels Kühlakkus<br />

(<strong>in</strong>ternationale Empfehlungen) oder feuchten Kompressen (eigene Erfahrungen)<br />

Verbrennungen vorgebeugt werden.


20.1 · Gr<strong>und</strong>lagen<br />

357<br />

20<br />

Die modernere Technik der MRT ermöglicht durch spezielle Sequenzen<br />

die gezielte Untersuchung anatomischer <strong>und</strong> pathologischer Details (. Abb.<br />

20.1) .<br />

MRT-Sequenzen<br />

4 T1-w (T1-gewichtet): Anatomie, Mark- R<strong>in</strong>dendifferenzierung, Basalganglien,<br />

4 T1-w KM (T1w-gewichtet mit Kontrastmittel): Kontrastmittel i.v. ändert<br />

die Relaxation des Gewebes,<br />

4 T2/PDw (Doppelecho, T2- <strong>und</strong> Protonen-gewichtet): Pathologie v. a. mit<br />

abweichendem Flüssigkeitsgehalt <strong>und</strong> Störung der Anisotropie,<br />

4 T2*w (T2-Stern-gewichtet): empf<strong>in</strong>dlich für Eisen bzw. Blutabbau produkte,<br />

4 FLAIR (fluid attenuated <strong>in</strong>version recovery) : besonders sensitive T2-<br />

Sequenz mit Unterdrückung des stationären Liquorsignals; Marklager<strong>und</strong><br />

r<strong>in</strong>dennahe Veränderungen,<br />

4 MTI (magnetisation transfer imag<strong>in</strong>g) : strukturelle Gewebeveränderungen<br />

auf molekularer Ebene <strong>in</strong> Abhängigkeit von freiem <strong>und</strong> geb<strong>und</strong>enem<br />

Wasser,<br />

4 DWI (diffusion-weighted imag<strong>in</strong>g ): Messung der Hirndiffusion;<br />

mikro skopische Wasserbewegung, axonale Intaktheit,<br />

4 DTI (diffusion tensor imag<strong>in</strong>g ): die strukturbed<strong>in</strong>gte E<strong>in</strong>schränkung der<br />

Brownschen Molekularbewegung lässt die Fraktale Anisotropie (FA)<br />

<strong>und</strong> Diffusivität (D) im Marklager berechnen,<br />

4 Fiber track<strong>in</strong>g : Berechnung von zusammenhängenden funktionellen<br />

Strukturen (Faserbündeln) mit gleicher Anisotropie,<br />

4 PWI (perfusion-weighted imag<strong>in</strong>g ): Messung der Hirnperfusion,<br />

4 SWI (susceptibility-weighted imag<strong>in</strong>g ): Detektion von Mikroblutungen<br />

z. B. bei Amyloidangiopathie <strong>und</strong> Abbildung kle<strong>in</strong>ster kortikaler Venen,<br />

4 SVM (s<strong>in</strong>gle-voxel morphometry ): statistisches Verfahren auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

isometrischer Volum<strong>in</strong>a (Voxel), Bestimmung des e<strong>in</strong>zelnen Bildpunkts<br />

e<strong>in</strong>er vorgewählten Intensität oder Relaxation zur Segmentierung<br />

oder zum quantitativen Gruppenvergleich von Strukturen,<br />

4 DBM (deformation-based morphometry ): statistisches Verfahren, das auf<br />

SVM beruht <strong>und</strong> zur quantitativen Beurteilung kortikaler Strukturen<br />

genutzt wird.


20<br />

358 Kapitel 20 · Bildgebende Verfahren<br />

MTI, DWI <strong>und</strong> DTI, SVM <strong>und</strong> DBM besitzen – im Gegensatz z. B. zur Neurologie<br />

<strong>und</strong> Neurochirurgie – für die Psychiatrie derzeit noch ke<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividual-diagnostische<br />

Bedeutung, tragen aber zur wissenschaft lichen Klärung der<br />

pathophysiologischen Gr<strong>und</strong>lagen demenzieller Erkrankungen bei.<br />

20.2 »Normales« Altern<br />

Das Alter repräsentiert die »vierte Dimension« der diagnostischen Bildgebung.<br />

Ke<strong>in</strong>e der folgenden Hirnveränderunge n kann gr<strong>und</strong>sätzlich als »normal«<br />

im S<strong>in</strong>ne von ges<strong>und</strong> bezeichnet werden. Diese Bef<strong>und</strong>e s<strong>in</strong>d im Senium<br />

sehr häufi g, ohne notwendigerweise mit e<strong>in</strong>er kognitiven Leistungsstörung<br />

assoziiert zu se<strong>in</strong>:<br />

4 Hirnatrophie mit Aufweitung der Furchen <strong>und</strong> Ventrikel,<br />

4 periventrikulär betonte Marklagerveränderungen, »Leukoaraiose«,<br />

4 leichte zerebrale Hypo- oder Hyperperfusion,<br />

4 vermehrter Nachweis von Eisen oder Kalk im Hirngewebe, besonders <strong>in</strong><br />

Kernstrukturen.<br />

20.3 Leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung<br />

(mild cognitive impairment)<br />

Mild cognitive impairment (MCI ) ist für e<strong>in</strong>ige Patienten die Vorstufe der Entwicklung<br />

e<strong>in</strong>es Demenzsyndroms. Die strukturelle Bildgebung zeigt e<strong>in</strong> Kont<strong>in</strong>uum<br />

des hirnatrophischen Prozesses mit fokaler Akzentuierung von Ges<strong>und</strong>en<br />

über MCI h<strong>in</strong> zur AD. Zu unterscheiden ist zwischen den vielfältigen<br />

Formen subjektiver Leistungse<strong>in</strong>buße mit Angst vor e<strong>in</strong>er demenziellen Entwicklung<br />

<strong>und</strong> den Patienten, die e<strong>in</strong>e Demenz entwickeln. Bei dem eigentlichen,<br />

zur AD konvertierenden anamnestic MCI (aMCI) werden strukturelle<br />

Bef<strong>und</strong>e mit leichter, oft unilateraler mediotemporaler Atrophie gef<strong>und</strong>en<br />

(. Abb. 20.2). Die Bef<strong>und</strong>e am medianen Temporallappen <strong>in</strong> nuklearmediz<strong>in</strong>ischen<br />

Untersuchungen <strong>und</strong> PWI sprechen für den Versuch e<strong>in</strong>er zum<strong>in</strong>dest<br />

passageren Kompensation bei dem aMCI.<br />

Bei subjektiver Leistungse<strong>in</strong>buße ohne Objektivierung e<strong>in</strong>er Demenz ist<br />

die Angst auszuräumen, die die Leistung blockieren <strong>und</strong> zur Depression führen<br />

kann. Auch s<strong>in</strong>d reversible Prozesse frühzeitig zu behandeln:


20.3 · Leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung<br />

359<br />

20<br />

. Abb. 20.2 Hippokampusatrophi e bei kl<strong>in</strong>isch diagnostizierter leichter kognitiver Bee<strong>in</strong>trächtigung<br />

(MCI) (MRT, 1,5 Tesla, T1w); transversal angulierte Darstellung der Amygdala-<br />

Hippokampus-Formation mit hypo<strong>in</strong>tenser Signalgebung durch Erweiterung der Fissura<br />

hippocampi, l<strong>in</strong>ks stärker ausgeprägt (Pfeile)<br />

4 reversible <strong>und</strong> behandelbare Ursache: Infektion/Entzündung, autochthoner<br />

Hirntumor/Filia, Hydrozephalus, nutritiv-toxische Ursachen,<br />

4 Gefäßerkrankung mit bee<strong>in</strong>fl ussbaren Risikofaktoren: Hypertonus, Hyperlipidämie,<br />

Diabetes mellitus, Depression, Fehlernährung <strong>und</strong> Bewegungsmangel<br />

(»Lifestyle«),<br />

4 Alzheimer-typisches Atrophiemuster ohne Demenz: die Eff ektivität e<strong>in</strong>er<br />

symptomatischen Frühbehandlung ist (noch?) nicht ausreichend geklärt.<br />

Die größte Herausforderung an die Bildgebung ist der Beitrag zur frühen<br />

Identifi kation der MCI-Konverter zur AD. Die Metaanalyse von SVM-Untersuchungen<br />

ergibt retrospektiv (!) für Konverter e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derung der R<strong>in</strong>densubstanz<br />

des Hippokampus <strong>und</strong> des temporalen, parietalen <strong>und</strong> frontalen<br />

Korte x. Andere weisen bei Analyse mit SVM auf die Bedeutung e<strong>in</strong>es Clusters<br />

unter E<strong>in</strong>beziehung von anteriorem Z<strong>in</strong>gulum <strong>und</strong> orbitofrontalem Kortex<br />

h<strong>in</strong>, die retrospektiv (!) zu 75% die Konversion zur AD erklären können. In


20<br />

360 Kapitel 20 · Bildgebende Verfahren<br />

funktionellen Untersuchungen mit PET ergibt sich e<strong>in</strong> dazu diff erentes hypometabolisches<br />

Muster <strong>in</strong> Praecuneus l<strong>in</strong>ks <strong>und</strong> Gyrus c<strong>in</strong>guli posterior. Mit<br />

quantitativen Methoden, z. B. DWI, ist zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>e prospektive <strong>in</strong>dividuelle<br />

Aussage über e<strong>in</strong>en defi nierten cut-off im Hippokampus zu treff en.<br />

20.4 Alzheimer-Demenz<br />

Die Bedeutung der Bildgebung besteht <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie dar<strong>in</strong>, beim kl<strong>in</strong>ischen<br />

Vorliegen e<strong>in</strong>es Demenzsyndroms andere Ursachen auszuschließen. Daneben<br />

lassen sich typische fokal betonte Hirnveränderungen erkennen, die als positive<br />

Indizien für das Vorliegen e<strong>in</strong>er AD gelten, etwa e<strong>in</strong>e Hippokampusatrophie<br />

(. Tab. 20.2).<br />

Das diff erenzialdiagnostische Hauptproblem mit der Bildgebung besteht<br />

dar<strong>in</strong>, dass derzeit – selbst bei ungewöhnlichem Atrophiemuster <strong>und</strong> bei Vorliegen<br />

vaskulärer Veränderungen – das Vorliegen e<strong>in</strong>er Alzheimer-Pathologie<br />

nicht ausgeschlossen werden kann.<br />

> Mit zunehmendem Alter ist bei Demenz <strong>in</strong> der Regel auch von e<strong>in</strong>er<br />

Alzheimer-Pathologie auszugehen!<br />

Quantitative <strong>und</strong> funktionelle Untersuchungen zeigen, dass bei der AD kompensatorische<br />

Mechanismen aktiviert werden, z. B. bei der Verknüpfung von<br />

visuellen <strong>und</strong> lokalisatorischen Leistungen. Die potenzielle diagnostische Bedeutung<br />

des Plaque-Imag<strong>in</strong>g wird untersucht.<br />

20.5 Demenz <strong>und</strong> extrapyramidalmotorische<br />

Erkrankungen<br />

Die Diagnose des idiopathischen Morbus Park<strong>in</strong>son (MP) <strong>und</strong> der Demenz<br />

mit Lewy-Körperchen (DLK, dementia with Lewy bodies) erfolgt kl<strong>in</strong>isch. Bei<br />

den »typischen« Lewy-Körperchen-Erkrankungen mit e<strong>in</strong>er ausgeprägten<br />

morphologischen <strong>und</strong> funktionellen Veränderung der Substantia nigra liegt<br />

e<strong>in</strong> präsynaptisches Defi zit der dopam<strong>in</strong>ergen Projektionen vor. Die Dichte<br />

der präsynaptischen Dopam<strong>in</strong>transporter ist bei präsynaptischen Erkrankungen<br />

verm<strong>in</strong>dert. Die Gabe von L-DOPA führt <strong>in</strong>itial meist zu guten Behandlungserfolgen.


20.5 · Demenz <strong>und</strong> EPS<br />

. Tab. 20.2 Alzheimer-Demenz <strong>in</strong> der Bildgebun g<br />

361<br />

20<br />

Strukturell Mediotemporale Atrophie mit Aufweitung der benachbarten<br />

Liquorräume, frontale, temporale (<strong>und</strong> hochparietale)<br />

Furchenaufweitung<br />

(Studien: Mit hoch aufl ösenden MRT ist bei frontaler Schnittführung<br />

e<strong>in</strong>e Verschmächtigung des Nucleus basalis Meynert<br />

erkennbar)<br />

Funktionell Temporoparietale Hypoperfusion, Hypometabolismus<br />

Diff erenzialdiagnose Demenz mit Lewy-Körperchen: ger<strong>in</strong>gere mediotemporale<br />

Atrophie, okzipitale Atrophie <strong>und</strong> Hypoperfusion<br />

Frontotemporale Degeneration: frontal betonte, meist<br />

asymmetrische Atrophie <strong>und</strong> Hypoperfusion, frontal betonte<br />

Ventrikelerweiterung<br />

Vaskuläre <strong>Demenzen</strong> mit obligaten vaskulären Hirnveränderungen<br />

Bei der frühen Manifestation des MP wurden im Vergleich mit Ges<strong>und</strong>en<br />

mittels DBM statistisch diskrete strukturelle Bef<strong>und</strong>e am Kle<strong>in</strong>hirn gef<strong>und</strong>en,<br />

bei MP mit Demenz aber ke<strong>in</strong>e Beteiligung der medianen Temporallappenstrukturen.<br />

Bei atypischen Park<strong>in</strong>son-Syndromen mit postsynaptischen Veränderungen<br />

s<strong>in</strong>d sowohl die striatalen Dopam<strong>in</strong>-2-Rezeptoren verm<strong>in</strong>dert als<br />

auch die Striatumperfusion reduziert als Indizien e<strong>in</strong>er postsynaptischen Pathologie<br />

(. Tab. 20.3). Die Gabe von L-DOPA führt daher nicht zum Erfolg,<br />

sondern verschlechtert das Befi nden besonders bei kortikobasaler Degeneration<br />

(CBD). Zu den atypischen, neurodegenerativ bed<strong>in</strong>gten Park<strong>in</strong>son-Syndromen<br />

mit prä- <strong>und</strong> postsynaptischen Veränderungen zählen:<br />

4 Multisystematrophie (MSA, . Abb. 20.3),<br />

4 progressive supranukleäre Parese (PSP),<br />

4 kortikobasale Degeneration (CBD),<br />

4 frontotemporale Degeneration mit Park<strong>in</strong>son-Symptomatik .<br />

Die bildgebenden Verfahren können bei der hepatolentikulären Degeneration<br />

(Morbus Wilson ) e<strong>in</strong>e ähnliche Bef<strong>und</strong>konstellation zeigen. Auch bei e<strong>in</strong>em<br />

Striatum<strong>in</strong>farkt können Liganden- <strong>und</strong> Funktionsuntersuchungen entsprechende<br />

neurodegenerative Veränderungen vortäuschen.


20<br />

362 Kapitel 20 · Bildgebende Verfahren<br />

. Tab. 20.3 Differenzialdiagnose typischer <strong>und</strong> atypischer Park<strong>in</strong>son-Syndrome anhand morphologischer <strong>und</strong> funktioneller Kriterien<br />

Strukturell Funktionell DAT D2<br />

↔<br />

↓<br />

asymmetrisch<br />

Kortikale hufeisenförmige Hypoperfusion<br />

am temporoparietal/<br />

okzipitalen Übergang, besonders<br />

ausgeprägt bei visuell<br />

halluz<strong>in</strong>ierenden Patienten<br />

MP/(DLK) Im hoch aufl ösenden MRT erkennbare Verschmächtigung<br />

Substantia nigra, Pars compacta; ansonsten<br />

leichte Hirnatrophie (ger<strong>in</strong>ger bei Park<strong>in</strong>son-Demenz,<br />

etwas stärker ausgeprägt bei Demenz mit Lewy-Körperchen<br />

); Hypo<strong>in</strong>tensität des Putamen durch Eisenablagerung<br />

↓<br />

↓<br />

(symmetrisch)<br />

Hypometabolismus <strong>in</strong> Putamen<br />

<strong>und</strong> Caudatum<br />

MSA Atrophie <strong>und</strong> Hypo<strong>in</strong>tensität (durch Eisenablagerung )<br />

<strong>in</strong> Putamen <strong>und</strong> Caudatum; pathologische Kreuzfi gur<br />

(hot cross bun, »Semmel-Zeichen«) im T2-gewichteten<br />

Horizontalschnitt des Brückenfußes durch Degeneration<br />

der Kle<strong>in</strong>hirnbahnen; Hypo<strong>in</strong>tensität <strong>und</strong> hyper<strong>in</strong>tenser<br />

Randsaum des Putamen (putam<strong>in</strong>al rim) <strong>in</strong><br />

1,5 Tesla<br />

↓<br />

↓<br />

symmetrisch<br />

PSP Mittelhirnatrophie mit Erweiterung der <strong>in</strong>terpedunkulären<br />

Zisterne (»Mickey-Mouse-Zeichen «) <strong>und</strong> des<br />

III. Ventrikels<br />

↓<br />

↓<br />

asymmetrisch<br />

CBD Asymmetrische prä- <strong>und</strong> postzentrale kortikale <strong>und</strong><br />

Basalganglienatrophie mit subkortikaler Gliose<br />

MP Morbus Park<strong>in</strong>son, DAT Dopam<strong>in</strong>transporter; D2 Dopam<strong>in</strong>rezeptor Typ 2, DLK Demenz mit Lewy-Körperchen, MSA Multisystematrophie,<br />

PSP progressive supranukleäre Parese, CBD kortikobasale Degeneration.


20.5 · Demenz <strong>und</strong> EPS<br />

363<br />

20<br />

. Abb. 20.3 Multisystematrophie (MSA) (MRT, 1,5 Tesla). L<strong>in</strong>ks oben (T1w): schmaler<br />

Hirnstamm mit vertiefter Cisterna <strong>in</strong>terpedunculare (»Mickey-Mouse-Zeichen«); rechts oben<br />

(T1w): auf dem Sagittalbild Verschmälerung des gesamten Hirnstamms e<strong>in</strong>schließlich Pons,<br />

Kle<strong>in</strong>hirnwurmatrophie; l<strong>in</strong>ks unten (PDw): hypo<strong>in</strong>tenses Putamen mit hyper<strong>in</strong>tensem Randsaum<br />

(Pfeil); rechts unten (T2w): hypo<strong>in</strong>tenses Signal <strong>in</strong> Putamen <strong>und</strong> Pallidum (Stern)<br />

Die als typisch beschriebene Hirnstammatrophie bei PSP ist <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie<br />

alterskorreliert <strong>und</strong> unterscheidet sich nicht bei subkortikaler vaskulärer<br />

Demenz <strong>und</strong> PSP. Die Ausprägung der WML (white matter lesions, Marklagerläsionen)<br />

ist bei Patienten mit MSA signifi kant höher als bei Kontrollen.<br />

E<strong>in</strong> Review struktureller Bef<strong>und</strong>e bei MSA weist statistische Werte für PPV<br />

(positiv prädiktiver Wert) bis 100% auf, denen e<strong>in</strong>e Sensitivität von 13% bis<br />

maximal 60% <strong>und</strong> damit e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>geschränkte <strong>in</strong>dividualdiagnostische Bedeutung<br />

zuzuordnen ist.<br />

Die folgenden Störungen können kl<strong>in</strong>isch den Verdacht auf e<strong>in</strong>e degenerative<br />

Erkrankung des Nigrostriatalsystems hervorrufen, weisen aber im Allgeme<strong>in</strong>en<br />

e<strong>in</strong>e normale Dopam<strong>in</strong>rezeptordichte auf:<br />

4 kognitive Störungen z. B. bei AD, vaskuläre <strong>Demenzen</strong>,<br />

4 neuroleptika<strong>in</strong>duzierte Bewegungsstörungen,


20<br />

364 Kapitel 20 · Bildgebende Verfahren<br />

4 zervikale Dystonien,<br />

4 essenzieller Tremor,<br />

4 psychogener Tremor.<br />

Bei der Chorea Hunt<strong>in</strong>gton fi ndet sich e<strong>in</strong>e bilaterale Caudatumatrophie im<br />

CT <strong>und</strong> zusätzlich Volumenm<strong>in</strong>derung anderer Basalganglien, des frontalen<br />

Marklagers <strong>und</strong> Kortex im MRT.<br />

20.6 Frontotemporale Degenerationen<br />

Besonders bei frühen Manifestationen der frontotemporalen Degenerationen<br />

(FTD) ist der strukturelle Bef<strong>und</strong> sehr diskret <strong>und</strong> wird häufi g als »Normalbef<strong>und</strong>«<br />

gesehen. Mit Fortschreiten der Erkrankung bekommt die vorwiegend<br />

asymmetrische Atrophie mit konsekutiver Liquorraumerweiterung (. Tab.<br />

20.4) e<strong>in</strong>e Bedeutung für die Diff erenzialdiagnose. Die kortikobasale Degeneration<br />

weist e<strong>in</strong>e asymmetrische subkortikale zentrale Hyer<strong>in</strong>tensität <strong>in</strong> T2w-<br />

Sequenzen auf <strong>und</strong> <strong>in</strong> T2*w-Sequenzen e<strong>in</strong>e Unschärfe der Substantia nigra,<br />

pars compacta, im Hirnschenkel.<br />

Bei den umschriebenen posterioren kortikalen Atrophien handelt es sich<br />

meist um atypische Verteilungsmuster <strong>und</strong> Verläufe e<strong>in</strong>er Alzheimer-Pathologie.<br />

Mittels SVM s<strong>in</strong>d für Probandengruppen diff erente strukturelle Ergebnisse<br />

für Varianten der FTD zu ermitteln, die quantitativen Veränderungen<br />

von Gesamthirn- (–1,6%) <strong>und</strong> Ventrikelvolumen (+11,6%) s<strong>in</strong>d jedoch für<br />

FTD, semantische Demenz (SD) <strong>und</strong> progressive nonfl uente Aphasie (PNFA)<br />

im Follow-up nach e<strong>in</strong>em Jahr identisch. In Ausnahmefällen (selektive kortikale<br />

Kontusion) können die Folgen e<strong>in</strong>es schweren Schädel-Hirn-Traumas<br />

mit den frontalen oder temporopolaren Läsionen e<strong>in</strong>er FTD verwechselt werden.<br />

E<strong>in</strong> FTD-relevantes Atrophiemuster (R<strong>in</strong>de!) diff eriert aber regelhaft gegenüber<br />

dem nach schwerem Schädel-Hirn-Trauma mit kortikalen <strong>und</strong> subkortikalen<br />

(!) Residuen.<br />

20.7 Vaskuläre <strong>Demenzen</strong><br />

Die Ursachen vaskulärer Hirngewebeläsionen mit schwerwiegenden kognitiven<br />

Störungen s<strong>in</strong>d vielfältig, sodass nicht von e<strong>in</strong>er vaskulären Demenz<br />

gesprochen werden kann (. Tab. 20.5).


20.7 · Vaskuläre <strong>Demenzen</strong><br />

. Tab. 20.4 Varianten der frontotemporalen Degenerationen<br />

Frontotemporale<br />

Degeneration<br />

365<br />

Frontotemporale, häufig asymmetrische Atrophie mit<br />

Betonung der Frontal- <strong>und</strong>/oder Temporalpole <strong>und</strong><br />

Aufweitung des Interhemisphärenspalts bei fehlender<br />

mediotemporaler Atrophie; entsprechende präzentrale<br />

Hypoperfusion<br />

20<br />

Pick-Krankheit i. e. S. Ausgeprägte, sehr asymmetrische anteriore kortikale<br />

Atrophie mit »Walnussrelief« der R<strong>in</strong>de, mit »messerschneidescharfen<br />

(knife blade)« W<strong>in</strong>dungen etc.<br />

Semantische Demenz L<strong>in</strong>kstemporale Betonung der kortikalen Atrophie etc.<br />

Langsam progrediente<br />

Aphasie<br />

L<strong>in</strong>kspräfrontale Betonung der Atrophie etc.<br />

Langsam progrediente<br />

Soziopathie<br />

Kortikobasale<br />

Degeneration<br />

Rechts betonte Aufweitung der Rolandischen Fissur<br />

Asymmetrische prä- <strong>und</strong> postzentrale kortikale <strong>und</strong><br />

Basalganglienatrophie mit subkortikaler Gliose<br />

. Abb. 20.4 Frontotemporale Degeneration/semantische Demenz (MRT, 1,5 Tesla, T1w).<br />

Oben: Atrophie des l<strong>in</strong>ken Frontallappens; l<strong>in</strong>ks unten: plumpe Erweiterung der Frontalhörner;<br />

rechts unten: ger<strong>in</strong>ge Atrophie der frontalen Gyri mit konsekutiver Erweiterung des<br />

Subarachnoidalraums


20<br />

366 Kapitel 20 · Bildgebende Verfahren<br />

. Tab. 20.5 Vaskuläre <strong>Demenzen</strong><br />

Multi<strong>in</strong>farktdemenz Multiple, meist bilaterale kortikale <strong>und</strong> subkortikale<br />

Infarkte mit konsekutiver Atrophie; fleckförmige<br />

Hypoperfusion<br />

Subkortikale vaskuläre Enzephalopathie<br />

(früher »sub kor tika<br />

le arteriosklerotische Enzephalopathie«,<br />

SAE, M. B<strong>in</strong>swanger);<br />

chronisch hypertensive<br />

Enzephalopathie<br />

Hypoxie, z. B. nach CO-<br />

Intoxikation<br />

Diffuse Marklagerhypodensität (CT)/fleckförmig bis<br />

konfluierende T2w-Hyper<strong>in</strong>tensität (MRT) mit<br />

lakunären Marklager- <strong>und</strong> Basalganglien<strong>in</strong>farkten<br />

auf der Basis e<strong>in</strong>er Fibrohyal<strong>in</strong>ose<br />

Hypodensität im CT/T2w-MRT: Hyper<strong>in</strong>tensität des<br />

Globus pallidus > Marklager > Putamen, Caudatum,<br />

Thalamus, Hippokampus etc.<br />

Blutungen Epidural, subdural, <strong>in</strong>trazerebral (. Abb. 20.7)<br />

Differenzialdiagnose CADASIL, entzündliche Gefäßerkrankungen (7 Kap. 6)<br />

Amyloid-Angiopathie mit »typisch-atypisch«<br />

lokalisierten subkortikalen <strong>und</strong> Stammganglien-<br />

Hämorrhagien<br />

Entzündliche Hirnerkrankungen mit <strong>in</strong>farktähnlichen<br />

Residuen, z. B. bei HIV, progressive multifokale<br />

Leukenzephalo pathie <strong>und</strong> anderen opportunistischen<br />

Infektionen<br />

Andere Leukodystrophien<br />

CADASIL zerebrale autosomal-dom<strong>in</strong>ante Arteriopathie mit subkortikalen Infarkten<br />

<strong>und</strong> Leukenzephalopathie.<br />

E<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e vaskuläre Demenz (VD) ist bei dementen Patienten über<br />

50 Jahre e<strong>in</strong>e Rarität, die Überlagerung mit neurodegenerativen Hirnveränderungen<br />

ist die Regel. Meist entwickeln Patienten nach e<strong>in</strong>em Hirn<strong>in</strong>farkt e<strong>in</strong>e<br />

Demenz, wobei bereits vorher bestehende leichte kognitive Defi zite oft nicht<br />

bekannt s<strong>in</strong>d.<br />

In der Bildgebung zu unterscheiden s<strong>in</strong>d mit absteigender Häufi gkeit:<br />

4 Mikroangiopathien mit diff usen, ausgedehnten Marklagerveränderungen<br />

(. Abb. 20.5),<br />

4 Makroangiopathien mit isolierten oder multiplen Infarkten <strong>in</strong> den Versorgungsgebieten<br />

der großen Hirngefäße oder <strong>in</strong> Grenzzonen (. Abb. 20.6),


20.7 · Vaskuläre <strong>Demenzen</strong><br />

367<br />

20<br />

. Abb. 20.5 Mikroangiopathie (MRT, 1,5 Tesla, FLAIR): hyper<strong>in</strong>tense, fl eckförmige Signale <strong>in</strong><br />

Pons (l<strong>in</strong>ks oben), Stammganglien (rechts oben) <strong>und</strong> Marklager (unten)<br />

. Abb. 20.6 Multiple ischämische Infarkte (MRT, 1,5 Tesla, FLAIR): Pons (l<strong>in</strong>ks oben), Stammganglien<br />

(rechts oben) <strong>und</strong> Marklager (unten); okzipital makroangiopathischer Infarkt mit<br />

hypo<strong>in</strong>tenser, pseudozystischer Narbe <strong>und</strong> hyper<strong>in</strong>tensem Randsaum


20<br />

368 Kapitel 20 · Bildgebende Verfahren<br />

. Abb. 20.7 Amyloid-Angiopathie (MRT, 1,5 Tesla, T2*w): multiple hypo<strong>in</strong>tense Signale als<br />

Residuen kle<strong>in</strong>ster Blutungen (l<strong>in</strong>kes Bild), hypo<strong>in</strong>tenses Blutungsresiduum zentral <strong>und</strong><br />

postzentral l<strong>in</strong>ks an »typisch-atypischer« Stelle (rechtes Bild)<br />

4 die Komb<strong>in</strong>ation von makro- <strong>und</strong> mikroangiopathischen Veränderungen,<br />

4 Hypoxien bei kardiovaskulärer Insuffi zienz oder nach CO- <strong>und</strong> anderen<br />

Intoxikationen, Prädilektionsstellen s<strong>in</strong>d Stammganglien <strong>und</strong> Grenzzonen,<br />

4 <strong>in</strong>tra- <strong>und</strong> extrazerebrale Blutungen, e<strong>in</strong>schließlich Mikroblutungen bei<br />

Amyloidangiopathie, <strong>und</strong> deren Folgen.<br />

> Gr<strong>und</strong>sätzlich gilt, dass die Diagnose e<strong>in</strong>er vaskulären bzw. gemischten<br />

Demenz ohne den radiologischen Nachweis ausgeprägter<br />

vaskulärer Veränderungen nicht zulässig ist. Der (Neuro)Radiologe<br />

beschreibt Ausmaß <strong>und</strong> Typ der vaskulären Hirnveränderungen. Diese<br />

Angaben muss der behandelnde Arzt differenzialdiagnostisch berücksichtigen.<br />

20.8 Creutzfeldt-Jakob-Demenz<br />

Die kl<strong>in</strong>ischen Symptome <strong>und</strong> der rasche Verlauf führen geme<strong>in</strong>sam mit den<br />

biochemischen Merkmalen zur Diagnose, die allenfalls radiologisch ergänzt<br />

werden kann. Charakteristisch ist das »Pulv<strong>in</strong>arzeichen« mit symmetrischer<br />

Hyper<strong>in</strong>tensität der posterioren Th alamusnuklei (Pulv<strong>in</strong>ar) bei der neuen Variante<br />

der Creutzfeldt-Jakob-Demenz (CJD) (. Abb. 20.8, . Tab. 20.6).


20.9 · Normaldruckhydrozephalus<br />

369<br />

20<br />

. Abb. 20.8 Creutzfeldt-Jakob-Erkrankun g (MRT, 1,5 Tesla). L<strong>in</strong>kes Bild (T1w): postzentrale<br />

Verschmälerung der Gyri; mittleres Bild (T2w): postzentral hyper<strong>in</strong>tenses Signal durch e<strong>in</strong>e<br />

Störung der Blut-Hirn-Schranke; rechtes Bild (FLAIR): hyper<strong>in</strong>tense Signalgebung im Pulv<strong>in</strong>ar<br />

(Pfeil)<br />

. Tab. 20.6 Creutzfeldt-Jakob-Demenz <strong>in</strong> der Bildgebung<br />

Strukturell T2w/DWI: Hyper<strong>in</strong>tensität von Basalganglien, Thalamus <strong>und</strong><br />

Neokortex; CT <strong>in</strong> 80% normal, gelegentlich Nachweis e<strong>in</strong>er<br />

raschen Atrophie im Verlauf<br />

Funktionell Umschriebener Hypometabolismus <strong>in</strong> den stark betroffenen<br />

Arealen<br />

Differenzialdiagnose Kortikobasale Degeneration<br />

Multi<strong>in</strong>farktdemenz<br />

Hypoxische Enzephalopathie<br />

Die MR-Spektroskopie diff erenziert Gruppen von Patienten vs. Ges<strong>und</strong>en<br />

über NAA/Cr- bzw. NAA/μIno-Quotienten im Th alamus mit Sensitivität,<br />

Spezifi tät <strong>und</strong> NPV (negativ prädiktiver Wert) von 100%. Da der Zeitpunkt<br />

der Messung nicht angegeben wird, ist anzunehmen, dass die Diagnose bereits<br />

kl<strong>in</strong>isch gestellt wurde.<br />

20.9 Normaldruckhydrozephalus<br />

Die diagnostische Trias fl uktuierende kognitive Störungen, fl uktuierende<br />

Gangstörungen <strong>und</strong> Ur<strong>in</strong><strong>in</strong>kont<strong>in</strong>enz weisen auf e<strong>in</strong>en Normaldruckhydro-


20<br />

370 Kapitel 20 · Bildgebende Verfahren<br />

zephalus (NDH) h<strong>in</strong> mit symmetrischer Ventrikelaufweitung <strong>und</strong> meist »normalem«<br />

Liquordruck. M<strong>in</strong>imal<strong>in</strong>vasive Messungen lassen nächtliche Liquordruckspitzen<br />

registrieren (. Abb. 20.9, . Tab. 20.7).<br />

Prognostisch entscheidend ist der Nachweis e<strong>in</strong>er symptomatischen Besserung<br />

v. a. der Gangstörungen nach lumbaler Liquorentnahme (fl uid tapetest)<br />

– nach Ausschluss e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>trakraniellen Drucksteigerung mit Gefahr der<br />

Herniation!<br />

Erschwert wird die Empfehlung e<strong>in</strong>es ventrikuloatrialen Shunt oder e<strong>in</strong>er<br />

Ventrikulostomie durch die häufi ge Ko<strong>in</strong>zidenz von NDH <strong>und</strong> AD. Auch<br />

muss der NDH von e<strong>in</strong>em sogenannten »benignen« Hydrozephalus unterschieden<br />

werden, der ohne e<strong>in</strong>schlägige Symptome gelegentlich nebenbef<strong>und</strong>lich<br />

zu diagnostizieren ist. Dabei handelt es sich um das Residuum e<strong>in</strong>er<br />

früheren Liquorzirkulationsstörung ohne Zeichen der Aktivität (»Kappen«)<br />

<strong>und</strong> ohne Th erapiebedarf.<br />

20.10 Alkoholassoziierte Hirnveränderungen<br />

Alkohol kann zu vielfältigen akuten <strong>und</strong> chronischen Hirnveränderungen mit<br />

gravierenden kognitiven Defi ziten <strong>und</strong> mitunter schwerwiegenden Komplikationen<br />

<strong>in</strong> der Th erapie führen. Am häufi gsten ist die alkohol<strong>in</strong>duzierte Demenz<br />

(. Tab. 20.8).<br />

Die folgenden Alkoholfolgekrankheiten s<strong>in</strong>d von besonderer diagnostischer<br />

Bedeutung, da sie oft unmittelbare therapeutische Konsequenzen erfordern:<br />

4 Chronisch rezidivierendes Subdural-, gelegentlich auch Epiduralhämatom<br />

, häufi g durch ger<strong>in</strong>ge Traumata <strong>und</strong> bee<strong>in</strong>trächtigte Ger<strong>in</strong>nung (»Pachymen<strong>in</strong>giosis<br />

haemorrhagica <strong>in</strong>terna«);<br />

4 akute Wernicke-Enzephalitis , »Polioenzephalitis haemorrhagica superior«<br />

mit akuter E<strong>in</strong>blutung <strong>in</strong> die Corpora mamillaria <strong>und</strong> therapiebedürftigem<br />

Th iam<strong>in</strong>mangel;<br />

4 wird der Th iam<strong>in</strong>mangel zu lange nicht erkannt, geht die Erkrankung<br />

über <strong>in</strong> e<strong>in</strong> chronisch amnestisches Korsakow-Syndrom mit atrophischen,<br />

hypo<strong>in</strong>tensen limbischen Strukturen (v. a. <strong>in</strong> den Corpora mamillaria <strong>und</strong><br />

den dorsalen Th alamuskernen); meist liegen <strong>in</strong> diesem Stadium zusätzliche<br />

morphologische <strong>und</strong> kl<strong>in</strong>ische Veränderungen vor;


20.11 · Andere Hirnveränderungen<br />

371<br />

20<br />

. Abb. 20.9 Normaldruckhydrozephalus (MRT, 3 T). Obere Reihe: T2w (l<strong>in</strong>ks), FLAIR (rechts),<br />

transversale Schichtorientierung; untere Reihe: T1w sagittale (l<strong>in</strong>ks), FLAIR transversale<br />

(rechts) Schichtorientierung: Erweiterung des subarachnoidalen Liquorraums frontal, hydrozephale<br />

asymmetrische Erweiterung der Seitenventrikel; frontale Liquordiapedese (»Kappen«);<br />

weiter III. Ventrikel, kranial-konvexe Konfi guration des verdünnten Balkens; <strong>in</strong>traselläre<br />

Arachnoidalzyste; hydrozephal erweiterte Temporalhörner der Seitenventrikel mit periventrikulärer<br />

Liquordiapedese; Mikroangiopathie<br />

4 zentrale pont<strong>in</strong>e <strong>und</strong> extrapont<strong>in</strong>e Myel<strong>in</strong>olyse bei alkoholassoziierter<br />

Hyponatriämie (osmotisches Demyel<strong>in</strong>isierungssyndrom); diese Veränderung<br />

wird möglicherweise durch e<strong>in</strong>e zu rasche Rekompensation begünstigt<br />

<strong>und</strong> fällt häufi g als asymptomatischer Neben- oder Residualbef<strong>und</strong><br />

auf (. Abb. 20.10).<br />

20.11 Andere Hirnveränderungen mit schwerwiegenden<br />

kognitiven Komplikationen<br />

Bei e<strong>in</strong>er Vielzahl von Hirnerkrankungen, die mit schwerwiegenden kognitiven<br />

Störungen e<strong>in</strong>hergehen, s<strong>in</strong>d Anamnese, kl<strong>in</strong>ische <strong>und</strong> biochemische<br />

Bef<strong>und</strong>e so charakteristisch, dass die Diagnostik nicht auf die Bildgebung angewiesen<br />

ist. Dennoch fi nden sich vielfach wichtige H<strong>in</strong>weise auf Lokalisation<br />

<strong>und</strong> Ausprägung der Veränderungen.


20<br />

372 Kapitel 20 · Bildgebende Verfahren<br />

. Tab. 20.7 Normaldruckhydrozephalus <strong>in</strong> der Bildgebung<br />

Strukturell<br />

Funktionell<br />

Differenzialdiagnose<br />

Symmetrische Aufweitung <strong>und</strong> Unschärfe der Seitenventrikel <strong>und</strong> des<br />

III. Ventrikels bei weitgehend normalem IV. Ventrikel, engen hochfrontalen<br />

<strong>und</strong> -parietalen Furchen sowie <strong>in</strong>taktem Mediotem poralkortex<br />

Periventrikuläre Liquordiapedese mit frontalen <strong>und</strong> temporalen<br />

»Kappen«<br />

Fokale Erweiterungen z. B. der Inselzisterne oder e<strong>in</strong>zelner Sulci<br />

schließen e<strong>in</strong>en NDH nicht aus!<br />

Im MRT abnorm verstärktes Signal im Aquädukt durch gesteigerten,<br />

hyperdynamen Pendelfluss; periventrikulär verm<strong>in</strong>derte zerebrale<br />

Perfusion (beide Symptome s<strong>in</strong>d unspezifisch <strong>und</strong> f<strong>in</strong>det sich auch bei<br />

30% älterer Personen ohne NDH <strong>und</strong> Demenz)<br />

Bisher liegen ke<strong>in</strong>e prädiktiven Bef<strong>und</strong>e <strong>in</strong> der strukturell-quantitati ven<br />

oder funktionellen Bildgebung für e<strong>in</strong> positives Shunt-Ergebnis vor<br />

Benigner oder arretierter Hydrozephalus als Residuum e<strong>in</strong>er passa geren<br />

Liquorabflussstörung – ohne therapeutische Konsequenz<br />

AD – mediotemporale Atrophie<br />

SVE – stärker ausgeprägte Marklagerveränderungen bei ger<strong>in</strong>gerer <strong>und</strong><br />

dabei gleichmäßiger verteilter Aufweitung der äußeren<br />

iquorräume; ke<strong>in</strong>e Liquordiapedese<br />

SVE subkortikale vaskuläre Enzephalopathie.<br />

Daneben kann die Diff erenzialdiagnose zwischen Hirnerkrankungen <strong>und</strong><br />

chronischen oder erstmals im Senium aufgetretenen <strong>und</strong> atypischen psychischen<br />

Erkrankungen Schwierigkeiten bereiten. Mit deutlichen kognitiven<br />

Störungen e<strong>in</strong>hergehen können v. a.<br />

4 schizophrene Residualsyndrome ,<br />

4 aff ektive Erkrankungen, v. a. beim sogenannten Demenzsyndrom der Depression<br />

.<br />

Bei ausgeprägten strukturellen Veränderungen ist zu beachten:<br />

4 Alte Patienten mit langen <strong>und</strong> schweren psychischen Erkrankungen wie<br />

Schizophrenien (v. a. Typ II) oder aff ektiven Erkrankungen können ausgeprägte<br />

morphologische <strong>und</strong> funktionelle Hirnveränderungen aufweisen,<br />

die als solche die Diagnose e<strong>in</strong>er AD o. ä. nicht ausreichend begründen<br />

(Anamnese!).


20.11 · Andere Hirnveränderungen<br />

. Tab. 20.8 Alkohol<strong>in</strong>duzierte Demenz <strong>in</strong> der Bildgebun g<br />

Strukturell Globale, frontal betonte Atrophie mit Erweiterung des frontalen<br />

Interhemisphärenspalts <strong>und</strong> der Seitenventrikel, Kle<strong>in</strong>hirn-,<br />

<strong>in</strong>sbesondere Vermis-Atrophie<br />

»Marklagerschrumpfung« mit konsekutiver Ventrikelerweiterung<br />

373<br />

Funktionell Diffuse Verm<strong>in</strong>derung von Perfusion <strong>und</strong> Metabolismus<br />

Differenzialdiagnose<br />

Alzheimer-Demenz<br />

Malnutrition, z. B. Anorexie<br />

Olivopontozerebelläre Atrophien<br />

Chronische Phenyto<strong>in</strong>medikation<br />

Missbrauch organischer Lösungsmittel (»Schnüffelstoffe«)<br />

20<br />

. Abb. 20.10 Zentrale pont<strong>in</strong>e Myel<strong>in</strong>olyse (MRT, 1,5 Tesla). L<strong>in</strong>kes Bild (T1w): hypo<strong>in</strong>tense<br />

Demyel<strong>in</strong>isierung im Pons als Zeichen der Strukturläsion; rechtes Bild (T2w): hyper<strong>in</strong>tenses<br />

Signal als Ausdruck der Wassere<strong>in</strong>lagerung<br />

4 E<strong>in</strong>e chronische oder rezidivierende psychische Erkrankung schützt den<br />

Patienten nicht gegen die Entwicklung e<strong>in</strong>er (zusätzlichen) Hirnerkrankung<br />

im Senium. Gerade diese Patienten müssen im Verlauf sorgfältig<br />

diagnostisch verfolgt <strong>und</strong> behandelt werden.<br />

4 Wichtig ist die Bildgebung bei neu aufgetretener (neurologischer) Symptomatik<br />

oder Symptomwandel, die sich alle<strong>in</strong> aus der bekannten Erkrankung<br />

nicht erklären lassen.


20<br />

374 Kapitel 20 · Bildgebende Verfahren<br />

In e<strong>in</strong>er Metaanalyse (SVM) ist statistisch die regionale R<strong>in</strong>denreduktion im<br />

paralimbischen System (Gyrus c<strong>in</strong>gulus anterior <strong>und</strong> Insula) kennzeichnend<br />

für die bipolare Psychose . Bei der Schizophrenie s<strong>in</strong>d die strukturellen Veränderungen<br />

ausgeprägter <strong>und</strong> beziehen sich auf limbische <strong>und</strong> neokortikale<br />

Strukturen, e<strong>in</strong>schließlich der paralimbischen Region.<br />

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Labordiagnostik<br />

375<br />

Robert Perneczky <strong>und</strong> Panagiotis Alexopoulos<br />

21.1 Serologische <strong>und</strong> biochemische Diagnostik<br />

im Blut – 376<br />

21.1.1 Indikation <strong>und</strong> Vorgehen – 376<br />

21.1.2 Blutparameter – 376<br />

21.2 Liquordiagnostik – 377<br />

21.2.1 Indikation <strong>und</strong> Vorgehen – 377<br />

21.2.2 Liquormarker – 378<br />

21.3 Nachweisverfahren bei demenziellen<br />

Erkrankungen – 381<br />

21.4 Genetische Diagnostik – 381<br />

21.4.1 Mutationen bei demenziellen Erkrankungen – 381<br />

21.4.2 Genetische Marker – 381<br />

Literatur – 387<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_21,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

21


21<br />

376 Kapitel 21 · Labordiagnostik<br />

Zum Thema<br />

Serologische, biochemische <strong>und</strong> molekularbiologische Methoden zur Bestimmung<br />

von Blut- <strong>und</strong> Liquorparametern leisten e<strong>in</strong>en kl<strong>in</strong>isch bedeutsamen<br />

Beitrag <strong>in</strong> der Differenzialdiagnostik der Demenz, <strong>in</strong>sbesondere bei der Aufdeckung<br />

potenziell reversibler Ursachen.<br />

21.1 Serologische <strong>und</strong> biochemische Diagnostik<br />

im Blut<br />

21.1.1 Indikation <strong>und</strong> Vorgehen<br />

Die serologische <strong>und</strong> biochemische Blutdiagnostik ist wegen des ger<strong>in</strong>gen Risikos<br />

für die Patienten, der niedrigen Kosten <strong>und</strong> der hohen kl<strong>in</strong>ischen Relevanz<br />

im Rahmen der Abklärung demenzieller Syndrome obligat (Leitl<strong>in</strong>ien<br />

der Liquordiagnostik der Deutschen Gesellschaft für Liquordiagnostik <strong>und</strong><br />

Kl<strong>in</strong>ische Neurochemie). Sie spielt v. a. e<strong>in</strong>e zentrale Rolle bei der Identifi kation<br />

potenziell reversibler sek<strong>und</strong>ärer <strong>Demenzen</strong> sowie <strong>in</strong> deren Abgrenzung<br />

von primären neurodegenerativen Demenzursachen wie beispielsweise der<br />

Alzheimer-Krankheit.<br />

21.1.2 Blutparameter<br />

Die Prävalenz potenziell reversibler Demenzursachen liegt bei bis zu 9%. Ihre<br />

Erkennung ist von hoher kl<strong>in</strong>ischer Relevanz, da sie oft die Möglichkeit e<strong>in</strong>er<br />

kausalen Th erapie eröff net. Im Rahmen der Basisdiagnostik sollten folgende<br />

Serum- <strong>und</strong> Plasmaparameter rout<strong>in</strong>emäßig bestimmt werden:<br />

4 Blutbild,<br />

4 Elektrolyte (Natrium, Kalium, Kalzium),<br />

4 Nüchternblutzucker,<br />

4 TSH (Th yreotrop<strong>in</strong>),<br />

4 Blutsenkungsgeschw<strong>in</strong>digkeit,<br />

4 CRP (C-reaktives Prote<strong>in</strong>),<br />

4 GOT (Glutamat-Oxalacetat-Transam<strong>in</strong>ase),<br />

4 γ-GT (γ-Glutamyltransferase),


21.2 · Liquordiagnostik<br />

4 Kreat<strong>in</strong><strong>in</strong>,<br />

4 Harnstoff ,<br />

4 Vitam<strong>in</strong> B 12 .<br />

377<br />

21<br />

Treten diagnostische Unsicherheiten auf oder kommen aufgr<strong>und</strong> des spezifi<br />

schen kl<strong>in</strong>ischen Bildes andere Verdachtsdiagnosen <strong>in</strong>frage (z. B. Neuroborreliose,<br />

Nebennieren<strong>in</strong>suffi zienz), sollten je nach Verdacht gezielt weitere Laboruntersuchungen<br />

durchgeführt werden (z. B. Diff erenzialblutbild, Phosphat,<br />

HbA 1c , Homozyste<strong>in</strong>, fT3, fT4, Schilddrüsen-Antikörper, Kortisol, Parathormon,<br />

Coeruloplasm<strong>in</strong>, Vitam<strong>in</strong> B 6 , Folsäure, Borrelien-Serologie, Blei,<br />

Quecksilber, Kupfer, Lues-Serologie, HIV-Serologie, Drogenscreen<strong>in</strong>g, Blutgase).<br />

21.2 Liquordiagnostik<br />

21.2.1 Indikation <strong>und</strong> Vorgehen<br />

Im Rahmen der Demenzdiagnostik werden mit der Bestimmung von Liquorparametern<br />

zwei Ziele verfolgt: E<strong>in</strong>erseits dient die Liquordiagnostik bei spezifi<br />

schem kl<strong>in</strong>ischem Verdacht der Sicherung oder dem Ausschluss von nicht<br />

primär neurodegenerativen Erkrankungen wie beispielsweise entzündliche<br />

ZNS-Prozesse. Andererseits trägt die Liquordiagnostik auch zur Festigung<br />

der kl<strong>in</strong>ischen Diagnose e<strong>in</strong>er primär neurodegenerativen Demenzursache<br />

wie der Alzheimer-Krankheit bei.<br />

> E<strong>in</strong>e Diagnose sollte aber niemals alle<strong>in</strong> auf der Gr<strong>und</strong>lage der Liquorparameter<br />

gestellt werden.<br />

E<strong>in</strong>e diagnostische Lumbalpunktion führt bei älteren Patienten selten zum<br />

Auft reten e<strong>in</strong>es postpunktionellen Syndroms mit Kopfschmerz, Erbrechen<br />

<strong>und</strong> Übelkeit (Häufi gkeit 2–10%). Unter Berücksichtigung der Kontra<strong>in</strong>dikationen<br />

(z. B. Blutger<strong>in</strong>nungsstörungen, Hirndruck, Antikoagulation mit Hepar<strong>in</strong>)<br />

ist das Auft reten von schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen<br />

äußerst rar. E<strong>in</strong>e Th erapie mit Th rombozytenaggregationshemmern ist ke<strong>in</strong>e<br />

Kontra<strong>in</strong>dikation für e<strong>in</strong>e diagnostische Lumbalpunktion.<br />

Der Umgang mit dem Probenmaterial spielt im Rahmen der Liquordiagnostik<br />

bei Demenz e<strong>in</strong>e besonders wichtige Rolle. Zur Vermeidung von artifi -


21<br />

378 Kapitel 21 · Labordiagnostik<br />

ziell veränderten Parametern sollten unbed<strong>in</strong>gt Polypropylen-Probengefäße<br />

verwendet werden, da es bei Polystyrol- oder Glasgefäßen zu Adsorptionsphänomenen<br />

kommen kann. Die Proben sollten schnellstmöglich ohne E<strong>in</strong>frieren<br />

an das Labor geschickt werden, um die Prote<strong>in</strong>denaturierung möglichst<br />

ger<strong>in</strong>g zu halten.<br />

21.2.2 Liquormarker<br />

Nichtdegenerative <strong>Demenzen</strong><br />

E<strong>in</strong> Liquorgr<strong>und</strong>profi l sollte sowohl bei kl<strong>in</strong>ischem Verdacht auf e<strong>in</strong>e nichtdegenerative<br />

Demenzursache als auch bei Fehlen e<strong>in</strong>es solchen Verdachts erstellt<br />

werden. Die Liquordiagnostik kann auch dann H<strong>in</strong>weise auf nichtdegenerative<br />

Demenzursachen ergeben, wenn Anamnese, körperlicher Bef<strong>und</strong><br />

<strong>und</strong> übrige technische Zusatzdiagnostik an sich nicht dafür sprechen. Im<br />

Rahmen des Liquorgr<strong>und</strong>programms sollten untersucht werden:<br />

4 Zellzahl,<br />

4 Gesamtprote<strong>in</strong>,<br />

4 Laktat- <strong>und</strong> Glukosekonzentration,<br />

4 Album<strong>in</strong>quotient,<br />

4 <strong>in</strong>trathekale IgG-Produktion,<br />

4 oligoklonale Banden.<br />

Gegebenenfalls sollte zusätzlich bei kl<strong>in</strong>ischer Indikation die <strong>in</strong>trathekale<br />

IgA- <strong>und</strong> IgM-Produktion ergänzend erhoben werden. Anhand der Ergebnisse<br />

können Neuroborreliose, Neurosarkoidose, Hirnabzesse, Virusenzephalitiden,<br />

postvirale Enzephalitiden, Lues <strong>und</strong> Morbus Whipple diagnostiziert<br />

oder ausgeschlossen werden. Auch Vaskulitiden, multiple Sklerose, Metastasen<br />

oder paraneoplastische Enzephalopathien lassen sich auf diese Weise aufdecken.<br />

> Im Rahmen der diagnostischen Abklärung e<strong>in</strong>es Demenzsyndroms<br />

trägt die Liquordiagnostik zum Ausschluss entzündlicher Gehirnprozesse<br />

bei. Die Liquordiagnostik kann auch dann auf e<strong>in</strong>e nichtdegenerative<br />

Ätiologie e<strong>in</strong>er Demenz h<strong>in</strong>weisen, wenn die Anamnese, der<br />

körperliche Bef<strong>und</strong> <strong>und</strong> die restliche technische Diagnostik ke<strong>in</strong>e<br />

pathologischen Bef<strong>und</strong>e ergeben haben.


21.2 · Liquordiagnostik<br />

379<br />

21<br />

Alzheimer-Demenz<br />

Die Liquordiagnostik ermöglicht e<strong>in</strong>e Quantifi zierung der zentralen histopathologischen<br />

Prozesse der Alzheimer-Krankheit. Für die kl<strong>in</strong>ische Rout<strong>in</strong>e<br />

s<strong>in</strong>d folgende Parameter relevant: β-Amyloid-1-42 (Aβ 1-42 ), gesamt Tau-Prote<strong>in</strong><br />

(Tau) <strong>und</strong> phosphoryliertes Tau-Prote<strong>in</strong> (pTau). Aβ 1-42 stellt den wesentlichen<br />

Bestandteil der Amyloid-Plaques dar <strong>und</strong> ist e<strong>in</strong> Produkt der Proteolyse<br />

des Amyloid-Vorläuferprote<strong>in</strong>s (amyloid precursor prote<strong>in</strong>, APP) durch die<br />

Enzyme β- <strong>und</strong> γ- Sekretase. Es zeigt e<strong>in</strong>e große Neigung zur Aggregation<br />

<strong>und</strong> lagert sich <strong>in</strong> aggregiertem Zustand <strong>in</strong> neuritischen Plaques ab. Vermutlich<br />

durch diese Ablagerung <strong>in</strong> Plaques ist die Aβ 1-42 -Konzentration im Liquor<br />

bei Alzheimer-Demenz (AD) signifi kant niedriger im Vergleich zu kognitiv<br />

ges<strong>und</strong>en älteren Menschen <strong>und</strong> anderen Demenzformen.<br />

E<strong>in</strong> weiteres typisches histopathologisches Korrelat der Alzheimer-Krankheit<br />

besteht aus hyperphosphoryliertem Tau, das e<strong>in</strong>e entscheidende Rolle<br />

beim Aufb au des Zytoskeletts spielt. Hyperphosphoryliertes Tau lagert sich zu<br />

<strong>in</strong>trazellulären Neurofi brillenbündeln zusammen <strong>und</strong> führt letztlich zum<br />

Zelltod. Dabei wird Tau freigesetzt, das sich im Liquor nachweisen lässt. Patienten<br />

mit AD weisen im Vergleich zu ges<strong>und</strong>en Kontrollpersonen daher höhere<br />

Tau- <strong>und</strong> pTau-Liquorkonzentrationen auf.<br />

Die komb<strong>in</strong>ierte Messung von Aβ 1-42, Tau <strong>und</strong> pTau zeigte im Rahmen<br />

e<strong>in</strong>er Metaanalyse e<strong>in</strong>e hohe Sensitivität (92%) <strong>und</strong> Spezifi tät (89%), die ihre<br />

kl<strong>in</strong>ische Verwendung <strong>in</strong> der Abgrenzung von Patienten mit AD gegenüber<br />

ges<strong>und</strong>en älteren Menschen rechtfertigt. Der diagnostische Nutzen der genannten<br />

Liquormarker für die Feststellung e<strong>in</strong>er AD wurde neuerlich durch<br />

e<strong>in</strong>e Studie, <strong>in</strong> der Autopsiebef<strong>und</strong>e als diagnostischer Goldstandard dienten,<br />

bestätigt. Die Effi zienz der Liquordiagnostik <strong>in</strong> der Abgrenzung zwischen AD<br />

<strong>und</strong> anderen neurodegenerativen Demenzformen ist allerd<strong>in</strong>gs mit e<strong>in</strong>er Sensitivität<br />

von 85% <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Spezifi tät von 60% deutlich niedriger. Auch sche<strong>in</strong>en<br />

die genannten Parameter als Verlaufsmarker nicht geeignet zu se<strong>in</strong>.<br />

> E<strong>in</strong>e komb<strong>in</strong>ierte Bestimmung der Parameter A� 1-42 Tau <strong>und</strong> pTau<br />

im Liquor ist der Bestimmung e<strong>in</strong>zelner Parameter vorzuziehen <strong>und</strong><br />

wird als wichtiger Bauste<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er umfassenden kl<strong>in</strong>ischen Demenzabklärung<br />

empfohlen. Die Diagnose sollte jedoch niemals alle<strong>in</strong>e auf<br />

Gr<strong>und</strong>lage auffälliger Liquorwerte gestellt werden.


21<br />

380 Kapitel 21 · Labordiagnostik<br />

Frontotemporale Degenerationen<br />

Pathologische veränderte Tau-Werte s<strong>in</strong>d nicht spezifi sch für die AD, so fi nden<br />

sich auch im Liquor von Patienten mit frontotemporalen Degenerationen<br />

erhöhte Tau <strong>und</strong> pTau-Konzentrationen . E<strong>in</strong>ige Studien deuten darauf h<strong>in</strong>,<br />

dass die Untersuchung von unterschiedlichen Tau-Phosphorylierungsstellen<br />

hilfreich se<strong>in</strong> könnte bei der Diff erenzierung zwischen AD <strong>und</strong> frontotemporalen<br />

Degenerationen. Die Datenlage reicht aber noch nicht aus, um kl<strong>in</strong>ische<br />

Konsequenzen aus diesen Ergebnissen zu ziehen. Neben erhöhten Tau-Werten<br />

können sich auch bei frontotemporalen Degenerationen mäßig erniedrigte<br />

Aβ 1-42 -Konzentrationen fi nden.<br />

Demenz mit Lewy-Körperchen<br />

Bei Patienten mit Demenz mit Lewy-Körperchen wurde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Studien<br />

e<strong>in</strong>e mäßige Reduktion des Spiegels von Aβ 1-42 beobachtet . Außerdem fi nden<br />

sich im Vergleich zu ges<strong>und</strong>en älteren Menschen häufi g erhöhte Tau- <strong>und</strong><br />

pTau-Konzentrationen. Wie auch bei der frontotemporalen Degenerationen<br />

könnte die diff erenzierte Betrachtung unterschiedlicher Tau-Phosphorylierungsstellen<br />

hilfreich se<strong>in</strong> bei der Unterscheidung zwischen Demenz mit Lewy-Körperchen<br />

<strong>und</strong> Alzheimer-Demenz. Derzeit reicht aber auch hier die<br />

Datenlage nicht für e<strong>in</strong>e abschließende Beurteilung aus.<br />

Park<strong>in</strong>son-Demenz<br />

Die Liquorkonzentrationen von Tau <strong>und</strong> pTau s<strong>in</strong>d als Korrelate des neurodegenerativen<br />

Prozesses auch bei der Park<strong>in</strong>son-Demenz erhöht. Zusätzlich<br />

können sich auch erniedrigte Werte von Aβ 1–42 fi nden .<br />

Vaskuläre <strong>Demenzen</strong><br />

Bei e<strong>in</strong>em Teil der Patienten mit vaskulären <strong>Demenzen</strong> fi ndet man erhöhte<br />

Tau-Konzentrationen sowie mäßig reduzierte Werte von Aβ 1-42. Der Spiegel<br />

von pTau ist bei re<strong>in</strong>en vaskulären <strong>Demenzen</strong> meist unauff ällig. Bei den häufi<br />

geren gemischten <strong>Demenzen</strong> kann die pTau-Liquorkonzentration jedoch<br />

auch pathologisch erhöht se<strong>in</strong> .<br />

Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung<br />

Bei der sporadischen Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung lässt sich typischerweise<br />

das Prote<strong>in</strong> 14-3-3 im Liquor nachweisen . Außerdem fi ndet sich meist e<strong>in</strong>e<br />

stark erhöhte Tau-Konzentration (> 1300 pg/ml), bei ungleich weniger stark


21.4 · Genetische Diagnostik<br />

381<br />

21<br />

erhöhten pTau-Werten. Die Konzentration von Aβ 1-42 kann erniedrigt se<strong>in</strong>.<br />

Bei der neuen Variante der Creutzfeld-Jakob-Erkrankung zeigt sich häufi g<br />

e<strong>in</strong>e weniger stark ausgeprägte Konzentrationserhöhung von Tau <strong>und</strong> pTau,<br />

die sich auch im selteneren Nachweis des Prote<strong>in</strong>s 14-3-3 niederschlägt (Otto<br />

et al. 1999, Seipelt et al. 1999).<br />

Leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung<br />

Liquorveränderungen s<strong>in</strong>d schon <strong>in</strong> sehr frühen Krankheitsstadien neurodegenerativer<br />

Erkrankungen nachzuweisen . E<strong>in</strong> Liquorprofi l mit erniedrigten<br />

Werten von Aβ 1-42 <strong>und</strong> erhöhtem Tau sowie pTau bei Patienten mit leichter<br />

kognitiver Bee<strong>in</strong>trächtigung weist auf e<strong>in</strong>e Alzheimer-Krankheit h<strong>in</strong>. Diese<br />

Patienten haben e<strong>in</strong> erhöhtes Risiko, das kl<strong>in</strong>ische Bild e<strong>in</strong>er AD zu entwickeln<br />

(<strong>Hans</strong>son et al. 2006, Mattsson et al. 2009). In der kl<strong>in</strong>ischen Rout<strong>in</strong>e ist<br />

die Bestimmung von Neurodegenerationsparametern im Liquor bei Patienten<br />

mit leichter kognitiver Bee<strong>in</strong>trächtigung jedoch noch nicht fest etabliert.<br />

21.3 Nachweisverfahren bei demenziellen Erkrankungen<br />

E<strong>in</strong>en Überblick über die Labordiagnostik bei demenziellen Erkrankungen<br />

bietet . Tab. 21.1.<br />

21.4 Genetische Diagnostik<br />

21.4.1 Mutationen bei demenziellen Erkrankungen<br />

In . Tab. 21.2 s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>ige wichtige demenzielle Erkrankungen mit den assoziierten<br />

Genen zusammengestellt.<br />

21.4.2 Genetische Marker<br />

Alzheimer-Demenz<br />

Neben dem Alter ist e<strong>in</strong>e positive Familienanamnese der zweitwichtigste Risikofaktor<br />

bei der AD (Khachaturian et al. 2004) . Bei etwa 30% der Patienten<br />

fi nden sich weitere Betroff ene <strong>in</strong> der engeren Verwandtschaft . Verwandte


382 Kapitel 21 · Labordiagnostik<br />

21 . Tab. 21.1 Demenzielle Erkrankungen <strong>und</strong> ausgewählte Labornachweisverfahren<br />

Diagnose Labordiagnostik<br />

Demenzsyndrom aufgr<strong>und</strong> von chronischer Infektion<br />

Neuroborreliose Borrelienserologie, Liquoranalytik<br />

Neurosyphilis TPHA, Liquoranalytik<br />

HIV-Infektion HIV-Antikörpernachweis, Liquoranalytik<br />

Morbus Whipple Dünndarmbiopsie, PCR<br />

Demenzyndrom aufgr<strong>und</strong> von akuter Infektion<br />

Herpes-simplex-Virusenzephalitis Virus-DNA-Nachweis mit PCR<br />

HIV-Enzephalitis <strong>und</strong> AIDS Dementia<br />

Complex<br />

Demenzsyndrom aufgr<strong>und</strong> von Neoplasie<br />

Primäre <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>äre Neoplasien Tumormarker<br />

Demenzsyndrom aufgr<strong>und</strong> von Schilddrüsenerkrankung<br />

Liquordiagnostik, Virus-DNA Nachweis<br />

mit PCR (CMV, EBV)<br />

Hypothyreose, Hyperthyreose TSH, fT3, fT4, TPO- <strong>und</strong> TG-Antikörper,<br />

Liquordiagnostik<br />

Demenzsyndrom aufgr<strong>und</strong> von Nebenschilddrüsenerkrankung<br />

Hypoparathyreoidismus, Hyperparathyreoidismus<br />

Demenzsyndrom aufgr<strong>und</strong> von Hypovitam<strong>in</strong>ose<br />

Parathormon, cAMP, Kalzium <strong>in</strong> Serum/<br />

Ur<strong>in</strong>, Phosphat <strong>in</strong> Serum/Ur<strong>in</strong>, alkalische<br />

Phosphatase, Kalium im Ur<strong>in</strong>, Magnesium<br />

im Serum, Phosphor im Serum<br />

Vitam<strong>in</strong>-B 12-Mangel Differenzialblutbild, Spiegelbestimmung<br />

Folsäuremangel<br />

Vitam<strong>in</strong>-B 1-Mangel Laktatspiegelbestimmung<br />

Demenzsyndrom aufgr<strong>und</strong> von Lebererkrankung<br />

Chronische hepatische Enzepha lo pathie,<br />

hepatische Enzephalomyopathie<br />

Ammoniakspiegel, GOT, γ-GT


21.4 · Genetische Diagnostik<br />

. Tab. 21.1 Fortsetzung<br />

Demenzielle Erkrankungen <strong>und</strong> ausgewählte Labornachweisverfahren<br />

Diagnose Labordiagnostik<br />

Demenzsyndrom aufgr<strong>und</strong> von Nierenerkrankung<br />

383<br />

21<br />

Chronisches Nierenversagen Kreat<strong>in</strong><strong>in</strong>, Harnstoff, Kalium, Magnesium,<br />

Natrium, Kalzium, pH-Wert, Blutvolumen<br />

Dialysedemenz,<br />

Alum<strong>in</strong>ium enzephalopathie<br />

Demenzsyndrom aufgr<strong>und</strong> von Nebennierenerkrankung<br />

Blutbild, Alum<strong>in</strong>iumkonzentration im<br />

Serum<br />

Morbus Cush<strong>in</strong>g Serumkortisolspiegel, 17-Hydroxykortikostero<br />

ide im Ur<strong>in</strong>, Dexamethasontest<br />

Morbus Addison Serumkortikosteroidspiegel, Glukose,<br />

Natrium, Chlorid, Kalium im Serum<br />

Demenzsyndrom aufgr<strong>und</strong> von Hypoglykämie<br />

Chronische Hypoglykämie Blutzucker<br />

Demenzsyndrom aufgr<strong>und</strong> von Intoxikation<br />

Drogen <strong>und</strong> Betäubungsmittel Drogennachweis <strong>in</strong> Blut, Ur<strong>in</strong>, Magensaft<br />

Alkohol Alkoholnachweis, CDT, Blutbild,<br />

Transam<strong>in</strong>asen<br />

Schwermetall<strong>in</strong>toxikation Alkalische Phosphatase, Chol<strong>in</strong>esterase,<br />

γ-GT, Serumkonzentrationen<br />

Industriegifte (z. B. Kohlenmonoxid,<br />

Blei)<br />

Medikamente (z. B. Kardiaka,<br />

Psychopharmaka)<br />

Demenzsyndrom aufgr<strong>und</strong> von Elektrolytstörung<br />

Serumkonzentrationen<br />

Hyponatriämie, Hypernatriämie Serumkonzentrationen<br />

Demenzsyndrom aufgr<strong>und</strong> von Autoimmunerkrankung<br />

Vaskulitis, z. B. systemischer Lupus<br />

erythematodes, Kussmaul-Maier-<br />

Krankheit<br />

Blutkörperchensenkungsgeschw<strong>in</strong>digkeit,<br />

CRP, ant<strong>in</strong>ukleäre Antikörper,<br />

Phospholipidantikörper


384 Kapitel 21 · Labordiagnostik<br />

21 . Tab. 21.1 Fortsetzung<br />

Demenzielle Erkrankungen <strong>und</strong> ausgewählte Labornachweisverfahren<br />

Diagnose Labordiagnostik<br />

Multiple Sklerose Liquordiagnostik<br />

Demenzsyndrom aufgr<strong>und</strong> von spongiformer Enzephalopathie<br />

Creutzfeld-Jakob-Erkrankung 14-3-3 <strong>und</strong> Tau im Liquor<br />

Demenzsyndrom aufgr<strong>und</strong> von neurodegenerativer Erkrankungen<br />

Alzheimer-Demenz Aβ 1–42 , Tau <strong>und</strong> pTau im Liquor<br />

Frontotemporale Degenerationen<br />

Demenz mit Lewy-Körperchen<br />

Park<strong>in</strong>son-Demenz<br />

TPHA Treponema-pallidum-Hämagglut<strong>in</strong>ations-Assay, PCR Polymerasekettenreaktion,<br />

CMV Cytomegalovirus, EBV Epste<strong>in</strong>-Barr-Virus, TSH Thyreotrop<strong>in</strong>, fT3 freies Trijodthyron<strong>in</strong>,<br />

fT4 freies Thyrox<strong>in</strong>, TPO Thyreoideaperoxidase, TG Thyreoglobul<strong>in</strong>, GOT Glutamat-<br />

Oxalacetat-Transam<strong>in</strong>ase, γ-GT γ-Glutamyltransferase, CDT carbohydrate deficient<br />

transferr<strong>in</strong>, CRP C-reaktives Prote<strong>in</strong>.<br />

. Tab. 21.2 Mögliche Mutationen bei ausgewählten demenziellen Erkrankungen<br />

Diagnose Mutationen<br />

Alzheimer-Demenz APP, PSEN1, PSEN2, APOE<br />

Frontotemporale Degenerationen MAPT, PGRLN<br />

Morbus Park<strong>in</strong>son PARK1, PARK2, PARK3, PARK4, PARK5,<br />

PARK6, PARK7, PARK8, PARK9, NR4A2<br />

Chorea Hunt<strong>in</strong>gton HTT<br />

Morbus Wilson ATP7B<br />

Hereditäre spongiforme Enzephalopathien E200K, D178N, P102L<br />

Zerebrale autosomal-dom<strong>in</strong>ante Arteriopathie<br />

mit subkortikalen Infarkten (CADASIL)<br />

NOTCH3


21.4 · Genetische Diagnostik<br />

385<br />

21<br />

1. Grades haben e<strong>in</strong> etwa vierfach erhöhtes Erkrankungsrisiko im Vergleich<br />

zum Bevölkerungsdurchschnitt, bei Verwandten 2. Grades ist das Risiko verdoppelt.<br />

S<strong>in</strong>d weitere Personen <strong>in</strong> der Familie erkrankt, steigt das Erkrankungsrisiko<br />

weiter an. E<strong>in</strong> präseniler Krankheitsbeg<strong>in</strong>n bei e<strong>in</strong>em Verwandten<br />

steigert das Risiko ebenfalls. Genetische Faktoren spielen demnach bei der<br />

Entstehung der sporadischen, bevorzugt <strong>in</strong> fortgeschrittenem Lebensalter<br />

auft retenden Form der AD e<strong>in</strong>e wichtige Rolle. Dabei muss jedoch auch erwähnt<br />

werden, dass neben genetischen auch viele andere Faktoren wie das<br />

Alter, Lebensgewohnheiten <strong>und</strong> Umwelte<strong>in</strong>fl üsse das Erkrankungsrisiko wesentlich<br />

bee<strong>in</strong>fl ussen.<br />

Unter den genetischen Risikofaktoren für das Auft reten der sporadischen<br />

AD wurde das Apolipoprote<strong>in</strong>-E-Gen (APOE) bisher <strong>in</strong> den meisten Studien<br />

bestätigt. Es s<strong>in</strong>d 3 allelische Varianten beim Menschen zu fi nden, die als ε2,<br />

ε3 <strong>und</strong> ε4 bezeichnet werden <strong>und</strong> von denen ε3 am häufi gsten vorkommt. Die<br />

Häufi gkeit des Risikoallels ε4 beträgt 10% bei ges<strong>und</strong>en Personen, h<strong>in</strong>gegen<br />

30–42% bei Patienten mit AD. Im Vergleich zu ε3-Homozygoten haben heterozygote<br />

Träger des ε4-Allels mit der Allelkomb<strong>in</strong>ation ε3/ε4 e<strong>in</strong> 2- bis 3-fach<br />

erhöhtes Lebenszeitrisiko für die Entwicklung e<strong>in</strong>er AD. Das Risiko ist bei<br />

ε4-Homozygoten (ca. 2% der Bevölkerung) sogar bis zu 12-fach erhöht. Das<br />

Vorliegen von APOE ε4 ist jedoch weder e<strong>in</strong>e notwendige noch e<strong>in</strong>e h<strong>in</strong>reichende<br />

Voraussetzung für e<strong>in</strong>e AD. Für diagnostische <strong>und</strong> prognostische Fragestellungen<br />

eignet sich die Bestimmung des APOE-Genotyps daher nicht.<br />

In den letzten Jahren wurde e<strong>in</strong>e Reihe weiterer Gene als mögliche Risikofaktoren<br />

der AD beschrieben. Unter den Top-Kandidatengenen befi nden sich<br />

derzeit CLU, PICALM, SORL1, GWA, TNK1, ACE, IL8, LDLR <strong>und</strong> CST<strong>3.</strong> Der<br />

kl<strong>in</strong>ische Nutzen dieser Gene ist jedoch nach derzeitiger Datenlage noch off en<br />

(Bertram u. Tanzi 2008).<br />

> E<strong>in</strong>e isolierte Bestimmung des APOE-Genotyps als genetischer<br />

Risikofaktor ist <strong>in</strong>folge mangelnder diagnostischer Trennschärfe<br />

<strong>und</strong> niedriger prädiktiver Wertigkeit im Rahmen der kl<strong>in</strong>ischen<br />

Demenzdiagnostik wenig aussagekräftig (Mayeux et al. 1998).<br />

Neben den Risikogenen für die sporadische Form der AD s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>ige Genmutationen<br />

bekannt, die e<strong>in</strong>em dom<strong>in</strong>anten Erbgang folgen <strong>und</strong> für die sehr seltenen<br />

familiären, meist präsenilen Formen verantwortlich s<strong>in</strong>d. Bei etwa 50–<br />

80% aller autosomal-dom<strong>in</strong>ant vererbten Formen der AD fi ndet sich e<strong>in</strong>e<br />

Mutation im Präsenil<strong>in</strong>-1-Gen (PSEN1, Chromosom 14). Seltener führen


21<br />

386 Kapitel 21 · Labordiagnostik<br />

Mutationen <strong>in</strong> den Präsenil<strong>in</strong>-2- (PSEN2, Chromosom 1) <strong>und</strong> Amyloidvorläuferprote<strong>in</strong>-Genen<br />

(APP, Chromosom 21) zu e<strong>in</strong>er dom<strong>in</strong>ant vererbten<br />

AD. APP-Mutationen fi nden sich auch bei bestimmten Formen der Amyloidangiopathie<br />

<strong>und</strong> s<strong>in</strong>d mit e<strong>in</strong>em besonders frühen Symptombeg<strong>in</strong>n (teils<br />

vor dem 40. Lebensjahr) verb<strong>und</strong>en. Präsenil<strong>in</strong> 1 <strong>und</strong> 2 spielen im Rahmen<br />

des γ-Sekretase-Komplexes e<strong>in</strong>e wesentliche Rolle bei der Entstehung von<br />

Amyloid.<br />

> Bei Verdacht auf e<strong>in</strong>e familiäre Form <strong>und</strong> früher Manifestation der<br />

ersten Demenzsymptome ist e<strong>in</strong>e genetische Analyse auf Mutationen<br />

<strong>in</strong> PSEN1 empfehlenswert.<br />

Frontomporale Degenerationen<br />

Trotz e<strong>in</strong>es relativ hohen Anteils von weiteren Erkrankungen unter Verwandten<br />

von Patienten mit frontotemporalen Degenerationen (bei bis zu 40%<br />

weitere Fälle <strong>in</strong> der Familie) s<strong>in</strong>d die genetischen Ursachen bis auf wenige,<br />

überwiegend autosomal-dom<strong>in</strong>ante Krankheitsfälle weitestgehend unklar . Zu<br />

den bekannten genetischen Risikofaktoren zählen Mutationen im Tau-Gen<br />

(MAPT, Chromosom 17), die zu e<strong>in</strong>er frontotemporalen Demenz mit oder<br />

ohne zusätzliche Park<strong>in</strong>son-Symptomatik führen. Vor kurzem wurden außerdem<br />

Mutationen bei Patienten mit frontotemporalen Degenerationen im Progranul<strong>in</strong>-Gen<br />

(PGRLN, Chromosom 17) beschrieben, die zu e<strong>in</strong>em variablen<br />

kl<strong>in</strong>ischen Bild führen. Weitere sehr seltene Mutationen <strong>in</strong> anderen Genen<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Familien beschrieben. Über den E<strong>in</strong>fl uss von APOE, dem bisher<br />

wichtigsten genetischen Risikofaktor der sporadischen AD, gibt es e<strong>in</strong>ige<br />

widersprüchliche Berichte, die e<strong>in</strong>e abschließende Beurteilung derzeit nicht<br />

ermöglichen.<br />

Chorea Hunt<strong>in</strong>gton<br />

Chorea Hunt<strong>in</strong>gton ist e<strong>in</strong> gutes Beispiel für e<strong>in</strong>e Erkrankung, bei der die demenzielle<br />

Entwicklung e<strong>in</strong>e wesentliche Rolle spielt <strong>und</strong> die mithilfe genetischer<br />

Methoden diagnostiziert werden kann . Für den dom<strong>in</strong>anten Erbgang<br />

s<strong>in</strong>d Mutationen im Hunt<strong>in</strong>gt<strong>in</strong>-Gen (HTT, Chromosom 4) verantwortlich,<br />

die zu e<strong>in</strong>er erhöhten Anzahl der Basentripletts CAG führen. Das Ausmaß der<br />

CAG-Triplett-Expansion korreliert mit dem Krankheitsbeg<strong>in</strong>n, ohne dass<br />

sich dabei direkte Aussagen für den e<strong>in</strong>zelnen Patienten treff en ließen. Im Generationsverlauf<br />

lässt sich häufi g beobachten, dass das Erkrankungsalter v. a.


Literatur<br />

387<br />

21<br />

bei paternaler Erkrankung s<strong>in</strong>kt (genetische Antizipation). Es besteht außerdem<br />

e<strong>in</strong>e hohe Spontanmutationsrate (Djousse et al. 2003).<br />

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impairment and Alzheimer’s disease: a meta-analysis of 51 studies. J Neurol Neurosurg<br />

Psychiatry 80: 966–975


21<br />

388 Kapitel 21 · Labordiagnostik<br />

Otto M, Zerr I, Wiltfang J et al (1999) Laborchemische Verfahren <strong>in</strong> der Diff erentialdiagnose<br />

der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. Dt Ärtzebl 96: B2494–2499<br />

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109–116


Neurophysiologie<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong><br />

22.1 Elektroenzephalographie – 390<br />

22.1.1 Bef<strong>und</strong>e – 390<br />

22.2 Andere Verfahren – 393<br />

Literatur – 394<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_22,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

389<br />

22


22<br />

390 Kapitel 22 · Neurophysiologie<br />

Zum Thema<br />

Elektrophysiologische Verfahren besitzen große praktische Bedeutung<br />

(<strong>und</strong> großes wissenschaftliches Potenzial) für die Differenzialdiagnose<br />

<strong>und</strong> die Verlaufskontrolle demenzieller Erkrankungen.<br />

22.1 Elektroenzephalographie<br />

Derzeit werden elektrophysiologische Methoden h<strong>in</strong>sichtlich ihres praktischen<br />

<strong>und</strong> wissenschaft lichen Stellenwerts stark unterbewertet – nachdem<br />

sie bis vor 20 Jahren zu hoch gehandelt worden waren. In nervenärztlichen<br />

Praxen werden Elektroenzephalogramme immer noch gerne abgeleitet. Das<br />

Elektroenzephalogramm (EEG) stellte die erste Möglichkeit zu e<strong>in</strong>er unmittelbaren<br />

<strong>und</strong> dabei nicht<strong>in</strong>vasiven Untersuchung der Hirnfunktion dar, <strong>und</strong><br />

neue quantitative Auswertemethoden führten gegen Ende des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

zu e<strong>in</strong>em erneuten wissenschaft lichen Interesse, dessen komplexe<br />

Ergebnisse aber mit der Attraktivität der morphologischen <strong>und</strong> funktionellen<br />

Bildgebung nicht Schritt halten konnten. Vielleicht kann e<strong>in</strong>e ganz kurze <strong>und</strong><br />

bescheidene Darstellung der Möglichkeiten dieser immer noch weit verfügbaren<br />

<strong>und</strong> weitestgehend nebenwirkungsfreien Methode das Bild zurechtrücken.<br />

22.1.1 Bef<strong>und</strong>e<br />

Im Wesentlichen können mit dem konventionellen EEG (. Tab. 22.1) folgende<br />

Veränderungen registriert werden :<br />

4 Allgeme<strong>in</strong>veränderung – e<strong>in</strong>e diff use Verlangsamung der Gr<strong>und</strong>aktivität,<br />

4 Herdbef<strong>und</strong> – lokalisierte Veränderungen entweder aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Schädelanomalie<br />

oder e<strong>in</strong>er umschriebenen Funktionsstörung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Hirnareal,<br />

4 pathologische Wellen – z. B. spitze <strong>und</strong> steile Abläufe als Ausdruck gesteigerter<br />

zerebraler Erregbarkeit.<br />

Allgeme<strong>in</strong>veränderung<br />

Sieht man von Normvarianten ab, so beträgt die Gr<strong>und</strong>aktivität bei geschlossenen<br />

Augen zwischen 8 Hz <strong>und</strong> 12 Hz <strong>und</strong> ist okzipital am besten ausge-


22.1 · Elektroenzephalographie<br />

. Tab. 22.1 Frequenzbereiche des EEG<br />

γ-Wellen > 30/s<br />

β-Wellen 14–30/s<br />

α-Wellen 8–13/s<br />

θ-Wellen (Zwischenwellen) 4–7/s<br />

δ-Wellen 0,5–3/s<br />

Sub-δ-Wellen < 0,5/s<br />

391<br />

22<br />

prägt. Im Alter nimmt die durchschnittliche Gr<strong>und</strong>aktivität ab, bleibt aber<br />

über 8 Hz. F<strong>in</strong>den sich langsamere Frequenzen, handelt es sich um e<strong>in</strong>e Allgeme<strong>in</strong>veränderung<br />

(. Tab. 22.2):<br />

4 bei leichter Allgeme<strong>in</strong>veränderung fi nden sich etwa 30% θ-Wellen,<br />

4 bei mittelschwerer Allgeme<strong>in</strong>veränderung etwa 50% θ- <strong>und</strong> 10% δ-Wellen,<br />

4 bei schwerer Allgeme<strong>in</strong>veränderung 50% θ- <strong>und</strong> 50% δ-Wellen.<br />

> F<strong>in</strong>det sich bei Patienten im mittelschweren Demenzstadium e<strong>in</strong>e<br />

mittelschwere oder schwere Allgeme<strong>in</strong>veränderung, handelt es sich<br />

um ke<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Alzheimer-Demenz, sondern vermutlich um e<strong>in</strong>e<br />

gemischte Demenz oder e<strong>in</strong>en metabolisch bed<strong>in</strong>gten Verwirrtheitszustand,<br />

der weitere diagnostische Schritte erfordert.<br />

Das Ausmaß der Allgeme<strong>in</strong>veränderung ist mit dem Risiko für das Auft reten<br />

<strong>und</strong> mit der Ausprägung e<strong>in</strong>es Verwirrtheitszustands korreliert (Th omas et al.<br />

2008). Möglicherweise steht dieser Zusammenhang auch h<strong>in</strong>ter der Beobachtung,<br />

dass e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>ger ausgeprägte Allgeme<strong>in</strong>veränderung für e<strong>in</strong>e Alzheimer-Demenz<br />

(AD) <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e stärkere Ausprägung für e<strong>in</strong>e Demenz mit Lewy-<br />

Körperchen oder e<strong>in</strong>e Demenz bei Morbus Park<strong>in</strong>son spricht (Bonanni et al.<br />

2008). Fluktuationen <strong>und</strong> Verwirrtheitszustände auf der Basis e<strong>in</strong>es stärkeren<br />

chol<strong>in</strong>ergen Defi zits s<strong>in</strong>d bei den letztgenannten Demenzformen häufi ger als<br />

bei e<strong>in</strong>er AD.<br />

E<strong>in</strong> EEG mit dom<strong>in</strong>ierender diff user β-Tätigkeit kann als H<strong>in</strong>weis auf e<strong>in</strong>e<br />

Benzodiazep<strong>in</strong>itoxikation aufgefasst werden.


22<br />

392 Kapitel 22 · Neurophysiologie<br />

. Tab. 22.2 Allgeme<strong>in</strong>veränderung als diagnostisches Indiz bei Demenzverdacht<br />

Bef<strong>und</strong> Verdacht z. B Differenzialdiagnose z. B.<br />

»Hypernormales« EEG<br />

mit auffallend gut<br />

ausgeprägter<br />

α-Aktivität<br />

Frontotemporale Demenz<br />

(bis auf Spätstadien)<br />

Ke<strong>in</strong>e Hirnerkrankung<br />

Ke<strong>in</strong>e AV Ke<strong>in</strong>e Hirnerkrankung Demenzsyndrom der<br />

Depression , schizophrenes<br />

Residualsyndrom , leichte<br />

kognitive Störung bei<br />

beg<strong>in</strong>nender AD, leichte<br />

AD<br />

Leichte AV (Leichte oder) mittelschwere<br />

AD, Demenz mit<br />

Lewy-Körperchen oder<br />

Demenz bei Morbus<br />

Park<strong>in</strong>son<br />

Mittelschwere <strong>und</strong><br />

schwere AV<br />

AV Allgeme<strong>in</strong>veränderung, AD Alzheimer-Demenz.<br />

Ausgeprägter Erschöpfungszustand<br />

, <strong>in</strong>ternistische<br />

Erkrankung<br />

Verwirrtheitszustand Gemischte neurodegenerative<br />

<strong>und</strong> vaskuläre<br />

Demenz , weit fortgeschrittene<br />

AD<br />

Herdbef<strong>und</strong><br />

H<strong>in</strong>sichtlich der Lokalisation zerebraler Veränderungen ist das EEG den modernen<br />

bildgebenden Verfahren hoff nungslos unterlegen. Gelegentlich zeigt<br />

das EEG fokale Veränderungen bei betont asymmetrisch verlaufenden neurodegenerativen<br />

Erkrankungen (z. B. langsam progrediente Aphasie, semantische<br />

Demenz, kortikobasale Degeneration) oder Hirn<strong>in</strong>farkten. Kaum führt<br />

heute e<strong>in</strong> Herdbef<strong>und</strong> im EEG zur Entdeckung e<strong>in</strong>es umschriebenen vaskulären,<br />

entzündlichen oder malignen Prozesses, der ansonsten nicht gef<strong>und</strong>en<br />

worden wäre, es sei denn, er wäre sehr kle<strong>in</strong> <strong>und</strong> äußerte sich <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie<br />

durch epileptische Potenziale.


22.2 · Andere Verfahren<br />

393<br />

22<br />

Pathologische Potenziale<br />

Selten kann im EEG e<strong>in</strong> nichtkonvulsiver epileptischer Status (Absencenstatus<br />

oder komplex fokaler Status) mit generalisierter irregulärer Spike-wave-<br />

Aktivität oder Spike-wave-Aktivität von 2–4/s als Ursache e<strong>in</strong>er verme<strong>in</strong>tlich<br />

demenziellen Störung aufgedeckt werden . Das Risiko zerebraler Anfälle ist<br />

zwar bei e<strong>in</strong>er AD gegenüber der altersgleichen Allgeme<strong>in</strong>bevölkerung deutlich<br />

erhöht (etwa 8-fach), erreicht <strong>in</strong>sgesamt aber dennoch ke<strong>in</strong> alarmierendes<br />

Ausmaß (etwa 1 Anfall pro 250 Beobachtungsjahre; nach Scarmeas et al.<br />

2009).<br />

E<strong>in</strong> erheblicher Teil der Patienten mit Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung zeigt<br />

bei Fortschreiten der Erkrankung periodische, generalisierte, triphasische,<br />

steile Abläufe (periodic sharp wave complexes, PSWC), wie sie ähnlich auch bei<br />

Lithium<strong>in</strong>toxikation oder postanoxischer Enzephalitis auft reten können.<br />

22.2 Andere Verfahren<br />

Hier muss streng unterschieden werden zwischen Verfahren mit praktischem<br />

Nutzen <strong>und</strong> solchen von vorrangig wissenschaft lichem Interesse. Die aufwendigen<br />

quantitativen Analysen des EEG (qEEG) , evozierte Potenziale (EP) <strong>und</strong><br />

Herzratenvariabilität (HRV) gehören zur letzten Gruppe von <strong>in</strong>teressanten<br />

Methoden, die möglicherweise künft ig dazu beitragen können,<br />

4 Patienten mit leichten kognitiven Störungen <strong>und</strong> beg<strong>in</strong>nender Demenz<br />

besser zu identifi zieren, etwa durch e<strong>in</strong>e verm<strong>in</strong>derte α-Reaktivität bei<br />

Augenöff nen (van der Hiele et al. 2007), Veränderungen im γ-Frequenzband<br />

(Missonnier et al. 2010) oder e<strong>in</strong>e reduzierte Komplexität des EEG-<br />

Signals (Besthorn et al. 1997, Stam et al. 2007);<br />

4 das Monitor<strong>in</strong>g des Th erapieverlaufs zu verbessern (qEEG, EP; die Gr<strong>und</strong>aktivität<br />

wird durch die zentrale chol<strong>in</strong>erge Aktivität mitbestimmt, ebenso<br />

wie die spätlatenten Aufmerksamkeitspotenziale , z. B. P300);<br />

4 Nebenwirkungen e<strong>in</strong>er Antidementiva - <strong>und</strong> Neuroleptikabehandlung<br />

leichter zu erkennen <strong>und</strong> zu quantifi zieren (EKG, HRV; Birkhofer u. <strong>Förstl</strong><br />

2005).<br />

Die e<strong>in</strong>fache Methode der Aktometrie zur quantitativen Erfassung der Motilität<br />

über 24 St<strong>und</strong>en wird als Instrument zur Quantifi zierung von Apathie<br />

<strong>und</strong> Agitation <strong>und</strong> zum rechtzeitigen Erkennen e<strong>in</strong>er Eskalation sowie zur


22<br />

394 Kapitel 22 · Neurophysiologie<br />

Th erapieplanung (frühzeitige Intervention, Vermeidung von Auslösesituationen,<br />

zirkadiane Rhythmisierung) vernachlässigt.<br />

Polysomnographie <strong>und</strong> nächtliches Videomonitor<strong>in</strong>g können bei kooperativen<br />

Patienten <strong>und</strong> Verdacht auf e<strong>in</strong>e Schlafstörung nützliche H<strong>in</strong>weise geben,<br />

etwa auf e<strong>in</strong>e REM-Schlaf-Störung im Frühstadium e<strong>in</strong>er Demenz mit<br />

Lewy-Körperchen oder auf nächtliche zerebrale Anfälle. Bei Patienten mit<br />

manifester Demenz s<strong>in</strong>d die aufwendigen Polysomnographien meist zum<br />

Scheitern verurteilt.<br />

Literatur<br />

Adamis D, Sahu S, Treloar D (2005) The utility of EEG <strong>in</strong> dementia: a cl<strong>in</strong>ical perspective. Int J<br />

Geriatr Psychiatry 20(11): 1038–1045<br />

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Missonnier P, Herrmann FR, Michon A et al (2010) Early disturbances of gamma band dynamics<br />

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Scarmeas N, Honig LS, Choi H et al (2009) Seizures <strong>in</strong> Alzheimer disease – who, when, and<br />

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Stam CJ, Jones BF, Nolte G et al (2007) Small-world networks and functional connectivity <strong>in</strong><br />

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395<br />

Konsil- <strong>und</strong> Liaisonpsychiatrie<br />

bei Demenz<br />

Torsten Kratz<br />

2<strong>3.</strong>1 Defi nition – 396<br />

2<strong>3.</strong>2 Besonderheiten <strong>und</strong> Organisation<br />

des Konsildienstes bei Demenz – 397<br />

2<strong>3.</strong>3 Häufi gste Konsilanfragen<br />

bei Demenzerkrankungen – 397<br />

2<strong>3.</strong><strong>3.</strong>1 Delir bei Demenz – 399<br />

2<strong>3.</strong><strong>3.</strong>2 Verhaltensauff älligkeiten bei Demenz – 406<br />

2<strong>3.</strong><strong>3.</strong>3 Kognitives Screen<strong>in</strong>g im Konsildienst – 412<br />

2<strong>3.</strong><strong>3.</strong>4 E<strong>in</strong>willigungsfähigkeit bei Patienten mit Demenz – 415<br />

Literatur – 417<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_23,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

23


23<br />

396 Kapitel 23 · Konsil- <strong>und</strong> Liaisonpsychiatrie bei Demenz<br />

Zum Thema<br />

Im Konsil- <strong>und</strong> Liaisonpsychiatrischen Dienst (CL-Dienst) beziehen sich ca. e<strong>in</strong><br />

Drittel aller Konsilanforderungen auf Patienten, die älter als 64 Jahre s<strong>in</strong>d. Die<br />

meisten dieser Patienten werden aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Demenz bzw. e<strong>in</strong>er assoziierten<br />

Komplikation wie Delir bei Demenz oder Verhaltensauffälligkeiten bei Demenz<br />

im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er organisch bed<strong>in</strong>gten psychischen Störung, vorgestellt. Darüber<br />

h<strong>in</strong>aus s<strong>in</strong>d wesentliche Fragestellungen das kognitive Screen<strong>in</strong>g (z. B. die<br />

Differenzialdiagnose Demenz/Depression) sowie die Frage zur E<strong>in</strong>willigungsfähigkeit<br />

oder zur Notwendigkeit der E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>er Betreuung bei Demenz.<br />

2<strong>3.</strong>1 Defi nition<br />

Unter Konsiliarpsychiatrie wird die Arbeit e<strong>in</strong>es Psychiaters verstanden, der<br />

durch e<strong>in</strong>en nichtpsychiatrisch tätigen Arzt (oder durch entsprechendes Pfl egepersonal)<br />

auf e<strong>in</strong>e somatische Station gerufen wird. Der Psychiater wird<br />

nicht von sich aus tätig.<br />

Der Begriff Liaisonpsychiatrie (französisch: liaison = B<strong>in</strong>dung, Verb<strong>in</strong>dung)<br />

geht hier e<strong>in</strong>en deutlichen Schritt weiter. Liaisonpsychiatrie ist die Tätigkeit<br />

e<strong>in</strong>es Psychiaters, der kont<strong>in</strong>uierlich auf e<strong>in</strong>er somatischen Station<br />

arbeitet. Er ist im Rahmen e<strong>in</strong>es multidiszipl<strong>in</strong>ären Teams, also auch ohne<br />

direkte Anforderung, präsent. Insbesondere <strong>in</strong> Bezug auf die demenziellen<br />

Erkrankungen besteht se<strong>in</strong>e Aufgabe nicht nur im direkten Patientenkontakt.<br />

Er ist auch <strong>in</strong> der Beratung des gesamten Teams der somatischen Station tätig,<br />

z. B. im Umgang mit Verhaltensauff älligkeiten bei Demenz, aber auch <strong>in</strong> psychosozialen<br />

Fragen sowie <strong>in</strong> Fragen der Ausbildung, Lehre <strong>und</strong> Forschung.<br />

Gerade bei der zunehmenden Häufi gkeit von demenziellen Erkrankungen auf<br />

somatischen Stationen ist es notwendig, das somatische Team, das auch als<br />

Mediator der Th erapie <strong>in</strong> psychologischen <strong>und</strong> psychiatrischen Aspekten bei<br />

somatischen Erkrankungen dient, zu schulen. In der <strong>Praxis</strong> s<strong>in</strong>d fl ießende<br />

Übergänge zwischen beiden Tätigkeitsbereichen notwendig, sodass sich der<br />

Begriff der Konsiliar- <strong>und</strong> Liaisonpsychiatrie durchgesetzt hat.


2<strong>3.</strong>3 · Häufigste Konsilanfragen<br />

2<strong>3.</strong>2 Besonderheiten <strong>und</strong> Organisation<br />

des Konsildienstes bei Demenz<br />

397<br />

23<br />

Gerade <strong>in</strong> der Betreuung dementer Patienten auf somatischen Stationen<br />

kommt es zu zunehmend komplexeren Qualitätsanforderungen im Bereich<br />

der Konsiliar- <strong>und</strong> Liaisonpsychiatrie.<br />

> Der Psychiater, der demenzielle Erkrankungen im somatischen Bereich<br />

mitbetreut, muss psychogene E<strong>in</strong>fl üsse auf das Krankheitsbild<br />

<strong>und</strong> dessen Heilung erkennen <strong>und</strong> bee<strong>in</strong>fl ussen können. Darüber<br />

h<strong>in</strong>aus muss er <strong>in</strong> der Lage se<strong>in</strong>, somatische Differenzialdiagnosen für<br />

psychische Begleitsymptome der Demenz oder deren Verhaltensauffälligkeiten<br />

mitzudiskutieren. Er benötigt deshalb Wissen um somatopsychische<br />

Zusammenhänge <strong>und</strong> somatische Erkrankungen bei<br />

Demenz.<br />

In der gerontopsychiatrischen Konsilversorgung demenzieller Erkrankungen<br />

stehen aufgr<strong>und</strong> der komplexen Krankheitsbilder zunehmend neuropsychologische<br />

Fragestellungen <strong>und</strong> neuropsychologisches Wissen des Konsilpsychiaters<br />

im Vordergr<strong>und</strong>. Die häufi g auft retenden postoperativen Verwirrtheitszustände<br />

dementer Patienten sollten vom gerontopsychiatrischen Konsilpsychiater<br />

gut beherrscht werden. Deshalb ist es notwendig, dass er mit der<br />

Vielzahl der z. B. auf e<strong>in</strong>er Intensivstation gegebenen zerebral wirksamen Medikamente<br />

vertraut ist, um so als versierter gerontopsychiatrischer Konsiliarius<br />

Hilfestellung geben zu können. Die verschiedenen Formen des Delirs bei<br />

Demenz, <strong>in</strong>sbesondere das hypoaktive Delir, sollten ihm bekannt se<strong>in</strong>, da <strong>in</strong>sbesondere<br />

hypoaktive Delirien bei Demenz von somatisch arbeitenden Kollegen<br />

gelegentlich als Depression verkannt <strong>und</strong> entsprechend unzureichend<br />

behandelt werden.<br />

2<strong>3.</strong>3 Häufi gste Konsilanfragen bei Demenzerkrankungen<br />

Die Konsilanforderungen im gerontopsychiatrischen Konsiliar- <strong>und</strong> Liaisonpsychiatriedienst<br />

beziehen sich <strong>in</strong> Bezug auf demenzielle Erkrankungen zu<br />

e<strong>in</strong>em überwiegenden Teil auf die zahlreichen Komplikationen, die im Rahmen<br />

e<strong>in</strong>er demenziellen Erkrankung auft reten können. Hierzu zählen <strong>in</strong>sbesondere


23<br />

398 Kapitel 23 · Konsil- <strong>und</strong> Liaisonpsychiatrie bei Demenz<br />

4 das hyperaktive (meist postoperative) Delir bei Demenz,<br />

4 aber auch produktive Verhaltensstörungen wie<br />

4 Aggressivität,<br />

4 Unruhe,<br />

4 Misstrauen,<br />

4 Schlaf-Wach-Rhythmus-Störungen,<br />

4 Nichtaufnahme von Nahrung,<br />

4 Weglauft endenz.<br />

Auff ällig ist dabei, dass <strong>in</strong>sbesondere eher hyperaktive Störungsbilder zur<br />

Vorstellung kommen. Selten werden Patienten aufgr<strong>und</strong> reaktiver Verhaltensstörungen<br />

bei Demenz, wie z. B. Apathie, oder auch aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>es hypoaktiven<br />

Delirs vorgestellt.<br />

Mit Zunahme der demenziellen Erkrankungen <strong>und</strong> damit ihrer Häufi gkeit<br />

auf somatischen Stationen sowie mit zunehmendem Interesse somatisch<br />

tätiger Kollegen an den Demenzerkrankungen rückt die Früherkennung auch<br />

auf somatischen Stationen <strong>in</strong> den Blickpunkt. So nimmt die Zahl der Konsilanforderungen<br />

<strong>in</strong> Bezug auf Früherkennungsmaßnahmen e<strong>in</strong>er Demenz<br />

zu. Hier ist der Konsiliar- <strong>und</strong> Liaisonpsychiater <strong>in</strong> Fragen zu Screen<strong>in</strong>gverfahren<br />

<strong>und</strong> Früherkennungsmaßnahmen bei Demenz sowie zur Abgrenzung<br />

zum Delir oder zur Depression gefordert. Letztlich beziehen sich viele Konsilanfragen<br />

im Rahmen von dementen Patienten auf die Frage der E<strong>in</strong>richtung<br />

e<strong>in</strong>er Betreuung oder der Beurteilung der E<strong>in</strong>willigungsfähigkeit e<strong>in</strong>es Patienten<br />

mit Demenz.<br />

Häufi ge Konsilanfragen bei Patienten mit Demenz<br />

4 Delir bei Demenz (ICD-10: F05.1)<br />

4 Verhaltensauffälligkeiten bei Demenz<br />

4 Organisch-wahnhafte <strong>und</strong>/oder organisch-affektive Störung<br />

bei Demenz<br />

4 Screen<strong>in</strong>g der Demenz <strong>und</strong> Abgrenzung zum Delir oder<br />

zur Depression<br />

4 E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>er Betreuung <strong>und</strong>/oder Beurteilung<br />

der E<strong>in</strong>willigungsfähigkeit bei Demenz


2<strong>3.</strong>3 · Häufigste Konsilanfragen<br />

2<strong>3.</strong><strong>3.</strong>1 Delir bei Demenz<br />

399<br />

23<br />

Das Delir bei Demenz stellt die häufi gste Komplikation <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e der wichtigsten<br />

Anfragen im Konsildienst bei Patienten mit Demenz dar. Bereits 30% der<br />

dementen Patienten leiden bei stationärer Aufnahme <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Allgeme<strong>in</strong>krankenhaus<br />

an e<strong>in</strong>em Delir. Weitere 30% entwickeln e<strong>in</strong> Delir während der stationären<br />

Behandlung, <strong>in</strong>sbesondere nach operativen E<strong>in</strong>griff en.<br />

Defi nition<br />

> Das Delir ist e<strong>in</strong> Synonym für Verwirrtheitszustände <strong>und</strong> bezeichnet<br />

alle psychischen Störungen, die e<strong>in</strong>e organische Ursache haben <strong>und</strong><br />

mit verändertem Bewusstse<strong>in</strong>, gestörter Aufmerksamkeit <strong>und</strong> anderen<br />

kognitiven Störungen e<strong>in</strong>hergehen.<br />

Bereits aus dieser Defi nition wird deutlich, dass e<strong>in</strong> Delir ke<strong>in</strong>e psychiatrische<br />

Erkrankung per se darstellt. Die Demenzerkrankung geht mit erhöhter somatischer<br />

Vulnerabilität e<strong>in</strong>her. So können sche<strong>in</strong>bar banale somatische Erkrankungen<br />

wie e<strong>in</strong> Harnwegs<strong>in</strong>fekt oder e<strong>in</strong>e beg<strong>in</strong>nende Pneumonie oder auch<br />

e<strong>in</strong>e mit Juckreiz verb<strong>und</strong>ene Hauterkrankung dazu führen, dass schwere<br />

Verwirrtheitszustände bei dementen Patienten auft reten. Aufgabe des Konsilpsychiaters<br />

ist es, zusammen mit den somatisch tätigen Kollegen, diese den<br />

Verwirrtheitszustand auslösenden Gr<strong>und</strong>erkrankungen zu erkennen <strong>und</strong> mit<br />

medikamentösen (z. B. Antibiotikum) <strong>und</strong> nichtmedikamentösen Verfahren<br />

(z. B. Validation) zu behandeln. Die symptomatische Begleitbehandlung mit<br />

z. B. e<strong>in</strong>em Neuroleptikum sollte <strong>in</strong> Abhängigkeit von den bestehenden<br />

Gr<strong>und</strong>erkrankungen des Patienten (z. B. M. Park<strong>in</strong>son), des Krankheitsverlaufs<br />

<strong>und</strong> der bereits bestehenden Medikation <strong>und</strong> immer nur kurzzeitig erfolgen.<br />

Formen des Delirs im Konsil- <strong>und</strong> Liaisondienst<br />

4 Hyperaktives Delir: Es geht mit psychomotorischer Unruhe bis h<strong>in</strong> zur<br />

Erregung, erhöhter Irritierbarkeit, ungerichteter Angst, Halluz<strong>in</strong>ationen<br />

<strong>und</strong> ausgeprägten vegetativen Zeichen e<strong>in</strong>her. Aufgr<strong>und</strong> se<strong>in</strong>er bee<strong>in</strong>druckenden<br />

Symptomatik führt diese Delirform häufig zur Konsil anforderung.<br />

Es wird frühzeitig e<strong>in</strong>er Diagnostik zugeführt <strong>und</strong> hat deshalb<br />

6


23<br />

400 Kapitel 23 · Konsil- <strong>und</strong> Liaisonpsychiatrie bei Demenz<br />

e<strong>in</strong>e gute Prognose. Insgesamt macht diese Delirform jedoch nur ca.<br />

15% der Delirien aus.<br />

4 Hypoaktives Delir: Es stellt gegenüber dem hyperaktiven Delir e<strong>in</strong>e<br />

Herausforderung dar (ca. 25% der Fälle). Hier bestehen sche<strong>in</strong>bare<br />

Bewegungsarmut <strong>und</strong> wenig Kontaktaufnahme. Auch s<strong>in</strong>d kaum vegetative<br />

Zeichen zu erkennen. Die Defizite (Halluz<strong>in</strong>ation <strong>und</strong><br />

Desorientierung) werden erst nach <strong>in</strong>tensivem Befragen deutlich.<br />

4 Gemischtes Delir: Es tritt am weitaus häufigsten im Rahmen e<strong>in</strong>er<br />

Demenz auf (ca. 50% der Fälle). Sowohl hyper- als auch hypoaktive<br />

Symptome können bei demselben Patienten <strong>in</strong>e<strong>in</strong>ander übergehen<br />

oder <strong>in</strong> rascher Folge alternieren.<br />

Ursachen<br />

Bei der Entstehung des Delirs bei Demenz ist meist von e<strong>in</strong>er multifaktoriellen<br />

Genese auszugehen, da die wichtigsten prädisponierenden Faktoren das<br />

hohe Lebensalter, die Demenzerkrankung per se <strong>und</strong> die Multimorbidität<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

Es wird davon ausgegangen, dass das Zusammenspiel prädisponierender<br />

Faktoren <strong>und</strong> exogener E<strong>in</strong>fl üsse zum Delir bei Demenz führt. Im Konsildienst<br />

kommt den hospitalisierungsbezogenen Faktoren besondere Bedeutung<br />

zu. Dabei s<strong>in</strong>d neben der Immobilisierung bei körperlicher Erkrankung<br />

die Fehlernährung, die Polypharmazie, das Vorliegen e<strong>in</strong>es Blasenkatheters<br />

<strong>und</strong> iatrogener Ereignisse, <strong>in</strong>sbesondere Erkrankungen <strong>in</strong>folge von diagnostischen<br />

Behandlungen <strong>und</strong> therapeutischen Interventionen, zu berücksichtigen.<br />

Wichtige prädisponierende Faktoren für die Entstehung e<strong>in</strong>es Delirs im<br />

Rahmen e<strong>in</strong>er Demenz s<strong>in</strong>d<br />

4 somatische Komorbidität (z. B. e<strong>in</strong> begleitender Harnwegs<strong>in</strong>fekt oder e<strong>in</strong>e<br />

beg<strong>in</strong>nende Pneumonie),<br />

4 Dehydratation (z. B. bei Apraxie im Rahmen e<strong>in</strong>er Alzheimer-Demenz),<br />

4 Hör- <strong>und</strong> Sehbeh<strong>in</strong>dung.<br />

Das multifaktorielle Modell geht davon aus, dass diese prädisponierenden<br />

Faktoren bereits mit niedrigpotent e<strong>in</strong>wirkenden psychosozialen Noxen (wie<br />

z. B. der fremden Umgebung, der körperlichen Beschränktheit oder Immobi-


2<strong>3.</strong>3 · Häufigste Konsilanfragen<br />

401<br />

23<br />

lisation) e<strong>in</strong> Delir auslösen können. Andererseits können auch prädisponierende<br />

Faktoren mit niedriger Vulnerabilität wie leichte kognitive Störungen,<br />

E<strong>in</strong>samkeit <strong>und</strong> niedrige Intelligenz, komb<strong>in</strong>iert mit potenten Noxen wie z. B.<br />

e<strong>in</strong>em chirurgischen E<strong>in</strong>griff oder der Behandlung mit Antichol<strong>in</strong>ergika, e<strong>in</strong><br />

Delir auslösen.<br />

Multifaktorielle Genese des Delirs bei Demenz<br />

Prädisponierende Faktoren (Vulnerabilität):<br />

4 Hohes Lebensalter<br />

4 Demenzerkrankung<br />

4 Somatische Komorbidität<br />

4 Hör- <strong>und</strong> Sehbeh<strong>in</strong>derung<br />

4 Dehydratation<br />

Exogene E<strong>in</strong>flüsse (Noxen):<br />

4 Chirurgischer E<strong>in</strong>griff<br />

4 Behandlung mit Antichol<strong>in</strong>ergika<br />

4 Intensivpflichtigkeit<br />

Daneben wird das Neurotransmittermodell diskutiert . Es konnte gezeigt<br />

werden, dass e<strong>in</strong> chol<strong>in</strong>erges Defi zit, <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation mit e<strong>in</strong>em<br />

am<strong>in</strong>ergen Überschuss, zu e<strong>in</strong>em Delir bei Demenz führt. Es wird hierbei e<strong>in</strong>e<br />

Störung des zerebralen oxidativen Metabolismus diskutiert, der bei Patienten<br />

mit Demenz durch verm<strong>in</strong>derte Synthese von Neurotransmittern e<strong>in</strong> Delir<br />

auslöst. Diese Hypothese wird durch die Tatsache gestützt, dass antichol<strong>in</strong>erg<br />

wirksame Medikamente Delirien auslösen können. Die Störung exekutiver<br />

Funktionen bei Patienten, die an Delir bei Demenz leiden, weist auf e<strong>in</strong>e Dysfunktion<br />

im präfrontalen Kortex <strong>und</strong> damit der dopam<strong>in</strong>ergen Projektion<br />

h<strong>in</strong>. Dies wird <strong>in</strong>sofern plausibel, wenn man bedenkt, dass die Behandlung<br />

mit Risperidon (e<strong>in</strong> potenter Dopam<strong>in</strong>antagonist) zur Besserung des Delirs<br />

führt. E<strong>in</strong>e erhöhte Delirogenität bei Patienten mit Demenz geht jedoch <strong>in</strong> der<br />

Regel mit e<strong>in</strong>em chol<strong>in</strong>ergen Defi zit <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em am<strong>in</strong>ergen Überschuss e<strong>in</strong>her.<br />

Die wichtigsten pathophysiologischen Ursachen des Delirs bei Demenz<br />

s<strong>in</strong>d


23<br />

402 Kapitel 23 · Konsil- <strong>und</strong> Liaisonpsychiatrie bei Demenz<br />

4 Polypharmazie ,<br />

4 Exsikkose ,<br />

4 somatische Begleiterkrankungen,<br />

4 Stressfaktoren, z. B. im Rahmen der Krankenhausbehandlung,<br />

4 medikamentöse E<strong>in</strong>fl üsse wie<br />

4 die Inhibierung des Endorph<strong>in</strong>metabolismus durch ACE-Hemmer,<br />

4 die Veränderung der Transmitterhomöostase durch Amantad<strong>in</strong>,<br />

4 die Veränderung der Ionenhomöostase durch Kalziumantagonisten,<br />

4 e<strong>in</strong>e Überdosierung durch Digitox<strong>in</strong>,<br />

4 die E<strong>in</strong>schränkung der renalen Clearance durch Cephalospor<strong>in</strong>e,<br />

4 die Blockade der noradrenergen β-Rezeptoren durch Antiarrhythmika.<br />

Diagnostik <strong>und</strong> Therapie<br />

Die Diagnose des Delirs wird immer kl<strong>in</strong>isch gestellt. Die Laboruntersuchung<br />

<strong>und</strong> die apparative Diagnostik tragen jedoch wesentlich zur Klärung der<br />

Ätiologie des Delirs bei <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d damit Voraussetzung für die kurative Behandlung<br />

des Delirs bei Demenz. Das Delir bei Demenz geht zum e<strong>in</strong>en mit<br />

zentralnervösen Symptomen, die sich <strong>in</strong> Störungen des Bewusstse<strong>in</strong>s, der<br />

Kognition, der Psychomotorik, des Schlafes <strong>und</strong> des Aff ekts äußern, andererseits<br />

aber auch mit peripheren Symptomen e<strong>in</strong>her.<br />

Zentralnervöse Symptome des Delirs bei Demenz<br />

Bewusstse<strong>in</strong>:<br />

4 Verm<strong>in</strong>derte Aufmerksamkeit<br />

Kognition:<br />

4 Fehlwahrnehmungen<br />

4 Halluz<strong>in</strong>ationen<br />

4 Bee<strong>in</strong>trächtigung des abstrakten Denkens <strong>und</strong> des<br />

Kurzzeitgedächtnisses<br />

4 Desorientierung<br />

Psychomotorik:<br />

4 Wechsel zwischen Hypo- <strong>und</strong> Hyperaktivität<br />

4 Verlängerte Reaktionszeiten<br />

4 Veränderter Redefluss<br />

4 Verstärkte Schreckreaktion 7


2<strong>3.</strong>3 · Häufigste Konsilanfragen<br />

403<br />

4 Nesteln<br />

Schlaf:<br />

4 Gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus<br />

4 Albträume<br />

4 Nachts Verschlechterung der Unruhe <strong>und</strong> Verwirrtheit<br />

Affekt:<br />

4 Depression<br />

4 Angst<br />

4 Aggression<br />

Periphere Symptome des Delirs bei Demenz<br />

4 Trockene Haut <strong>und</strong> Schleimhäute<br />

4 Fieber<br />

4 Mydriasis<br />

4 Harnverhalt<br />

4 Obstipation bis h<strong>in</strong> zum paralytischen Ileus<br />

4 Tachykarde Herzrhythmusstörung<br />

4 Blutdruckabfall<br />

23<br />

E<strong>in</strong> wichtiger Gr<strong>und</strong>satz <strong>in</strong> kl<strong>in</strong>isch-diagnostischen Überlegungen des Konsiliar-<br />

<strong>und</strong> Liaisonpsychiaters ist die Akuität des Geschehens. Es gibt ke<strong>in</strong>e akute<br />

Demenz. Somit müssen Verwirrtheitszustände im Rahmen e<strong>in</strong>er Demenz<br />

immer abgeklärt werden. Wichtig ist hierbei zunächst die genaue Erfassung<br />

von Symptomatik <strong>und</strong> Verlauf. Möglichst sollten e<strong>in</strong>e Fremdanamnese <strong>und</strong><br />

e<strong>in</strong>e ausführliche Medikamentenanamnese erfolgen. Hirnorganische Vorerkrankungen<br />

<strong>und</strong> die E<strong>in</strong>nahme antichol<strong>in</strong>erg wirksamer Medikamente müssen<br />

berücksichtigt werden.<br />

Der Konsilpsychiater sollte zunächst den psychopathologischen Bef<strong>und</strong><br />

erheben. Psychometrische Untersuchungen können hierbei genutzt werden.<br />

Wichtig s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>gehende <strong>in</strong>ternistische <strong>und</strong> neurologische Untersuchung.<br />

Das Labor sollte e<strong>in</strong> Blutbild zur Abklärung e<strong>in</strong>er Anämie, e<strong>in</strong>er Entzündung<br />

sowie die Elektrolyte <strong>und</strong> Osmolarität zur Abklärung e<strong>in</strong>er Exsikkose, e<strong>in</strong>es<br />

hyperosmolaren Komas, e<strong>in</strong>er Elektrolytentgleisung oder e<strong>in</strong>es Hypoparathyreoidismus<br />

be<strong>in</strong>halten. Darüber h<strong>in</strong>aus müssen die Glukosewerte zum Aus-


23<br />

404 Kapitel 23 · Konsil- <strong>und</strong> Liaisonpsychiatrie bei Demenz<br />

schluss e<strong>in</strong>er Hyper- oder Hypoglykämie als Ursache des Delirs bei Demenz<br />

erhoben werden. Die Leberwerte dienen zum Ausschluss e<strong>in</strong>es Leberversagens,<br />

die Retentionswerte zum Ausschluss e<strong>in</strong>es Nierenversagens. Mittels TSH<br />

sollte e<strong>in</strong>e Hypo- oder Hyperthyreose ausgeschlossen werden. Wichtig s<strong>in</strong>d<br />

die Überprüfung des CRP zum Ausschluss e<strong>in</strong>er Entzündung <strong>und</strong> <strong>in</strong>sbesondere<br />

die Ur<strong>in</strong>analyse zum Ausschluss e<strong>in</strong>es Harnwegs<strong>in</strong>fekts. Durchaus s<strong>in</strong>nvoll<br />

ersche<strong>in</strong>t, das Vitam<strong>in</strong> B 12 <strong>und</strong> Folsäure zum Ausschluss e<strong>in</strong>er Hypovitam<strong>in</strong>ose<br />

zu bestimmen, gelegentlich kann es s<strong>in</strong>nvoll se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e Borrelien- <strong>und</strong><br />

Lues-Serologie zu erheben.<br />

An apparativer Diagnostik s<strong>in</strong>d die Untersuchung der Vitalparameter, des<br />

Blutdrucks, des Pulses <strong>und</strong> der Temperatur s<strong>in</strong>nvoll. Zum Ausschluss e<strong>in</strong>er<br />

kardialen Genese muss e<strong>in</strong> EKG erfolgen. Ebenfalls notwendig ist e<strong>in</strong>e Röntgen-Th<br />

oraxuntersuchung. Sollten H<strong>in</strong>weise auf e<strong>in</strong>e zerebrale Ursache vorliegen,<br />

s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e cCT oder cMRT (akute Ischämie) bzw. e<strong>in</strong> EEG (nichtkonvulsiver<br />

Status) notwendig. In Abhängigkeit vom kl<strong>in</strong>ischen Bild sollten Blutkulturen<br />

<strong>und</strong> Medikamentenspiegel, <strong>in</strong>sbesondere Digitox<strong>in</strong> <strong>und</strong> Lithium im<br />

Serum, bestimmt werden. E<strong>in</strong>e Liquorpunktion ist bei H<strong>in</strong>weisen auf e<strong>in</strong>e zerebral<br />

entzündliche Genese notwendig.<br />

Die Behandlung des Delirs ist <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong>e Behandlung der zugr<strong>und</strong>e<br />

liegenden organischen Störung . E<strong>in</strong>e spezifi sche Th erapie besteht nicht. Da<br />

die Entstehung des Delirs bei Demenz auf e<strong>in</strong>er multifaktoriellen Genese<br />

gründet, erfolgt auch die Behandlung <strong>in</strong> verschiedenen Th erapiestrategien,<br />

die mite<strong>in</strong>ander abgestimmt werden müssen. Besondere Bedeutung kommt<br />

den allgeme<strong>in</strong>en (kurativen) Maßnahmen zu. Hier geht es um die Behandlung<br />

oder Kompensation der auslösenden Faktoren.<br />

Allgeme<strong>in</strong>e (kurative) Maßnahmen zur Behandlung<br />

<strong>und</strong> Kompensation der auslösenden Faktoren<br />

4 Optimierung der Medikation (antichol<strong>in</strong>erge, monam<strong>in</strong>erge,<br />

delirogene Substanzen)<br />

4 Behandlung der Gr<strong>und</strong>erkrankung (z. B. Pneumonie, Harnwegs<strong>in</strong>fekt,<br />

Exsikkose)<br />

4 Ausgleich von Medikamentenspiegeln (z. B. Digitox<strong>in</strong>, Lithium)<br />

4 Flüssigkeitsbilanzierung<br />

4 Korrektur metabolischer Störungen<br />

4 Überwachung der Vitalwerte


2<strong>3.</strong>3 · Häufigste Konsilanfragen<br />

405<br />

23<br />

Zudem sollten vorrangig nichtmedikamentöse Maßnahmen wie Reizabschirmung,<br />

Reorientierungshilfen <strong>und</strong> Flüssigkeitsbilanzierung erfolgen. Nur bei<br />

akuter Eigen- oder Fremdgefährdung (Stürze, Fehlhandlung) sollten hochpotente<br />

Neuroleptika wie Risperidon <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>gen Dosen e<strong>in</strong>gesetzt werden. Fixierungen<br />

können durch E<strong>in</strong>satz e<strong>in</strong>er Sitzwache meist vermieden werden.<br />

Nichtmedikamentöse Therapiemaßnahmen (APA 1999)<br />

4 Bereitstellung von Reorientierungshilfen (Uhr, Kalender, Foto)<br />

4 Reizabschirmung (Zimmer, Personalwechsel, Lärm)<br />

4 Sensorische Hilfen (Brille, Hörgerät)<br />

4 Gute Beleuchtung (Tag-Nacht-Rhythmus)<br />

4 Persönliche Zuwendung, vertraute Bezugsperson<br />

4 Validierender Umgang<br />

4 Vorbeugung selbstverletzenden Verhaltens<br />

4 Fixierung als letzte Option<br />

Medikamentöse Therapie zur symptomatischen Behandlung<br />

bei akuter Eigen- oder Fremdgefährdung<br />

4 Hochpotente Neuroleptika (Mittel der Wahl;<br />

z. B. Risperidon 0,25–2 mg/Tag)<br />

4 Benzodiazep<strong>in</strong>e (möglichst mit kurzer Halbwertszeit;<br />

z. B. Oxazepam 2,5–10 mg/Tag)<br />

4 Clomethiazol (2,5–10 ml/Tag)<br />

4 Niederpotente Neuroleptika<br />

Prävention<br />

E<strong>in</strong>e wichtige Bedeutung kommt im konsiliar- <strong>und</strong> liaisonpsychiatrischen<br />

Dienst der Prävention des Delirs bei Demenz zu. Hierzu stellt das Hospital<br />

Elder Life Program e<strong>in</strong>e wichtige präventive Maßnahme zur Verh<strong>in</strong>derung<br />

e<strong>in</strong>es postoperativen Delirs bei vorliegender Demenzerkrankung dar. Im Rahmen<br />

e<strong>in</strong>er Krankenhausbehandlung, <strong>in</strong>sbesondere präoperativ, werden im<br />

Rahmen des konsiliar- <strong>und</strong> liaisonpsychiatrischen Dienstes die somatischen<br />

Risikofaktoren des Patienten kompensiert. Es erfolgt e<strong>in</strong>e Optimierung der<br />

Medikation, <strong>in</strong>sbesondere die Verr<strong>in</strong>gerung der Polypharmazie <strong>und</strong> das Ab-


23<br />

406 Kapitel 23 · Konsil- <strong>und</strong> Liaisonpsychiatrie bei Demenz<br />

setzen von antichol<strong>in</strong>erger Medikation. Darüber h<strong>in</strong>aus kann die Narkosetechnik<br />

<strong>und</strong> -medikation <strong>in</strong> Rücksprache mit dem Anästhesisten optimiert<br />

werden. Perioperativ sollte e<strong>in</strong>e standardisierte Beobachtung <strong>und</strong> Behandlung<br />

des Patienten auf der Intensivstation, z. B. durch e<strong>in</strong>e »Delirschwester«, erfolgen.<br />

Prävention des Delirs durch Management der Risikofaktoren<br />

Kognition:<br />

4 Orientierungshilfen<br />

4 Täglich kognitiv stimulierende Aktivitäten<br />

Schlafdeprivation:<br />

4 Möglichst nichtpharmakologisch (z. B. Aromatherapie)<br />

Immobilität:<br />

4 Frühmobilisation<br />

4 Vermeidung der Bewegungse<strong>in</strong>schränkung<br />

Visusm<strong>in</strong>derung:<br />

4 Visuskorrektur<br />

Hörm<strong>in</strong>derung:<br />

4 Hörgerät<br />

Dehydratation:<br />

4 Ausreichende Flüssigkeitszufuhr (cave: Apraxie)<br />

Biorhythmus:<br />

4 Lichtrhythmus<br />

4 Geräuschrhythmus<br />

4 Pflegerhythmus<br />

2<strong>3.</strong><strong>3.</strong>2 Verhaltensauff älligkeiten bei Demenz<br />

Defi nition<br />

Neben der Bee<strong>in</strong>trächtigung kognitiver Fähigkeiten <strong>und</strong> dem Auft reten typischer<br />

somatischer Begleiterkrankungen bei Demenz leiden demente Patienten<br />

im Verlauf der Erkrankung besonders stark an psychischen Symptomen .


2<strong>3.</strong>3 · Häufigste Konsilanfragen<br />

407<br />

23<br />

Diese führen häufi g zu Fragestellungen im gerontopsychiatrischen Konsiliar-<br />

<strong>und</strong> Liaisondienst <strong>und</strong> fordern e<strong>in</strong>e rasche ärztliche Intervention. Diese psychischen<br />

Veränderungen werden heute als BPSD (behavioral and psychological<br />

symptoms of dementia) bezeichnet. Gelegentlich wird auch der Begriff<br />

nichtkognitive Symptome bei Demenz benutzt. Davon abzugrenzen s<strong>in</strong>d organisch-aff<br />

ektive <strong>und</strong> organisch-wahnhaft e Störungen bei Demenz, die <strong>in</strong> der<br />

ICD unter F06.3 bzw. F06.2 klassifi ziert s<strong>in</strong>d.<br />

Etwa 92% der Patienten mit Demenz entwickeln Verhaltensauff älligkeiten .<br />

Bei den nichtkognitiven Störungen bei Demenz wird unterschieden zwischen<br />

4 produktiven Verhaltensstörungen (Aggressivität, Misstrauen, Unruhe,<br />

Schlaf-Wach-Rhythmus-Störungen, Wahn, Halluz<strong>in</strong>ationen <strong>und</strong> Angst)<br />

<strong>und</strong><br />

4 reaktiven Verhaltensstörungen (Depressivität, sozialer Rückzug, Apathie<br />

<strong>und</strong> Appetitverlust).<br />

Häufi g werden im konsiliar- <strong>und</strong> liaisonpsychiatrischen Dienst Fragen zu produktiven<br />

Verhaltensstörungen gestellt. Diese werden dann rasch e<strong>in</strong>er Diagnostik<br />

<strong>und</strong> Th erapie zugeführt, obwohl nur 50% der Dementen davon betroffen<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

> Weitaus häufi ger, bei nahezu 90% der dementen Patienten, treten<br />

reaktive Verhaltensstörungen auf. Diese werden häufi g von somatisch<br />

tätigen Kollegen übersehen <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Zufallsbef<strong>und</strong> im konsiliar-<br />

<strong>und</strong> liaisonpsychiatrischen Dienst. In ihrer Auswirkung s<strong>in</strong>d sie jedoch<br />

genauso leiderzeugend wie die produktiven Verhaltensstörungen.<br />

Somatische <strong>und</strong> psychiatrische Ursachen<br />

In Abhängigkeit vom Demenztyp entwickeln demente Patienten unterschiedliche<br />

nichtkognitive Störungen. Deshalb sollte sich der Konsiliar- <strong>und</strong> Liaisonpsychiater<br />

e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck darüber verschaff en, welcher Demenztyp der<br />

Verhaltensstörung zugr<strong>und</strong>e liegt. So ist es beim Auft reten von Aggressivität<br />

entscheidend zu h<strong>in</strong>terfragen, welche Symptomatik eigentlich zur Aggressivität<br />

geführt hat:<br />

4 Im Rahmen e<strong>in</strong>er Alzheimer-Demenz durch Beteiligung des paralimbischen<br />

Systems kann Aggressivität häufi g durch Wahnsymptome wie<br />

Vergift ungs- oder Bestehlungserleben ausgelöst werden.


23<br />

408 Kapitel 23 · Konsil- <strong>und</strong> Liaisonpsychiatrie bei Demenz<br />

4 Im Gegensatz dazu zeigen die frontotemporalen Lobärdegenerationen<br />

(<strong>in</strong>sbesondere der frontotemporale Typ) Enthemmungsphänomene <strong>und</strong><br />

emotionale Indiff erenz. Die dadurch entstehenden Probleme <strong>in</strong> der Interaktion<br />

mit anderen (z. B. dem Pfl egepersonal) führen dann zur Aggressivität<br />

des Patienten.<br />

4 Letztendlich zeigt aber auch e<strong>in</strong> Patient mit e<strong>in</strong>er subkortikalen vaskulären<br />

Demenz mit der typischen Aff ektlabilität im Verlauf der Erkrankung<br />

Aggressivität.<br />

Alle drei Ursachen von Aggressivität bei Demenz müssen jedoch unterschiedlich<br />

behandelt werden. Bei Wahnsymptomatik (im Rahmen der Alzheimer-<br />

Demenz) ist e<strong>in</strong> hochpotentes atypisches Neuroleptikum Mittel der Wahl. Die<br />

Aff ektlabilität im Rahmen der subkortikalen Demenz wird am besten mit<br />

e<strong>in</strong>em Antidepressivum behandelt. Die Enthemmungsphänomene im Rahmen<br />

der frontotemporalen <strong>Demenzen</strong> s<strong>in</strong>d möglicherweise e<strong>in</strong>er Behandlung<br />

mit selektiven Seroton<strong>in</strong>wiederaufnahmehemmern (SSRI) zugänglich.<br />

Verhaltensstörungen bei Demenz mit aff ektiven oder psychotischen<br />

Symptomen können durchaus Teil der Demenzerkrankung se<strong>in</strong> (z. B. szenische<br />

Halluz<strong>in</strong>ation im Rahmen e<strong>in</strong>er Demenz mit Lewy-Körperchen). Meist<br />

treten sie jedoch im Rahmen e<strong>in</strong>er somatischen oder psychischen Komorbidität<br />

auf. Häufi ge somatische Ursachen für Aggressivität, Unruhe <strong>und</strong> Enthemmung<br />

s<strong>in</strong>d Schmerzen, z. B. durch unerkannte Frakturen nach Stürzen oder<br />

das Vorliegen e<strong>in</strong>er unbehandelten Osteoporose. Ebenfalls führen Störungen<br />

im Bereich der Zahnprothese zu diesen Symptomen. Oft fi ndet sich bei Patienten<br />

mit Demenz als Ursache der Aggressivität e<strong>in</strong>e Digitalis- <strong>und</strong> Neuroleptikaüberdosierung.<br />

Letztlich können zahlreiche <strong>in</strong>ternistische Erkrankungen,<br />

wie z. B. e<strong>in</strong>e Hyperthyreose oder e<strong>in</strong> Diabetes mellitus, aber auch<br />

Harnwegs<strong>in</strong>fekte oder e<strong>in</strong>e chronisch obstruktive Lungenerkrankung<br />

(COPD), Verhaltensauff älligkeiten auslösen.<br />

Somatische Ursachen für Aggressivität , Unruhe , Enthemmung<br />

4 Schmerzen (Frakturen aus unerkannten Stürzen, Osteoporose, Zahn<strong>und</strong><br />

Kieferschmerzen)<br />

4 Organisch-affektive Störungen (gereizte Manie nach l<strong>in</strong>kshemisphärieller<br />

Ischämie) 7


2<strong>3.</strong>3 · Häufigste Konsilanfragen<br />

409<br />

4 Organisch-wahnhafte Störungen (z. B. Bestehlungswahn)<br />

4 Digitalisüberdosierung<br />

4 Neuroleptikaüberdosierung<br />

4 Benzodiazep<strong>in</strong>- oder Alkoholentzug<br />

23<br />

Der Begriff der »Nahrungsverweigerung« sollte nicht mehr angewendet werden.<br />

Die Nichtaufnahme von Nahrung wird heute im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er somatischen<br />

oder psychischen Komorbidität verstanden. E<strong>in</strong>e häufi ge somatische<br />

Ursache ist die Helicobacter-pylori-Besiedlung der Magenschleimhaut. Aber<br />

auch e<strong>in</strong>e Digitalis- oder e<strong>in</strong>e Psychopharmakoüberdosierung bzw. die Polypharmazie<br />

können für die Nichtaufnahme von Nahrung verantwortlich se<strong>in</strong>.<br />

Somatische Ursachen für Nichtaufnahme von Nahrun g<br />

4 Helicobacter-pylori-Gastritis<br />

4 Psychopharmaka- <strong>und</strong> Digitalisüberdosierung<br />

4 Polypharmazie (> 6 Medikamente)<br />

4 Zahnprobleme, Entzündungen im M<strong>und</strong> (cave: Prothese)<br />

4 Zerebrale Ischämie mit Schluckapraxie, z. B. Wallenberg-Syndrom<br />

4 Organisch-affektive Störung (depressiv nach l<strong>in</strong>kshemisphärieller<br />

Ischämie)<br />

4 Organisch-wahnhafte Störung (z. B. Vergiftungswahn nach zerebraler<br />

Ischämie)<br />

Häufi g zeigen Patienten mit Demenz Bestehlungs-, E<strong>in</strong>bruchs- <strong>und</strong> Eifersuchtswah<br />

n. Psychosoziale Faktoren wie die Aufnahme <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Krankenhaus<br />

können diese subkl<strong>in</strong>ischen Bef<strong>und</strong>e triggern <strong>und</strong> führen dann zu e<strong>in</strong>er Vorstellung<br />

des Patienten im konsiliar- <strong>und</strong> liaisonpsychiatrischen Dienst. Bei<br />

Halluz<strong>in</strong>ationen trifft man häufi ger auf optische Halluz<strong>in</strong>ationen. Diese s<strong>in</strong>d<br />

<strong>in</strong> der Regel e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis auf das Vorliegen e<strong>in</strong>er organischen Ursache.


23<br />

410 Kapitel 23 · Konsil- <strong>und</strong> Liaisonpsychiatrie bei Demenz<br />

Somatische Ursachen für Wah n <strong>und</strong> Halluz<strong>in</strong>atione n<br />

Wahn: überwiegend Bestehlungs-, Eifersuchts-, Vergiftungswahn<br />

Halluz<strong>in</strong>ationen: meist optisch, selten akustisch oder<br />

Körperhalluz<strong>in</strong>ationen<br />

4 Hyperthyreose, Hyper- oder Hypoglykämien<br />

4 Antipark<strong>in</strong>son-Medikamente, Digitalispräparate<br />

4 Psychopharmaka-Überdosierung (Neuroleptika, Antichol<strong>in</strong>ergika)<br />

4 Sehbeh<strong>in</strong>derung <strong>und</strong> Hörbeh<strong>in</strong>derung<br />

Neben den häufi g im Konsildienst nachweisbaren somatischen Ursachen für<br />

Verhaltensstörungen bei Demenz treten psychiatrische Ursachen auf. Diese<br />

können im Rahmen e<strong>in</strong>er aff ektiven Störung, e<strong>in</strong>er psychotischen Störung<br />

oder e<strong>in</strong>er zugr<strong>und</strong>e liegenden Persönlichkeitsakzentuierung beobachtet werden.<br />

Häufi g treten aff ektive Störungen im Rahmen der Demenzerkrankung<br />

im S<strong>in</strong>ne von Anpassungsstörungen auf. Der demente Patient wird von se<strong>in</strong>er<br />

ungeschulten Umwelt unbewusst, aber dauerhaft mit se<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>schränkungen<br />

konfrontiert. Er erlebt se<strong>in</strong>e kognitiven Störungen als Defi zite mit der daraus<br />

resultierenden M<strong>in</strong>derung se<strong>in</strong>es Selbstwertgefühls. Zusätzlich s<strong>in</strong>d gerade<br />

Patienten mit Demenz mit Veränderungen im psychosozialen Umfeld konfrontiert<br />

(z. B. Verlust des Partners oder Umzug <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Heim). Neben den affektiven<br />

Störungen s<strong>in</strong>d aber auch psychotische Störungen zu beobachten, die<br />

im oft Rahmen e<strong>in</strong>er organisch-wahnhaft en Störung zu werten s<strong>in</strong>d.<br />

Therapie der Verhaltensauff älligkeiten bei Demenz<br />

Verhaltensauff älligkeiten s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>tegraler Bestandteil des Demenzsyndroms<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er therapeutischen Intervention zugänglich. Aufgabe des Konsiliar-<br />

<strong>und</strong> Liaisonpsychiaters ist es, e<strong>in</strong> Gesamtkonzept zu erstellen, das medikamentöse<br />

<strong>und</strong> nichtmedikamentöse Behandlungsverfahren umfasst.<br />

Medikamentöse Therapie<br />

Vor e<strong>in</strong>er symptomatischen Behandlung von Verhaltensstörungen muss der<br />

entsprechende Demenztyp diagnostiziert werden. Danach ist es notwendig,<br />

zunächst die medikamentöse Basistherapie (z. B. die Behandlung mit e<strong>in</strong>em<br />

Acetylchol<strong>in</strong>esterasehemme r) auszuschöpfen, um dann e<strong>in</strong>e symptomatische<br />

Begleitbehandlung der Verhaltensstörungen zu veranlassen.


2<strong>3.</strong>3 · Häufigste Konsilanfragen<br />

411<br />

23<br />

Die symptomatische Behandlung von Aggressivität, Erregung, krankhaft<br />

em Misstrauen, sozialem Rückzug, gestörtem Schlaf-Wach-Rhythmus<br />

<strong>und</strong> Wahn erfolgt heute mit e<strong>in</strong>em hochpotenten Neuroleptikum. Mittel der<br />

Wahl ist das Medikament Risperido n. Reaktive Symptome, wie Depression<br />

<strong>und</strong> Apathie, werden heute mit Mitteln der Stimmungsaufh ellung oder Antriebssteigerung<br />

behandelt. Mittel der Wahl s<strong>in</strong>d dabei die Seroton<strong>in</strong>wiederaufnahmehemme<br />

r.<br />

Nichtmedikamentöse Therapie<br />

Frühzeitig sollte der Konsiliar- <strong>und</strong> Liaisonpsychiater nicht nur den Patienten,<br />

sondern auch se<strong>in</strong>e Angehörigen <strong>und</strong> die Pfl egekräft e <strong>in</strong> die Strukturierung<br />

<strong>und</strong> Durchführung der nichtmedikamentösen Th erapieverfahren e<strong>in</strong>beziehen.<br />

Wichtiges Instrument <strong>in</strong> der nichtmedikamentösen Th erapie ist das Aufklärungsgespräch<br />

mit Angehörigen, Patienten <strong>und</strong> dem Pfl egepersonal der<br />

anfordernden somatischen Abteilung. Weitere Behandlung <strong>und</strong> Hilfen s<strong>in</strong>d<br />

die Aufrechterhaltung alltagspraktischer Fertigkeiten, die Förderung erhaltener<br />

Kompetenzen, psychologische Ansätze, milieutherapeutische Interventionen,<br />

die Unterstützung pfl egender Bezugspersonen sowie verschiedene<br />

Strategien zur kognitiven Aktivierung. Hier stehen <strong>in</strong>sbesondere die Verfahren<br />

der spezifi schen Stimulatio n zur Verfügung. Insbesondere die Er<strong>in</strong>nerungstherapi<br />

e, die Selbsterhaltungstherapi e (SET) nach Frau Dr. Romero sowie<br />

das Kommunikationstra<strong>in</strong><strong>in</strong> g sollten angewendet werden. E<strong>in</strong>e <strong>in</strong>direkte<br />

Intervention erfolgt über Milieugestaltung, Soziotherapie, Angehörigenarbeit,<br />

adäquate Beschäft igung, Musik-, Ergo- <strong>und</strong> Kunsttherapi e. Darüber h<strong>in</strong>aus<br />

kommen psychotherapeutische Verfahren wie kognitive Verhaltenstherapi e<br />

<strong>und</strong> Validation zum E<strong>in</strong>satz. Milieutherapeutisch e Maßnahmen geben dem<br />

an Patienten mit Demenz trotz des fortschreitenden Krankheitsprozesses<br />

Orientierungshilfen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e überschaubare Tagesstruktur. E<strong>in</strong>e Konstanz <strong>in</strong><br />

der Pfl egebetreuung sollte gewährleistet werden. Hier kann das Pr<strong>in</strong>zip der<br />

Bezugspfl eg e e<strong>in</strong>gesetzt werden.<br />

Zwar ist die Validatio n im engeren S<strong>in</strong>ne ke<strong>in</strong> psychotherapeutisches Verfahren.<br />

Sie ist jedoch e<strong>in</strong>e wichtige Gr<strong>und</strong>haltung <strong>in</strong> der nichtmedikamentösen<br />

Th erapie. Dabei vermittelt der Konsiliar- <strong>und</strong> Liaisonpsychiater dem somatisch<br />

arbeitenden Team, sich <strong>in</strong> die Gefühlswelt e<strong>in</strong>es Patienten mit Demenz<br />

e<strong>in</strong>zufühlen, diese zu benennen <strong>und</strong> für gültig zu erklären. Geschult angewendet<br />

führt dies zu Nähe <strong>und</strong> Vertrauen sowie e<strong>in</strong>em Sicherheitsgefühl für<br />

den Patienten mit Demenz. Dies wiederum führt zur Stärkung se<strong>in</strong>er emotio-


23<br />

412 Kapitel 23 · Konsil- <strong>und</strong> Liaisonpsychiatrie bei Demenz<br />

nalen Gefühlswelt <strong>und</strong> damit zu e<strong>in</strong>er Steigerung des Selbstwertgefühls. Demente<br />

Patienten mit gestärktem Selbstwertgefühl leiden weniger häufi g unter<br />

Verhaltensstörungen.<br />

2<strong>3.</strong><strong>3.</strong>3 Kognitives Screen<strong>in</strong>g im Konsildienst<br />

> Dem kognitiven Screen<strong>in</strong> g <strong>in</strong> der Konsiliar- <strong>und</strong> Liaisonpsychiatrie,<br />

<strong>in</strong>sbesondere im Allgeme<strong>in</strong>krankenhaus, kommt erhebliche Bedeutung<br />

zu.<br />

E<strong>in</strong>en Schwerpunkt bildet dabei sicherlich die Früherkennung <strong>und</strong> Frühdiagnose<br />

von demenziellen Erkrankungen. Darüber h<strong>in</strong>aus hat das kognitive<br />

Screen<strong>in</strong>g jedoch wesentlichen E<strong>in</strong>fl uss auf die Planung der eigentlich zur<br />

Aufnahme führenden somatischen Erkrankungen. Durch die Verifi zierung<br />

kognitiver Defi zite zu Beg<strong>in</strong>n der Behandlung können Th erapiestrategien<br />

etabliert werden, die <strong>in</strong>sbesondere delirante Zustände <strong>und</strong> Verhaltensauff älligkeiten<br />

verh<strong>in</strong>dern können. Letztendlich dienen kognitive Screen<strong>in</strong>gverfahren<br />

aber auch der Abgrenzung e<strong>in</strong>er demenziellen Erkrankung von der Depression<br />

<strong>und</strong> vom Delir.<br />

Etwa e<strong>in</strong> Drittel der Patienten, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Allgeme<strong>in</strong>krankenhaus aufgenommen<br />

werden, zeigen deutliche Bee<strong>in</strong>trächtigungen von Konzentration,<br />

Merkfähigkeit <strong>und</strong> Gedächtnis. Da die Aufnahme <strong>in</strong> das Allgeme<strong>in</strong>krankenhaus<br />

oft primär aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er organischen Erkrankung erfolgt <strong>und</strong> Diagnostik<br />

<strong>und</strong> Th erapie durch den somatisch tätigen Mediz<strong>in</strong>er hierauf fokussiert<br />

s<strong>in</strong>d, werden kognitive Störungen häufi g nicht erkannt.<br />

Dies ist <strong>in</strong>sbesondere dann zu beobachten, wenn die kognitiven Störungen<br />

nicht von gravierenden Verhaltensauff älligkeiten begleitet werden. Erst dann,<br />

wenn im Zusammenspiel der somatischen Erkrankung <strong>und</strong> der noch nicht<br />

erkannten kognitiven Störung produktive psychische Symptome auft reten,<br />

wird durch den somatisch tätigen Mediz<strong>in</strong>er an e<strong>in</strong>e kognitive Komorbidität<br />

gedacht <strong>und</strong> der konsiliar- <strong>und</strong> liaisonpsychiatrische Dienst aktiviert. Deshalb<br />

ist es wichtig, im Rahmen der Behandlung somatischer Erkrankungen im Allgeme<strong>in</strong>krankenhaus,<br />

das Vorliegen kognitiver Defi zite frühzeitig zu eruieren,<br />

da sie <strong>in</strong> der Behandlung der somatischen Gr<strong>und</strong>erkrankung erschwerend<br />

h<strong>in</strong>zukommen <strong>und</strong> möglicherweise den Krankenhausaufenthalt bzw. die<br />

Krankenhausliegedauer verlängern können. Auch die hohe Letalität von 25%


2<strong>3.</strong>3 · Häufigste Konsilanfragen<br />

413<br />

23<br />

bei Patienten mit Delir im Allgeme<strong>in</strong>krankenhaus spricht für die Notwendigkeit<br />

e<strong>in</strong>er frühzeitigen Diagnose kognitiver Störungen.<br />

Über die Tatsache h<strong>in</strong>aus, dass Patienten mit somatischen Erkrankungen<br />

im Allgeme<strong>in</strong>krankenhaus durch unentdeckte kognitive Störungen häufi g<br />

Verhaltensauff älligkeiten <strong>und</strong> delirante Zustände entwickeln, ist es für die Behandlung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er somatischen Abteilung entscheidend zu wissen, <strong>in</strong>wieweit<br />

kognitive Defi zite die somatische Behandlungsplanung bee<strong>in</strong>trächtigen können.<br />

Kognitive Störungen können z. B. bedeutend für die E<strong>in</strong>willigungsfähigkeit<br />

<strong>und</strong> die Entscheidungsfähigkeit des Patienten se<strong>in</strong>. Auch haben kognitive<br />

Defi zite aufgr<strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen Vulnerabilität Bedeutung für die<br />

medikamentöse Behandlungsplanung. Insbesondere antichol<strong>in</strong>erge Substanzen,<br />

Benzodiazep<strong>in</strong>e <strong>und</strong> trizyklische Antidepressiva müssen dann vermieden<br />

werden.<br />

Auch für die präoperative Phase, die Wahl der Narkose <strong>und</strong> das postoperative<br />

Management ist die Kenntnis möglicherweise vorliegender kognitiver<br />

Defi zite relevant. Letztendlich können bei frühzeitigem Erkennen<br />

kognitiver Defi zite die möglicherweise im Verlauf zu erwartenden Verhaltensauff<br />

älligkeiten oder deliranten Zustände frühzeitig durch nichtmedikamentöse<br />

Verfahren, <strong>in</strong>sbesondere Cop<strong>in</strong>gstrategien, reduziert oder verh<strong>in</strong>dert<br />

werden.<br />

Die e<strong>in</strong>zelnen Screen<strong>in</strong>gverfahren für kognitive Störungen werden hierzu<br />

ausführlich <strong>in</strong> 7 Kap. 19 beschrieben. Im Konsildienst sollten e<strong>in</strong>fache <strong>und</strong> <strong>in</strong><br />

angepasstem zeitlichem Rahmen durchzuführende Verfahren angewendet<br />

werden. Hierzu gehören MMSE (M<strong>in</strong>i-Mental State Exam<strong>in</strong>atio n), Uhrentes t<br />

<strong>und</strong> DemTec t. Für die Interpretation dieser Tests muss der Konsilpsychiater<br />

neben se<strong>in</strong>em kl<strong>in</strong>ischen E<strong>in</strong>druck <strong>und</strong> der zugr<strong>und</strong>e liegenden Symptomatologie<br />

(z. B. Aphasie, Apraxie <strong>und</strong> Agnosie) den E<strong>in</strong>fl uss somatischer Gr<strong>und</strong>erkrankungen<br />

(z. B. e<strong>in</strong>er COPD) <strong>und</strong> den E<strong>in</strong>fl uss möglicherweise vorliegender<br />

Medikationen (<strong>in</strong>sbesondere antichol<strong>in</strong>erge Medikation) berücksichtigen.<br />

Typische somatische Erkrankungen als Ursache<br />

für kognitive Defi zit e<br />

4 Schwere kardiopulmonale Erkrankungen (z. B. COPD, Emphysem,<br />

Herz<strong>in</strong>suffizienz)<br />

4 Endokr<strong>in</strong>opathien (Hypothyreose, seltener Hyperthyreose)<br />

6


23<br />

414 Kapitel 23 · Konsil- <strong>und</strong> Liaisonpsychiatrie bei Demenz<br />

4 Elektrolytstörungen (Hypo- <strong>und</strong> Hypernatriämie, Hyperkalzämie,<br />

Hypokaliämie)<br />

4 Anämie, Exsikkose, Mangel- <strong>und</strong> Fehlernährung<br />

4 Hypovitam<strong>in</strong>osen (Vitam<strong>in</strong> B 12 , Folsäure)<br />

4 Chronische Hepatopathie (z. B. Leberzirrhose)<br />

4 Chronische Nephropathie (z. B. chronische Nieren<strong>in</strong>suffizienz)<br />

Letztendlich führt sehr häufi g die Frage der Diff erenzialdiagnose kognitiver<br />

Defi zite (liegt e<strong>in</strong>e Demenz, e<strong>in</strong> Delir oder e<strong>in</strong>e Depression vor?) zu e<strong>in</strong>em<br />

Konsil. Neben der zugr<strong>und</strong>e liegenden psychiatrischen Symptomatik <strong>und</strong><br />

dem Verlauf ist hier e<strong>in</strong>e ausführliche Fremdanamnese s<strong>in</strong>nvoll.<br />

Anhand folgender Punkte kann jedoch auch kl<strong>in</strong>isch die Diff erenzialdiagnose<br />

zwischen Delir, Demenz <strong>und</strong> Depressio n im Konsildienst erfolgen:<br />

4 Für e<strong>in</strong>e Demenz sprechen dabei der schleichende <strong>und</strong> chronische Verlauf<br />

sowie die ungestörte Bewusstse<strong>in</strong>slage.<br />

4 Das Delir tritt plötzlich auf <strong>und</strong> zeigt die o. g. Bewusstse<strong>in</strong>s- <strong>und</strong> Aufmerksamkeitsstörung.<br />

4 Im Rahmen e<strong>in</strong>es Delirs ist die Psychomotorik gesteigert <strong>und</strong>/oder reduziert,<br />

während bei der Demenz meist e<strong>in</strong>e ungestörte Psychomotorik vorliegt.<br />

4 Bei der Demenz ist, im Gegensatz zum Delir, die Kognition meist global<br />

gestört.<br />

4 Für e<strong>in</strong>e Depression spricht der langsame Beg<strong>in</strong>n.<br />

4 Bezüglich der Tagesschwankung zeigt die Depression e<strong>in</strong> Morgentief.<br />

4 Im Gegensatz zum Delir <strong>und</strong> zur Demenz ist die Symptomatik bei der<br />

Depression am Abend eher besser, dafür zeigen die Patienten e<strong>in</strong> Früherwachen.<br />

4 Depressive Patienten leiden unter Schlafstörungen, Interessensverlust <strong>und</strong><br />

Appetitlosigkeit.<br />

4 Das Delir als fl uktuierende Erkrankung zeigt meist e<strong>in</strong>e nächtliche Verschlechterung;<br />

die Demenz, <strong>in</strong>sbesondere die Alzheimer-Demenz, e<strong>in</strong>e<br />

Verschlechterung <strong>in</strong> den Nachmittags- <strong>und</strong> Abendst<strong>und</strong>en (S<strong>und</strong>own<strong>in</strong>g-<br />

Phänomen).


2<strong>3.</strong>3 · Häufigste Konsilanfragen<br />

2<strong>3.</strong><strong>3.</strong>4 E<strong>in</strong>willigungsfähigkeit bei Patienten mit Demenz<br />

415<br />

23<br />

E<strong>in</strong>willigungsfähigkeit <strong>und</strong> Geschäftsfähigkeit<br />

Durch die steigende Anzahl von an dementen Patienten im Allgeme<strong>in</strong>krankenhaus<br />

nehmen im konsil- <strong>und</strong> liaisonpsychiatrischen Dienst die Anfragen<br />

zur E<strong>in</strong>schätzung der E<strong>in</strong>willigungsfähigkeit erheblich zu. Häufi g stellt sich<br />

die Situation so dar, dass e<strong>in</strong> an Patient mit Demenz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er somatischen<br />

Abteilung e<strong>in</strong>es Krankenhauses behandelt wird <strong>und</strong> e<strong>in</strong> bestimmter E<strong>in</strong>griff<br />

oder e<strong>in</strong>e Operation durchgeführt werden soll. Der somatisch tätige Kollege<br />

ist sich <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick auf die E<strong>in</strong>willigungsfähigkei t des Patienten unsicher.<br />

> Die E<strong>in</strong>willigungsfähigkeit ist e<strong>in</strong> juristischer Begriff. Er beschreibt<br />

die Fähigkeit des Betroffenen, die Vor- <strong>und</strong> Nachteile e<strong>in</strong>er Maßnahme<br />

abzuwägen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e vernünftige Entscheidung darüber zu treffen.<br />

Der Jurist spricht auch von E<strong>in</strong>sichts- <strong>und</strong> Steuerungsfähigkeit. Dabei<br />

ist E<strong>in</strong>willigungsfähigkeit etwas anderes als Geschäftsfähigkeit. Unter<br />

Geschäftsfähigkeit versteht man die Fähigkeit, selbstständig wirksame<br />

rechtsgeschäftliche Willenserklärungen abzugeben oder zu<br />

empfangen. Voraussetzung ist hierfür die Bildung des freien Willens.<br />

Im Gegensatz zur Geschäft sfähigkeit ist die E<strong>in</strong>willigungsfähigkeit graduierbar.<br />

Dies bedeutet, dass e<strong>in</strong> Patient, der an e<strong>in</strong>er Demenzerkrankung leidet,<br />

möglicherweise die Fähigkeit besitzt, Vor- <strong>und</strong> Nachteile z. B. e<strong>in</strong>er Lipomentfernung<br />

gegene<strong>in</strong>ander abzuwägen, dass er jedoch nicht <strong>in</strong> der Lage ist, die<br />

Vor- <strong>und</strong> Nachteile e<strong>in</strong>er ERCP (endoskopisch-retrograde Cholangiopankreatikographie)<br />

gegene<strong>in</strong>ander abzuwägen. Im Allgeme<strong>in</strong>en kann man davon<br />

ausgehen, dass, je komplexer der geplante E<strong>in</strong>griff ist, die Anforderungen an<br />

die E<strong>in</strong>willigungsfähigkeit umso höher se<strong>in</strong> müssen.<br />

Prüfung der E<strong>in</strong>willigungsfähigkeit<br />

Zur Beurteilung der E<strong>in</strong>willigungsfähigkeit e<strong>in</strong>es dementen Patienten sollte<br />

geprüft werden, ob der Betroff ene über die Fähigkeit verfügt, den Sachverhalt<br />

zu verstehen (Verständnis). Darüber h<strong>in</strong>aus muss er die Fähigkeit besitzen,<br />

die ihm gegebenen Informationen, d. h. mögliche Folgen <strong>und</strong> Risiken, <strong>in</strong> angemessener<br />

Weise zu verarbeiten (Verarbeitung). Er muss Behandlungsalternativen<br />

angemessen bewerten (Bewertungsfähigkeit) <strong>und</strong> letztendlich e<strong>in</strong>en<br />

eigenen Willen auf der Gr<strong>und</strong>lage von Verständnis, Bearbeitung <strong>und</strong> Bewertung<br />

fi nden <strong>und</strong> artikulieren können (Willensbildung).


23<br />

416 Kapitel 23 · Konsil- <strong>und</strong> Liaisonpsychiatrie bei Demenz<br />

> E<strong>in</strong> dementer Patient ist dann e<strong>in</strong>willigungsfähig, wenn er Art, Bedeutung,<br />

Tragweite <strong>und</strong> Risiken der ärztlichen Maßnahme erfassen kann.<br />

Voraussetzungen für E<strong>in</strong>willigungsfähigkeit<br />

1. Verständnis: Fähigkeit, e<strong>in</strong>en bestimmten Sachverhalt zu verstehen<br />

2. Verarbeitung: Fähigkeit, Informationen bezüglich Folge <strong>und</strong> Risiken<br />

zu verarbeiten<br />

<strong>3.</strong> Bewertung: Fähigkeit, Behandlungsalternativen angemessen<br />

zu bewerten<br />

4. Willensbildung: Fähigkeit, den freien Willen zu bilden<br />

Sollte bereits e<strong>in</strong>e Betreuung für die Ges<strong>und</strong>heitssorge vorliegen, schließt dies<br />

die E<strong>in</strong>willigungsfähigkeit des dementen Patienten nicht aus. Im Gegenteil,<br />

die Entscheidung des Betreuers gemäß § 1901 BGB muss zum Wohl des Betreuten<br />

erfolgen, der Wille des Betroff enen hat Vorrang. Das Betreuungsrecht<br />

hat die Aufgabe, Defi zite bei der Abgabe von Willenserklärung oder der Erledigung<br />

von Rechtsgeschäft en zu kompensieren. Es muss immer geprüft werden<br />

ob bereits e<strong>in</strong>e Willensbek<strong>und</strong>ung z. B. im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Patientenverfügung<br />

nach § 1901a BGB vorliegt.<br />

Praktisches Vorgehen<br />

In der kl<strong>in</strong>isch-praktischen Arbeit ist das wichtigste Instrument zur Feststellung<br />

der E<strong>in</strong>willigungsfähigkeit das ärztliche Gespräch. Es sollte zunächst e<strong>in</strong>e<br />

E<strong>in</strong>schätzung des Ausmaßes der kognitiven E<strong>in</strong>schränkungen erfolgen. Hierzu<br />

s<strong>in</strong>d im Konsildienst e<strong>in</strong>fache Skalen wie MMSE, Uhrentest oder Demtect<br />

anzuwenden. E<strong>in</strong>e schwere Depression oder e<strong>in</strong>e Psychose sowie der E<strong>in</strong>fl uss<br />

von Medikation auf die Kognition sollten ausgeschlossen werden.<br />

Im Folgenden sollte dem Patienten der geplante E<strong>in</strong>griff ausführlich <strong>und</strong><br />

mit Rücksicht auf die Demenzerkrankungen (Aphasie) <strong>in</strong> kurzen <strong>und</strong> prägnanten<br />

Sätzen <strong>und</strong> mit verschiedenen Umschreibungen dargelegt werden.<br />

Somit können möglicherweise vorliegende Auff assungs-, Konzentrations-,<br />

Merkfähigkeits- <strong>und</strong> Wortverständnisstörungen kompensiert werden. Im Anschluss<br />

wird der Betroff ene gebeten, das Besprochene zu wiederholten. Somit<br />

kann die Verständnisfähigkeit beurteilt werden. Danach sollte gefragt werden,<br />

über welche Risiken man gesprochen hatte <strong>und</strong> welche Folgen möglicherwei-


Literatur<br />

417<br />

23<br />

se mit dem E<strong>in</strong>griff verb<strong>und</strong>en s<strong>in</strong>d. Hiermit kann die Verarbeitungsfähigkeit<br />

geklärt werden. Nach Vorstellung von Behandlungsalternativen bittet man<br />

den Patienten, diese aus se<strong>in</strong>er Sicht zu kommentieren, <strong>und</strong> erhält somit e<strong>in</strong>en<br />

E<strong>in</strong>druck über die Bewertungsfähigkeit. Bestehen die Fähigkeit zum Verständnis,<br />

zur Verarbeitung <strong>und</strong> zur Bewertung, ist davon auszugehen, dass<br />

der Patient den freien Willen bestimmen kann, <strong>und</strong> er ist damit, trotz se<strong>in</strong>er<br />

Demenzerkrankung, e<strong>in</strong>willigungsfähig.<br />

Wenn e<strong>in</strong>e Betreuung vorliegt <strong>und</strong> der demente Patient e<strong>in</strong>willigungsfähig<br />

ist, kann er selbst <strong>in</strong> den E<strong>in</strong>griff e<strong>in</strong>willigen. Der Betreuer muss dann, wenn<br />

er den Bereich der Ges<strong>und</strong>heitssorge betreut, über den E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong>formiert<br />

werden. Ist der Patient mit Demenz nicht e<strong>in</strong>willigungsfähig, dann muss die<br />

E<strong>in</strong>willigung <strong>in</strong> den E<strong>in</strong>griff durch den Betreuer erfolgen. Dieser ist dabei<br />

dem Wohl des Betreuten <strong>und</strong> se<strong>in</strong>em mutmaßlichen Willen verpfl ichtet.<br />

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23<br />

418 Kapitel 23 · Konsil- <strong>und</strong> Liaisonpsychiatrie bei Demenz<br />

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419<br />

Gedächtnissprechst<strong>und</strong>en<br />

(Memory-Kl<strong>in</strong>iken)<br />

Jan<strong>in</strong>e Diehl-Schmid, Nicola T. Lautenschlager<br />

<strong>und</strong> Alexander Kurz<br />

24.1 Historischer Überblick – 420<br />

24.2 Defi nition e<strong>in</strong>er Memory-Kl<strong>in</strong>ik – 420<br />

24.3 Indikationsstellungen – 422<br />

24.<strong>3.</strong>1 Besonders problematische Patientengruppen – 423<br />

24.4 Diagnostische Schwierigkeiten – 426<br />

24.4.1 Früherkennung – 426<br />

24.4.2 Schwierige Diff erenzialdiagnosen – 428<br />

24.5 Besondere Fragestellungen – 430<br />

24.5.1 Fragen zur Therapie – 430<br />

24.5.2 Fragen der Betroff enen <strong>und</strong> Angehörigen – 432<br />

Literatur – 434<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_24,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

24


24<br />

420 Kapitel 24 · Gedächtnissprechst<strong>und</strong>en (Memory-Kl<strong>in</strong>iken)<br />

Zum Thema<br />

In diesem Kapitel wird die Institution Memory-Kl<strong>in</strong>ik oder Gedächtnissprech st<strong>und</strong>e<br />

vorgestellt, wie sie sich entwickelte <strong>und</strong> wie sie sich def<strong>in</strong>iert. Im Weiteren<br />

werden der Aufgabenbereich <strong>und</strong> der Untersuchungsablauf skizziert. Die für den<br />

Hausarzt wichtigen Punkte wie Überweisungs<strong>in</strong>dikation <strong>und</strong> Zusammenarbeit<br />

werden ausführlich besprochen .<br />

24.1 Historischer Überblick<br />

Die organisch bed<strong>in</strong>gten psychischen Störungen, v. a. die <strong>Demenzen</strong>, waren<br />

jahrzehntelang e<strong>in</strong> vernachlässigtes Gebiet der Nervenheilk<strong>und</strong>e <strong>in</strong> Deutschland,<br />

aber auch <strong>in</strong> anderen europäischen Ländern. Die Zahl der neurodegenerativen<br />

Syndrome <strong>in</strong> der Bevölkerung stieg jedoch fortlaufend an, weil immer<br />

mehr Menschen das Risikoalter für die gerontopsychiatrischen Krankheiten<br />

erreichen. Dieses Missverhältnis mag e<strong>in</strong> Beweggr<strong>und</strong> gewesen se<strong>in</strong>, der vor<br />

knapp 3 Jahrzehnten zur Gründung der ersten spezialisierten E<strong>in</strong>richtungen<br />

für die Diagnostik <strong>und</strong> Behandlung von Demenzerkrankungen führte. E<strong>in</strong><br />

weiterer Anlass war der Aufruf der Weltges<strong>und</strong>heitsorganisation (WHO), die<br />

1981 zur Gründung von Institutionen auff orderte, die sich speziell der Erkennung<br />

<strong>und</strong> Behandlung psychischer Störungen im Alter widmen.<br />

1983 wurde die erste memory-cl<strong>in</strong>ic (»cl<strong>in</strong>ic« bedeutet übersetzt »Ambulanz«)<br />

<strong>in</strong> London gegründet. Die erste Memory-Kl<strong>in</strong>ik im deutschsprachigen<br />

Europa folgte 1985 an der TU München (Kurz et al. 1991). Danach folgte 1986<br />

e<strong>in</strong>e ähnliche E<strong>in</strong>richtung an der geriatrischen Universitätskl<strong>in</strong>ik Basel. Es haben<br />

sich mittlerweile viele weitere E<strong>in</strong>richtungen dieser Art etabliert. In<br />

Deutschland, Österreich <strong>und</strong> der Schweiz gibt es derzeit über 160 verschiedene<br />

Memory-Kl<strong>in</strong>iken. Es ist anzunehmen, dass <strong>in</strong> den kommenden Jahren<br />

viele weitere ähnliche Institutionen h<strong>in</strong>zukommen werden.<br />

24.2 Defi nition e<strong>in</strong>er Memory-Kl<strong>in</strong>ik<br />

Die Defi nition e<strong>in</strong>er Memory-Kl<strong>in</strong>ik hängt eng mit der Zielsetzung der entsprechenden<br />

E<strong>in</strong>richtung zusammen. Im Mittelpunkt stehen die diagnostische<br />

Aufk lärung von kognitiven Störungen, die medikamentöse Th erapie der<br />

zugr<strong>und</strong>e liegenden Krankheitsbilder, die Durchführung kognitiver Trai-


24.2 · Def<strong>in</strong>ition e<strong>in</strong>er Memory-Kl<strong>in</strong>ik<br />

421<br />

24<br />

n<strong>in</strong>gsverfahren <strong>und</strong> die Beratung der Patienten <strong>und</strong> Angehörigen. H<strong>in</strong>sichtlich<br />

der Trägerschaft s<strong>in</strong>d die Memory-Kl<strong>in</strong>iken sehr heterogen. Hierunter<br />

fi nden sich Universitäten, Bezirkskrankenhäuser, städtische Kl<strong>in</strong>iken, spezialisierte<br />

Arztpraxen, private Träger <strong>und</strong> Rehabilitationskl<strong>in</strong>iken. Die Arbeitsweise<br />

der Memory-Kl<strong>in</strong>iken ist durch das Zusammenwirken verschiedener<br />

Berufsgruppen gekennzeichnet. Diese »multiprofessionellen Teams« umfassen<br />

<strong>in</strong> typischen Fällen Psychiater, Neurologen, Geriater, Psychologen, Pfl egepersonal,<br />

Beschäft igungstherapeuten, Krankengymnasten, Ergotherapeuten<br />

<strong>und</strong> Sozialpädagogen. Natürlich haben die Memory-Kl<strong>in</strong>iken, je nach Institution,<br />

der sie angegliedert s<strong>in</strong>d, unterschiedliche Möglichkeiten <strong>und</strong> Schwerpunkte<br />

der Diagnostik <strong>und</strong> Th erapie. Dies hängt auch von den Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />

der jeweiligen Memory-Kl<strong>in</strong>ik ab: Befi ndet sie sich <strong>in</strong> der Großstadt<br />

oder hat sie e<strong>in</strong> ländliches E<strong>in</strong>zugsgebiet, hat die jeweilige Region e<strong>in</strong> knapp<br />

bemessenes oder gutes Angebot an ärztlicher Versorgung, existiert e<strong>in</strong>e lokale<br />

Alzheimer-Gesellschaft vor Ort? Dennoch hat sich e<strong>in</strong>e Übere<strong>in</strong>kunft bezüglich<br />

der Ziele <strong>und</strong> Strukturen e<strong>in</strong>er Memory-Kl<strong>in</strong>ik herauskristallisiert.<br />

> E<strong>in</strong>e Memory-Kl<strong>in</strong>ik ist auf die Diagnose <strong>und</strong> Therapie von organisch<br />

bed<strong>in</strong>gten psychischen Erkrankungen älterer Patienten spezialisiert.<br />

Sie arbeitet multiprofessionell.<br />

Memory-Kl<strong>in</strong>iken haben sich mit der Zeit zu Kristallisationspunkten spezialisierten<br />

Wissens entwickelt, die sowohl Allgeme<strong>in</strong>ärzten als auch Neurologen<br />

<strong>und</strong> Psychiatern zur Verfügung stehen. Außerdem können sie bedeutende Infrastrukturen<br />

für die Forschung auf dem Gebiet der <strong>Demenzen</strong> se<strong>in</strong>. Memory-Kl<strong>in</strong>iken<br />

können unter verschiedenen Bezeichnungen arbeiten, wie z. B.<br />

»Gedächtnissprechst<strong>und</strong>e «, »Demenzambulan z« oder »Alzheimer-Zentr um«<br />

etc.<br />

In den Zentren werden 90% der Patienten ambulant versorgt, etwa die<br />

Hälft e verfügt zusätzlich über teilstationäre <strong>und</strong> stationäre Behandlungsmöglichkeiten.<br />

Fast <strong>in</strong> allen E<strong>in</strong>richtungen s<strong>in</strong>d Neuropsychologie, Computertomographie<br />

oder Kernsp<strong>in</strong>tomographie <strong>und</strong> Elektroenzephalographie diagnostischer<br />

Standard. Während im niedergelassenen Bereich selten Zeit für<br />

ausführliche neuropsychologische Tests bleibt <strong>und</strong> zumeist nur Screen<strong>in</strong>g-<br />

Tests wie M<strong>in</strong>i-Mental State Exam<strong>in</strong>ation (MMS E) oder DemTe ct durchgeführt<br />

werden, dient die neuropsychologische Untersuchung <strong>in</strong> der Memory-<br />

Kl<strong>in</strong>ik nicht nur dazu, die Ausprägung kognitiver Bee<strong>in</strong>trächtigungen zu erfassen,<br />

sondern auch e<strong>in</strong> Leistungsprofi l zu erstellen. In den Memory-Kl<strong>in</strong>iken


24<br />

422 Kapitel 24 · Gedächtnissprechst<strong>und</strong>en (Memory-Kl<strong>in</strong>iken)<br />

wird hierfür mehrheitlich die CERAD- NP (Th e Consortium to Establish a Registry<br />

for Alzheimer’s Disease – Neuropsychologische Batterie) verwendet. Bei<br />

besonderen Fragestellungen, wie z. B der Frage nach dem Ausmaß von Bee<strong>in</strong>trächtigungen<br />

der sprachlichen Fähigkeiten oder der exekutiven Funktionen,<br />

werden ggf. weiterführende kognitive Tests passend zur <strong>in</strong>dividuellen Fragestellung<br />

ausgewählt (Diehl et al. 2005).<br />

Während die Liquoruntersuchung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Memory-Kl<strong>in</strong>iken zum<br />

diagnostischen Standard zählt, wird die Liquorpunktion <strong>in</strong> anderen Memory-<br />

Kl<strong>in</strong>iken nur <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelfällen bei spezifi schen Fragestellungen durchgeführt.<br />

Zunehmend mehr Memory-Kl<strong>in</strong>iken haben Zugang zur S<strong>in</strong>gle-Photon Emission<br />

Computed Tomography (SPECT) <strong>und</strong> zur Positronenemissionstomographie<br />

(PET) für spezielle kl<strong>in</strong>ische Fragestellungen oder für Forschungsprojekte.<br />

Im Durchschnitt werden <strong>in</strong> jeder Memory-Kl<strong>in</strong>ik etwa 160, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen bis<br />

zu 400 neue Patienten im Jahr untersucht.<br />

Die am häufi gsten gestellte Diagnose <strong>in</strong> den Memory-Kl<strong>in</strong>iken ist die Alzheimer-Deme<br />

nz (AD), gefolgt von vaskulärer Demenz (V D) bzw. »gemischter<br />

Form«, bei der sich gleichzeitig Anzeichen für e<strong>in</strong>e Alzheimer-Krankheit <strong>und</strong><br />

e<strong>in</strong>e vaskuläre Pathologie zei gen. Auch seltenere Demenzursachen, wie z. B.<br />

frontotemporale lobäre Degeneratio nen, werden an jeder Memory-Kl<strong>in</strong>ik<br />

diagnostiziert. Der Anteil derjenigen Patienten, die bereits im Stadium der<br />

leichten kognitiven Bee<strong>in</strong>trächtigung diagnostiziert werden, nimmt seit Jahren<br />

kont<strong>in</strong>uierlich zu. Die beteiligten Institutionen folgen bei der Diagnostik<br />

<strong>in</strong>ternational anerkannten Diagnosekriterien: der ICD-10 <strong>und</strong> dem DSM-IV<br />

bzw. den NINDS-ADRDA-Kriterien für die AD <strong>und</strong> den NINDS-AIREN-<br />

Kriterien für die VD.<br />

24.3 Indikationsstellungen<br />

Bei der Diagnostik <strong>und</strong> Th erapie organisch bed<strong>in</strong>gter psychiatrischer Syndrome,<br />

besonders von Demenzzuständen, treten an e<strong>in</strong>igen Stellen immer<br />

wieder besondere Probleme auf, die es für den Allgeme<strong>in</strong>arzt oder Nervenarzt<br />

ratsam sche<strong>in</strong>en lassen, den Rat e<strong>in</strong>er Memory-Kl<strong>in</strong>ik e<strong>in</strong>zuholen.<br />

Es ist im Allgeme<strong>in</strong>en empfehlenswert, der Überweisung an e<strong>in</strong>e Memory-Kl<strong>in</strong>ik<br />

bereits erhobene Vorbef<strong>und</strong>e beizufü gen.


24.3 · Indikationsstellungen<br />

Überweisungs<strong>in</strong>dikationen für e<strong>in</strong>e Memory-Kl<strong>in</strong>ik<br />

423<br />

4 Junge Patienten mit Gedächtnisstörungen oder Demenz<br />

4 Alle<strong>in</strong>stehende Patienten mit Demenz<br />

4 Früherkennung von <strong>Demenzen</strong><br />

4 Schwierige Differenzialdiagnosen<br />

4 Rasche Progredienz <strong>und</strong> atypische kl<strong>in</strong>ische Bilder von<br />

Demenzsyndromen<br />

4 Verdacht auf e<strong>in</strong>e seltene Demenzursache<br />

24<br />

Die Bezugspersonen des Patienten müssen darauf aufmerksam gemacht werden,<br />

dass e<strong>in</strong>e genaue Fremdanamnese e<strong>in</strong>e wesentliche Informationsquelle<br />

für die Diagnosefi ndung darstellt <strong>und</strong> dass daher ihre Teilnahme an der Untersuchung<br />

unbed<strong>in</strong>gt erforderlich ist. Wichtig s<strong>in</strong>d auch H<strong>in</strong>weise zur Medikamentene<strong>in</strong>nahme<br />

<strong>und</strong> Familienvorgeschichte.<br />

24.<strong>3.</strong>1 Besonders problematische Patientengruppen<br />

Junge Patienten<br />

E<strong>in</strong>e Überweisung an e<strong>in</strong>e Memory-Kl<strong>in</strong>ik zur Aufk lärung von Gedächtnisstörungen<br />

bei jun gen Patienten ist s<strong>in</strong>nvoll, da die subjektiven mnestischen<br />

Probleme nicht selten ihren Ursprung <strong>in</strong> funktionellen psychischen oder <strong>in</strong><br />

besonderen neurologischen Erkrankungen haben (Werner et al. 2009).<br />

> Bei jungen Patienten mit Gedächtnisstörungen liegt die Ursache oft<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er funktionellen psychischen oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er spezifi schen neurologischen<br />

Störung.<br />

Besonders Depressio nen, aber auch Schizophren ien, Persönlichkeitsstörungen,<br />

Suchterkrankun gen oder akute Belastungsreaktio nen können für Gedächtnisstörungen<br />

bei jungen Patienten verantwortlich se<strong>in</strong>. Hier kann besonders<br />

die psychiatrische Untersuchung weiterhelfen. Memory-Kl<strong>in</strong>iken<br />

versuchen, <strong>in</strong> diesen Fällen e<strong>in</strong>e psychiatrische bzw. psychotherapeutische Behandlung<br />

zu <strong>in</strong>itiieren.<br />

S<strong>in</strong>d die Patienten noch berufstätig, fallen kognitive Defi zite häufi g zuerst<br />

am Arbeitsplatz auf, besonders wenn sich die Anforderungen ändern oder


24<br />

424 Kapitel 24 · Gedächtnissprechst<strong>und</strong>en (Memory-Kl<strong>in</strong>iken)<br />

neue Aufgaben gelernt werden müssen. In der Regel wendet sich der Patient<br />

mit diesen Schwierigkeiten zuerst an den Hausarzt. Auch wenn bei jüngeren<br />

Patienten als mögliche Ursache der Probleme e<strong>in</strong>e Demenz nicht die wahrsche<strong>in</strong>lichste<br />

Ursache ist, sollte diese Möglichkeit unbed<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> Erwägung gezogen<br />

werden. Bei jüngeren Patienten ist die Häufi gkeitsverteilung der möglichen<br />

Demenzursachen anders als bei älteren. Die Inzidenz von AD <strong>und</strong> VD<br />

steigen mit dem Alter an. Daraus ergibt sich, dass bei jüngeren Patienten mit<br />

Dem enz die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit im Vergleich zu alten Patienten höher ist, an<br />

e<strong>in</strong>er seltenen Demenzursache zu leiden (Ott et al. 1997), z. B. e<strong>in</strong>er frontotemporalen<br />

Demenz, bei welcher der durchschnittliche Krankheitsbeg<strong>in</strong>n mit<br />

r<strong>und</strong> 58 Jahren im Präsenium liegt (Johnson et al. 2005). Es ist also besonders<br />

wichtig, bei der diagnostischen Abklärung jüngerer Patienten auch an primär<br />

neurologische Erkrankungen wie Chorea Hunt<strong>in</strong>gton, Morbus Park<strong>in</strong>son,<br />

Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung, motorische Vorderhornerkrankun gen <strong>und</strong><br />

Systematroph ien zu den ken. Auch metabolische, entzündliche <strong>und</strong> <strong>in</strong>fektiöse<br />

Erkrankungen müssen <strong>in</strong> Betracht gezogen werden.<br />

> Besonders bei jungen Patienten mit e<strong>in</strong>em Demenzsyndrom ist die<br />

gewissenhafte Suche nach weniger häufi gen Demenzformen vordr<strong>in</strong>glich.<br />

Daraus folgt, dass die neurologische Untersuchung e<strong>in</strong>e große Bedeutung im<br />

Rahmen der diagnostischen Abklärung hat. Zudem sollte besonders bei<br />

jungen Patienten e<strong>in</strong>e ausführliche Labordiagnos tik durchgeführt werden.<br />

Häufi g müssen auch kostspielige Untersuchungsverfahren wie die PET zur<br />

Diagnosefi ndung e<strong>in</strong>gesetzt werden, die nicht überall zur Verfügung stehen.<br />

Fachübergreifende Zusammenarbeit ist besonders bei der mediz<strong>in</strong>ischen<br />

Aufk lärung von Demenzsyndromen junger Patienten wichtig, um seltene Ursachen<br />

nicht zu übersehen.<br />

Auch bei der Th erapie der Demenz fi nden sich häufi g Unterschiede zu den<br />

älteren Patienten. Oft verläuft die Krankheit rascher; Antidement iva s<strong>in</strong>d gelegentlich<br />

weniger wirksam. Daneben s<strong>in</strong>d die sozialen Belastungen bei jungen<br />

Patienten oft extrem. Meist muss die Arbeitsstelle aufgegeben werden, die<br />

Familie ist ihrer Zukunft splanung beraubt <strong>und</strong> steht nicht selten vor erheblichen<br />

fi nanziellen Problemen, da die Rente nicht gesichert ist oder Kredite<br />

noch nicht abbezahlt s<strong>in</strong>d. M<strong>in</strong>derjährige K<strong>in</strong>der haben erhebliche Probleme,<br />

mit der Demenzerkrankung der Mutter oder des Vaters zurechtzukommen.<br />

Die Patienten brauchen Beistand <strong>und</strong> Beratung bei der Bewältigung dieser<br />

e<strong>in</strong>schneidenden Veränderungen.


24.3 · Indikationsstellungen<br />

425<br />

24<br />

Wird tatsächlich die Diagnose e<strong>in</strong>er Demenz gestellt, benötigen jung erkrankte<br />

Patienten <strong>und</strong> ihre Familie <strong>in</strong>tensive Beratung. Problematisch ist, dass<br />

die meisten Versorgungsstrukturen auf ältere Patienten mit Demenz zugeschnitten<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

Junge Patienten haben oft Probleme, z. B. Tagesstätten zu akzeptieren, <strong>in</strong><br />

denen überwiegend deutlich ältere Menschen betreut werden. Nur langsam<br />

entwickeln sich besondere Th erapievorschläge für junge Patienten mit Demenz,<br />

die <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelfällen <strong>in</strong> Memory-Kl<strong>in</strong>iken <strong>in</strong> Zusammenarbeit mit den<br />

lokalen Alzheimer-Gesellschaft en erprobt werden.<br />

Alle<strong>in</strong>stehende Patienten<br />

Immer mehr ältere Menschen leben, besonders <strong>in</strong> den Großstädten, <strong>in</strong> E<strong>in</strong>personenhaushalten.<br />

Daher stellen sich auch immer mehr alle<strong>in</strong>stehende Ältere,<br />

v. a. ältere Frauen, mit Gedächtnisstörungen beim Arzt vor.<br />

Hier ist e<strong>in</strong>e diagnostische E<strong>in</strong>schätzung der Beschwerden schwierig, da<br />

oft ke<strong>in</strong>e Fremdanamnese zur Verfügung steht. Dies trifft <strong>in</strong>sbesondere für die<br />

Situation zu, <strong>in</strong> der Patienten ke<strong>in</strong>e subjektiven Gedächtnisprobleme äußern,<br />

der Hausarzt aber aufgr<strong>und</strong> ihres Verhaltens entsprechende Probleme vermutet.<br />

Alle<strong>in</strong>stehende Patienten mit Demenz brauchen frühzeitig den Aufb au<br />

e<strong>in</strong>es sozialen Netzes, um die nötige Versorgung sicherzustellen.<br />

Da alle<strong>in</strong>stehende demente Patienten auch <strong>in</strong> besonderem Maße durch<br />

fehlende familiäre Unterstützung frühzeitig <strong>in</strong> ihrer Sicherheit gefährdet se<strong>in</strong><br />

können, ist hier die Sozialberat ung e<strong>in</strong>er Memory-Kl<strong>in</strong>ik besonders wertvoll.<br />

Bei Vorliegen e<strong>in</strong>er Demenz kann e<strong>in</strong> tageskl<strong>in</strong>isc her Aufenthalt zu Beg<strong>in</strong>n<br />

zur medikamentösen E<strong>in</strong>stellung <strong>und</strong> Regelung wichtiger sozialer Fragen<br />

nützlich se<strong>in</strong>, z. B. bei der Organisation ambulanter Hil fen, beim Herausführen<br />

aus der sozialen Isolation <strong>und</strong> der Anb<strong>in</strong>dung an e<strong>in</strong>e Gruppe oder e<strong>in</strong><br />

Altenservicezent rum.<br />

Auch alle<strong>in</strong>stehende Patienten mit Demenz können mit entsprechendem<br />

sozialpsychiatrischem Aufwand noch längere Zeit <strong>in</strong> der eigenen Wohnung<br />

leben.<br />

Alle<strong>in</strong>stehende demente Patienten müssen <strong>in</strong> der Regel mit Fortschreiten<br />

ihrer Erkrankung wesentlich früher <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Heim aufgenommen werden als<br />

Patienten, die von Angehörigen zu Hause versorgt werden können. Aufgr<strong>und</strong><br />

der fehlenden Unterstützung der Familie im zeitlichen Verlauf der Erkrankung<br />

s<strong>in</strong>d sie demenztypischen Gefahren deutlich früher ausgesetzt, wie das<br />

»Nicht-mehr-nach-Hause-F<strong>in</strong>den«, mangelnde Selbstversorgung, unzurei-


24<br />

426 Kapitel 24 · Gedächtnissprechst<strong>und</strong>en (Memory-Kl<strong>in</strong>iken)<br />

chende Ernährung, Vernachlässigung der Körperhygiene, Verwahrlosung<br />

<strong>und</strong> Medikamentenfehlverwendung. Darüber h<strong>in</strong>aus s<strong>in</strong>d sie <strong>in</strong> verstärktem<br />

Maße durch z. B. Betrug <strong>und</strong> Erbschleicherei gefährdet. Sollte es jedoch der<br />

ausdrückliche Wunsch des Patienten se<strong>in</strong>, möglichst lange zu Hause zu leben,<br />

kann auch bei alle<strong>in</strong>stehenden Patienten versucht werden, dies mit ambulanten<br />

oder teilstationären Hilfen zu realisieren. Dabei ist es besonders wichtig,<br />

dass e<strong>in</strong>e Institution, wie z. B. e<strong>in</strong> Altenservicezentrum, e<strong>in</strong> sozialpsychiatrischer<br />

Die nst oder e<strong>in</strong>e Memory-Kl<strong>in</strong>ik, für die Koord<strong>in</strong>ation der ambulanten<br />

Versorgung verantwortlich ist <strong>und</strong> auch e<strong>in</strong>en Notfallplan ausarbeitet,<br />

falls plötzlich e<strong>in</strong>e Zustandsverschlechterung oder unvorhergesehene Ereignisse<br />

e<strong>in</strong>treten, auf die e<strong>in</strong> dementer Patient nicht mehr angemessen reagieren<br />

kann (körperliche Krankheit, Ausfall e<strong>in</strong>es ambulanten Dienstes etc.).<br />

24.4 Diagnostische Schwierigkeiten<br />

24.4.1 Früherkennung<br />

E<strong>in</strong>e besondere Herausforderung ist die Früherkennung von Demenzsyndromen.<br />

Da der Hausarzt <strong>in</strong> der Regel die erste Anlaufstelle der Patienten ist,<br />

sieht er auch Patienten mit beg<strong>in</strong>nenden demenziellen Syndromen. Da mittlerweile<br />

medikamentöse Th erapien zur Verfügung stehen, die besonders bei<br />

leichtgradigen <strong>Demenzen</strong> s<strong>in</strong>nvoll s<strong>in</strong>d, kommt der Früherkennung <strong>in</strong>zwischen<br />

e<strong>in</strong>e entscheidende Bedeutung zu. Patienten mit beg<strong>in</strong>nenden <strong>Demenzen</strong><br />

versuchen jedoch oft , ihre kognitiven Defi zite zu verbergen <strong>und</strong> äußern<br />

beim Hausarzt nicht von sich aus ihre Beschwerden. Deshalb ist es für<br />

den Hausa rzt wichtig, auf typische Warnzeichen (s. unten) zu achten.<br />

Warnzeichen für e<strong>in</strong>e beg<strong>in</strong>nende Demenz<br />

Neu aufgetretene, anhaltende oder fortschreitende Schwierigkeiten<br />

4 beim Lernen <strong>und</strong> Speichern neuer Information<br />

4 bei der Ausführung gewohnter Tätigkeiten<br />

4 bei der räumlichen Orientierung, besonders <strong>in</strong> unvertrauter<br />

Umgebung<br />

4 beim F<strong>in</strong>den von Wörtern im Gespr äch


24.4 · Diagnostische Schwierigkeiten<br />

427<br />

24<br />

Klagt e<strong>in</strong> älterer Patient <strong>in</strong> der hausärztlichen <strong>Praxis</strong> über Gedächtnisstörungen,<br />

die ihn jedoch bei den gewohnten Alltagsaktivitäten nicht bee<strong>in</strong>trächtigen,<br />

können leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigungen vorliegen. Heute weiß man,<br />

dass alle Patienten mit e<strong>in</strong>er neurodegenerativ verursachten Demenz, etwa<br />

auf der Basis e<strong>in</strong>er Alzheimer-Erkrankung, e<strong>in</strong>e Prädemenzph ase mit leichten<br />

kognitiven Bee<strong>in</strong>trächtigungen durchlaufen. Andererseits können subjektiv<br />

geäußerte kognitive Beschwerden auch für e<strong>in</strong>en depressiven Zustand sprechen.<br />

> Patienten mit leichten kognitiven Bee<strong>in</strong>trächtigun gen erwähnen ihre<br />

kognitiven Probleme häufi g zuerst gegenüber dem Hausarzt.<br />

Häufi g werden diese leichtgradigen Veränderungen von außenstehenden Personen<br />

nicht bemerkt. Diese Bee<strong>in</strong>trächtigungen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kurzen Gespräch<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er kurzen Screen<strong>in</strong>g-Untersuchung nur sehr unzureichend<br />

festzustellen. Zur genaueren Abklärung ist e<strong>in</strong>e neuropsychologische Testung<br />

mit altersnormierten Testverfahren notwendig, die <strong>in</strong> der Regel <strong>in</strong> der Allgeme<strong>in</strong>arztpraxis<br />

oder beim niedergelassenen Nervenarzt nicht möglich ist. Solche<br />

diagnostischen Verfahren zur Früherkennung gehören <strong>in</strong> Memory-Kl<strong>in</strong>iken<br />

zum Standardprogramm.<br />

> Patienten mit leichten kognitiven Bee<strong>in</strong>trächtigungen haben e<strong>in</strong><br />

deutlich erhöhtes Ris iko, später e<strong>in</strong>e Demenz zu entwickeln.<br />

Diese diagnostisch noch nicht genau erfassbare Gruppe der leichten kognitiven<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigungen mit une<strong>in</strong>heitlicher Ätiologie <strong>und</strong> unterschiedlicher<br />

Prognose (Petersen et al. 2009) ist als mögliche Vorstufe e<strong>in</strong>es Demenzsyndroms<br />

besonders <strong>in</strong>teressant, da gegenwärtig die möglichst frühzeitige<br />

Behandlung e<strong>in</strong>es beg<strong>in</strong>nenden Demenzsyndroms angestrebt wird <strong>und</strong> <strong>in</strong> Zukunft<br />

vor Erreichen der Demenzschwe lle prophylaktische <strong>und</strong> krankheitsverzögernde<br />

Behandlungsmaßnahmen zum E<strong>in</strong>satz kommen werden. Zunehmend<br />

häufi ger haben Patienten <strong>und</strong> Angehörige Fragen zu Früherkennung<br />

<strong>und</strong> Präventivmaßnahmen. Memory-Kl<strong>in</strong>iken können hier ausführlich beraten<br />

<strong>und</strong> <strong>in</strong>formieren, da sie z. T. auch an kl<strong>in</strong>ischen Studien mit diesen Forschungsschwerpunkten<br />

teilnehmen (Middleton u. Yaff e 2009).


24<br />

428 Kapitel 24 · Gedächtnissprechst<strong>und</strong>en (Memory-Kl<strong>in</strong>iken)<br />

24.4.2 Schwierige Diff erenzialdiagnosen<br />

Diff erenzialdiagnose Depression<br />

oder beg<strong>in</strong>nende Demenz<br />

Häufi g melden sich depressive Patienten selbst bei ihrem Hausarzt mit der<br />

Bitte um e<strong>in</strong>e Untersuchung des Gedächtnisses, da sie die Gedächtnisstörungen<br />

subjektiv deutlich wahrnehmen <strong>und</strong> darunter lei den.<br />

Mitunter ist die Diff erenzialdiagnose zwischen e<strong>in</strong>er depressiven Störung<br />

mit e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>hergehenden »Pseudodemenz« <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er beg<strong>in</strong>nenden Demenz<br />

schwierig, da viele beg<strong>in</strong>nend demente Patienten auch depressiv reagieren<br />

(Panza et al. 2010). Auch hier ist die Überweisung an e<strong>in</strong>e Memory-Kl<strong>in</strong>ik<br />

s<strong>in</strong>nvoll, da mithilfe e<strong>in</strong>er ausführlichen neuropsychologischen Untersuchung<br />

oder auch mit bildgebenden Verfahren <strong>in</strong> der Regel gut zwischen diesen beiden<br />

Krankheitsbildern unterschieden werden kann.<br />

> Mitunter hilft bei der Differenzialdiagnose zwischen Depress ion<br />

<strong>und</strong> beg<strong>in</strong>nender Demenz e<strong>in</strong>e Beobachtung der Alltagsaktivitäten<br />

<strong>in</strong> Rahmen e<strong>in</strong>er tageskl<strong>in</strong>ischen Behandlung.<br />

In solchen Fällen kann es zweckmäßig se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e tageskl<strong>in</strong>ische Behandlung <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Memory-Kl<strong>in</strong>ik zur medikamentösen antidepressiven E<strong>in</strong>stellung <strong>und</strong><br />

Verhaltensbeobachtung e<strong>in</strong>zuleiten. Denn die Alltagsaktivitäten s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diesen<br />

Fällen für e<strong>in</strong>e diagnostische Zuordnung sehr <strong>in</strong>formativ.<br />

Nach Feststellung e<strong>in</strong>es demenziellen Syndroms ist die Diff erenzialdiagnostik<br />

bezüglich der kausalen Zuordnung des demenziellen Syndroms mitunter<br />

schwierig. Folgende diff erenzialdiagnostischen Entscheidungen s<strong>in</strong>d<br />

mitunter <strong>in</strong> der <strong>Praxis</strong> schwer zu fällen <strong>und</strong> können e<strong>in</strong>e Überweisung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Memory-Kl<strong>in</strong>ik s<strong>in</strong>nvoll machen:<br />

Schwierige Diff erenzialdiagnosen bei Demenz<br />

4 Alzheimer-Demenz oder frontotemporale Degeneration ?<br />

4 Alzheimer-Demenz, Demenz bei Morbus Park<strong>in</strong>son oder Lewy-<br />

Körperchen-Variante der Alzheimer-Demenz ?<br />

4 Mischformen von Alzheimer-Demenz <strong>und</strong> vaskulärer Demenz ?<br />

4 Rasch verlaufende Alzheimer-Demenz oder Creutzfeldt-Jakob-<br />

Erkrankung ?


24.4 · Diagnostische Schwierigkeiten<br />

429<br />

24<br />

Rasche Progredienz <strong>und</strong> atypische kl<strong>in</strong>ische Bilder<br />

von Demenzsyndromen<br />

Ist das demenzielle Syndrom e<strong>in</strong>es Patienten im Verlauf rasch progredient,<br />

sodass sich <strong>in</strong>nerhalb von Monaten trotz Behandlung e<strong>in</strong>e deutliche Verschlechterung<br />

zeigt, sollte an e<strong>in</strong>e Überweisung zur Memory-Kl<strong>in</strong>ik gedacht<br />

werden.<br />

Gegebenenfalls muss <strong>in</strong> Anbetracht der raschen Progredienz die Diagnose<br />

überprüft werden. Seltene, rasch verlaufende <strong>Demenzen</strong>, wie die Creutzfeldt-<br />

Jakob-Erkrankung, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Betracht zu ziehen.<br />

Auch wenn die Demenz e<strong>in</strong>en atypischen Verlauf zeigt, der sich aus der<br />

vermuteten Krankheitsursache nicht erklären lässt, sollte an e<strong>in</strong>e Vorstellung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Memory-Kl<strong>in</strong>ik gedacht werden.<br />

Dies gilt z. B. für Patienten, die früh im Krankheitsverlauf fl uktuierende<br />

Verwirrtheitszustände erfahren oder dramatische Verhaltensauff älligkeiten,<br />

Halluz<strong>in</strong>ationen oder zusätzliche neurologische Symptome (z. B. Ataxie ,<br />

Myoklonie oder Dysarthrie ) zeigen.<br />

Verdacht auf e<strong>in</strong>e seltene Demenzursache<br />

Sollten sich H<strong>in</strong>weise auf seltenere Demenzursachen ergeben, ist e<strong>in</strong>e weitere<br />

diagnostische Aufk lärung an e<strong>in</strong>er Memory-Kl<strong>in</strong>ik auf jeden Fall empfehlenswert<br />

(Lautenschlager u. Mart<strong>in</strong>s 2005).<br />

Dies trifft auch bei Verdacht auf frontotemporale Degenerationen zu, die<br />

sich oft mit e<strong>in</strong>er frontalen Veränderung der Persönlichkeit ankündigen im<br />

S<strong>in</strong>ne von zunehmender Enthemmung , Gleichgültigkeit gegenüber der Umgebung,<br />

bizarrem Verhalten mit zwanghaft en Ritualen <strong>und</strong> Hyperoralität . Da<br />

die Verhaltensauff älligkeiten hier ganz im Vordergr<strong>und</strong> stehen, ergeben sich<br />

<strong>in</strong> besonderem Ausmaß unangenehme <strong>und</strong> belastende Situationen für die betroff<br />

ene Familie, <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e frühzeitige Information über die Krankheit <strong>und</strong><br />

e<strong>in</strong>e Sozialberatung s<strong>in</strong>d dr<strong>in</strong>gend nötig.<br />

> Bei Demenzformen, bei denen Verhaltensauffälligkeiten im Vordergr<strong>und</strong><br />

stehen, ist e<strong>in</strong>e frühzeitige ausführliche Beratung der Familie<br />

besonders wichtig.


24<br />

430 Kapitel 24 · Gedächtnissprechst<strong>und</strong>en (Memory-Kl<strong>in</strong>iken)<br />

24.5 Besondere Fragestellungen<br />

24.5.1 Fragen zur Therapie<br />

Besondere Fragestellungen zur Th erapie von Demenzsyndromen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>zwischen<br />

komplex geworden, da <strong>in</strong> den vergangenen Jahrzehnten verschiedene<br />

medikamentöse Th erapien etabliert wurden. Da e<strong>in</strong>ige der modernen Antidementiva<br />

teuer s<strong>in</strong>d, kann es für den Allgeme<strong>in</strong>arzt s<strong>in</strong>nvoll se<strong>in</strong>, sich bei e<strong>in</strong>er<br />

Memory-Kl<strong>in</strong>ik beraten zu lassen.<br />

Fragen zur Therapie mit Antidementiva<br />

4 Indikation zur medikamentösen Therapie<br />

4 Auswahl des passenden Antidementivums<br />

4 Kontra<strong>in</strong>dikationen <strong>und</strong> Nebenwirkungen<br />

4 Erfolgskontrolle<br />

4 Präparatewechsel<br />

4 E<strong>in</strong>leitung <strong>und</strong> Beendigung der medikamentösen Behandlung<br />

E<strong>in</strong>e Memory-Kl<strong>in</strong>ik bietet durch ihre Spezialisierung e<strong>in</strong>e gewisse Garantie,<br />

bezüglich der neuesten Entwicklungen von Antidementiva auf dem Laufenden<br />

zu se<strong>in</strong>. Memory-Kl<strong>in</strong>iken bieten den Patienten <strong>und</strong> ihren Angehörigen<br />

auch die Teilnahme an Medikamentenstudien, z. B. von neuen, noch nicht<br />

zugelassenen Medikamenten an, die Vorteile für die Patienten aufweisen können.<br />

Nichtkognitive Symptome<br />

Besonders belastend s<strong>in</strong>d für die betroff enen Familien die mit der Erkrankung<br />

e<strong>in</strong>hergehenden Verhaltensauff älligkeiten wie Depression , Aggression , Unruhe<br />

, Schlafstörungen <strong>und</strong> Apathie . Hier kann e<strong>in</strong>e Memory-Kl<strong>in</strong>ik beraten,<br />

welche Psychopharmaka oder nichtmedikamentösen Behandlungsverfahren<br />

zum E<strong>in</strong>satz kommen könnten (Kurz 1998, Aarsland et al. 2005).<br />

Nichtansprechen auf die medikamentöse Therapie<br />

Der Th erapieerfolg ist nicht e<strong>in</strong>fach mit e<strong>in</strong>er Symptomverbesserung gleichzusetzen.<br />

Unter Umständen ist e<strong>in</strong>e Stagnation der Symptomatik, also e<strong>in</strong>


24.5 · Besondere Fragestellungen<br />

431<br />

24<br />

»Sich-nicht-Verschlechtern«, bei e<strong>in</strong>er neurodegenerativ verursachten Demenz<br />

wie z. B. der AD schon als Th erapieerfolg zu bewerten. E<strong>in</strong>e Memory-<br />

Kl<strong>in</strong>ik kann hier <strong>in</strong> regelmäßigen zeitlichen Abständen ambulante Verlaufsuntersuchungen<br />

durchführen. Gerade für den niedergelassenen Arzt wird es<br />

immer wichtiger, durch den regelmäßigen Nachweis des Th erapieerfolgs den<br />

E<strong>in</strong>satz moderner Antidementiva zu rechtfertigen. Fragen, wie lange e<strong>in</strong> Antidementivum<br />

gegeben werden soll, können diskutiert werden. E<strong>in</strong>e schwerwiegende<br />

Frage betrifft die Beendigung der Th erapie. Sie sollte immer unter<br />

E<strong>in</strong>bezug der Angehörigen diskutiert werden.<br />

Psychotherapeutische Strategien<br />

Manche Memory-Kl<strong>in</strong>iken bieten Informationen oder auch die Durchführung<br />

von psychotherapeutischen Verfahren für Patienten mit leichter kognitiver<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigung bzw. Demenz an.<br />

Psychotherapeutische Verfahren<br />

4 (Modifizierte) Verhaltenstherapi e<br />

4 Kognitives Tra<strong>in</strong><strong>in</strong> g<br />

4 Kreative Verfahren<br />

4 Er<strong>in</strong>nerungstherapi e<br />

4 Milieutherapi e<br />

4 Selbsterhaltungstherapi e (SET)<br />

4 Realitätsorientierungstra<strong>in</strong><strong>in</strong> g (ROT)<br />

4 Validatio n<br />

Besonders <strong>in</strong> der Th erapie der nichtkognitiven Symptome von Patienten mit<br />

Demenz sche<strong>in</strong>en diese nichtmedikamentösen Strategien eff ektiv zu se<strong>in</strong><br />

(Haupt 1997, Cotelli et al. 2006). Der E<strong>in</strong>satz der verschiedenen psychotherapeutischen<br />

Strategien muss die e<strong>in</strong>zelnen Stadien der Erkrankung <strong>und</strong> damit<br />

das Ausmaß der Bee<strong>in</strong>trächtigungen berücksichtigen. Bei beg<strong>in</strong>nenden <strong>Demenzen</strong><br />

zählt die Verhaltenstherapie zu den am besten erprobten Verfahren.<br />

Ihr Ziel ist es v. a., depressive Reaktionen der Patienten positiv zu bee<strong>in</strong>fl ussen<br />

<strong>und</strong> die Entwicklung von Cop<strong>in</strong>g-Strategien zu fördern.<br />

Kognitives Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g kann unter bestimmten Bed<strong>in</strong>gungen zur Stabilisierung,<br />

evtl. sogar zur Verbesserung kognitiver Leistungsbereiche, der Stim-


24<br />

432 Kapitel 24 · Gedächtnissprechst<strong>und</strong>en (Memory-Kl<strong>in</strong>iken)<br />

mung <strong>und</strong> der Lebensqualität führen (Kurz et al. 2009). E<strong>in</strong>e Verbesserung<br />

der Fähigkeiten zur Bewältigung der Alltagsaktivitäten durch kognitives Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />

wurde bislang allerd<strong>in</strong>gs nicht nachgewiesen.<br />

Die Er<strong>in</strong>nerungstherapie macht sich die Tatsache zunutze, dass der positive<br />

Rückblick auf das eigene Leben e<strong>in</strong>en wichtigen Beitrag zur Bewältigung<br />

altersspezifi scher Veränderungen leisten kann.<br />

Die Selbsterhaltungstherapie (SET) versucht, durch die Beschäft igung mit<br />

der Biographie des Erkrankten die personale Identität möglichst lange zu erhalten<br />

(Romero u. Eder 1992).<br />

Das Realitätsorientierungstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g (ROT) fi ndet besonders bei dementen<br />

Patienten <strong>in</strong> Heimen Anwendung <strong>und</strong> versucht durch <strong>in</strong>tensive Zuwendung<br />

des Pfl egepersonals, die Orientierung der Patienten möglichst lange aufrecht<br />

zu halten.<br />

Die Validation (Feil 1992) stellt die persönliche Sichtweise des Patienten<br />

mit Demenz <strong>in</strong> den Mittelpunkt der Th erapie <strong>und</strong> gibt wichtige Verhaltensregeln<br />

für den Umgang mit dementen Patienten, mit dem Ziel, dessen Selbstwertgefühl<br />

zu stärken.<br />

Bei dementen Patienten umfasst die Milieutherapie, die darauf abzielt,<br />

Selbstständigkeit zu erhalten <strong>und</strong> pathologisches Verhalten abzubauen, im<br />

S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er optimalen Lebensraumgestaltung Hilfestellungen zur Orientierung,<br />

s<strong>in</strong>nvolle Beschäft igung, psychotherapeutische bzw. kreative Verfahren,<br />

aber auch z. B. architektonische Maßnahmen <strong>und</strong> die Schulung der Bezugspersonen.<br />

24.5.2 Fragen der Betroff enen <strong>und</strong> Angehörigen<br />

Genetische Disposition<br />

S<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Familie e<strong>in</strong>es Patienten mit e<strong>in</strong>er Demenz weitere Demenzfälle<br />

bekannt, kann e<strong>in</strong>e Überweisung an e<strong>in</strong>e Memory-Kl<strong>in</strong>ik ebenfalls s<strong>in</strong>nvoll<br />

se<strong>in</strong>. Bei 30% der Patienten mit e<strong>in</strong>er AD fi ndet sich m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> weiteres<br />

erkranktes Familienmitglied (Lautenschlager et al. 1994). Bei e<strong>in</strong>em nur sehr<br />

ger<strong>in</strong>gen Prozentsatz liegt jedoch e<strong>in</strong> Stammbaum vor, der e<strong>in</strong>en autosomaldom<strong>in</strong>anten<br />

Erbgang wahrsche<strong>in</strong>lich macht, wie etwa bei der Chorea Hunt<strong>in</strong>gto<br />

n. Unter Umständen wünscht die betroff ene Familie e<strong>in</strong>e genetisch e<br />

Beratung, <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>e Familienmitglieder möchten Auskunft über ihr eigenes<br />

<strong>in</strong>dividuelles Erkrankungsrisiko erhalten.


24.5 · Besondere Fragestellungen<br />

433<br />

24<br />

Da das Wissen über genetische Faktoren bei der AD ständig wächst<br />

(Avrampopoulos 2010), sollten e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>gehende Beratung <strong>und</strong> etwaige genetische<br />

Untersuchungen an e<strong>in</strong>em humangenetischen Institut durchgeführt<br />

werden (Lautenschlager et al. 1999).<br />

Meist ergibt sich jedoch ke<strong>in</strong> ausreichender Anhalt aus e<strong>in</strong>em Familienstammbaum<br />

für e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige autosomal-dom<strong>in</strong>ante Vererbung, sodass um<br />

Rat suchende Familienmitglieder im Gespräch beruhigt werden können.<br />

Sozialmediz<strong>in</strong>ische Beratung der Patienten<br />

<strong>und</strong> der Angehörigen<br />

Da Memory-Kl<strong>in</strong>iken auf die Diagnostik <strong>und</strong> Th erapie besonders von Demenzerkrankungen<br />

spezialisiert s<strong>in</strong>d, stehen neben ärztlichen Mitarbeitern <strong>in</strong><br />

der Regel auch Sozialpädagogen zur Verfügung, die mit der dafür nötigen Zeit<br />

Beratungsgespräche durchführen können. Patienten, die <strong>in</strong> frühen Stadien e<strong>in</strong>er<br />

Demenzerkrankung diagnostiziert werden, s<strong>in</strong>d zumeist allenfalls ger<strong>in</strong>g<br />

<strong>in</strong> ihrer Fähigkeit bee<strong>in</strong>trächtigt, Th emen wie Vorsorgevollmach t, fi nanzielle<br />

Situation, Berentung oder Schwerbeh<strong>in</strong>dertenausweis zu diskutieren <strong>und</strong><br />

Entscheidungen zu fällen. Bei Patienten mit fortgeschrittenen Demenzerkrankungen<br />

ist es Aufgabe des Sozialpädagoge n, mit den Angehörige n Th emen<br />

wie Pfl egeversicherun g, E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>er Betreuun g, Organisation von<br />

ambulanten Hilfen, Tagesstätten, stationäre Rehabilitationsmaßnahmen wie<br />

auch Wohnungsanpassun g <strong>und</strong> mögliche zukünft ige Heimunterbr<strong>in</strong>gung zu<br />

besprechen. Mit Wohnungsanpassung ist geme<strong>in</strong>t, dass technische Hilfsmaßnahmen<br />

die Betreuung des dementen Patienten zu Hause erleichtern können.<br />

> Es ist wichtig, den Angehörigen die Angst vor diesen Themen zu<br />

nehmen <strong>und</strong> sie frühzeitig anzusprechen, da oft lange Vorbereitungsphasen<br />

nötig s<strong>in</strong>d.<br />

Im Rahmen der Beratung ist es auch Aufgabe der Memory-Kl<strong>in</strong>ik, heikle Th emen<br />

wie z. B. den Gebrauch von Waff en oder das Führen von Fahrzeugen<br />

anzusprechen <strong>und</strong> Empfehlungen abzugeben. Bei erkennbaren Gefahren<br />

kann die zuständige Behörde benachrichtigt werden, da der Arzt <strong>in</strong> solchen<br />

Fällen im Interesse der öff entlichen Sicherheit berechtigt ist, die Schweigepfl<br />

icht zu umgehen.<br />

E<strong>in</strong> entscheidender Vorteil der Memory-Kl<strong>in</strong>iken besteht dar<strong>in</strong>, dass die<br />

<strong>in</strong> diesem Kapitel geschilderten diagnostischen <strong>und</strong> therapeutischen Maß-


24<br />

434 Kapitel 24 · Gedächtnissprechst<strong>und</strong>en (Memory-Kl<strong>in</strong>iken)<br />

nahmen <strong>in</strong> ambulanten <strong>und</strong> teilstationären Sett<strong>in</strong>gs durchgeführt werden. Es<br />

wird versucht, möglichst auf die stationäre Aufnahme der Patienten zu verzichten,<br />

da das Herausnehmen aus der vertrauten häuslichen Umgebung häufi<br />

g mit e<strong>in</strong>er Zustandsverschlechterung der Patienten e<strong>in</strong>hergeht.<br />

Alle Memory-Kl<strong>in</strong>iken arbeiten mit den lokalen Alzheimer-Gesellschaft e n<br />

zusammen <strong>und</strong> vermitteln dorth<strong>in</strong> Kontakte (7 Anhang A7). Ebenso ist dort<br />

umfangreiches schrift liches Informationsmaterial erhältlich (z. B. Alzheimer<br />

Europe 2005). Angehörige können dort an Angehörigengruppe n teilnehmen<br />

<strong>und</strong> sich bei zahlreichen Veranstaltungen über die Krankheit <strong>in</strong>formieren sowie<br />

den richtigen Umgang mit den Patienten lernen.<br />

Literatur<br />

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Geriatrische Stationen<br />

Not-Rupprecht Siegel<br />

25.1 Wer weist demente Patienten<br />

<strong>in</strong> geriatrische Stationen e<strong>in</strong>? – 438<br />

437<br />

25.2 Wer entdeckt demente Patienten? – 439<br />

25.3 Wen überweist der Arzt? – 442<br />

25.<strong>3.</strong>1 Exkurs: Wer ist für e<strong>in</strong>e geriatrische Behandlung<br />

geeignet? – 442<br />

25.<strong>3.</strong>2 Das geriatrische Assessment – 443<br />

25.4 Wann sollte e<strong>in</strong> Patient <strong>in</strong> stationäre geriatrische<br />

Rehabilitation e<strong>in</strong>gewiesen werden? – 446<br />

25.5 Warum sollte e<strong>in</strong>e stationäre E<strong>in</strong>weisung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e geriatrische E<strong>in</strong>richtung erfolgen? – 447<br />

25.6 Wie kann die E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e geriatrische<br />

E<strong>in</strong>richtung erfolgen? – 448<br />

25.7 Wozu soll die E<strong>in</strong>weisung erfolgen? – 450<br />

25.8 Woh<strong>in</strong> soll der Patient gehen? – 451<br />

Literatur – 452<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_25,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

25


25<br />

438 Kapitel 25 · Geriatrische Stationen<br />

Zum Thema<br />

Mit zunehmendem Alter der Bevölkerung steigt auch der Anteil der hochaltrigen<br />

Patienten <strong>in</strong> der Geriatrie. Das Krankheitsbild der Demenz ist dabei alle<strong>in</strong> schon<br />

deshalb von Bedeutung, weil das Alter den Hauptrisikofaktor für die Erkrankung<br />

darstellt. Insbesondere die stationäre Geriatrie steht damit vor e<strong>in</strong>er großen<br />

Herausforderung. Denn hier s<strong>in</strong>d häufig Patienten anzutreffen, die nicht nur multimorbide<br />

s<strong>in</strong>d, sondern durch e<strong>in</strong>e gleichzeitige demenzielle Erkrankung prolongierte<br />

<strong>und</strong> erschwerte Verläufe zeigen. Die rasche <strong>und</strong> zielgerichtete Erkennung<br />

solcher Krankheitskomb<strong>in</strong>ationen entscheidet nicht selten darüber, ob<br />

e<strong>in</strong>e Behandlung überhaupt gel<strong>in</strong>gt – <strong>und</strong> fast noch häufiger darüber, ob die<br />

durchgeführten Therapien nachhaltige Effekte zeitigen.<br />

Stationäre E<strong>in</strong>richtungen s<strong>in</strong>d sicher nicht als erste Anlaufstelle für demente<br />

Patienten anzusehen. Die ungewohnte Umgebung, unbekannte Personen <strong>und</strong><br />

zahlreiche systemimmanente Gefahrenherde sollten der E<strong>in</strong>weisung e<strong>in</strong>es dementen<br />

Patienten <strong>in</strong> stationäre Behandlung immer e<strong>in</strong>e genaue Prüfung der<br />

Notwendigkeit voranstellen. Gerade bei komplexen unklaren Krankheitsbildern<br />

aber bewährt sich die Möglichkeit, den Patienten außerhalb se<strong>in</strong>er beschützenden<br />

<strong>und</strong> damit auch coupierenden Lebensumwelt über e<strong>in</strong>en längeren<br />

Zeitraum beobachten <strong>und</strong> therapieren zu können. Hier<strong>in</strong> liegt die Stärke stationärer<br />

geriatrischer Behandlung.<br />

25.1 Wer weist demente Patienten <strong>in</strong> geriatrische<br />

Stationen e<strong>in</strong>?<br />

Der niedergelassene Arzt , <strong>in</strong>sbesondere der Allgeme<strong>in</strong>arzt, aber auch andere<br />

Ärzte <strong>in</strong> hausärztlich tätigen Fachrichtungen, der niedergelassene Neurologe<br />

<strong>und</strong>/oder Psychiater <strong>und</strong> die Ärzte <strong>in</strong> den Ambulanzen der Kl<strong>in</strong>iken s<strong>in</strong>d <strong>in</strong><br />

der Regel die erste Anlaufstelle für demente Patienten. Oft versteckt sich aber<br />

die eigentlich zur Behandlung führende Erkrankung, die Demenz, h<strong>in</strong>ter der<br />

Präsentation organischer Erkrankungen. Vor allem der Symptomenwandel<br />

im Alter stellt für alle an der Diagnostik Beteiligten e<strong>in</strong>e erhebliche Hürde dar.<br />

Da <strong>in</strong>sbesondere ältere Patienten sehr häufi g multimorbide s<strong>in</strong>d, erlebt der<br />

Arzt häufi g, dass – trotz identifi zierter somatischer Erkrankung <strong>und</strong> adäquater<br />

Th erapie – dauerhaft e Erfolge <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e damit verb<strong>und</strong>ene Stabilisierung<br />

der sozialen Kompetenz ausbleiben (Franke 1995).


25.2 · Wer entdeckt demente Patienten?<br />

439<br />

25<br />

Diese verme<strong>in</strong>tliche Diskrepanz ist e<strong>in</strong>e hausgemacht mediz<strong>in</strong>ische, geht<br />

sie doch davon aus, dass nur die organbezogene Betrachtungsweise richtig<br />

<strong>und</strong> zielführend ist <strong>und</strong> folglich der Arzt die e<strong>in</strong>zig mögliche Diskrim<strong>in</strong>ierungsstelle<br />

für mediz<strong>in</strong>ische Diagnosen darstellt.<br />

Diejenigen, welche die Demenz am häufi gsten zuerst bemerken, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong><br />

der Regel die Patienten selbst. Nur können oder wollen sie diesen Zusammenhang<br />

oft nicht akzeptieren. Ihre bewusste oder unbewusste Angst vor Entdeckung<br />

dieses <strong>in</strong> unserer Gesellschaft ehrenrührigen Mangels verbergen sie<br />

dann häufi g h<strong>in</strong>ter veränderten Verhaltensweisen, wie beispielsweise Ungeduld<br />

oder Aggressionen. Oder sie reagieren mit der Präsentation von unspezifi<br />

schen Symptomen, die primär mit dem eigentlichen Problem nichts zu tun<br />

haben. Schw<strong>in</strong>del, unbestimmte Schmerzen, Übelkeit, Kopfschmerzen, die<br />

sich nicht organisch erklären lassen, können H<strong>in</strong>weise auf e<strong>in</strong>e solche Konstellation<br />

se<strong>in</strong>. Aber auch psychologische Übertragungen können immer wieder<br />

als verme<strong>in</strong>tlicher Ausweg aus dieser Belastungssituation beobachtet werden.<br />

Es ist wegen dieser oft irreführenden Reaktionen erforderlich, gerade für<br />

den dementen Patienten denjenigen Personenkreis zu erweitern, der kompetent<br />

ist, die Störung frühzeitig zu erkennen. Vor allem den Angehörigen fällt<br />

oft zuerst auf, dass sich etwas im Verhalten des Patienten verändert. Aber auch<br />

für andere Mitglieder des sozialen Umfeldes kann ungewohntes Verhalten e<strong>in</strong><br />

erster H<strong>in</strong>weis auf e<strong>in</strong>e Demenz se<strong>in</strong>. Andere Berufsgruppen, wie etwa Krankengymnasten<br />

oder Arzthelfer<strong>in</strong>nen, erkennen im Rahmen ihrer Tätigkeit oft<br />

als erste, dass e<strong>in</strong> Patient kognitive Störungen entwickelt.<br />

25.2 Wer entdeckt demente Patienten?<br />

Demente Patienten werden häufi g von den im Folgenden aufgeführten Personenkreisen<br />

entdeckt:<br />

4 Angehörige,<br />

4 Nachbarn, Fre<strong>und</strong>e, Bekannte,<br />

4 Hausangestellte,<br />

4 Hausarzt,<br />

4 Arzthelfer<strong>in</strong>nen,<br />

4 Th erapeuten (Physiotherapeuten, Ergotherapeuten),<br />

4 soziale Pfl ege- <strong>und</strong> Betreuungsdienste,<br />

4 Facharzt nach Ausschluss <strong>und</strong> Th erapie fachgeb<strong>und</strong>ener Diagnosen.


25<br />

440 Kapitel 25 · Geriatrische Stationen<br />

Patienten, für die e<strong>in</strong>e geriatrische Behandlung <strong>in</strong>frage kommen, zeichnen<br />

sich dadurch aus, dass regelhaft e<strong>in</strong>e Multimorbidität existiert aus somatischen,<br />

psychosozialen <strong>und</strong> psychiatrischen Diagnosen (Fischer et al. 1986).<br />

Zum anderen bestehen funktionelle Defi zite, welche die Selbstständigkeit <strong>in</strong><br />

mehr oder weniger starkem Maße bedrohen. Altersphysiologische Veränderungen<br />

s<strong>in</strong>d für sich bereits bedrohlich <strong>und</strong> verstärken die Folgen dieser Erkrankungen<br />

<strong>und</strong> Defi zite. Geriatrische E<strong>in</strong>richtungen s<strong>in</strong>d darauf spezialisiert,<br />

diese besonderen Gegebenheiten <strong>in</strong> die Behandlung e<strong>in</strong>zubeziehen. Sie<br />

bieten die Voraussetzungen, sowohl die organspezifi schen <strong>und</strong> psychiatrischen<br />

Erkrankungen zusammen mit den jeweiligen Fachärzten zu behandeln als<br />

auch gleichzeitig alltagsrelevante funktionelle Defi zite zu therapieren.<br />

Insbesondere demente Patienten werden von e<strong>in</strong>er stationären geriatrischen<br />

Behandlung profi tieren, <strong>und</strong> zwar dann, wenn neben der manifesten<br />

Demenz relevante E<strong>in</strong>schränkungen der Alltagsaktivitäten (activities of daily<br />

liv<strong>in</strong>g, ADL) existieren <strong>und</strong> gleichzeitig Th erapieerschwernisse durch die begleitende<br />

Multimorbidität vorhanden s<strong>in</strong>d. Ebenfalls müssen hierbei altersgeb<strong>und</strong>ene<br />

physiologische Veränderungen, wie das Nachlassen der Seh- <strong>und</strong><br />

Hörkraft , die Verm<strong>in</strong>derung der Nervenleitungsgeschw<strong>in</strong>digkeit, die Verr<strong>in</strong>gerung<br />

der Muskelmasse, die Abnahme der Elastizität von Sehnen <strong>und</strong> Bändern<br />

bis h<strong>in</strong> zur Abnahme des Durstantriebs, berücksichtigt werden (Füsgen 1995).<br />

Altersphysiologische Veränderungen<br />

4 Abnahme der Sauerstoffaufnahme im Blut (bis zu 40%)<br />

4 Reduzierte Knochenmarkaktivität (bis zu 25%)<br />

4 Abnahme der Vitalkapazität (bis zu 56%)<br />

4 Abnahme des Herzm<strong>in</strong>utenvolumens (bis zu 35%)<br />

4 Abnahme der Nierendurchblutung (bis zu 50%)<br />

4 Verlangsamte Nervenleitungsgeschw<strong>in</strong>digkeit (bis zu 90%)<br />

4 Veränderung der Schmerzwahrnehmung<br />

4 Abnahme der Muskelmasse<br />

4 Abnahme des Durstantriebs<br />

4 Abnahme des Flüssigkeitsvolumens<br />

4 Zunahme der Trockenmasse des Körpers<br />

4 Verm<strong>in</strong>derung elastischer Fasern<br />

4 Geistige <strong>und</strong> körperliche Verlangsamung


25.2 · Wer entdeckt demente Patienten?<br />

Die vier »großen I« der Geriatrie<br />

4 Immobilität ,<br />

4 Instabilität ,<br />

4 Intellektueller Abbau ,<br />

4 Inkompetenz .<br />

441<br />

25<br />

Ältere Menschen s<strong>in</strong>d pr<strong>in</strong>zipiell nicht bereits durch altersphysiologische Veränderungen<br />

<strong>in</strong> der Selbstständigkeit ihrer Lebensführung bedroht. Im Zusammenhang<br />

mit Erkrankungen kann sich aber e<strong>in</strong>e solche Bedrohung manifestieren.<br />

Bei gleichzeitiger Veränderung des sozialen Umfeldes wird die Bedrohung<br />

zur akuten Gefahr. E<strong>in</strong>e besondere Rolle spielt hierbei auch der altersassoziierte<br />

Symptomenwandel, der häufi g die Schwere des aktuellen Krankheitsbildes<br />

verschleiert. Dadurch werden gefährliche Situationen auch immer<br />

wieder nicht rechtzeitig wahrgenommen (Trögner u. He<strong>in</strong>rich 1996).<br />

> Altersphysiologische Veränderungen <strong>und</strong> Symptomenwandel<br />

im Alter verschleiern häufi g bedrohliche Situationen <strong>und</strong> erfordern<br />

deshalb besondere diagnostische Sorgfalt.<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich s<strong>in</strong>d beim dementen Patienten unterschiedliche Berufs- <strong>und</strong><br />

Gesellschaft sgruppen gefordert. Die Frage allerd<strong>in</strong>gs, ob der Patient ambulant<br />

geführt werden kann oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e geriatrische Station bzw. e<strong>in</strong>e psychiatrische<br />

Abteilung e<strong>in</strong>gewiesen werden soll, ist letztlich nur vom behandelnden Arzt<br />

sicher zu beantworten. Hier spielt der Hausarzt im eigentlichen S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>e<br />

wesentliche Rolle als »Case-Manager«. Diese heute häufi g missbrauchte Funktionsbezeichnung<br />

trifft auf den Hausarzt deswegen <strong>in</strong> besonderer Weise zu,<br />

weil bei ihm nicht nur alle erhobenen Bef<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Informationen zusammenlaufen.<br />

Ihm ist <strong>in</strong> den allermeisten Fällen die persönliche Biographie<br />

se<strong>in</strong>er älteren Patienten bekannt. Er ist der e<strong>in</strong>zige Mediz<strong>in</strong>er, der e<strong>in</strong> umfangreiches<br />

geriatrisches Assessment durch vorbestehendes Wissen um die<br />

psychosozialen Umstände des Patienten zum<strong>in</strong>dest teilweise ersetzen kann<br />

(Siegel 1996). Nichtsdestoweniger bedarf es aber noch erheblicher Anstrengungen,<br />

den altersmediz<strong>in</strong>ischen Wissenstand der Hausärzte zu vertiefen.


25<br />

442 Kapitel 25 · Geriatrische Stationen<br />

Merkmale, die für e<strong>in</strong>e stationäre geriatrische E<strong>in</strong>weisung sprechen<br />

4 Relevante <strong>in</strong>ternistische Begleiterkrankungen<br />

4 Multimorbidität<br />

4 Komb<strong>in</strong>ation mit funktionellen Störungen<br />

4 Altersassoziierte Funktionsstörungen<br />

4 ADL-relevante E<strong>in</strong>schränkungen<br />

4 Instabiles soziales Umfeld<br />

4 Ke<strong>in</strong>e Anzeichen für e<strong>in</strong>e akute <strong>und</strong> primär psychiatrische Erkrankung<br />

4 Skepsis vor »psychiatrischer« Behandlung v. a. <strong>in</strong> Frühstadien<br />

4 Ke<strong>in</strong>e Notwendigkeit geschlossener Unterbr<strong>in</strong>gung<br />

4 Ke<strong>in</strong>e Suizidgefahr<br />

4 Unfähigkeit, zu Hause zu leben<br />

4 Unfähigkeit, an e<strong>in</strong>er ambulanten geriatrischen/rehabilitativen<br />

Behandlung teilzunehmen<br />

Versteckte H<strong>in</strong>weise für e<strong>in</strong>e Demenz neben e<strong>in</strong>er Gedächtnisstörung<br />

4 Allgeme<strong>in</strong>er körperlicher Abbau<br />

4 Neu aufgetretene Gangunsicherhei t<br />

4 Neu aufgetretene Schwerhörigkei t<br />

4 Neu aufgetretene Inkont<strong>in</strong>en z<br />

4 Neu aufgetretene Sprachänderun g (Fäkalsprache, ungewohnter<br />

Wortschatz)<br />

4 Verhaltensänderun g, z. B. Aggressivitä t<br />

4 Bisher nicht beobachtete depressive Verstimmungen<br />

4 Übertragungen<br />

25.3 Wen überweist der Arzt?<br />

25.<strong>3.</strong>1 Exkurs: Wer ist für e<strong>in</strong>e geriatrische Behandlung<br />

geeignet?<br />

Die Defi nition dieser Patientengruppe gel<strong>in</strong>gt nicht problemlos, <strong>und</strong> so soll an<br />

dieser Stelle e<strong>in</strong>e Anlehnung an die Erkenntnisse von Marjorie Warren erfolgen.<br />

In ihrer <strong>in</strong> den 1940er Jahren im Lancet publizierten Arbeit forderte sie


25.3 · Wen überweist der Arzt?<br />

443<br />

25<br />

e<strong>in</strong>en mediz<strong>in</strong>ischen Schwerpunkt zur Versorgung der beiden folgenden Patientengruppen:<br />

1. der kle<strong>in</strong>en Gruppe, die längerfristiger Krankenversorgung bedarf, <strong>und</strong><br />

2. der größeren Patientengruppe mit multiplen aktiven mediz<strong>in</strong>ischen Problemen,<br />

die ohne adäquate Intervention Gefahr laufen, ihre soziale Kompetenz<br />

zu verlieren.<br />

E<strong>in</strong> solcher Schwerpunkt sollte besonders für Patienten tätig werden, die Gefahr<br />

laufen, von anderen Teildiszipl<strong>in</strong>en vernachlässigt zu werden. Tatsächlich<br />

s<strong>in</strong>d das meist die älteren Patienten, wobei das Alter nicht der Gr<strong>und</strong> ihrer<br />

Vernachlässigung ist. Selbst für den älteren Patienten gibt es ke<strong>in</strong> Risiko, <strong>in</strong><br />

anderen Fachgebieten vernachlässigt zu werden, vorausgesetzt, er hat e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges,<br />

gut angehbares mediz<strong>in</strong>isches Problem.<br />

Demgegenüber erfordern multiple aktive mediz<strong>in</strong>ische Probleme Lösungsansätze,<br />

die sich an Denkweisen der Multidimensionalität geriatrischer<br />

Fragestellungen, der Funktionalität des Patienten <strong>und</strong> ganzheitlichem Denken<br />

orientieren. Somit entzieht sich Geriatrie den üblichen Defi nitionsschemata<br />

<strong>und</strong> führt zusätzliche Dimensionen wie z. B. Funktionsorientierung <strong>und</strong><br />

Ganzheitlichkeit e<strong>in</strong>. Beides resultiert <strong>in</strong> Verständnis- <strong>und</strong> Akzeptanzschwierigkeiten<br />

bei den etablierten Fächern, die sich weitgehend organspezifi sch abgrenzen.<br />

25.<strong>3.</strong>2 Das geriatrische Assessment<br />

In Ermangelung ausreichend vorhandener geriatrischer Strukture nzur Untersuchung<br />

<strong>und</strong> Testung derjenigen Patienten, über die der Hausarzt ke<strong>in</strong>e ausreichenden<br />

Informationen besitzt, sollte es zum Standard gehören, dass neben<br />

der klassischen ärztlichen Untersuchung <strong>und</strong> Anamnese möglichst bereits <strong>in</strong><br />

der <strong>Praxis</strong> e<strong>in</strong> geriatrisches Basis-Assessment für Patienten mit solchen Fragestellungen<br />

durchgeführt wird (. Abb. 25.1, Pientka 1995).<br />

Zur Erkennung, ob e<strong>in</strong> Patient geriatrische Intervention benötigt, ist <strong>in</strong>sbesondere<br />

das geriatrische Assessmen t nach Lachs geeignet (. Tab. 25.1). Ergänzt<br />

wird dieses Instrument durch den Barthel-Index als Maß für die Fähigkeiten<br />

des täglichen Lebens <strong>und</strong> die M<strong>in</strong>i-Mental State Exam<strong>in</strong>ation (MMSE)<br />

sowie den Uhrentest zur orientierenden Beurteilung der kognitiven Funktionen.


25<br />

444 Kapitel 25 · Geriatrische Stationen<br />

. Abb. 25.1 Multidimensionales Assessment. ADL activities of daily liv<strong>in</strong>g<br />

> Gewarnt sei an dieser Stelle aber vor e<strong>in</strong>er bed<strong>in</strong>gungslosen Testgläubigkeit.<br />

Auch die genannten Testverfahren haben Schwächen<br />

<strong>und</strong> gelten nicht immer. Ganz sicher jedoch werden kognitive Defi zite<br />

genauer erfasst als ohne sie.<br />

Sollten die Untersuchungen <strong>in</strong> der <strong>Praxis</strong> nicht durchgeführt worden se<strong>in</strong>, so<br />

sollten sie doch spätestens <strong>in</strong> der Kl<strong>in</strong>ik erfolgen (Folste<strong>in</strong> et al. 1975, Lachs<br />

et al. 1990, Mahoney u. Barthel 1965, Shulman et al. 1986; die e<strong>in</strong>zelnen Testverfahren<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> 7 Anhang A1–A4 beigefügt).<br />

Noch e<strong>in</strong>e Anmerkung zu testpsychologischen Verfahren aus den Bereichen<br />

Kognition <strong>und</strong> Depression. Alle<strong>in</strong> die Tatsache, dass e<strong>in</strong>e solche Testung<br />

durchgeführt wird, verunsichert viele Patienten sehr. Außerdem muss der Untersucher<br />

gegebenenfalls auch mit aggressiven Ausbrüchen zurechtkommen,<br />

etwa nach dem Motto: »Ich b<strong>in</strong> doch nicht blöd, was erlauben Sie sich!« Aufklärung<br />

über den S<strong>in</strong>n der Diagnostik hilft hier oft genauso weiter wie die<br />

Erwähnung, dass heute ja auch Behandlungsmöglichkeiten für eventuell entdeckte<br />

Erkrankungen bestehen. Trotzdem kommen immer wieder Patienten,<br />

<strong>in</strong>sbesondere mit verme<strong>in</strong>tlichen oder real erkennbaren Defi ziten, mit den<br />

Testverfahren nicht zurecht <strong>und</strong> bedürfen der zugewandten Unterstützung.<br />

Bei depressiven Patienten kann sogar e<strong>in</strong>e ärztliche Intervention erforderlich<br />

se<strong>in</strong>.<br />

> Für die Durchführung von testpsychologischen Verfahren im Rahmen<br />

des geriatrischen Assessments empfi ehlt sich der E<strong>in</strong>satz berufs- <strong>und</strong><br />

lebenserfahrener Mitarbeiter oder des Arztes selbst.


25.3 · Wen überweist der Arzt?<br />

445<br />

. Tab. 25.1 Das geriatrische Assessmen t <strong>in</strong> der hausärztlichen Praxi s<br />

Test Durchführung Benötigte Zeit<br />

Geriatrisches Screen<strong>in</strong>g nach Lachs Arzt 5–10 M<strong>in</strong>uten<br />

Barthel-Index Helfer<strong>in</strong> 10 M<strong>in</strong>uten<br />

MMSE (M<strong>in</strong>i-Mental State Examiantion) Helfer<strong>in</strong> 10–15 M<strong>in</strong>uten<br />

Uhrentest Helfer<strong>in</strong> 10 M<strong>in</strong>uten<br />

Syndrom-Kurztest Helfer<strong>in</strong> 10 M<strong>in</strong>uten<br />

GDS (Geriatric Depression Scale ) Arzt oder geschulte<br />

Helfer<strong>in</strong><br />

10–15 M<strong>in</strong>uten<br />

25<br />

Zeigen sich <strong>in</strong> den Testverfahren H<strong>in</strong>weise auf e<strong>in</strong>e kognitive E<strong>in</strong>schränkung,<br />

die der stationären Behandlung bedarf, stellt sich die gr<strong>und</strong>sätzliche Frage, ob<br />

der Patient alle<strong>in</strong>e oder <strong>in</strong> Begleitung, beispielsweise der Angehörigen, aber<br />

auch enger Vertrauter, behandelt werden soll.<br />

Liegen bei dem Patienten kognitive Störungen vor, die den Alltagsrahmen<br />

nur wenig belasten, <strong>und</strong> ist der Patient weder suizid-, weglaufgefährdet noch<br />

fremdaggressiv, so wird <strong>in</strong> aller Regel die E<strong>in</strong>weisung des Patienten ohne Begleitung<br />

ausreichen.<br />

> Geriatrische E<strong>in</strong>richtungen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Regel überfordert mit Patienten,<br />

die weglaufen, fremd- oder autoaggressiv s<strong>in</strong>d, die stark agitiert<br />

oder laut s<strong>in</strong>d.<br />

Vor allem dann, wenn Patienten an ausgeprägten Ängsten leiden, sehr unruhig<br />

s<strong>in</strong>d oder weglaufgefährdet , hat sich je nach Schweregrad der Symptomatik<br />

e<strong>in</strong> echtes Room<strong>in</strong>g-<strong>in</strong> mit dem Patienten bzw. auch e<strong>in</strong> Wohnen <strong>in</strong> der<br />

Nähe des Angehörigen bewährt , sodass die Th erapie jederzeit unterstützt werden<br />

kann. Eng vertraute Menschen schaff en v. a. <strong>in</strong> der Anfangsphase der Rehabilitation<br />

alle<strong>in</strong> durch ihre Anwesenheit e<strong>in</strong> »bekanntes« Umfeld. Ihr Dase<strong>in</strong>,<br />

ihre Stimme, ihr Geruch, die vertrauten Bewegungen s<strong>in</strong>d Anker <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

unbekannten <strong>und</strong> verwirrenden Umgebung. Im Vorfeld ist bereits zu überlegen,<br />

dass e<strong>in</strong>e abgebrochene (weil »erfolglose«) Th erapie für den Patienten<br />

bereits per se e<strong>in</strong>e Verschlimmerung se<strong>in</strong>es Leidens darstellt. Die Enttäu-


25<br />

446 Kapitel 25 · Geriatrische Stationen<br />

schung wird groß se<strong>in</strong>, <strong>und</strong> Angst <strong>und</strong> Abwehr vor Neuem werden zunehmen.<br />

Deshalb sollte die Indikation zur E<strong>in</strong>beziehung naher Bezugspersonen<br />

<strong>in</strong> die Th erapie, ganz im Gegensatz zur häufi gen <strong>Praxis</strong>, großzügiger gestellt<br />

werden. Insbesondere geriatrische E<strong>in</strong>richtungen halten <strong>in</strong> aller Regel die<br />

Möglichkeit vor, solche geme<strong>in</strong>samen Unterbr<strong>in</strong>gungen auch praktisch <strong>und</strong><br />

preiswert zu gestalten. Auf die Mithilfe der Krankenkassen kann <strong>in</strong> diesen<br />

Fällen allerd<strong>in</strong>gs nur gelegentlich gehofft werden. Aus der täglichen <strong>Praxis</strong><br />

s<strong>in</strong>d ausgeprägte regionale Unterschiede bekannt.<br />

> E<strong>in</strong> stationäres Room<strong>in</strong>g-<strong>in</strong> stellt <strong>in</strong> vielen Fällen selbst bei fortgeschrittenen<br />

<strong>Demenzen</strong> die Rehabilitationsfähigkeit zum<strong>in</strong>dest<br />

teilweise wieder her.<br />

25.4 Wann sollte e<strong>in</strong> Patient <strong>in</strong> stationäre geriatrische<br />

Rehabilitation e<strong>in</strong>gewiesen werden?<br />

Für die stationäre geriatrische Rehabilitation ist spätestens der Zeitpunkt zu<br />

wählen, an dem die Demenz alltagsrelevante Auswirkungen zeitigt, die entweder<br />

dem Patienten selbst oder se<strong>in</strong>em sozialen Umfeld auff allen <strong>und</strong> die verknüpft<br />

s<strong>in</strong>d mit den bereits erwähnten altersassoziierten oder alterspathologischen<br />

E<strong>in</strong>schränkungen. Aus geriatrischer Sicht steht dabei die Frage nach<br />

der Ursache der Demenz nicht an erster Stelle. Die s<strong>in</strong>nvollen Indikationen<br />

reichen von der Bee<strong>in</strong>trächtigung im psychosozialen Leben wegen des Nichte<strong>in</strong>haltens<br />

von Term<strong>in</strong>en, des Vergessens von Namen <strong>und</strong> ähnlicher von der<br />

Gesellschaft schlechter tolerierter Symptome bis h<strong>in</strong> zu Stürzen aufgr<strong>und</strong><br />

mangelnder kognitiver Kontrolle der Bewegungsprozesse sowie dem Verlust<br />

von alltagspraktischen Fähigkeiten wie Kochen, Körperpfl ege usw. Insbesondere<br />

die <strong>in</strong>zwischen gesicherten Erkenntnisse zur Wirkung der Acetylchol<strong>in</strong>esterasehemmer<br />

<strong>und</strong> die Ergebnisse der Studien zu Bewegung, funktionellem<br />

Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g <strong>und</strong> Kognition fordern den möglichst frühen Beg<strong>in</strong>n der Demenztherapie.<br />

Die Hauptschwierigkeit liegt letztlich aber dar<strong>in</strong>, wie denn dieser »möglichst<br />

frühe Zeitpunkt« erkannt werden kann. Selbst als Hausarzt ist man <strong>in</strong><br />

der Regel nicht <strong>in</strong> der Lage, ständig, gewissermaßen protektiv, h<strong>in</strong>ter se<strong>in</strong>en<br />

Patienten herzulaufen. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten, zu e<strong>in</strong>em rationellen<br />

<strong>und</strong> dichten Informationsfl uss zu gelangen (Sandholzer et al. 1999).<br />

Statistisch nehmen demenzielle Entwicklungen jenseits des 70. Lebensjahres


25.5 · Warum sollte e<strong>in</strong>gewiesen werden?<br />

447<br />

25<br />

so zu, dass sich e<strong>in</strong>e Art lockeres Screen<strong>in</strong>g lohnt (s. unten). Vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong><br />

der Tatsache, dass zwischenzeitlich die Bevölkerungsgruppe der über<br />

100-Jährigen prozentual <strong>und</strong> diejenige der über 90-Jährigen absolut am<br />

schnellsten wächst (Altersbericht der B<strong>und</strong>esregierung 2005), gew<strong>in</strong>nt diese<br />

Art des Vorgehens an Bedeutung.<br />

<strong>Praxis</strong>-Screen<strong>in</strong>g zur Früherkennung kognitiver Veränderungen<br />

4 Ältere Patienten (> 70 Jahre) alle Vierteljahre e<strong>in</strong>bestellen<br />

4 Durchführung e<strong>in</strong>es geriatrischen Screen<strong>in</strong>gs (Lachs et al. 1990) bei<br />

dieser Ord<strong>in</strong>ation<br />

4 Uhrentest als Ergänzung (MMSE zur Wiederholung ungeeignet)<br />

4 Beim Hausbesuch auf auffällige Veränderungen achten<br />

4 Funktionelle Veränderungen abfragen <strong>und</strong> beachten<br />

4 Auch körperliche Veränderungen auf die kognitive Leistung beziehen<br />

4 Es ist verdächtig, wenn der Patient sich der Untersuchung entzieht<br />

4 H<strong>in</strong>weise von Angehörigen <strong>und</strong> Bekannten s<strong>in</strong>d wichtig<br />

25.5 Warum sollte e<strong>in</strong>e stationäre E<strong>in</strong>weisung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e geriatrische E<strong>in</strong>richtung erfolgen?<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich gilt, dass geriatrische Th erapie <strong>und</strong> besonders Demenztherapie<br />

im häuslichen Umfeld die größte Chance auf Erfolg hat. So muss immer zuerst<br />

geprüft werden, ob Diagnostik <strong>und</strong> Th erapie zu Hause möglich s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>e<br />

Gr<strong>und</strong>voraussetzung stellt dafür die körperliche <strong>und</strong> seelische Belastbarkeit<br />

des Patienten dar. E<strong>in</strong>e stabile soziale Umgebung, e<strong>in</strong> aktiver Lebenspartner,<br />

e<strong>in</strong>e geeignete Wohnung <strong>und</strong> nicht zuletzt ausgeglichene wirtschaft liche Verhältnisse<br />

s<strong>in</strong>d zusätzlich von Vorteil. Selbstverständlich bedarf es des Vorhandense<strong>in</strong>s<br />

e<strong>in</strong>er leistungsfähigen ambulanten geriatrischen Rehabilitationse<strong>in</strong>richtung<br />

. Bereits das Fehlen e<strong>in</strong>er dieser Voraussetzungen spricht für e<strong>in</strong>en<br />

stationären Th erapieversuch. Allerd<strong>in</strong>gs muss die stationäre Th erapie vom Patienten<br />

zum<strong>in</strong>dest toleriert werden, um erfolgreich zu se<strong>in</strong>.


25<br />

448 Kapitel 25 · Geriatrische Stationen<br />

Gründe für e<strong>in</strong>e stationäre geriatrische Demenztherapie<br />

4 Fehlende körperliche Belastbarkeit des Patienten<br />

4 Fehlende seelische Belastbarkeit des Patienten<br />

4 Fehlende Mobilität<br />

4 Instabiles soziales Umfeld<br />

4 Fehlen potenzieller Helfer<br />

4 Ungeeignetes Wohnumfeld<br />

4 Ke<strong>in</strong>e geeignete ambulante Rehabilitationse<strong>in</strong>richtung vorhanden<br />

4 Weite Wege zur ambulanten Therapie<br />

4 Schlechte wirtschaftliche Verhältnisse<br />

Viele verschiedene Berufsgruppen therapieren unter ärztlicher Moderation<br />

geme<strong>in</strong>sam (. Abb. 25.2). Die stationäre Behandlung hat hier e<strong>in</strong>en strukturellen<br />

Vorteil gegenüber dem ambulanten Bereich. Dieser Vorteil wächst,<br />

wenn man bedenkt, welcher Aufwand an Ausschlussdiagnostik bei Verdacht<br />

auf e<strong>in</strong>e AD nötig ist. Der zeitweise Wegfall belastender häuslicher Umstände<br />

entspannt den Patienten häufi g. Die korrigierende E<strong>in</strong>fl ussnahme der Angehörigen,<br />

teils aus Scham, teils aus Unverstand, kann für die Diagnostik weitgehend<br />

ausgeschlossen werden. Die ordnende Wirkung e<strong>in</strong>er strukturierten<br />

Th erapie wirkt sich im stationären Bereich zudem besonders positiv aus.<br />

Außer diesen gr<strong>und</strong>sätzlichen Erwägungen spielen aber noch spezielle<br />

Aspekte der stationär-geriatrischen Demenztherapie e<strong>in</strong>e Rolle. Neben der<br />

medikamentösen Th erapie ist die Komb<strong>in</strong>ation e<strong>in</strong>er kognitiven Th erapie mit<br />

gezielter Bewegungstherapie geeignet, den Verlauf der AD zu verlangsamen.<br />

In Verb<strong>in</strong>dung mit der Möglichkeit, alltagsrelevante Fähigkeiten gewissermaßen<br />

unsanktioniert zu erproben <strong>und</strong> zu tra<strong>in</strong>ieren, ist diese Th erapieform aus<br />

praktischen Gründen im stationären Bereich gut angesiedelt.<br />

25.6 Wie kann die E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e geriatrische<br />

E<strong>in</strong>richtung erfolgen?<br />

Es gibt derzeit noch ke<strong>in</strong>e b<strong>und</strong>ese<strong>in</strong>heitlichen Richtl<strong>in</strong>ien für die Zuweisung<br />

<strong>in</strong> geriatrische E<strong>in</strong>richtungen. Die E<strong>in</strong>weisungsmöglichkeiten s<strong>in</strong>d bekannt<br />

<strong>und</strong> entsprechen den Richtl<strong>in</strong>ien <strong>in</strong> den B<strong>und</strong>esländern. Die e<strong>in</strong>zelnen Län-


25.6 · Wie kann die E<strong>in</strong>weisung erfolgen?<br />

Krankenkasse<br />

Logopädie<br />

Physiotherapie<br />

Pflege<br />

Ambulante<br />

Rehabilitation<br />

. Abb. 25.2 Das therapeutische Team<br />

Dementer<br />

Patient<br />

Hausarzt<br />

449<br />

Sozialdienst<br />

Ergotherapie<br />

Psychologie<br />

Angehörige<br />

Ambulante<br />

Pflege<br />

25<br />

der zuzuordnen, ist nicht s<strong>in</strong>nvoll, da damit gerechnet werden kann, dass es<br />

im Rahmen laufender Verhandlungen bald zu Änderungen kommt.<br />

In aller Regel s<strong>in</strong>d die geriatrischen E<strong>in</strong>richtungen darauf e<strong>in</strong>gerichtet,<br />

sich um die Wünsche potenzieller Zuweiser zu kümmern. E<strong>in</strong> <strong>in</strong>formeller<br />

Kontakt zu der für den Patienten nächstgelegenen, also wohnortnahen, geriatrischen<br />

Kl<strong>in</strong>ik lohnt sich allemal. Häufi g wird von diesen E<strong>in</strong>richtungen<br />

auch der Antragsprozess bei der zuständigen Krankenkasse übernommen.<br />

4 Dort, wo die Geriatrie als sog. Akutgeriatrie betrieben wird, ist die direkte<br />

E<strong>in</strong>weisung durch den niedergelassenen Arzt <strong>in</strong> geriatrische Stationen<br />

möglich.<br />

4 Dort, wo es geriatrische Schwerpunkte an den Kl<strong>in</strong>iken gibt, kann die E<strong>in</strong>weisung<br />

<strong>in</strong> diesen Schwerpunkt bzw. <strong>in</strong> die geriatrische Fachabteilung des<br />

Krankenhauses erfolgen mit der Maßgabe, das Problem der vermuteten<br />

Demenz zu bearbeiten <strong>und</strong> ggf. an spezialisierte geriatrische Rehabilitationse<strong>in</strong>richtungen<br />

weiterzugeben.<br />

4 Dort, wo die Geriatrie ausschließlich <strong>in</strong> der Rehabilitation angesiedelt ist,<br />

kann die Zuweisung zur geriatrisch-stationären Behandlung gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

nur nach vorangegangenem Krankenhausaufenthalt <strong>in</strong> die Rehabilitationse<strong>in</strong>richtung<br />

erfolgen. E<strong>in</strong>e Direkte<strong>in</strong>weisung aus der hausärztlichen<br />

<strong>Praxis</strong> oder der Notfallambulanz e<strong>in</strong>es anderen Krankenhauses ist nicht<br />

möglich (Antrag 61 A). Allerd<strong>in</strong>gs besteht gr<strong>und</strong>sätzlich die Möglichkeit,<br />

e<strong>in</strong>en Antrag auf stationäre geriatrische Rehabilitation auch aus der haus-


25<br />

450 Kapitel 25 · Geriatrische Stationen<br />

ärztlichen <strong>Praxis</strong> heraus zu stellen. Allerd<strong>in</strong>gs zeigt sich immer wieder,<br />

dass sowohl das umständliche Verfahren mit se<strong>in</strong>en bekannt langen Bearbeitungszeiten<br />

wie auch die Rigidität der Kassen diese Möglichkeit e<strong>in</strong>schränken.<br />

25.7 Wozu soll die E<strong>in</strong>weisung erfolgen?<br />

Der zuweisende Arzt sollte (dies gilt übrigens für alle E<strong>in</strong>weisungen <strong>in</strong> stationäre<br />

E<strong>in</strong>richtungen) se<strong>in</strong>e Wünsche oder die Wünsche des Patienten, wenn<br />

dieser sie nicht genau ausdrücken kann, formulieren <strong>und</strong> den behandelnden<br />

stationären E<strong>in</strong>richtungen e<strong>in</strong>e Zielvorgabe setzen. Die Arbeit der Kl<strong>in</strong>ik wird<br />

wesentlich erleichtert, wenn das gewünschte Behandlungsziel e<strong>in</strong>gegrenzt ist.<br />

Aufgr<strong>und</strong> der oben beschriebenen Voraussetzungen leiden geriatrische Patienten<br />

an komplexen kognitiven <strong>und</strong> funktionellen Leistungsstörungen. Von<br />

der eigentlichen Th erapie des Patienten über die <strong>in</strong>dividuelle Angehörigenberatung<br />

bis h<strong>in</strong> zum therapeutischen Hausbesuch <strong>und</strong> zu der Vernetzung der<br />

Kl<strong>in</strong>iktätigkeit mit der Tätigkeit des Hausarztes müssen alle möglichen Bereiche<br />

der Zusammenarbeit zwischen Ambulanz <strong>und</strong> Kl<strong>in</strong>ik berücksichtigt<br />

werden.<br />

> Der zuweisende Arzt sollte bei Patienten mit Demenz klare Zielvorstellungen<br />

für die stationäre geriatrische Behandlung formulieren.<br />

Die viel beschworene Rolle des Hausarztes als Case-Manager ist hier nicht nur<br />

Etikett.<br />

Um die stationäre Behandlung des Patienten zielgerichtet <strong>und</strong> eff ektiv zu<br />

gestalten, s<strong>in</strong>d die vorliegenden Bef<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Diagnosen unverzichtbar. Da<br />

der Betroff ene <strong>in</strong> der Regel ke<strong>in</strong>e sicheren Informationen mehr weitergeben<br />

kann, spart e<strong>in</strong>e zeitnahe E<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gung ambulant erhobener Bef<strong>und</strong>e aufwendige<br />

<strong>und</strong> für den Patienten oft beunruhigende Doppeluntersuchungen. Die<br />

Zielsetzung der E<strong>in</strong>weisung e<strong>in</strong>es Dementen, die Diagnostik <strong>und</strong> Th erapie<br />

kognitiver <strong>und</strong> dadurch verursachter funktioneller Störungen, geht dann<br />

nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Wust unnötiger mediz<strong>in</strong>ischer Diagnostik unter.<br />

Die E<strong>in</strong>weisungsziele s<strong>in</strong>d umso wichtiger, als der Patient sie oft selbst<br />

nicht mehr beschreiben kann. Häufi g bestehen relativ »e<strong>in</strong>fache« Zielwünsche<br />

wie die Herstellung der Pfl egefähigkeit e<strong>in</strong>es Patienten oder das Erreichen<br />

e<strong>in</strong>es sicheren Rollstuhltransfers. Die geriatrische Kl<strong>in</strong>ik wird sich an den


25.8 · Woh<strong>in</strong> soll der Patient gehen?<br />

451<br />

25<br />

Vorgaben derjenigen, die den Patienten seit Jahren kennen, gerne orientieren.<br />

Informationen über Vorlieben s<strong>in</strong>d dabei nicht weniger wichtig als vom Patienten<br />

geäußerte Todeswünsche.<br />

25.8 Woh<strong>in</strong> soll der Patient gehen?<br />

Aus der Sicht des Geriaters ist es natürlich wenig s<strong>in</strong>nvoll, geriatrische Patienten<br />

<strong>in</strong> stationäre E<strong>in</strong>richtungen zu verlegen, die sich mit den Problemen des<br />

geriatrischen Patienten nicht ausreichend beschäft igen können. Selbstverständlich<br />

erkennt die Geriatrie die fachliche Kompetenz der organspezifi sch<br />

orientierten Fachgebiete, wie beispielsweise der <strong>in</strong>neren Mediz<strong>in</strong> oder der<br />

Neurologie, nicht nur an, sondern sie kann ohne enge Vernetzung mit den<br />

spezialisierten Fachabteilungen gar nicht umfassend arbeiten. Dies gilt <strong>in</strong>sbesondere<br />

auch für die engste Kooperation mit psychiatrischen E<strong>in</strong>richtungen.<br />

Häufi g jedoch s<strong>in</strong>d somatisch orientierte Abteilungen <strong>in</strong>sbesondere bemüht,<br />

spezifi sche Organdefi zite zu erfassen <strong>und</strong> isoliert zu behandeln. E<strong>in</strong> geriatrischer<br />

Patient mit Verdacht auf e<strong>in</strong>e Demenz oder mit e<strong>in</strong>er manifesten<br />

Demenz wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er solchen E<strong>in</strong>richtung häufi g nicht den gleichzeitigen<br />

therapeutischen Ansatz fi nden, den er oft mehr braucht als organbezogene<br />

Diagnostik. Ganz im Gegenteil kann die bestgeme<strong>in</strong>te Organdiagnostik <strong>und</strong><br />

organspezifi sche Th erapie für demente Patienten e<strong>in</strong>e rasche <strong>und</strong> schlimmstenfalls<br />

sogar irreversible Verschlimmerung ihres Leidens bedeuten.<br />

Auf der anderen Seite ist zu fordern, dass die gewählte geriatrisch-stationäre<br />

E<strong>in</strong>richtung <strong>in</strong> der Lage ist, demenzverursachende Erkrankungen, nötigenfalls<br />

<strong>in</strong> Zusammenarbeit mit e<strong>in</strong>em Spezialisten, adäquat zu behandeln.<br />

Als Beispiele seien hier kardiale, metabolische oder neurologische Erkrankungen<br />

genannt. Auch ist e<strong>in</strong>e leistungsfähige chirurgische E<strong>in</strong>heit <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ger<br />

Entfernung von Vorteil, da Verletzungen bei dementen Patienten häufi g<br />

vorkommen. Für das komplexe Krankheitsbild der Demenz des älteren Patienten<br />

sche<strong>in</strong>en deshalb solche Rehabilitations- oder Kure<strong>in</strong>richtungen, die<br />

organspezifi sch ausgerichtet s<strong>in</strong>d, beispielsweise mit orthopädischem oder<br />

kardiologischem Schwerpunkt, per se weniger geeignet, adäquate diagnostische<br />

<strong>und</strong> therapeutische Ansätze zu bieten.<br />

Stationäre geriatrische Th erapie ist gr<strong>und</strong>sätzlich geeignet, e<strong>in</strong>em älteren<br />

dementen Patienten zu helfen. Je früher e<strong>in</strong>e spezifi sche medikamentöse,<br />

kognitive <strong>und</strong> funktionelle Th erapie beg<strong>in</strong>nt, umso größer ist die Chance, so-


25<br />

452 Kapitel 25 · Geriatrische Stationen<br />

ziale Kompetenz zu erhalten. Oft wird bemängelt, dass e<strong>in</strong>e solche Behandlung<br />

»zu teuer« sei. Die von <strong>in</strong>teressierter Seite penetrant gestellte Frage, <strong>in</strong>wieweit<br />

durch e<strong>in</strong>e stationäre geriatrische Behandlung Kosten e<strong>in</strong>gespart werden<br />

können, ist andererseits nicht sicher zu beantworten. Sicher aber ist, dass<br />

geriatrische Behandlung die soziale Kompetenz auch kognitiv e<strong>in</strong>geschränkter<br />

Patienten stabilisieren <strong>und</strong> häufi g auch verbessern kann (Olbrich 1987). Die<br />

damit verb<strong>und</strong>ene Verbesserung der Lebensqualität ist den E<strong>in</strong>satz spezieller<br />

stationärer Th erapieverfahren wert.<br />

Geriatrie behandelt Patienten v. a. unter somatischen, funktionsbezogenen<br />

Aspekten. Die Abstimmung der diagnostischen <strong>und</strong> therapeutischen<br />

Strategien mit gerontopsychiatrischen E<strong>in</strong>richtungen ist häufi g erforderlich.<br />

Literatur<br />

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<strong>und</strong> geistiger Leistungsfähigkeit im Alter. Ger Preger Rehab 2(3): 55–71<br />

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Problemorientierte Diagnostik <strong>und</strong> Therapie. Urban & Schwarzenberg, München, S 57–<br />

73<br />

Sandholzer H, Breull A, Fischer GC (1999) Früherkennung <strong>und</strong> Frühbehandlung von kognitiven<br />

Funktionse<strong>in</strong>bußen: E<strong>in</strong>e Studie über e<strong>in</strong>e geriatrische Vorsorgeuntersuchung im<br />

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Siegel NR (1996) Case-Management beim geriatrischen Patienten. Allgeme<strong>in</strong>arzt 9: 950–957<br />

Trögner J, He<strong>in</strong>rich R (1996) Mit dem Alter wandeln sich die Symptome. Extracta Geriatrica 5: 4


Gerontopsychiatrische<br />

Stationen<br />

Ra<strong>in</strong>er Kortus<br />

26.1 Rahmenbed<strong>in</strong>gungen – 454<br />

26.2 Woh<strong>in</strong> erfolgt die E<strong>in</strong>weisung? – 456<br />

453<br />

26.3 Durch wen erfolgt die E<strong>in</strong>weisung? – 456<br />

26.4 Wer wird e<strong>in</strong>gewiesen? – 457<br />

26.5 Wann soll die E<strong>in</strong>weisung erfolgen? – 459<br />

26.6 Warum soll e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>weisung erfolgen? – 459<br />

26.6.1 Problematische Situationen bei der E<strong>in</strong>weisung – 460<br />

26.7 Wie erfolgt die E<strong>in</strong>weisung? – 461<br />

26.7.1 Juristische Rahmenbed<strong>in</strong>gungen bei der E<strong>in</strong>weisung – 461<br />

26.7.2 Betreuungsrecht – 462<br />

26.7.3 Unterbr<strong>in</strong>gungsgesetz – 463<br />

26.7.4 Vollmacht – 464<br />

26.8 Wozu soll e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>weisung erfolgen? – 464<br />

Literatur – 466<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_26,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

26


26<br />

454 Kapitel 26 · Gerontopsychiatrische Stationen<br />

Zum Thema<br />

Die E<strong>in</strong>weisungs- <strong>und</strong> Aufnahmesituation <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e gerontopsychiatrische Station<br />

f<strong>in</strong>det oft unter schwierigen Umständen statt. Im Krankenhaus überschattet sie<br />

dann eventuell den Kontakt zum Patienten <strong>und</strong> zu se<strong>in</strong>en Angehörigen <strong>und</strong> erschwert<br />

auch zunächst die weitere Behandlung.<br />

Patient <strong>und</strong> Angehörige s<strong>in</strong>d oft betroffenen über die Aufnahme auf e<strong>in</strong>er zumeist<br />

geschlossenen Station, wo sie mit anderen Verwirrten konfrontiert werden.<br />

Angst <strong>und</strong> Ratlosigkeit spielen e<strong>in</strong>e große Rolle, wenn der Weg zur Behandlung<br />

gebahnt werden soll. Die immer noch vorhandene E<strong>in</strong>stellung »Die kriegen ja<br />

doch nichts mehr mit« ist gr<strong>und</strong>falsch <strong>und</strong> beh<strong>in</strong>dert das Verständnis der Patienten:<br />

Er ist e<strong>in</strong> alt gewordener Mensch mit se<strong>in</strong>er ganzen Lebenserfahrung, die<br />

v. a. durch zunehmende Gedächtnis- <strong>und</strong> Orientierungslosigkeit bee<strong>in</strong>trächtigt<br />

ist.<br />

E<strong>in</strong>e erste Schwierigkeit besteht also bereits oft dar<strong>in</strong>, die Zusammenarbeit mit<br />

dem Patienten zu bahnen. Beschwichtigende H<strong>in</strong>weise, dass der Patient sich im<br />

Krankenhaus »nur mal vorstellen solle« oder dass er sicher <strong>in</strong> Kürze wieder entlassen<br />

werde, s<strong>in</strong>d der Situation genauso wenig förderlich wie übereilte gewaltsame<br />

E<strong>in</strong>weisungsprozeduren mithilfe kräftigen Transportpersonals oder gar der<br />

Polizei. Die Schwierigkeiten bei der E<strong>in</strong>weisung erfordern oft Geduld <strong>und</strong> Übersicht<br />

des e<strong>in</strong>weisenden Arztes sowie Klarheit <strong>und</strong> Bestimmtheit. Oft erweist sich<br />

aber auch der Zeitdruck <strong>in</strong> der <strong>Praxis</strong> als belastend, der allerd<strong>in</strong>gs beim alten<br />

Menschen gr<strong>und</strong>sätzlich fehl am Platz ist.<br />

26.1 Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />

Mit der E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e gerontopsychiatrische Abteilung hat der niedergelassene<br />

Arzt se<strong>in</strong>e Betreuung meist nur für das stationäre Intervall aufgegeben.<br />

Anschließend setzt er sich weiter mit dem Schicksal se<strong>in</strong>es Patienten<br />

ause<strong>in</strong>ander. Da wohl die wenigsten niedergelassenen Ärzte je e<strong>in</strong>e gerontopsychiatrische<br />

Station von <strong>in</strong>nen gesehen haben (nur 0,5% der niedergelassenen<br />

Ärzte haben nach der Approbation schon e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er psychiatrischen<br />

Kl<strong>in</strong>ik gearbeitet!), ersche<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>ige H<strong>in</strong>weise zum H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> der<br />

Arbeitsweise <strong>und</strong> zur Erlebniswelt solcher Abteilungen angebracht.<br />

Alterspsychiatrische Fachabteilungen s<strong>in</strong>d je nach Größe gegliedert <strong>in</strong><br />

mehrere Stationen; darüber h<strong>in</strong>aus haben sie oft e<strong>in</strong>e Institutsambulanz, z. T.<br />

auch Tageskl<strong>in</strong>iken. Im stationären Bereich fi ndet sich oft e<strong>in</strong>e (geschützte)


26.1 · Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />

455<br />

26<br />

Demenzstation, e<strong>in</strong>e (off ene) Depressionsstation <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Aufnahmestation.<br />

Das Stationsteam setzt sich multidiszipl<strong>in</strong>är zusammen aus Ärzten, Psychologen<br />

<strong>und</strong> Pfl egepersonal, des Weiteren aus Sozialpädagogen, Ergotherapeuten,<br />

Physiotherapeuten <strong>und</strong> Mitarbeitern aus anderen therapeutischen<br />

Berufen. Diese s<strong>in</strong>d vertraut mit den modernen Möglichkeiten der Diff erenzialdiagnostik<br />

<strong>und</strong> Th erapie von Demenzerkrankungen.<br />

In den großen psychiatrischen Fachkrankenhäusern besteht trotz der<br />

Psychiatrie-Personal-Verordnung zumeist e<strong>in</strong> mehr oder m<strong>in</strong>der ausgeprägter<br />

Personalmangel für alle Berufsgruppen. Dies führt dazu, dass ärztlicherseits<br />

zwischen Aufnahmeformalitäten, Untersuchungen, Bef<strong>und</strong>auswertungen<br />

<strong>und</strong> Absprache der Th erapeuten untere<strong>in</strong>ander meist nur wenig Zeit für E<strong>in</strong>zel-<br />

<strong>und</strong> Angehörigengespräche bleibt. Unter den derzeitigen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />

(wiederholte »Reformen« im Ges<strong>und</strong>heitswesen, Budgetierungen,<br />

exzessive Dokumentationspfl ichten sowie massive Arbeitsverdichtung) stehen<br />

sämtliche Patienten- <strong>und</strong> Angehörigenkontakte, aber auch die Kontakte<br />

mit den niedergelassenen Kollegen, unter enormem Zeitdruck.<br />

Die Stationen s<strong>in</strong>d oft noch zu groß, 22‒28 Betten s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Seltenheit,<br />

<strong>und</strong> oft s<strong>in</strong>d sie auch nicht kommunikativ <strong>und</strong> übersichtlich gebaut, sodass<br />

die persönliche Betreuung erschwert wird . Unzureichende Räumlichkeiten<br />

für verschiedene Th erapien bee<strong>in</strong>trächtigen die Arbeitsmöglichkeiten <strong>und</strong><br />

sorgen für relative Enge bei der Durchführung der Th erapiesitzungen. Kurz:<br />

Die Arbeitsweise auf e<strong>in</strong>er alterspsychiatrischen Station ist mit der e<strong>in</strong>er Station<br />

im Allgeme<strong>in</strong>krankenhaus nicht zu vergleichen. Erschwerend kommt<br />

h<strong>in</strong>zu, dass sich durch den anhaltenden Anstieg der Aufnahmezahlen die Verweildauer<br />

verr<strong>in</strong>gert <strong>und</strong> e<strong>in</strong> enormer Zeitdruck entsteht.<br />

Daher ist zunächst gewissenhaft zu klären, ob <strong>und</strong> mit welcher Indikation<br />

e<strong>in</strong>e stationäre Behandlung tatsächlich notwendig ist. E<strong>in</strong>e telefonische Rücksprache<br />

mit dem Aufnahmearzt der zuständigen alterspsychiatrischen Abteilung<br />

kann hier gute Dienste leisten. Diese sollte dann allerd<strong>in</strong>gs so früh wie<br />

möglich erfolgen, <strong>und</strong> der Weg <strong>in</strong> die Kl<strong>in</strong>ik sollte durch ausreichende Information<br />

des Patienten <strong>und</strong> der Angehörigen gut vorbereitet werden.<br />

Natürlich muss gesehen werden, dass der alte Patient, oft multimorbid ,<br />

häufi g erst im Krankenhaus die Möglichkeiten e<strong>in</strong>er schnelleren Krankheitsabklärung<br />

erfährt <strong>und</strong> daher e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>weisung unumgänglich se<strong>in</strong> kann.<br />

Dennoch ist es durchaus korrekt, den Patienten <strong>und</strong> die Angehörigen darauf<br />

h<strong>in</strong>zuweisen, dass die Aufnahme <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Krankenhaus immer e<strong>in</strong>e große Belas-


26<br />

456 Kapitel 26 · Gerontopsychiatrische Stationen<br />

tung darstellt <strong>und</strong> der multimorbide Patient somit schnell zum »Hochrisikopatienten«<br />

wird. Familienangehörige haben sich dies meist nicht klargemacht,<br />

s<strong>in</strong>d aber <strong>in</strong> der Regel dankbar für e<strong>in</strong>e entsprechend sorgfältige Aufk lärung.<br />

26.2 Woh<strong>in</strong> erfolgt die E<strong>in</strong>weisung?<br />

Je nach akutem Krankheitsbild wird die geriatrische oder die alterspsychiatrische<br />

Kompetenz mehr oder weniger benötigt. E<strong>in</strong> multimorbider Patient<br />

mit schweren körperlichen Begleiterkrankungen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Demenz ist eher<br />

<strong>in</strong> der Geriatrie am richtigen Platz, während für e<strong>in</strong>en Patienten mit Demenz<br />

ohne erhebliche somatische Erkrankungen die Alterspsychiatrie angebracht<br />

ist (7 Kap. 25).<br />

Auch an psychiatrischen Abteilungen am Allgeme<strong>in</strong>krankenhaus können<br />

diese Patienten behandelt werden, wenn dort gerontopsychiatrische Kompetenz<br />

vorhanden ist. Dies kann man als niedergelassener Kollege erfahren im<br />

Rahmen der telefonischen Anmeldung; v. a. wird man aus der Zusammenarbeit<br />

mit der Abteilung se<strong>in</strong>e Erfahrungen ziehen.<br />

26.3 Durch wen erfolgt die E<strong>in</strong>weisung?<br />

Meist ist der Hausarzt der erste Ansprechpartner für den Patienten <strong>und</strong> die<br />

Angehörigen. Aber auch der Nervenarzt/Psychiater oder der Notdienst<br />

kommt <strong>in</strong> die Situation, e<strong>in</strong>en dementen Patienten e<strong>in</strong>weisen zu müssen. Entsprechend<br />

der demographischen Entwicklung werden auch aus den Allgeme<strong>in</strong>krankenhäusern<br />

zunehmend demente Patienten der Alterspsychiatrie<br />

zugewiesen.<br />

Hilfreich ist immer der Kontakt von Arzt zu Arzt: Durch e<strong>in</strong>e kurze telefonische<br />

Anmeldung lässt sich sowohl die aktuelle Problemlage darstellen als<br />

auch mit H<strong>in</strong>weisen die weitere Vorgeschichte, die soziale Situation, Begleiterkrankungen<br />

<strong>und</strong> die notwendige Medikation erläutern. Außerdem wird besprochen,<br />

mit welcher Erwartung der Patient e<strong>in</strong>gewiesen wird: z. B. Diagnostik,<br />

Akutbehandlung von störenden Symptomen, Abwendung e<strong>in</strong>er akuten<br />

Gefährdung etc. Schließlich lässt sich durch das kollegiale Gespräch manche<br />

E<strong>in</strong>weisung vermeiden, was für den Patienten <strong>und</strong> die Angehörigen durchaus<br />

die beste Lösung se<strong>in</strong> kann.


26.4 · Wer wird e<strong>in</strong>gewiesen?<br />

457<br />

26<br />

> E<strong>in</strong>weisungsgründe wie »Abklärung«, »Diagnosestellung«, »im Heim<br />

nicht tragbar« reichen weder der Krankenkasse zur Kostenübernahme<br />

aus noch kann der Krankenhausarzt damit die stationäre Aufnahme<br />

begründen. Im Gegenteil sei daran er<strong>in</strong>nert, dass der Krankenhausarzt<br />

nochmals verpfl ichtet ist, die Indikation zur stationären Aufnahme<br />

zu überprüfen <strong>und</strong> ggf. e<strong>in</strong>e andere Behandlungsform (ambulant,<br />

vorstationär, teilstationär) e<strong>in</strong>zuleiten. Dies wird, soweit möglich, <strong>in</strong><br />

Rücksprache mit dem e<strong>in</strong>weisenden Arzt geschehen.<br />

Die Aufnahme des Patienten wird erheblich erleichtert, wenn der e<strong>in</strong>weisende<br />

Arzt wichtige Bef<strong>und</strong>e <strong>in</strong> Kopie sowie e<strong>in</strong>e Übersicht über die aktuelle Medikation<br />

mitgibt. Patient <strong>und</strong> Angehörige s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Aufnahmesituation oft viel<br />

zu aufgeregt, um hierüber komplette Angaben zu machen.<br />

Insbesondere <strong>in</strong>teressieren nervenärztliche Vorbef<strong>und</strong>e wie die Ergebnisse<br />

von e<strong>in</strong>fachen Tests wie M<strong>in</strong>i-Mental State Exam<strong>in</strong>ation (MMSE) oder<br />

e<strong>in</strong>em Test zur Früherkennung von <strong>Demenzen</strong>, z. B. DemTect , Computertomographie<br />

(CT), EEG <strong>und</strong> weiteren Spezialuntersuchungen.<br />

26.4 Wer wird e<strong>in</strong>gewiesen?<br />

Wenn es auch klar se<strong>in</strong> sollte, dass e<strong>in</strong>e Krankenhause<strong>in</strong>weisung nur zur Behandlung<br />

des Patienten dient, so fi nden <strong>in</strong> der Alterspsychiatrie immer wieder<br />

E<strong>in</strong>weisungen zur Entlastung des Partners oder der Familie statt (s. unten,<br />

E<strong>in</strong>weisungsgründe). Dabei muss allerd<strong>in</strong>gs die Behandlung des Patienten im<br />

Mittelpunkt stehen. So ist z. B. e<strong>in</strong> Th erapieversuch sehr belastender Verhaltensauff<br />

älligkeiten wie permanentes lautes Rufen oder heft ige Abwehr von<br />

Pfl egemaßnahmen (»Aggressivität «) durchaus e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>weisungsgr<strong>und</strong>.<br />

Typische E<strong>in</strong>weisungsgründe<br />

4 Umkehrung des Tag-Nacht-Rhythmus mit nächtlicher Unruhe <strong>und</strong><br />

Weglaufgefahr <strong>und</strong> Müdigkeit/Apathie am Tag<br />

4 Verkennung von Angehörigen/Betreuern als Fremde <strong>und</strong> heftige<br />

Ablehnung der notwendigen Hilfen (»Aggressivität«)<br />

6


26<br />

458 Kapitel 26 · Gerontopsychiatrische Stationen<br />

4 Meist optische Halluz<strong>in</strong>ationen mit störenden fremden Menschen<br />

oder paranoide Wahn<strong>in</strong>halte (v. a. Bestehlungswahn , übersteigertes<br />

Misstrauen)<br />

4 Verschlechterung des Krankheitsbildes, möglicherweise durch<br />

unbekannte Begleiterkrankungen, Medikamentenunverträglichkeit<br />

oder Unfallfolgen (»Bagatelltrauma «: Subduralhämatom )<br />

bed<strong>in</strong>gt<br />

4 Unfähigkeit der Nahrungsmittel- <strong>und</strong> Flüssigkeitsaufnahme durch<br />

zunehmende Apraxie (vorher mit den Angehörigen besprechen,<br />

ob wirklich e<strong>in</strong>e PEG-Sonde erwünscht ist!)<br />

Bereits bei der E<strong>in</strong>weisung sollte dem Patienten (<strong>und</strong> den Angehörigen) e<strong>in</strong><br />

E<strong>in</strong>weisungsgr<strong>und</strong> mitgeteilt werden: Viele Patienten erleben selbst, dass ihr<br />

Gedächtnis nicht mehr sicher ist; daher s<strong>in</strong>d sie oft auch bereit, e<strong>in</strong>e »Gedächtniskrankheit«<br />

sowie die daraus folgenden Unsicherheiten abklären zu<br />

lassen. Auch das Erleben e<strong>in</strong>er depressiven Verstimmung fördert bei manchen<br />

Patienten die Bereitschaft , sich untersuchen <strong>und</strong> behandeln zu lassen. Schließlich<br />

können fürsorgliche Angehörige auch deutlich machen, dass sie selber<br />

große Sorge haben um den Ges<strong>und</strong>heitszustand des Patienten <strong>und</strong> daher an<br />

e<strong>in</strong>er möglichst gründlichen Untersuchung <strong>und</strong> Behandlung <strong>in</strong>teressiert<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

E<strong>in</strong>weisungen auf Wunsch der Angehörigen, »weil es zu Hause nicht mehr<br />

geht«, s<strong>in</strong>d oft von Beg<strong>in</strong>n an problematisch: Der Krankenhausarzt muss sogleich<br />

begründen können, warum die stationäre Aufnahme des Betroff enen<br />

notwendig ist. Hier kann der e<strong>in</strong>weisende Kollege durch se<strong>in</strong>en Anruf schon<br />

darauf h<strong>in</strong>weisen, dass z. B. der Patient bei erheblicher Unruhe nicht mehr<br />

ausreichend isst oder bei Störungen des Tag-Nacht-Rhythmus sich völlig verzehrt;<br />

somit ist der Versuch e<strong>in</strong>er Behandlung zur Wiederherstellung der Tagesstrukturierung<br />

mit soziotherapeutischen <strong>und</strong> medikamentösen Maßnahmen<br />

durchaus gerechtfertigt.<br />

Auch sollte den Angehörigen klar se<strong>in</strong>, dass e<strong>in</strong>e stationäre Behandlung<br />

lediglich kurzzeitig mit e<strong>in</strong>er bestimmten Zielsetzung erfolgt. Längerfristige<br />

Verwahrung im Krankenhaus, eventuell so lange, bis e<strong>in</strong> Heimplatz bereitsteht,<br />

ist bei e<strong>in</strong>er durchschnittlichen Verweildauer von ca. 22 Tagen <strong>in</strong> der


26.6 · Warum soll e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>weisung erfolgen?<br />

459<br />

26<br />

Regel heutzutage nicht mehr möglich. Deshalb muss die Frage nach dem<br />

beabsichtigten Entlassort möglichst schon bei der Aufnahme angesprochen<br />

werden.<br />

26.5 Wann soll die E<strong>in</strong>weisung erfolgen?<br />

E<strong>in</strong>e stationäre E<strong>in</strong>weisung wird immer dann nötig, wenn ambulante oder<br />

teilstationäre Behandlungsmöglichkeiten nicht mehr ausreichen. Dies ist z. B.<br />

dann der Fall, wenn der Patient aufgr<strong>und</strong> se<strong>in</strong>es Unverständnisses die Versorgung<br />

heft ig ablehnt, es zu herausforderndem Verhalten (»Aggressivität«)<br />

kommt, wenn der Patient sich <strong>in</strong> Unrast verzehrt, aber auch wenn er zurückgezogen<br />

<strong>und</strong> apathisch nicht mehr am Alltagsleben teilnimmt. Hier geht es<br />

um die diff erenzialdiagnostische Klärung der aktuellen Symptomatik sowie<br />

der notwenigen Th erapie.<br />

In diesem Zusammenhang soll auf e<strong>in</strong> wichtiges Problem <strong>in</strong> der Betreuung<br />

dementer Patienten h<strong>in</strong>gewiesen werden: Aufgr<strong>und</strong> der wirkungsvolleren<br />

Behandlungsmöglichkeiten als noch vor e<strong>in</strong>igen Jahren zielt das Interesse darauf<br />

ab, e<strong>in</strong>e Behandlung möglichst frühzeitig zu beg<strong>in</strong>nen, um die Lebensqualität<br />

zu erhalten <strong>und</strong> Schwerpfl egebedürft igkeit möglichst lange h<strong>in</strong>auszuschieben<br />

(7 Kap. 17). Obwohl die Frühdiagnostik außerordentlich wichtig ist,<br />

besteht dabei nur <strong>in</strong> seltenen Fällen e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>weisungsgr<strong>und</strong> zur stationären Behandlung.<br />

Die Frühdiagnostik kann <strong>in</strong> der Regel von niedergelassenen Nervenärzten<br />

ausreichend sicher durchgeführt werden. Im Bedarfsfall wäre hier<br />

noch alternativ die Zuweisung zur Institutsambulanz (Gedächtnissprechst<strong>und</strong>e,<br />

Memory-Kl<strong>in</strong>ik, 7 Kap. 24) e<strong>in</strong>es psychiatrischen Krankenhauses zu erwägen,<br />

schließlich auch die Möglichkeit e<strong>in</strong>er umfangreichen Klärung unter tageskl<strong>in</strong>ischer<br />

Behandlung. Lediglich das Vorliegen e<strong>in</strong>er komplizierteren<br />

Multimorbidität rechtfertigt e<strong>in</strong>e stationäre E<strong>in</strong>weisung zur Frühdiagnostik.<br />

26.6 Warum soll e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>weisung erfolgen?<br />

Wie oben dargestellt, erfordert e<strong>in</strong>e stationäre E<strong>in</strong>weisung e<strong>in</strong>e klare Indikation<br />

e<strong>in</strong>schließlich realistischer Vorstellungen über das mögliche Ergebnis der<br />

Krankenhausbehandlung. E<strong>in</strong>e Krankenhausaufnahme ist heute im Wesentlichen<br />

aus drei Gründen erforderlich:


26<br />

460 Kapitel 26 · Gerontopsychiatrische Stationen<br />

Gründe für e<strong>in</strong>e Krankenhausaufnahme<br />

1. Zur Differenzialdiagnostik entsprechend komplizierter Krankheitsbilder<br />

mit Multimorbidität , die das Zusammengehen der diagnostischen<br />

Möglichkeiten e<strong>in</strong>es Krankenhauses erfordern.<br />

2. Zur Krisen<strong>in</strong>tervention bei zugespitzten Verhaltensauffälligkeiten,<br />

die von den betreuenden Personen nicht mehr aufgefangen werden<br />

können.<br />

<strong>3.</strong> Zur Krisen<strong>in</strong>tervention mit Klärung der Weiterversorgung, wenn das<br />

bisherige Versorgungssystem zusammengebrochen ist, z. B. weil der<br />

pflegende Partner plötzlich erkrankt ist. Wenngleich <strong>in</strong> dieser Situation<br />

oft auch über den Hausarzt, die Sozialstation oder die Beratung der<br />

Krankenkasse/Pflegekasse kurzfristig Hilfe erfolgen wird, so kann trotzdem<br />

<strong>in</strong> entsprechenden Fällen die stationäre Aufnahme erforderlich<br />

se<strong>in</strong>, wenn der Ges<strong>und</strong>heitszustand des Patienten mit Demenz durch<br />

Wegfall der Versorgung akut gefährdet ist.<br />

26.6.1 Problematische Situationen bei der E<strong>in</strong>weisung<br />

E<strong>in</strong>e besondere Problematik stellen die E<strong>in</strong>weisungen am Freitagnachmittag<br />

dar (»akute Freitagsnachmittagsdemenz«!): Die Angehörigen machen sich<br />

Sorgen wegen des bevorstehenden Wochenendes, der Arzt weist noch e<strong>in</strong> <strong>und</strong><br />

ist dann oft nicht mehr zu erreichen.<br />

Für den Patienten selbst entsteht durch die Aufnahme e<strong>in</strong>e besonders belastende<br />

Situation: Erstkontakt durch den diensthabenden Arzt, am Samstag<br />

ärztliche Betreuung durch e<strong>in</strong>en anderen Diensthabenden, ebenso am Sonntag<br />

wieder durch e<strong>in</strong>en anderen Arzt. Auch im Pfl egedienst fi ndet sich am<br />

Wochenende oft e<strong>in</strong>e Personalausdünnung, <strong>und</strong> die Mitarbeiter des sonstigen<br />

therapeutischen Dienstes arbeiten <strong>in</strong> der Regel am Wochenende nicht. Der<br />

Patient fällt also von der Krisensituation, die zur Aufnahme führte, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

ausgesprochene Versorgungslücke! Viele Komplikationen <strong>und</strong> Unfälle fallen<br />

<strong>in</strong> diesen daher besonders gefürchteten Zeitraum. Die »Misserfolge«, die z. B.<br />

durch e<strong>in</strong>e Oberschenkelhalsfraktur <strong>in</strong> den ersten Behandlungstagen entstehen,<br />

stellen für den Patienten e<strong>in</strong>e außerordentliche Gefährdung dar, führen


26.7 · Wie erfolgt die E<strong>in</strong>weisung?<br />

461<br />

26<br />

bei Angehörigen zu Vorwürfen gegen das Krankenhauspersonal <strong>und</strong> berauben<br />

die Patienten <strong>und</strong> Ärzte des möglichen Erfolgs.<br />

> Um dies zu verbessern, sollten die E<strong>in</strong>weisungen möglichst früh angemeldet<br />

werden <strong>und</strong> nicht als »Notfall« erfolgen zu Zeiten, zu denen<br />

der niedergelassene Kollege für Rückfragen eventuell <strong>in</strong> der <strong>Praxis</strong><br />

schon nicht mehr erreichbar ist!<br />

26.7 Wie erfolgt die E<strong>in</strong>weisung?<br />

Im Regelfall wird der Patient durch se<strong>in</strong>en Hausarzt oder Nervenarzt/Psychiater<br />

e<strong>in</strong>gewiesen. Der telefonische Kontakt zwischen e<strong>in</strong>weisendem <strong>und</strong> aufnehmendem<br />

Arzt bzw. e<strong>in</strong>e Anmeldung mit Term<strong>in</strong>vergabe <strong>in</strong> der Gerontopsychiatrie<br />

hilft , spätere Unklarheiten <strong>und</strong> Missverständnisse über S<strong>in</strong>n <strong>und</strong><br />

Zweck der E<strong>in</strong>weisung zu vermeiden. Wichtig ist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang,<br />

dass der Patient durch e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fühlsame Führung nicht das Gefühl bekommt,<br />

er solle »abgeschoben werden«.<br />

26.7.1 Juristische Rahmenbed<strong>in</strong>gungen bei der E<strong>in</strong>weisung<br />

Komplikationen psychischer Erkrankungen <strong>und</strong> die E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> e<strong>in</strong> psychiatrisches<br />

Krankenhaus erfordern es auch, die juristischen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />

zu kennen.<br />

> Die Unterbr<strong>in</strong>gung auf e<strong>in</strong>er »geschlossenen Station« ist e<strong>in</strong>e freiheitsentziehende<br />

Maßnahme, die entweder die Zustimmung des<br />

Patienten oder aber e<strong>in</strong>e juristische Absicherung erfordert. Wenn<br />

diese Voraussetzungen nicht vorliegen, muss der Krankenhausarzt<br />

den Patienten eventuell wieder entlassen, falls ke<strong>in</strong>e akute Selbst-<br />

oder Fremdgefährdung vorliegt. Dies führt immer wieder zu Verärgerung<br />

beim e<strong>in</strong>weisenden Kollegen, aber auch zu Ratlosigkeit bei den<br />

Angehörigen. Deshalb ist es wichtig, gegebenenfalls die notwendigen<br />

Schritte e<strong>in</strong>zuleiten .<br />

E<strong>in</strong> Patient, der auch zu Hause gut führbar ist <strong>und</strong> ke<strong>in</strong>e »Weglauft endenz«<br />

aufweist, lässt sich zumeist auch auf e<strong>in</strong>er geschützten Station gut betreuen. Er<br />

wird vermutlich nicht dezidiert se<strong>in</strong>e Entlassung verlangen, sodass mit ausrei-


26<br />

462 Kapitel 26 · Gerontopsychiatrische Stationen<br />

chender Kooperation bei der Behandlung se<strong>in</strong> E<strong>in</strong>verständnis vorausgesetzt<br />

werden darf.<br />

Schwierig ist die Situation h<strong>in</strong>gegen bei Patienten, die mit e<strong>in</strong>er Krankenhausaufnahme<br />

nicht e<strong>in</strong>verstanden s<strong>in</strong>d, sei es, weil sie ratlos s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> »nach<br />

Hause« wollen, sei es, weil sie sich von Angehörigen im Stich gelassen fühlen<br />

oder gar befürchten, dass ihnen Schaden entstehen könnte. Zur E<strong>in</strong>weisung<br />

von solchen Patienten s<strong>in</strong>d drei Wege möglich:<br />

1. im Rahmen des Betreuungsrechts,<br />

2. im Rahmen der Unterbr<strong>in</strong>gungsgesetze (UBG) oder der Gesetze zur Behandlung<br />

psychisch Kranker (Psych-KG), die <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen B<strong>und</strong>esländern<br />

verschieden s<strong>in</strong>d,<br />

<strong>3.</strong> mit e<strong>in</strong>er sog. »Vorsorgevollmacht« bzw. Generalvollmacht mit dem Aufgabenbereich<br />

der Ges<strong>und</strong>heitsfürsorge <strong>und</strong> dem Recht der geschlossenen<br />

Unterbr<strong>in</strong>gung.<br />

26.7.2 Betreuungsrecht<br />

Das Betreuungsrecht (von 1992) ermöglicht es, e<strong>in</strong>em psychisch kranken<br />

Menschen e<strong>in</strong>en Betreuer an die Seite zu stellen, der <strong>in</strong> bestimmten Bereichen<br />

die Interessen des Erkrankten zu wahren hat.<br />

Typische Versorgungsbereiche s<strong>in</strong>d<br />

4 Ges<strong>und</strong>heitsfürsorge ,<br />

4 Vermögenssorge ,<br />

4 Aufenthaltsbestimmungsrecht ,<br />

4 Rentenangelegenheiten.<br />

Wenn ke<strong>in</strong>e »Vorsorgevollmach t« vorliegt, mit der der Patient schon zu ges<strong>und</strong>en<br />

Zeiten festgelegt hat, wer ihn <strong>in</strong> welchen Bereichen vertreten soll, <strong>und</strong><br />

wenn auch ke<strong>in</strong>e weiteren Vollmachten bestehen, so ist die Anregung e<strong>in</strong>er<br />

Betreuung (durch den Hausarzt oder durch Angehörige) immer dann zu<br />

empfehlen, wenn der Patient se<strong>in</strong>e Belange nicht mehr ausreichend sicher<br />

vertreten kann. Die Durchführung e<strong>in</strong>es Betreuungsverfahrens dauert e<strong>in</strong>schließlich<br />

Begutachtung meist 2–3 Monate <strong>und</strong> länger, bis e<strong>in</strong> Betreuer (nach<br />

dem Betreuungsrecht wo möglich e<strong>in</strong> Angehöriger) bestellt ist <strong>und</strong> dem Patienten<br />

zur Seite steht (7 Kap. 29).


26.7 · Wie erfolgt die E<strong>in</strong>weisung?<br />

463<br />

26<br />

Im Akutfall hat das Gericht nach § 1846 BGB die Möglichkeit, e<strong>in</strong>e sog.<br />

Eilbetreuun g auszusprechen <strong>und</strong> die Durchführung des notwendigen Betreuungsbedarfs<br />

zu verfügen, bis das Verfahren abgeschlossen <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Betreuer<br />

bestellt ist. Hierzu bedarf es jedoch <strong>in</strong> der Regel der Gutachtenserstellung<br />

durch e<strong>in</strong>en Nervenarzt/Psychiater. Im ambulanten Bereich wird von dieser<br />

Möglichkeit selten Gebrauch gemacht, zumal auch seitens der verfahrensbeteiligten<br />

Richter hierzu nicht immer große Bereitschaft besteht. E<strong>in</strong> solches<br />

Verfahren macht auch nur S<strong>in</strong>n bei e<strong>in</strong>er dr<strong>in</strong>genden Behandlungs<strong>in</strong>dikation<br />

ohne gleichzeitig bestehende Selbst- oder Fremdgefährdung.<br />

26.7.3 Unterbr<strong>in</strong>gungsgesetz<br />

Liegt allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e akute Gefahr für den Patienten, se<strong>in</strong>e Umgebung oder<br />

se<strong>in</strong> Vermögen vor, so ist auch e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>weisung nach dem Unterbr<strong>in</strong>gungsgesetz<br />

(UBG) möglich. E<strong>in</strong>e solche Gefahr besteht z. B. im Weglaufen von zu<br />

Hause bei Unsicherheit im Verkehr, bei situativer Zuspitzung <strong>in</strong> Form »aggressiver«<br />

Durchbrüche mit Bedrohung von Angehörigen oder auch Suizidalität<br />

, im Unvermögen, Gefahrenquellen im Haushalt (elektrische Herdplatten,<br />

Bügeleisen, Gasversorgung) zu beaufsichtigen. Die Rechtsprechung verlangt<br />

allerd<strong>in</strong>gs, dass diese Gefahren akut <strong>und</strong> absehbar s<strong>in</strong>d; damit wird gleichzeitig<br />

ausgeschlossen, dass die Unterbr<strong>in</strong>gung nach dem UBG erfolgt, wenn der<br />

Patient z. B. e<strong>in</strong>malig vor 6 Wochen e<strong>in</strong>e Herdplatte hat brennen lassen!<br />

Wenn e<strong>in</strong>e Unterbr<strong>in</strong>gung wegen akuter Selbst- oder Fremdgefährdung<br />

notwendig ist, so muss auch ggf. die Polizei als Erfüllungsgehilfe h<strong>in</strong>zugezogen<br />

werden, die den Transport <strong>in</strong> das psychiatrische Krankenhaus begleitet<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>satzbericht erstellt, aus dem die Gefahrenlage ersichtlich ist.<br />

> E<strong>in</strong>e Besche<strong>in</strong>igung des e<strong>in</strong>weisenden Arztes, aus der die akute<br />

Selbst- oder Fremdgefährdung hervorgeht (möglichst mit stichwortartigen<br />

Beispielen), erleichtert dem Krankenhausarzt die Beantragung<br />

e<strong>in</strong>es entsprechenden Gerichtsbeschlusses <strong>und</strong> ermöglicht somit die<br />

baldige Behandlung.<br />

Auch wenn mit solchen Regularien die E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> e<strong>in</strong> psychiatrisches<br />

Krankenhaus erschwert ersche<strong>in</strong>en mag, so sei daran er<strong>in</strong>nert , dass sie mit<br />

e<strong>in</strong>er Freiheitsentziehung verb<strong>und</strong>en wäre; die Freiheit der Person steht aber<br />

nach dem Gr<strong>und</strong>gesetz unter besonderem Schutz! Damit ist andererseits ge-


26<br />

464 Kapitel 26 · Gerontopsychiatrische Stationen<br />

währleistet, dass die Psychiatrie nicht missbraucht wird, um schwierige Menschen<br />

loszuwerden – e<strong>in</strong> Umstand, der für das Selbstverständnis der Psychiatrie<br />

sehr wichtig ist. Zu oft ist die Psychiatrie <strong>in</strong>strumentalisiert worden, <strong>und</strong><br />

auch heute noch gibt es <strong>in</strong> der Bevölkerung Vorstellungen, die die Psychiatrie<br />

zu e<strong>in</strong>em absolut rechtlosen Raum erheben! Dem muss im Interesse der Patienten,<br />

aber auch der psychiatrisch Tätigen, durch die entsprechende Gesetzgebung<br />

<strong>und</strong> Überwachung vorgebeugt werden.<br />

26.7.4 Vollmacht<br />

Textvorschläge für sog. »Generalvollmachten « s<strong>in</strong>d erhältlich beim B<strong>und</strong>esjustizm<strong>in</strong>isterium,<br />

im Internet <strong>und</strong> bei jedem Notar, der dann auch für e<strong>in</strong>e<br />

überschaubare Gebühr e<strong>in</strong>e Beratung durchführt; Voraussetzung für e<strong>in</strong>e<br />

Vollmachtserteilung ist allerd<strong>in</strong>gs die Geschäft sfähigkeit.<br />

26.8 Wozu soll e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>weisung erfolgen?<br />

Wenn e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>weisung notwendig ist, sollten die Gründe (s. unten) <strong>und</strong> die<br />

Erwartungen mit dem Patienten <strong>und</strong> den Angehörigen sachlich besprochen<br />

werden. Falsch ist es, den Patienten von solchen Gesprächen auszuschließen:<br />

Er fühlt sich entwertet, nicht ernst genommen, h<strong>in</strong>tergangen. Gegebenenfalls<br />

kann nach e<strong>in</strong>em geme<strong>in</strong>samen erklärenden Gespräch noch e<strong>in</strong> kurzes Gespräch<br />

erfolgen, bei dem die Angehörigen die notwendigen Detail<strong>in</strong>formationen<br />

erhalten, aber auch dies sollte mit Wissen des Patienten geschehen. Das<br />

H<strong>in</strong>tergehen des Betroff enen führt oft dazu, dass er <strong>in</strong> misstrauischer Abwehrhaltung<br />

e<strong>in</strong>e Krankenhausbehandlung verweigert <strong>und</strong> paranoide Ängste<br />

gegen Angehörige <strong>und</strong> Behandler entwickelt.<br />

Typische E<strong>in</strong>weisungsgründe bei akuter Selbstgefährdung<br />

4 Unkontrollierter Umgang mit Gas/Herd, elektrischem Strom, gefährlichen<br />

Werkzeugen<br />

4 Anhaltende Unfähigkeit, Nahrung <strong>und</strong> Flüssigkeit aufzunehmen<br />

4 Desorientiertheit mit Gefahr des Verlaufens (besonders im W<strong>in</strong>ter),<br />

Gefahren im Straßenverkehr werden nicht mehr erkannt 7


26.8 · Wozu soll e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>weisung erfolgen?<br />

465<br />

Typische E<strong>in</strong>weisungsgründe bei akuter Fremdgefährdung<br />

4 Weglaufgefahr mit Unsicherheit im Straßenverkehr (bei e<strong>in</strong>er<br />

Betreuung oder auch beim Heimaufenthalt s<strong>in</strong>d auch Fürsorge- <strong>und</strong><br />

Haftungsfragen betroffen)<br />

4 Situationsverkennung mit »Aggressivität« <strong>und</strong> Abwehrhaltung gegen<br />

die Umwelt<br />

4 Achtlosigkeit mit Feuergefahr, z. B. mit Zigaretten oder Herdplatten<br />

(bei mehrmaligem Vorkommen)<br />

26<br />

Es darf daran er<strong>in</strong>nert werden, dass es nicht nur wohlme<strong>in</strong>ende Angehörige<br />

gibt <strong>und</strong> so manche »Wahnbildung« mit Vernichtungswahn , Bestehlungswahn<br />

etc. des Patienten durchaus realistische H<strong>in</strong>tergründe hat!<br />

Die Demenzproblematik ist bereits so verbreitet, dass ihr nur mit ernsthaft<br />

er <strong>und</strong> kompetenter Fürsorge begegnet werden kann. Dies bedeutet auch,<br />

dass <strong>in</strong> der Zukunft die enge <strong>und</strong> vertrauensvolle Zusammenarbeit aller an<br />

der Behandlung Beteiligten noch wichtiger wird als schon jetzt. Im Austausch<br />

von Hausarzt <strong>und</strong> Nervenarzt, <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>beziehung von Ergotherapie, psychiatrischer<br />

Fachpfl ege <strong>und</strong> Sozialbetreuung durch den sozialen Dienst der<br />

Krankenkassen, des Krankenhauses oder der Kommune liegt e<strong>in</strong>e wichtige<br />

Chance, um zukünft ig die psychotherapeutischen, soziotherapeutischen <strong>und</strong><br />

medikamentösen Behandlungsstrategien <strong>und</strong> Beratungs<strong>in</strong>terventionen noch<br />

besser abzustimmen. Damit können erwiesenermaßen das Leid der Patienten<br />

<strong>und</strong> die Not <strong>und</strong> Schuldgefühle der Angehörigen erheblich abgemildert werden.<br />

Aus der kl<strong>in</strong>ischen Erfahrung lässt sich feststellen, dass die mögliche Beruhigung<br />

e<strong>in</strong>er Akutsymptomatik, die Entängstigung e<strong>in</strong>es verzweifelten Dementen<br />

<strong>und</strong> die sachgerechte Beratung von Angehörigen von diesen oft so<br />

entlastend empf<strong>und</strong>en wird, dass sie nach der Behandlung e<strong>in</strong>e »Besserung«<br />

feststellen.<br />

Alle Patienten mit e<strong>in</strong>er schweren chronisch-progredienten Erkrankung<br />

haben das Recht auf e<strong>in</strong>e ausreichende Behandlung. Diese dürfen wir auch<br />

den dementen Patienten nicht vorenthalten, sondern müssen im Gegenteil bei<br />

dem großen <strong>und</strong> langfristigen Leid, das die Patienten <strong>und</strong> die Angehörigen zu<br />

ertragen haben, alles tun, um die Situation abzumildern.


26<br />

466 Kapitel 26 · Gerontopsychiatrische Stationen<br />

Wichtige Gr<strong>und</strong>sätze bei e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>weisung<br />

4 Patienten, Angehörige <strong>und</strong> Arzt erwarten von der E<strong>in</strong>weisung e<strong>in</strong>e<br />

Besserung; diese kann nur <strong>in</strong> enger Zusammenarbeit aller Beteiligten<br />

e<strong>in</strong>treten.<br />

4 E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>weisung zu Differenzialdiagnostik <strong>und</strong> mediz<strong>in</strong>ischem Behandlungsversuch<br />

sollte frühzeitig erfolgen.<br />

4 Telefonische Absprachen zwischen e<strong>in</strong>weisendem <strong>und</strong> aufnehmendem<br />

Arzt helfen, die Indikation zur stationären Aufnahme zu klären<br />

<strong>und</strong> Unklarheiten zu vermeiden.<br />

4 Die E<strong>in</strong>weisung e<strong>in</strong>es dementen Patienten sollte möglichst nicht als<br />

»Notfall« zu ungünstigen Zeiten erfolgen.<br />

4 Die E<strong>in</strong>weisung auf e<strong>in</strong>e geschützte (geschlossene) Station stellt e<strong>in</strong>e<br />

Freiheitsentziehung dar <strong>und</strong> muss rechtlich abgesichert se<strong>in</strong>.<br />

Rechtsgr<strong>und</strong>lage (Betreuung, UBG) rechtzeitig veranlassen!<br />

4 Diagnostischer <strong>und</strong> therapeutischer Nihilismus s<strong>in</strong>d nicht gerechtfertigt.<br />

Literatur<br />

Alzheimer Europe (<strong>Hrsg</strong>) (2005) Handbuch der Betreuung <strong>und</strong> Pfl ege von Alzheimer-Patienten.<br />

Thieme, Stuttgart<br />

Deutsche Gesellschaft für Gerontopsychiatrie <strong>und</strong> -psychotherapie, Stellungnahme (2008)<br />

Gerontopsychiatrischen Kl<strong>in</strong>ken fehlt das Personal. www.dggpp.de<br />

Wächtler C (<strong>Hrsg</strong>) (2003) <strong>Demenzen</strong>. Thieme, Stuttgart


467<br />

Alten- <strong>und</strong> Pfl egeheime<br />

Jens Bruder<br />

27.1 Bedeutung der E<strong>in</strong>weisung<br />

für den dementen Patienten<br />

<strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Angehörigen – 469<br />

27.2 Anlässe, Wege <strong>und</strong> Häufi gkeit<br />

der E<strong>in</strong>weisung – 470<br />

27.2.1 Anlässe – 470<br />

27.2.2 Wege <strong>und</strong> Häufi gkeiten – 471<br />

27.3 Auswahl e<strong>in</strong>es geeigneten Heims – 471<br />

27.4 Organisation des Übergangs – 478<br />

27.4.1 Juristische Betreuung<br />

<strong>und</strong> Pfl egebedürftigkeitsbegutachtung – 478<br />

27.4.2 Maßnahmen zum wechselseitigen Vertrautmachen – 478<br />

Literatur – 480<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_27,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

27


27<br />

468 Kapitel 27 · Alten- <strong>und</strong> Pflegeheime<br />

Zum Thema<br />

Die E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Pflege<strong>in</strong>stitution , zugleich der Beg<strong>in</strong>n der letzten Lebensphase,<br />

zählt für den Patienten mit Demenz <strong>und</strong> se<strong>in</strong>en – meist vorhandenen –<br />

pflegenden Angehörigen zu den größten seelischen Belastungen (Rothenhäusler<br />

u. Kurz 1997). Das hat mehrere wichtige Gründe: Die <strong>in</strong> der Regel vorangegangene<br />

erschöpfende Pflege war <strong>und</strong> ist oft durch sehr widerstreitende Gefühle<br />

gekennzeichnet. Dem Bedürfnis, möglichst allen Anforderungen der Versorgung<br />

bis zum Tod des Patienten gewachsen zu se<strong>in</strong>, stehen Wünsche nach se<strong>in</strong>em<br />

baldigen Tod oder der Beendigung der Pflege durch Heimversorgung gegenüber,<br />

<strong>in</strong> der Regel mit Schuldgefühlen verb<strong>und</strong>en. Wenn die Entscheidung zur<br />

Heime<strong>in</strong>weisung dann zustande gekommen ist, führt das neben der Entlastungsperspektive<br />

oft zu verstärkten Schuldgefühlen, denn auf der symbolischen Ebene<br />

bedeutet die Beendigung der Versorgung durch e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d oder den Ehepartner<br />

wohl immer auch den Verstoß gegen uralte Gebote der Hilfsbereitschaft <strong>in</strong> den<br />

engsten aller menschlichen Beziehungen. Die bereits getroffene Entscheidung<br />

erzw<strong>in</strong>gt jedoch die Kontrolle solcher Empf<strong>in</strong>dungen. Diese Anstrengung kommt<br />

zu denen der Heimplatzsuche <strong>und</strong> der Vorbereitung der Übersiedlung h<strong>in</strong>zu.<br />

Während des Erk<strong>und</strong>ens, das mit sehr unterschiedlichen Versorgungsqualitäten<br />

konfrontiert, können Zweifel an der Entscheidung wiederbelebt werden <strong>und</strong> zusätzlich<br />

belasten. Zudem ist e<strong>in</strong>zuräumen, dass kaum e<strong>in</strong>e Institution die Ver trautheit<br />

<strong>und</strong> das persönlich-biographische Wissen haben oder erwerben kann, das <strong>in</strong><br />

lebenslangen engen Beziehungen gewachsen ist.<br />

Für den Patienten selbst mit se<strong>in</strong>en reduzierten Anpassungs- <strong>und</strong> Kontroll möglichkeiten<br />

zählt der Übergang <strong>in</strong> das Heim subjektiv sicher zu den größten Belastungen<br />

überhaupt, wenn man von den sehr weit fortgeschrittenen Krankheitszuständen<br />

mit bereits massiv e<strong>in</strong>geschränkter Wahrnehmungsfähigkeit <strong>und</strong><br />

Emotionalität absieht. E<strong>in</strong>e Vielzahl neuer E<strong>in</strong>drücke muss verarbeitet werden,<br />

<strong>und</strong> unvermeidlich häufen sich zunächst die Erfahrungen, dabei zu scheitern,<br />

was zu Unsicherheit, Scham, Angst <strong>und</strong> Erregung führen kann. Zugleich ist allerd<strong>in</strong>gs<br />

zu sehen, dass von dem geme<strong>in</strong>schaftlichen Leben im Heim anregende<br />

<strong>und</strong> belebende (zugleich also auch von belastenden Affekten ablenkende)<br />

Impulse ausgehen können.


27.1 · Bedeutung der E<strong>in</strong>weisung<br />

27.1 Bedeutung der E<strong>in</strong>weisung<br />

für den dementen Patienten<br />

<strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Angehörigen<br />

469<br />

27<br />

Sehr schwerwiegend ist im Zusammenhang mit e<strong>in</strong>er Heime<strong>in</strong>weisung, dass<br />

fortgeschritten Kranke nur <strong>in</strong> sehr begrenztem Umfang <strong>in</strong> den Entscheidungsprozess<br />

<strong>und</strong> die Planungen e<strong>in</strong>bezogen werden können. Die Pfl egenden<br />

s<strong>in</strong>d überwiegend auf ihre Vermutungen darüber angewiesen, was der Patient<br />

empfi ndet. Es liegt im Wesen dieser Schwierigkeit, dass häufi g eher düstere<br />

Befürchtungen entstehen, der Patient leide, weil er sich argumentativ nicht<br />

mehr zu wehren vermag.<br />

Mit diesen schlaglichtartigen H<strong>in</strong>weisen auf die Bedeutung der Institutionalisierung<br />

soll die Notwendigkeit unterstrichen werden, diesen Prozess so<br />

gut wie irgend möglich vorzubereiten <strong>und</strong> ärztlich zu begleiten. Dabei ist zu<br />

bedenken, dass sich dieser Versorgungsbereich im lebhaft en Umbruch befi ndet:<br />

Das Gewicht von Selbsthilfe- <strong>und</strong> multiprofessionellen Beratungsorganisationen<br />

nimmt (erfreulicherweise) ständig zu. Es gibt mittlerweile mehr als<br />

120 regionale Alzheimer-Gesellschaft en <strong>und</strong> darüber die Deutsche Alzheimer<br />

Gesellschaft mit e<strong>in</strong>em breiten Schrift enangebot (7 Anhang A7). E<strong>in</strong>e wertvolle<br />

Ergänzung des Hilfesystems s<strong>in</strong>d auch die b<strong>und</strong>esweit entstehenden<br />

Pfl egestützpunkte mit Wegweiserfunktion. Es wird aber weiterh<strong>in</strong> Geduld<br />

<strong>und</strong> Anstrengungen erfordern, bis sich stabile Ergänzungsbeziehungen dieser<br />

neuen Angebote zum hausärztlichen System entwickelt haben.<br />

Besonders <strong>in</strong> den über 12.000 deutschen Alten- <strong>und</strong> Pfl egeheimen fi nden<br />

vielfältige Entwicklungen statt, wie sich etwa <strong>in</strong> den mehrmals im Jahr stattfi<br />

ndenden Arbeitstagungen der seit 1995 existierenden Deutschen Expertengruppe<br />

Dementenbetreuung (DED) zeigt.<br />

Von wachsender Bedeutung s<strong>in</strong>d überdies die <strong>in</strong> den letzten gut 10 Jahren<br />

entstandenen Wohn- bzw. Hausgeme<strong>in</strong>schaft en für Menschen mit Demenz<br />

(etwa 700), entweder als ambulante Form oder als stationärer Bereich (Reit<strong>in</strong>ger<br />

et al. 2010). Sie s<strong>in</strong>d familienähnliche kle<strong>in</strong>e (8–12 Plätze) Geme<strong>in</strong>schaft<br />

en für mobile Kranke mit großer Kont<strong>in</strong>uität <strong>und</strong> ständiger Präsenz der<br />

Mitarbeiter <strong>und</strong> dem Wohnzimmer als Mittelpunkt (Schritt von der »zimmerbezogenen<br />

zur wohnzimmerbezogenen Betreuung«).<br />

Diese Entwicklungen zu überschauen, kann Mühe bereiten. H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong><br />

ist die Tatsache, dass die Versorgung dementer Patienten, besonders der<br />

schwer <strong>und</strong> verhaltensgestörten, immer mehr zur Hauptaufgabe der statio-


27<br />

470 Kapitel 27 · Alten- <strong>und</strong> Pflegeheime<br />

nären Altenhilfe wird, weil auch hochentwickelte, technikgestützte Hilfesysteme<br />

im ambulanten Bereich versagen, wenn der Patient aufgr<strong>und</strong> se<strong>in</strong>er geistigen<br />

Schwäche nicht mehr selbst über ihre Inanspruchnahme entscheiden<br />

kann oder se<strong>in</strong>e Angehörigen durch Problemverhalten überfordert. Heute<br />

haben über 60% der Bewohner von Altenpfl egeheimen Störungen, die für e<strong>in</strong><br />

Demenzsyndrom sprechen (Bickel 1996). Das Niveau der Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

mit den Störungen variiert zwischen den E<strong>in</strong>richtungen noch stark<br />

(Hanns et al. 2011).<br />

27.2 Anlässe, Wege <strong>und</strong> Häufi gkeit der E<strong>in</strong>weisung<br />

27.2.1 Anlässe<br />

Die bereits erwähnte Überforderung der Pfl egenden lässt sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Reihe<br />

von E<strong>in</strong>zelaspekten aufschlüsseln : Zunahme von Verhaltensauff älligkeiten<br />

(Unruhe , Weglauft endenzen , Aggressivität , starke Antriebsschwäche , Klammern,<br />

Schreien, Kotschmieren, starke <strong>und</strong> überraschende Schwankungen der<br />

Symptome) <strong>und</strong> – <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>gerem Umfang – der kognitiven Defi zite (besonders<br />

schubartige Verschlechterungen bei erhaltener Mobilität).<br />

Überforderung entsteht aber auch dann, wenn ke<strong>in</strong>e Eff ekte der eigenen<br />

pfl egerischen Anstrengungen mehr erkannt werden können, bei <strong>in</strong>sgesamt<br />

negativ getönter Beziehung (Orrell u. Bebb<strong>in</strong>gton 1995) oder bei anhaltender<br />

körperlicher Schwächung der Pfl egenden. Neben den sozialen Gründen<br />

(Verlust oder Wechsel der Betreuungsperson, neue Belastungen <strong>in</strong> anderen<br />

Lebensbereichen, Verlust der Unterstützung der Pfl egeperson durch weitere<br />

Angehörige, nachlassende Verb<strong>in</strong>dlichkeit von Normen, Überforderung<br />

nachbarschaft licher Hilfe) gibt es psychologische (Aufl ösung der ambivalenten<br />

E<strong>in</strong>stellung zur E<strong>in</strong>weisung durch ihre Befürwortung bei somatischen<br />

Krankenhausbehandlungen oder akuten Verwirrtheitszuständen , Verletztheit<br />

durch demenzbed<strong>in</strong>gt kränkendes Verhalten) oder strukturelle (überzeugende<br />

neue Versorgungse<strong>in</strong>richtung, Wahrnehmung von – neuen – Selbsthilfe-<br />

oder Beratungsangeboten).


27.3 · Auswahl e<strong>in</strong>es geeigneten Heims<br />

27.2.2 Wege <strong>und</strong> Häufi gkeiten<br />

471<br />

27<br />

Bei querschnittlicher Betrachtung werden immer noch etwa 75% aller Patienten<br />

mit Demenz <strong>in</strong> Deutschland familiär versorgt. Im Längsschnitt zeigt sich<br />

jedoch, dass e<strong>in</strong> wachsender Anteil – gegenwärtig über 60% – im späteren<br />

Verlauf des Leidens doch stationär weiterversorgt wird (Bickel 1996). Der Anteil<br />

der aus der Häuslichkeit Aufgenommenen nimmt zu, aber oft über die<br />

Zwischenstation der somatischen Krankenhausbehandlung. Der früher häufi<br />

ge, oft als Wartezeit auf e<strong>in</strong>en Pfl egeheimplatz sehr ausgedehnte Aufenthalt<br />

<strong>in</strong> psychiatrischen Bezirks- <strong>und</strong> Landeskrankenhäusern ist seltener geworden;<br />

auch deshalb, weil die notwendige bildgebende Diagnostik heute ambulant<br />

erfolgen kann.<br />

27.3 Auswahl e<strong>in</strong>es geeigneten Heims<br />

Anders als vor etwa 10 Jahren s<strong>in</strong>d Angehörige auf der Suche nach e<strong>in</strong>em<br />

Heim heute nicht mehr gezwungen, jeden e<strong>in</strong>zigen frei werdenden Platz anzunehmen,<br />

der sich bietet . Die E<strong>in</strong>führung der Krankenkassenleistungspfl icht<br />

für ambulante Krankenpfl ege 1988 <strong>und</strong> – noch stärker – die 1994 e<strong>in</strong>geführte<br />

Pfl egeversicherung haben zum Ausbau der ambulanten Versorgung geführt<br />

<strong>und</strong> damit den stationären Bereich entlastet . H<strong>in</strong>zu kam die Förderung von<br />

Wettbewerb (Abschaff ung des Kostendeckungspr<strong>in</strong>zips durch das neue Gesetz).<br />

Heute gibt es ke<strong>in</strong>e stationäre Altenpfl egee<strong>in</strong>richtung mehr, die sich<br />

noch unübersehbar langer Warteschlangen rühmen kann. Es müssen durchweg<br />

Anstrengungen unternommen werden, um e<strong>in</strong>e gute Auslastung zu erreichen.<br />

Dieser Umstand, die wachsende Zahl der Patienten mit Demenz <strong>und</strong><br />

das deutlich wachere Bewusstse<strong>in</strong> für das Problem auch im politischen Raum<br />

haben immer mehr zur Suche nach verbesserten Formen des Umgangs mit<br />

den Krankheitssymptomen geführt. Aber der Weg ist lang, <strong>und</strong> es gibt derzeit<br />

etwa 12.000 stationäre Altenpfl egee<strong>in</strong>richtungen <strong>in</strong> Deutschland (Statistisches<br />

B<strong>und</strong>esamt 2011). Weniger als im Krankenhausbereich kann man davon ausgehen,<br />

dass bestimmte elementare Qualitätsanforderungen überall erfüllt<br />

werden. Das betrifft besonders den (unbeobachteten) unmittelbaren Kontakt<br />

mit den Kranken, den zu beurteilen für Ärzte schwierig se<strong>in</strong> kann. Es geht<br />

sehr elementar um Vertrauen.


27<br />

472 Kapitel 27 · Alten- <strong>und</strong> Pflegeheime<br />

Voraussetzung für die Beratung suchender Angehöriger durch den Arzt<br />

s<strong>in</strong>d möglichst gute Kenntnisse der E<strong>in</strong>richtungen im E<strong>in</strong>zugsgebiet se<strong>in</strong>er<br />

<strong>Praxis</strong> (s. unten). Das erfordert Aufgeschlossenheit <strong>und</strong> konstruktive Neugier<br />

bei bereits stattfi ndenden Patientenbesuchen im Heim <strong>und</strong> im Umgang mit<br />

den Mitarbeitern. Beides sollte sich aus geriatrisch-gerontopsychiatrischem<br />

<strong>und</strong> möglichst auch pfl egerischem Wissen <strong>und</strong> Interesse speisen. Man kann<br />

als Arzt von (guten) Altenpfl egekräft en sehr viel lernen.<br />

> Wichtig ist, die Angehörigen aktiv werden zu lassen. Indem sie<br />

E<strong>in</strong> richtungen aufsuchen <strong>und</strong> erk<strong>und</strong>en, sich für E<strong>in</strong>zelheiten <strong>in</strong>teressieren,<br />

Vergleiche anstellen <strong>und</strong> dabei möglicherweise immer<br />

sachverständiger werden, kann <strong>in</strong> ihnen das Gefühl von Kompetenz<br />

<strong>und</strong> Verantwortlichkeit für die E<strong>in</strong>weisung <strong>und</strong> damit auch für deren<br />

Berechtigung wachsen. Das erleichtert die spätere Organisation des<br />

Übergangs selbst <strong>und</strong> die Zeit danach. Selbstverständlich hängt<br />

dieser Prozess wesentlich von den Qualitätse<strong>in</strong>drücken ab, die bei den<br />

Besichtigungen entstehen, <strong>und</strong> natürlich kann es <strong>in</strong> dünn besiedelten<br />

Regionen überhaupt ke<strong>in</strong>e Auswahl geben, sodass Gefühle von<br />

Abhängigkeit <strong>und</strong> Ohnmacht entstehen.<br />

Insgesamt stehen die Such- <strong>und</strong> Orientierungsphase mit dem sich dabei ergebenden<br />

Beratungs- <strong>und</strong> emotionalen Unterstützungsbedarf durch den Hausarzt<br />

im Zentrum des E<strong>in</strong>weisungsprozesses. Mit se<strong>in</strong>er immanenten Endgültigkeit<br />

bedeutet er ja viel mehr, als das stark mit dem Krankenhaus assoziierte<br />

Wort »E<strong>in</strong>weisung« zunächst nahe legt. Vieles spricht für positive Eff ekte e<strong>in</strong>er<br />

längeren <strong>und</strong> gründlicheren Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der Heimauswahl.<br />

Sie darf allerd<strong>in</strong>gs nicht zum zirkulären E<strong>in</strong>gefangense<strong>in</strong> <strong>in</strong> Zweifel werden.<br />

Unter Umständen müssen sehr detaillierte Besichtigungspläne vere<strong>in</strong>bart<br />

werden. Die erwähnten professionellen Beratungsstellen für pfl egende Angehörige<br />

<strong>und</strong> Pfl egestützpunkte sowie die Unterstützungsangebote der regionalen<br />

Alzheimer-Gesellschaft en können durch Information <strong>und</strong> emotionale<br />

Entlastung wertvolle Hilfe leisten <strong>und</strong> Entlastung des Arztes bedeuten. Hilfreich<br />

ist auch das Serviceportal Wegweiser Demenz (B<strong>und</strong>esm<strong>in</strong>isterium für<br />

Familie, Senioren, Frauen <strong>und</strong> Jugend 2010). E<strong>in</strong>e ausführliche Zusammenstellung<br />

aller Fragen der Heimplatzauswahl fi ndet sich bei Pantlen (1999), jedoch<br />

ohne besonderen Bezug auf Patienten mit Demenz.


27.3 · Auswahl e<strong>in</strong>es geeigneten Heims<br />

473<br />

27<br />

Als Gr<strong>und</strong>lage für die Beratungstätigkeit des Arztes werden im Folgenden<br />

die wichtigsten Qualitätsmerkmale gerafft dargestellt (e<strong>in</strong>e ausführliche Darstellung<br />

vieler Aspekte fi ndet sich bei Wojnar 2007) :<br />

Vergleichsweise harte, d. h. gut überprüfbare Qualitätsmerkmale<br />

(bzw. günstige Bed<strong>in</strong>gungen) von stationären Altenhilfee<strong>in</strong>richtungen<br />

4 Allgeme<strong>in</strong>e Daten: Platzzahl nicht über 100–125 (mehr Plätze machen<br />

die Kenntnis aller Bewohner/Mitarbeiter <strong>und</strong> damit auch die Entwicklung<br />

e<strong>in</strong>heitlicher Sicht- <strong>und</strong> Umgangsweisen unmöglich; außerdem<br />

erhöhen sie das Risiko unüberschaubarer Inseln), Breite des E<strong>in</strong>zugsgebiets<br />

(als Zeichen guten Rufes), Vorhandense<strong>in</strong> von Tagespflege /<br />

Kurzzeitpflege /ambulantem Pflegedienst , Offenheit nach außen<br />

(Mahlzeiten, Aktivitäten), Möglichkeit des Probewohnens, Gästezimmer,<br />

Durchschnittsalter bei Aufnahme, durchschnittliche Verweildauer,<br />

Pflegestufenverteilung, Verbandszugehörigkeit mit Qua litätsselbstverpflichtung,<br />

Vorhandense<strong>in</strong> <strong>und</strong> Aktivität von Heimbeirat <strong>und</strong><br />

Angehörigenbeirat<br />

4 Sonderbereiche für schwer <strong>und</strong> verhaltensgestörte Patienten mit<br />

Demenz (15–30 Plätze): Erforderliche Gesamtgröße der E<strong>in</strong>richtung<br />

zwischen 50–125 Betten (kle<strong>in</strong>ere Heime können dies nur kooperativ<br />

leisten, bisher selten), E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> S<strong>in</strong>n von Sonderbereichen für diese<br />

Zielgruppe ist deutlicher H<strong>in</strong>weis auf Verständnis der Problematik (bei<br />

<strong>in</strong>tegrierter Betreuung kommt es zu aggressiven Handlungen, überwiegend<br />

an den schwer Dementen)<br />

4 Wohngeme<strong>in</strong>schaftsartige Bereiche (7 27.1) für mobile Kranke mit<br />

großer Kont<strong>in</strong>uität <strong>und</strong> ständiger Präsenz der Mitarbeiter <strong>und</strong> dem<br />

Wohnzimmer als Mittelpunkt<br />

4 Bauliche Ausstattung <strong>und</strong> E<strong>in</strong>richtung: E<strong>in</strong>bettzimmer als Standard<br />

mit e<strong>in</strong>igen Zweibettzimmern (Geme<strong>in</strong>schaft auch nachts für manche<br />

Patienten mit Demenz günstig) , ausreichende Helligkeit <strong>und</strong> Beleuchtung<br />

(500 Lux <strong>in</strong> Augenhöhe, mittlere Schattigkeit: zu schwache Kontraste<br />

erschweren Formwahrnehmung <strong>und</strong> Erkennen, zu starke können<br />

erschrecken <strong>und</strong> Angst auslösen), Wegeflächen zum Ausleben von<br />

Bewegungsdrang (Sich-fortbewegen-Können gehört zu den wenigen<br />

6


27<br />

474 Kapitel 27 · Alten- <strong>und</strong> Pflegeheime<br />

verbliebenen, elementaren Befriedigungen), zentrale Lage von Sitzecken<br />

<strong>und</strong> Räumen für Geme<strong>in</strong>schaft <strong>und</strong> Aktivitäten (zur Anregung<br />

möglichst gut e<strong>in</strong>sehbar), Veranda/Garten, Vermeidung von bedrängender<br />

Enge ebenso wie von toten oder dunklen Ecken (Heraus forderung<br />

zum Ur<strong>in</strong>ieren), Heraushebung von für die Patienten bedeutsamen<br />

Türen, Nivellierung der Unterschiede zur Umgebung von Türen,<br />

die nicht benutzt werden sollen (Demenz macht die Akzeptanz von<br />

Grenzen immer schwerer, auch die von persönlicher Zurückweisung),<br />

Vermeidung von Treppen <strong>und</strong> höhenversetzten Fluren (Sturzgefahr ),<br />

Vermeidung von Spiegeln (Zuordnung gespiegelter Bilder nicht mehr<br />

möglich), Vorhandense<strong>in</strong> von Rollstühlen (Mobilitätserlebnis), Raumtemperaturen<br />

21–23°C, Vermeidung völliger nächtlicher Stille (die<br />

ängst liche Unruhe erzeugen kann), zentrale Musikanlage, Sicherstellung<br />

neutraler oder sogar angenehmer, verwöhnender Gerüche<br />

(die Demenz ermöglicht nur noch wenige lustvolle Erfahrungen), (zum<br />

Tr<strong>in</strong>ken anregende) Verfügbarkeit von Getränken, <strong>in</strong>sgesamt Gestaltung<br />

e<strong>in</strong>er beruhigenden, farblich gut abgestimmten, warm wirkenden<br />

Umgebung mit häuslichem Charakter (»Wohnzimmer«) <strong>und</strong> ohne<br />

zu viele unterschiedliche <strong>und</strong> damit anstrengende Elemente (Pr<strong>in</strong>zip<br />

der sich selbst erklärenden Umgebung ohne bedeutsame Entscheidungszwänge)<br />

4 Organisatorische Merkmale der Betreuung: Def<strong>in</strong>ierte, möglichst<br />

standardisiert beschriebene Zielgruppe (etwa mit dem Cohen-<br />

Mansfield Agitation Inventory , Cohen-Mansfield 1986), Stellenschlüssel<br />

besser als 1:1,8, ausreichende Zahl von Mitarbeitern pro Schicht,<br />

Führung der Station als offen (bei guter Betreuung ist nur für kle<strong>in</strong>e<br />

Zahl von Patienten geschlossene Unterbr<strong>in</strong>gung erforderlich) , möglichst<br />

ger<strong>in</strong>ge Zahl verschiedener Betreuungspersonen, d. h. Orientierung<br />

am Gruppenpflegepr<strong>in</strong>zip (oft schwer realisierbar), permanent<br />

aktivierende Gr<strong>und</strong>haltung (aus kle<strong>in</strong>en Handlungsimpulsen der<br />

Patienten möglichst lang dauernde Handlungsketten machen), persönliche<br />

Gepflegtheit der Patienten (Haare, Rasur, Nägel, Kleidung,<br />

Gerüche) <strong>und</strong> Mitarbeiter, räumliche Gepflegtheit (ke<strong>in</strong> Fäkaliengeruch,<br />

ke<strong>in</strong> Geruch nach »alten Leuten«, ke<strong>in</strong>e Tesafilm-Unkultur, ke<strong>in</strong><br />

abgegriffenes Bilder- oder Lesematerial, gepflegte Pflanzen, saubere<br />

7


27.3 · Auswahl e<strong>in</strong>es geeigneten Heims<br />

475<br />

27<br />

Tischdecken), Essenskultur (möglichst mit Selbstbedienung: »aus<br />

dampfenden Schüsseln«) – e<strong>in</strong>e sorgfältige <strong>und</strong> gepflegte Umgebung<br />

kann auch bei Demenz wohl tun – E<strong>in</strong>haltung e<strong>in</strong>er festen, aber im<br />

E<strong>in</strong>zelfall elastisch gehandhabten Tagesstruktur (als Orientierungshilfe),<br />

Tagesstrukturierung durch Aktivitätsangebote (Musik, Tanz,<br />

Malen, Gymnastik, Spiele, Haushaltsaktivitäten wie Bügeln – auch nur<br />

von Stoffresten –, Nähen, Stopfen, Stricken; auch sche<strong>in</strong>bar s<strong>in</strong>nlose,<br />

der Zeit des Patienten aber Gestalt gebende Handlungen können<br />

wertvoll se<strong>in</strong>; sie s<strong>in</strong>d u. U. Ergebnis von phantasievollem, geduldigem<br />

Ausprobieren der Betreuer <strong>und</strong> damit zugleich auch wichtiges Qualitäts<br />

merkmal), Vielfalt der im Aktivierungsbereich tätigen Berufsgruppen<br />

(Ausdruck von Offenheit <strong>und</strong> Phantasie), überwiegend durchgängiges<br />

Zusammense<strong>in</strong> der Betreuer mit den Patienten als Gr<strong>und</strong>lage<br />

vieler hier benannter Merkmale, E<strong>in</strong>beziehung von Angehörigen <strong>und</strong><br />

ehrenamtlich Engagierten, Warnsystem für Weglaufgefährdete , offener,<br />

nicht vertuschender Umgang mit freiheitsbeschränkenden bzw.<br />

unterbr<strong>in</strong>gungsähnlichen Maßnahmen, guter Kontakt mit juristischen<br />

Betreuern, Vorm<strong>und</strong>schaftsrichtern <strong>und</strong> MDK-Mitarbeitern, Qualität<br />

der Dokumentation, Pflegeplanung, Beteiligung an Qualitätsentwicklungsprogrammen<br />

4 Ärztliche Versorgung: Obwohl der stationäre Altenhilfebereich formal<br />

<strong>in</strong> die Zuständigkeit der Vertragsärzte fällt, gilt der folgende Gr<strong>und</strong>satz<br />

aus dem Krankenhaus auch hier : Je multimorbider, stärker psychisch<br />

krank <strong>und</strong> <strong>in</strong>tensiver behandlungsbedürftig die Patienten e<strong>in</strong>er Station<br />

s<strong>in</strong>d, desto unverzichtbarer s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>heitliche therapeutische Vorgehens<br />

weisen, mit denen alle Mitarbeiter vertraut s<strong>in</strong>d. Insbesondere<br />

Spezialstationen für verhaltensauffällige Patienten mit Demenz werden<br />

deshalb am besten von nur e<strong>in</strong>em oder zwei Ärzten versorgt, die<br />

so wie im Krankenhaus für alle Patienten zuständig s<strong>in</strong>d (Bruder u.<br />

Wojnar 1998). Sie sollten geriatrisch <strong>und</strong> gerontopsychiatrisch aufgeschlossen<br />

oder sogar qualifiziert se<strong>in</strong> (die zweijährige Weiterbildung<br />

»Kl<strong>in</strong>ische Geriatrie« kann <strong>in</strong>zwischen <strong>in</strong> allen deutschen Ärztekam merbereichen<br />

erworben werden)<br />

4 Gute Pflegeheime versuchen, e<strong>in</strong>en Nervenarzt mithilfe besonderer<br />

Vere<strong>in</strong>barungen enger <strong>in</strong> die Versorgung ihrer Bewohner e<strong>in</strong>zub<strong>in</strong>den<br />

6


27<br />

476 Kapitel 27 · Alten- <strong>und</strong> Pflegeheime<br />

(feste Zeitkont<strong>in</strong>gente, auch für Fallbesprechungen); mancherorts<br />

existieren auch Absprachen mit Ambulanzen von psychiatrischen<br />

Bezirks- <strong>und</strong> Landeskrankenhäusern; e<strong>in</strong>e größere Zahl von Ärzten<br />

derselben Fachdiszipl<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Heim durchschnittlicher Größe<br />

spricht tendenziell gegen dessen Qualität<br />

4 E<strong>in</strong>stellungen <strong>und</strong> Haltungen, Wissen (soweit als sog. harte Merkmale<br />

erfahrbar): Anteil voll ausgebildeter Pflegekräfte 50% <strong>und</strong> mehr ,<br />

Teilnahme an Fort- <strong>und</strong> Weiterbildungen, haus<strong>in</strong>terne Angebote,<br />

Mitarbeiter mit gerontopsychiatrischer Zusatzqualifikation, Sonderqualifikationen,<br />

die <strong>in</strong> Berufsfeldern <strong>und</strong> Lebenszusammenhängen<br />

jenseits der Ges<strong>und</strong>heitsberufe erworben wurden (die Fähigkeit zur<br />

guten Betreuung dementer Patienten speist sich <strong>in</strong> erheblichem<br />

Umfang aus der Persönlichkeit), Möglichkeit von Fallbesprechungen<br />

mit externer Fachkraft, E<strong>in</strong>satz von standardisierten Erhebungs<strong>in</strong>strumenten<br />

zur Quantifizierung der Defizite, Kenntnisse von Biographie,<br />

Primärpersönlichkeit <strong>und</strong> bisheriger Lebenssituation der Patienten<br />

4 Wichtig s<strong>in</strong>d systematische Überlegungen, möglichst auch schriftlich<br />

niedergelegte Konzepte über den Umgang mit dementen Patienten,<br />

etwa orientiert an den Gr<strong>und</strong>zügen der Milieutherapie (Kl<strong>in</strong>genfeld u.<br />

Bruder 1997) oder der Selbsterhaltungstherapie (SET, Romero u. Eder<br />

1992)<br />

Vergleichsweise weiche, schwer überprüfbare Qualitätsmerkmale<br />

e<strong>in</strong>er stationären Altenhilfee<strong>in</strong>richtung<br />

4 Umgang mit den dementen Patienten<br />

4 Sprachlicher Umgang : Verständlichkeit (ausreichende Lautstärke,<br />

ruhige Stimmlage, konkrete Begriffe, kurze Sätze, Vermeidung von<br />

zu gedrängter Information), Innehalten zur Überprüfung des<br />

Verständnisses, Gr<strong>und</strong>bemühung um Austausch, Bereitschaft zum<br />

Wiederholen bzw. zur Vergessensvorbeugung, Aufgreifen von<br />

sprachgestörten Äußerungen <strong>und</strong> Hilfen zum Ausdruck des<br />

Geme<strong>in</strong>ten<br />

7


27.3 · Auswahl e<strong>in</strong>es geeigneten Heims<br />

477<br />

27<br />

4 Nichtsprachliche Aspekte des Umgangs mit den dementen Patienten:<br />

Erreichen der Patienten auf möglichst vielen sensorischen<br />

Ebenen gleichzeitig (bei Ansprache auch Berührung <strong>und</strong> Blickfixierung,<br />

also zugleich Schutz vor Ablenkung), Ermöglichung angenehmer<br />

S<strong>in</strong>neserfahrungen, Ernstnehmen der subjektiven Bedeutungen<br />

<strong>und</strong> der damit verknüpften Empf<strong>in</strong>dungen (z. B. Angst aus<br />

Missverständnissen), Bedacht im körperlichen Umgang (langsames<br />

Berühren <strong>und</strong> allmähliche Kraft- bzw. Druckverstärkung, wenn<br />

pflegerische Handlungen dies erfordern), Beachtung der Symbolik<br />

von Alltagshandlungen (z. B. ke<strong>in</strong>e frontale Annäherung mehrerer<br />

Pflegepersonen bei bekanntermaßen aggressionsbereiten Patienten,<br />

sondern zeitversetzt <strong>und</strong> von der Seite; Gespräch auf gleicher<br />

Kopfhöhe, also nicht von oben nach unten), Gr<strong>und</strong>haltung der<br />

Suche nach (erfüllbaren) Bedürfnissen der Patienten, Bereitschaft<br />

zum geme<strong>in</strong>samen Lachen, Strategien zur Überw<strong>in</strong>dung von<br />

Widerstand gegen E<strong>in</strong>beziehung <strong>in</strong> vom Patienten früher bereits<br />

als wohltuend erfahrene Aktivitäten (etwa durch Ablenkung,<br />

Umstimmung, fre<strong>und</strong>liche Überrumpelung), Wahrung der Intimsphäre,<br />

Beachtung des »Sie« mit Bereitschaft zum – manchmal<br />

sehr erwünschten – vertrauensvollen »Du«, Gestaltung e<strong>in</strong>er lebendigen,<br />

warmen <strong>und</strong> fürsorglichen Atmosphäre<br />

Qualität des Umgangs der Heimmitarbeiter mit Angehörigen,<br />

die sich <strong>in</strong>formieren<br />

4 Aus den Berichten platzsuchender Angehöriger ergeben sich auch für<br />

den Arzt viele Qualitätsh<strong>in</strong>weise . Dazu zählen Ansprechbarkeit der<br />

Leitungskräfte <strong>und</strong> (spontan) von nachgeordneten Pflegekräften,<br />

Umfang der Information über die vielfältigen Aspekte der Arbeit (u. a.<br />

Pflegekonzepte, Beschwerdemanagement, Kontakte zu Vorm<strong>und</strong>schaftsrichtern,<br />

Heimaufsicht), Differenziertheit des Verständnisses<br />

von Demenz (z. B. als allmählicher Verlust der Kontrolle nicht nur nach<br />

außen (Aufgabenbewältigung), sondern auch nach <strong>in</strong>nen (Gefühlskontrolle);<br />

Bedeutung der lange erhalten bleibenden emotionalen<br />

Wahrnehmungsfähigkeit, Zugang zu allen Geme<strong>in</strong>schaftsräumen,<br />

unbegleiteter Aufenthalt (des Platzsuchenden) auf der Station e<strong>in</strong>schließlich<br />

Möglichkeit des Gesprächs mit Bewohnern, stilles Beobach-<br />

6


27<br />

478 Kapitel 27 · Alten- <strong>und</strong> Pflegeheime<br />

ten des Geschehens im Tagesraum <strong>und</strong> von Gruppenaktivitäten oder<br />

Mahlzeiten, Angebot e<strong>in</strong>es abschließenden Gesprächs zur Nachlese<br />

<strong>und</strong> Klärung von Fragen (auch mit dem Angehörigenbeirat). Sehr viel<br />

drückt sich schließlich dar<strong>in</strong> aus, wie die Vertreter des Heims e<strong>in</strong>en<br />

E<strong>in</strong>druck von dem Patienten zu gew<strong>in</strong>nen versuchen, um dessen<br />

E<strong>in</strong>weisung es geht.<br />

27.4 Organisation des Übergangs<br />

27.4.1 Juristische Betreuung<br />

<strong>und</strong> Pfl egebedürftigkeitsbegutachtung<br />

Bei allen schwerer an Demenz erkranken Patienten, die nicht mehr e<strong>in</strong>willigungsfähig<br />

s<strong>in</strong>d, muss e<strong>in</strong>e Betreuung vorhanden se<strong>in</strong> oder e<strong>in</strong>gerichtet werden.<br />

E<strong>in</strong>e Vorsorgevollmacht mit Bekräft igung <strong>in</strong> den letzten 2 Jahren vor<br />

Verlust der E<strong>in</strong>willigungsfähigkeit kann sie erübrigen. Dies ist nicht nur wegen<br />

der Aufenthaltsbestimmung , sondern auch im H<strong>in</strong>blick auf mediz<strong>in</strong>ische<br />

Maßnahmen erforderlich.<br />

Falls noch nicht erfolgt, sollten die Anerkennung e<strong>in</strong>er Pfl egestufe durch<br />

MDK-Begutachtung oder – bei Zustandsverschlechterung – e<strong>in</strong>e Höherstufung<br />

beantragt werden.<br />

27.4.2 Maßnahmen zum wechselseitigen Vertrautmachen<br />

Für den Patienten<br />

Soweit nicht zu belastend <strong>und</strong> nicht abgewehrt, sollten die Patienten schon <strong>in</strong><br />

die Besuche der <strong>in</strong> Frage kommenden Heime e<strong>in</strong>bezogen werden . Dabei ergeben<br />

sich Anhaltspunkte für die Chancen guten E<strong>in</strong>lebens <strong>in</strong> die neue Umgebung,<br />

<strong>und</strong> zugleich kann aus dem Umgang der Mitarbeiter mit den Patienten<br />

auf die Betreuungsqualität geschlossen werden. Mehrere solcher Aufenthalte<br />

s<strong>in</strong>d s<strong>in</strong>nvoll, weil damit e<strong>in</strong> erstes Bekannt- oder sogar Vertrautwerden e<strong>in</strong>geleitet<br />

werden kann, das dem Patienten gut tut <strong>und</strong> mögliche Ängste reduziert,<br />

aber auch Zweifel der Angehörigen auszuräumen vermag. Sie können


27.4 · Organisation des Übergangs<br />

479<br />

27<br />

dann die weitere Vorbereitung mit größerer <strong>in</strong>nerer Sicherheit <strong>und</strong> daraus<br />

eventuell abgeleiteter fürsorglicher Bestimmtheit leisten. Zunehmend häufi g<br />

werden heute auch längere E<strong>in</strong>gewöhnungsphasen vere<strong>in</strong>bart, etwa e<strong>in</strong>e 3–<br />

6 Monate dauernde, <strong>in</strong> der Frequenz allmählich gesteigerte Teilnahme an bestimmten<br />

Gruppenaktivitäten im Heim . Dabei kann dann u. U. auch ihr<br />

gr<strong>und</strong>legender Vorteil zum Tragen kommen, nämlich das <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>schaft<br />

an sich, also ohne äußere Bee<strong>in</strong>fl ussung gegebene größere Lebendigkeitspotenzial.<br />

Gelegentlich entdecken Angehörige dabei sogar neue Fähigkeiten<br />

an ihren Kranken. Manchmal lassen sich mit den Kostenträgern (als<br />

komb<strong>in</strong>iert ambulant-stationäre Leistung) sogar weiter gehende Regelungen<br />

vere<strong>in</strong>baren: mehrtägige Aufenthalte pro Woche über e<strong>in</strong>e Reihe von Monaten,<br />

ohne dass sie zwangsläufi g zur endgültigen Aufnahme führen müssen<br />

– e<strong>in</strong> Test für alle Seiten. Damit wird die nicht selten bedrückende Endgültigkeit<br />

der Entscheidung tendenziell aufgehoben. Gr<strong>und</strong>sätzlich ist festzuhalten,<br />

dass es noch organisatorische Spielräume für elastischer gestaltete,<br />

sanft ere Übergänge <strong>in</strong>s Heim gibt.<br />

Für das Heim<br />

Im Rahmen der oben beschriebenen Besuche oder sogar Aufenthalte können<br />

die Angehörigen bereits viel an Informationen über ihre Patienten vermitteln<br />

<strong>und</strong> das Heim viel Wertvolles für die eventuelle Betreuung erfragen (s. unten).<br />

Wenn es dann zur Aufnahmeentscheidung gekommen ist, sollten die verantwortlichen<br />

Heimmitarbeiter mithilfe der Angehörigen e<strong>in</strong> möglichst diff erenziertes<br />

Bild vom Patienten gew<strong>in</strong>nen (Lebensweg, Primärpersönlichkeit, Defi<br />

zite, Stärken <strong>und</strong> erhaltene Potenziale). Dieser Prozess birgt große Chancen<br />

für das künft ige Wohlbefi nden des Patienten im Heim <strong>und</strong> bedeutet deshalb<br />

e<strong>in</strong>e erhebliche Verantwortung. Zugleich müssen die für gute Pfl ege erforderlichen<br />

ärztlichen Daten <strong>und</strong> Anweisungen rechtzeitig zur Verfügung gestellt<br />

werden bzw. erfolgen.<br />

Heute wird es immer üblicher, dass vor der Aufnahme e<strong>in</strong>es neuen Bewohners<br />

von verantwortlichen Heimmitarbeitern Hausbesuche gemacht werden.<br />

Aus ihrer Umgebung lässt sich sehr viel über die Patienten <strong>und</strong> ihr Wesen,<br />

aber auch über ihre Störungen <strong>und</strong> deren Niederschlag erfahren. Das<br />

wissen die Hausärzte am besten. Ihre Vertrautheit mit den Patienten entstand<br />

zum großen Teil <strong>in</strong> deren Häuslichkeit, <strong>und</strong> sie kann sich <strong>in</strong> dieser Phase besonders<br />

segensreich auf die Begleitung <strong>und</strong> Unterstützung der Patienten <strong>und</strong><br />

ihrer Angehörigen auswirken.


27<br />

480 Kapitel 27 · Alten- <strong>und</strong> Pflegeheime<br />

Literatur<br />

Bickel H (1996) Pfl egebedürftigkeit im Alter. Ergebnisse e<strong>in</strong>er populationsbezogenen retrospektiven<br />

Längsschnittstudie. Ges<strong>und</strong>heitswesen 58, Sonderheft 1: 56–62<br />

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Pantlen A (1999) Ratgeber zur Auswahl e<strong>in</strong>es Heimplatzes für ältere Menschen <strong>und</strong> ihre Angehörigen.<br />

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285–290<br />

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auf deren Ehepartner. Z Gerontopsychol Gerontopsychiatrie 10(1):<br />

55–59<br />

Wojnar J (2007) Die Welt der Demenzkranken – Leben im Augenblick. V<strong>in</strong>centz Network,<br />

Hannover


Zur Psychotherapie<br />

Rolf-Dieter Hirsch<br />

481<br />

28.1 Ist e<strong>in</strong>e Psychotherapie s<strong>in</strong>nvoll? – 482<br />

28.2 Wer ist zur Psychotherapie geeignet? – 483<br />

28.3 Welche Ziele sollen durch die Psychotherapie<br />

erreicht werden? – 484<br />

28.4 Wo kann die Psychotherapie durchgeführt<br />

werden? – 486<br />

28.5 Welche psychotherapeutischen Möglichkeiten<br />

gibt es? – 487<br />

28.5.1 Entspannungstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g – 489<br />

28.5.2 Tiefenpsychologisch orientierte Verfahren – 490<br />

28.5.3 Kognitiv-behavioristische Verfahren – 492<br />

28.6 Möglichkeiten der Psychotherapie<br />

für Angehörige – 498<br />

28.7 Ausblick – 500<br />

Literatur – 501<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_28,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

28


28<br />

482 Kapitel 28 · Zur Psychotherapie<br />

Zum Thema<br />

Durch e<strong>in</strong>e Psychotherapie sollen psychische Störungen des Erlebens <strong>und</strong> Verhaltens<br />

e<strong>in</strong>es Menschen mit psychologischen Mitteln verr<strong>in</strong>gert, gelockert oder<br />

aufgelöst werden. Bei alten Menschen ist gezielt auf die Verbesserung der<br />

Lebens qualität zu achten. Gibt es auch ke<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>gültige Def<strong>in</strong>ition, so s<strong>in</strong>d<br />

folgende (M<strong>in</strong>dest-)Kriterien (<strong>in</strong> Anlehnung an Strotzka 1978) zu berücksichtigen,<br />

um von e<strong>in</strong>er Psychotherapie zu sprechen:<br />

4 Bewusster <strong>und</strong> geplanter <strong>in</strong>teraktioneller Therapieprozess zur Bee<strong>in</strong>flussung<br />

von Verhaltensstörungen <strong>und</strong> Leidenszuständen mit e<strong>in</strong>er klaren Zielvorstellung<br />

(z. B. Symptomverr<strong>in</strong>gerung),<br />

4 E<strong>in</strong>satz von psychologischen Mitteln (durch Kommunikation) meist verbal,<br />

aber auch averbal mittels lehrbarer <strong>und</strong> auf Effizienz überprüfbarer Tech niken<br />

auf der Basis e<strong>in</strong>er <strong>Theorie</strong> des normalen <strong>und</strong> pathologischen Verhaltens.<br />

28.1 Ist e<strong>in</strong>e Psychotherapie s<strong>in</strong>nvoll?<br />

Gestützt durch zahlreiche Untersuchungen hat sich erst allmählich das generelle<br />

Vorurteil, dass e<strong>in</strong>e Psychotherapie für alte Menschen nicht mehr s<strong>in</strong>nvoll<br />

sei, verr<strong>in</strong>gert (Heuft et al. 2006, Maercker 2002). E<strong>in</strong>ige Untersuchungen<br />

weisen darauf h<strong>in</strong>, dass psychosozialer Stress neurodegenerative Prozesse e<strong>in</strong>leiten<br />

kann (Kropiunigg et al. 1999) <strong>und</strong> psychosoziale Faktoren bei der Entstehung<br />

<strong>und</strong> für die Art des Verlaufs e<strong>in</strong>e wichtige Rolle bei der Alzheimer-<br />

Erkrankung spielen (Bauer 1997, Bernhardt et al. 2002). So wurde z. B. <strong>in</strong><br />

Untersuchungen e<strong>in</strong> positiver Zusammenhang mit der Entstehung e<strong>in</strong>er Demenz<br />

für Personen gef<strong>und</strong>en, die alle<strong>in</strong> leben, ke<strong>in</strong>e engen sozialen B<strong>in</strong>dungen<br />

haben, nie verheiratet waren <strong>und</strong> an ke<strong>in</strong>en sozialen oder Freizeitaktivitäten<br />

teilnahmen. Zu beobachten ist, dass Erleben, Empfi nden <strong>und</strong> Anpassungsversuche<br />

der Betroff enen den Krankheitsprozess bee<strong>in</strong>fl ussen. E<strong>in</strong>e Demenz<br />

könnte sich nach Kitwood (2000, S. 82) durch »e<strong>in</strong> dialektisches Wechselspiel<br />

zwischen neurologischer Bee<strong>in</strong>trächtigung <strong>und</strong> maligner Sozialpsychologie«<br />

<strong>in</strong>dividuell <strong>in</strong> sehr verschiedener Weise entwickeln, wenn sozialpsychologische<br />

Faktoren (z. B. »Infantilisieren«, »Vorenthalten«, »Ignorieren«, »zur<br />

Machtlosigkeit verurteilen«) neurologische Bee<strong>in</strong>trächtigungen negativ verstärken<br />

würden.<br />

So ergeben sich für die Psychotherapie zahlreiche Ansatzpunkte zur Bee<strong>in</strong>fl<br />

ussung des Kranken. Mögen auch manche der veröff entlichten Unter-


28.2 · Wer ist zur Psychotherapie geeignet?<br />

483<br />

28<br />

suchungen über die Wirkung e<strong>in</strong>er Psychotherapie bei e<strong>in</strong>em Patienten mit<br />

e<strong>in</strong>er Demenz nicht den wissenschaft lichen Standards genügen <strong>und</strong> bedarf es<br />

hierzu weiterer empirischer Untersuchungen, so gibt es dennoch e<strong>in</strong>ige gut<br />

strukturierte, validierte <strong>und</strong> z. T. spezifi sche psychotherapeutische Strategien<br />

(Gutzmann u. Zank 2005, Haupt 2004, Cohen-Mansfi eld 2001). Sie können je<br />

nach Schwere der Erkrankung wesentlich zu e<strong>in</strong>er kognitiven <strong>und</strong> aff ektiven<br />

Stabilisierung sowie zu e<strong>in</strong>er M<strong>in</strong>derung von Verhaltensauff älligkeiten beitragen<br />

(Hirsch 2001, Wächtler et al. 2005). Der Bericht über die Nutzerbewertung<br />

von nichtmedikamentösen Behandlungsverfahren bei der Alzheimer-<br />

Demenz (IQWIG 2009) kommt zu dem Schluss, dass es zum<strong>in</strong>dest H<strong>in</strong>weise<br />

für e<strong>in</strong>en Nutzen gibt. E<strong>in</strong>e Psychotherapie ist auch dann schon s<strong>in</strong>nvoll, wenn<br />

sie zu symptomatischen Verbesserungen <strong>in</strong> Teilbereichen oder zu e<strong>in</strong>er Konsolidierung<br />

des bestehenden Funktionsniveaus beiträgt. Vorübergehende Verbesserungen<br />

von Alltagse<strong>in</strong>bußen, aff ektiven <strong>und</strong> Verhaltensauff älligkeiten<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> allen Stadien möglich.<br />

Neben dem dementen Patienten leiden auch se<strong>in</strong>e Angehörigen (z. B.<br />

Partner oder primärversorgende Angehörige) unter den Auswirkungen dieses<br />

schweren Leidens. Vielfältig s<strong>in</strong>d die Anforderungen an sie, denen sie oft nicht<br />

gewachsen s<strong>in</strong>d. Reicht e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>formelle, soziale, beratende oder mediz<strong>in</strong>ische<br />

Unterstützung nicht aus, ist e<strong>in</strong>e psychotherapeutische Behandlung erforderlich.<br />

28.2 Wer ist zur Psychotherapie geeignet?<br />

Haupt<strong>in</strong>dikationsbereiche s<strong>in</strong>d Kranke mit e<strong>in</strong>er beg<strong>in</strong>nenden bis zu e<strong>in</strong>er<br />

mittelschweren Demenz. Paitenten mit Demenz mit mittelschweren kognitiven<br />

Leistungse<strong>in</strong>bußen, die z. B. ohne fremde Hilfe nicht mehr zurechtkommen,<br />

im E<strong>in</strong>zelfall auch Schwerdemente, können von verhaltenstherapeutischen<br />

Methoden profi tieren.<br />

Im Vordergr<strong>und</strong> der psychotherapeutischen Bemühungen steht weniger<br />

die Bee<strong>in</strong>fl ussung der kognitiven Störungen (diese können sich aber sek<strong>und</strong>är<br />

bessern) als die Behandlung von<br />

4 aff ektiven Störungen (z. B. An gst, Pa nik, emotionale Labili tät, depress ive<br />

Symptome, Aggressivi tät, Selbstunsicherh eit, Hilfl osigk eit),<br />

4 narzisstischer Kränkung über wahrgenommene Defi zite <strong>und</strong> Veränderungen,


28<br />

484 Kapitel 28 · Zur Psychotherapie<br />

4 Verhaltensstörungen (auch »störendes« wie z. B. aggressives Verhalten),<br />

4 Antriebsstörun gen (z. B. Unruhe, Aspontaneität, Des<strong>in</strong>teresse, Initiativlosigkeit),<br />

4 Persönlichkeitsveränderun gen (z. B. Vergröberung des Aff e kts, Enthemm<br />

ung),<br />

4 funktionellen Störungen (z. B. Harn<strong>in</strong>kont<strong>in</strong> enz),<br />

4 sozialem Rückzug <strong>und</strong> Regress ion.<br />

Bei der Entscheidung für e<strong>in</strong>e Psychotherapie ist die Individualität e<strong>in</strong>es Patienten<br />

mit e<strong>in</strong>er Demenz, die E<strong>in</strong>zigartigkeit se<strong>in</strong>es Entwicklungsprozesses,<br />

die das aktuelle Ersche<strong>in</strong>ungs- bzw. Störungsbild bestimmen, zu berücksichtigen<br />

(Junkers 1994). E<strong>in</strong>zubeziehen ist auch die Art, wie der Kranke se<strong>in</strong>e<br />

zunehmenden kognitiven Leistungse<strong>in</strong>bußen wahrnimmt, bewertet sowie erlebt,<br />

wie er diese zu bewältigen oder abzuwehren versucht <strong>und</strong> welche Chancen<br />

ihm von se<strong>in</strong>em sozialen Umfeld gegeben werden. Mitentscheidend ist,<br />

<strong>in</strong>wieweit Angehörige <strong>und</strong> weitere Bezugspersonen das »Andersse<strong>in</strong>« des<br />

Kranken akzeptieren <strong>und</strong> ihn stützen können.<br />

28.3 Welche Ziele sollen durch die Psychotherapie<br />

erreicht werden?<br />

Die Th erapieziele bei e<strong>in</strong>em Patienten mit Demenz s<strong>in</strong>d abhängig von dessen<br />

bestehenden Defi zi ten, Kompetenzen, Leidensschwerpunkten sowie dem Milieu,<br />

<strong>in</strong> welchem er lebt. Zu berücksichtigen s<strong>in</strong>d die Schwere <strong>und</strong> Progredienz<br />

der Störung. Die Th erapieziele sollen am Anfang der Behandlung möglichst<br />

klar formuliert werden (s. unten). Unrealistische Erwartungen des Kranken<br />

<strong>und</strong> se<strong>in</strong>er Angehörigen sollten ebenso wenig genährt werden wie e<strong>in</strong> therapeutischer<br />

Nihilismus. Selbstsicherheit, Selbstständigkeit, Identität <strong>und</strong> Wohlbefi<br />

nden sollen durch psychotherapeutische Interventionen verbessert <strong>und</strong><br />

möglichst lange stabilisiert werden, um e<strong>in</strong> hohes Maß an Lebensqualität zu<br />

ermöglichen (Hirsch 2009).


28.3 · Ziele der Psychotherapie<br />

485<br />

Ziele der Psychotherapie bei Patienten mit Demenz<br />

28<br />

4 Stützung der Selbstsicherheit <strong>und</strong> des Selbstbildes <strong>und</strong> Verr<strong>in</strong>gerung<br />

von Hilflosigkeit <strong>und</strong> Abhängigkeit<br />

4 Klärung von Gefühlen zum Selbst, dem Körper <strong>und</strong> zu den Bezugspersonen<br />

4 Akzeptieren <strong>und</strong> Bewältigen der bestehenden <strong>und</strong> zunehmenden<br />

Verluste sowie Anpassung an die jeweilige Verlustsituation<br />

4 Stabilisierung <strong>und</strong> Förderung von vorhandenen Kompetenzen (Ansatz<br />

der Intervention bei den vorhandenen Ressourcen) <strong>und</strong> Aktivitäten<br />

des täglichen Lebens<br />

4 Verr<strong>in</strong>gerung von Verhaltensauffälligkeiten (z .B. verbale oder physische<br />

aggressive Verhaltensweisen, Ruhelosigk eit, Weglauftenden zen,<br />

dissoziale Umgangsweisen)<br />

4 Stabilisierung der Emotio nen <strong>und</strong> Affe kte, auch mit dem Ziel, kognitive<br />

E<strong>in</strong>bußen annehmen zu können, diese (möglichst) zu verr<strong>in</strong>gern <strong>und</strong><br />

vorhandene kognitive Fähigkeiten maximal nutzen zu können<br />

4 Verr<strong>in</strong>gerung e<strong>in</strong>er frühzeitigen, dem neuropsychologischen Defizit<br />

nicht entsprechenden, psychosozialen Deaktivierung<br />

4 Verr<strong>in</strong>gerung von depressiven Symptomen, Ängsten, Rückzugs- <strong>und</strong><br />

regressiven Tendenzen<br />

4 Stabilisierung <strong>und</strong> Förderung von familiären Beziehungsstrukturen<br />

sowie sozialen Kompetenzen<br />

4 Förderung von Interesse an der Umwelt <strong>und</strong> an Tätigkeiten<br />

Kranke, die unter e<strong>in</strong>em leichten demenziellen Prozess leiden, haben meist<br />

e<strong>in</strong>e noch <strong>in</strong>takte Persönlichkeit. Sie leiden oft unter ihren von ihnen nicht<br />

mehr kontrollierbaren E<strong>in</strong>bußen. Sie erleben z. B., dass »im Kopf irgendetwas<br />

vorgeht«, was sie ängstigt <strong>und</strong> verunsichert. Sie können ihre Arbeit nicht mehr<br />

so rasch, so <strong>in</strong>tensiv <strong>und</strong> eff ektiv bewältigen wie bisher. Sie fühlen sich hilfl os,<br />

<strong>in</strong>nerlich leer <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d irritiert. So kann e<strong>in</strong> Teufelskreis von Inaktivität,<br />

kognitiver Veränderung, depressiver Stimmung <strong>und</strong> weiterer neuronaler Degeneration<br />

entstehen <strong>und</strong> aufrechterhalten werden (Forstmeier u. Maercker<br />

2008).<br />

Je weiter der demenzielle Prozess fortgeschritten ist, desto mehr ist der<br />

Kranke auf Außenreize angewiesen, die auf ihn krankheitsverm<strong>in</strong>dernd e<strong>in</strong>-


28<br />

486 Kapitel 28 · Zur Psychotherapie<br />

wirken. Dennoch hat er noch immer e<strong>in</strong> bestimmtes Maß an Autarkie. Bei<br />

schwer an Demenz Erkrankten ist quasi das soziale Umfeld der Patient, welches<br />

behandelt werden muss, um dem Kranken e<strong>in</strong>e L<strong>in</strong>derung se<strong>in</strong>es Leidens<br />

zu ermöglichen oder den Krankheitsprozess zu verzögern.<br />

28.4 Wo kann die Psychotherapie durchgeführt werden?<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich kann die Psychotherapie <strong>in</strong> der <strong>Praxis</strong> e<strong>in</strong>es Psychotherapeuten,<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er (gerontopsychiatrischen) Tageskl<strong>in</strong>ik, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er (gerontopsychiatrischen<br />

oder gerontopsychosomatischen) Fachkl<strong>in</strong>ik/-abteilung/-station, aber<br />

auch zu Hause oder im Altenheim stattfi nden. Je nach Zielvorstellung können<br />

die Interventionen e<strong>in</strong>zeln oder <strong>in</strong> der Gruppe sowie als Paar- oder Familientherapie<br />

durchgeführt werden. E<strong>in</strong>zubeziehen s<strong>in</strong>d alle professionellen Helfer<br />

(z. B. Hausarzt, Gerontopsychiater, Mitarbeiter e<strong>in</strong>es ambulan ten Pfl egedienstes<br />

oder e<strong>in</strong>es Altenheims) <strong>und</strong> engere Bezugspersonen (Partner, Familienangehörige).<br />

Ausgehend von e<strong>in</strong>er diff erenzierten Betrachtungsweise ist e<strong>in</strong>e<br />

Behandlung immer mehrschichtig <strong>und</strong> bedarf e<strong>in</strong>er multidiszipl<strong>in</strong>ären sowie<br />

oft auch e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>stitutionsübergreifenden Arbeitsweise. Diese ist natürlich<br />

abhängig von dem Stadium der Erkrankung, den Möglichkeiten der Bezugspersonen,<br />

den vorhandenen regionalen Versorgungsangeboten sowie dem<br />

Wissensstand der professionellen Helfer. Zwischen den e<strong>in</strong>zelnen Interventionen,<br />

die z. T. berufsübergreifend durchgeführt werden, bestehen Überlappungen<br />

<strong>und</strong> Verknüpfungen. Entscheidend ist nicht die Vielzahl der Interventionen,<br />

die e<strong>in</strong>gesetzt werden, sondern die Erstellung e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>dividuellen<br />

Behandlungs- <strong>und</strong> Pfl egeplans, <strong>in</strong> welchem rationell <strong>und</strong> effi zient die verschiedenen<br />

Interventionen e<strong>in</strong>gesetzt <strong>und</strong>, wenn erforderlich, im Verlauf<br />

verändert werden. Notwendig ist es schon deshalb, dass alle Interventionen<br />

aufe<strong>in</strong>ander abgestimmt werden. Die geme<strong>in</strong>same Zielvorstellung der Beteiligten<br />

soll se<strong>in</strong>, die Selbstbestimmung <strong>und</strong> Selbstständigkeit der kranken<br />

Menschen so lange wie möglich aufrechtzuerhalten <strong>und</strong> alles zu tun, um e<strong>in</strong>e<br />

persönliche Lebensqualität <strong>und</strong> Würde auch im Spätstadium der Krankheit<br />

noch zu gewährleisten.


28.5 · Psychotherapeutische Möglichkeiten<br />

487<br />

28.5 Welche psychotherapeutischen Möglichkeiten<br />

gibt es?<br />

28<br />

Welches psychotherapeutische Verfahren angewendet w ird, ist abhängig von<br />

4 der Biographie des Kranken,<br />

4 der Schwere <strong>und</strong> Progredienz der Demenz,<br />

4 der Lebens- <strong>und</strong> Wohnsituation,<br />

4 den Zielvorstellungen <strong>und</strong> dem Leidensdruck des Kranken (soweit er dies<br />

noch formulieren kann) <strong>und</strong> den Bezugspersonen,<br />

4 der Verfügbarkeit e<strong>in</strong>es geschulten Psychotherapeuten <strong>und</strong> von Personen,<br />

die den Behandlungsprozess unterstützen können (z. B. Pfl egepersonal,<br />

Ergotherapeut, Sozialarbeiter).<br />

Je schwerer die Bee<strong>in</strong>trächtigungen s<strong>in</strong>d, desto mehr werden nonverbale, verhaltensbezogene<br />

<strong>und</strong> umweltstrukturierende Maßnahmen e<strong>in</strong>gesetzt. Sprachschwierigkeiten<br />

verr<strong>in</strong>gern die Möglichkeit, tiefenpsychologisch orientierte<br />

Methoden e<strong>in</strong>zusetzen. Ausgeprägte Gedächtnisstörungen führen dazu, dass<br />

verhaltenstherapeutische Interventionen nur dann Erfolg versprechend e<strong>in</strong>gesetzt<br />

werden können, wenn e<strong>in</strong>e kont<strong>in</strong>uierliche längerfristige Behandlung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fre<strong>und</strong>lichen <strong>und</strong> angstfreien Milieu erfolgt. Möglich ist, dass<br />

Bezugspersonen verhaltenstherapeutische Interventionen nach e<strong>in</strong>er Behandlung<br />

unter fachlicher Supervision weiterführen. E<strong>in</strong>e kont<strong>in</strong>uierliche<br />

Überprüfung der Wirkung von Interventionen ist Voraussetzung e<strong>in</strong>er Behandlung.<br />

Berücksichtigt werden sollen bei den Interventionen die folgenden<br />

formalen Aspekte (Diehl u. Kurz 2004):<br />

4 Vere<strong>in</strong>fachung <strong>und</strong> Verständlichkeit,<br />

4 Wiederholungen,<br />

4 Strukturierung des Geschehens im Behandlungsprozess,<br />

4 Problem- <strong>und</strong> Alltagsorientierung,<br />

4 E<strong>in</strong>fache, nachvollziehbare Th erapieschritte <strong>und</strong> -methoden,<br />

4 e<strong>in</strong>fache Hausaufgaben.<br />

4 Behutsame Konfrontation mit Leistungsgrenzen <strong>und</strong> Hilfeannahme<br />

Neben den psychotherapeutischen Methoden im engeren S<strong>in</strong>n gibt es psychotherapeutisch<br />

orientierte Verfahren, die positive Eff ekte bei Patienten mit Demenz<br />

erzielen können wie Musik-, Tanz-, Kunst- <strong>und</strong> Gestaltungsthera pie.<br />

Als Bestandteil e<strong>in</strong>es ganzheitlich orientierten Ansatzes <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> Institutionen<br />

leisten sie e<strong>in</strong>en wichtigen Beitrag (. Tab. 28.1).


28<br />

488 Kapitel 28 · Zur Psychotherapie<br />

. Tab. 28.1 Indikation von Psychotherapie im Verlauf von Demenzerkrankungen.<br />

(Mod. nach Diehl u. Kurz 2004, Hirsch 1999, 2009, Techtmann 2008, Wächtler et al.<br />

2005)<br />

Demenzstadium Leicht Mittelgradig Schwer<br />

Psychotherapie Modifizierte tiefenpsychologisch<br />

orientierte Psychotherapie<br />

Psychotherapeutisch<br />

orientierte<br />

Verfahren<br />

Psychotherapie<br />

<strong>und</strong> Psychoedukation<br />

bei<br />

Angehörigen<br />

– –<br />

Kognitive Psychotherapie – –<br />

Interpersonelle Psychotherapie – –<br />

Entspannungstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g – –<br />

Klassische Verhaltenstherapie –<br />

Modifizierte Verhaltenstherapie<br />

Er<strong>in</strong>nerungstherapie<br />

Selbsterhaltungstherapie<br />

Musiktherapie<br />

Tanztherapie<br />

Gestaltungstherapie<br />

– Dementia Care Mapp<strong>in</strong>g<br />

– – Validation<br />

Tiefenpsychologisch orientierte E<strong>in</strong>zeltherapie<br />

Kognitive Psychotherapie<br />

Psychoedukative Gruppe<br />

Selbsthilfegruppe<br />

Beratung


28.5 · Psychotherapeutische Möglichkeiten<br />

28.5.1 Entspannungstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />

489<br />

28<br />

Die Förderung von Entspannung hat e<strong>in</strong>en positiven Eff ekt auf Patienten mit<br />

Demenz. Über Erfahrungen mit dem autogenen Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g (Hirsch 1991, Stetter<br />

u. Stuhlmann 1987) <strong>und</strong> der progressiven Relaxation (Suhr et al. 1999, Welden<br />

u. Yesavage 1982) wird berichtet. Patienten mit Demenz im leichten bis<br />

mittelschweren Stadium, die zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>faches <strong>und</strong> geordnetes Gespräch<br />

führen können, können von diesen Verfahren profi tieren. Dies kann<br />

e<strong>in</strong>zeln oder <strong>in</strong> der Gruppe geschehen. Vorzuziehen ist das Lernen <strong>in</strong> der<br />

Gruppe, da <strong>in</strong> dieser gleichzeitig auch Sozialverhalten <strong>und</strong> Selbstsicherheit<br />

geübt wird. Wichtig ist die Auff orderung zum häuslichen Üben.<br />

Für die Vermittlung des autogenen Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gs empfi ehlt sich e<strong>in</strong> stufenweises<br />

Vorgehen.<br />

Vorgehensweise beim autogenen Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g mit Patienten<br />

mit Demenz (nach Hirsch 1991)<br />

1. Sämtliche Sitzungen sollen <strong>in</strong> ruhiger, gelockerter <strong>und</strong> spielerischer<br />

Atmosphäre stattf<strong>in</strong>den. Instruktionen sollen vorsichtig, fre<strong>und</strong>lich<br />

<strong>und</strong> nicht zu starr angeboten werden. Vom Übungsleiter ist Ausdauer,<br />

Geduld, Gelassenheit, »Erf<strong>in</strong>dungsreichtum« <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e gewährende<br />

Haltung erforderlich, verb<strong>und</strong>en mit Humor. Er muss langsam, laut <strong>und</strong><br />

deutlich sprechen sowie kurze Sätze verwenden.<br />

2. Angehörige sollen über die Gr<strong>und</strong>lagen des autogenen Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gs <strong>in</strong>formiert<br />

werden, um den Patienten an das häusliche Üben zu er<strong>in</strong>nern<br />

<strong>und</strong> ihm die dazu nötige Ruhe zu verschaffen.<br />

<strong>3.</strong> Die Erst<strong>in</strong>formation sollte möglichst e<strong>in</strong>fach gehalten se<strong>in</strong>. Erst im<br />

Laufe der Sitzungen s<strong>in</strong>d je nach Auffassungsgabe der Patienten spezifischere<br />

Informationen s<strong>in</strong>nvoll.<br />

4. Anfangs sollten die e<strong>in</strong>zelnen Formeln vom Übungsleiter vorgesprochen<br />

werden. Notwendig ist, mit allgeme<strong>in</strong>en Entspannungssätzen zu<br />

beg<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> erst allmählich die üblichen Formeln des autogenen<br />

Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gs vorzugeben.<br />

5. Zu beschränken ist das autogene Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g auf die Formeln: Ruhe,<br />

Schwere, Wärme <strong>und</strong> Atmung.<br />

6


28<br />

490 Kapitel 28 · Zur Psychotherapie<br />

6. Die »Schweige<strong>in</strong>tervalle« s<strong>in</strong>d erst kurz zu halten <strong>und</strong> dann allmählich<br />

auf mehrere M<strong>in</strong>uten (bis zu 10) auszudehnen.<br />

7. Erst wenn der Patient im Gruppenrahmen mit den Übungen vertraut<br />

ist, sollte er ermuntert werden, zu Hause kont<strong>in</strong>uierlich zu üben.<br />

8. Die Abstände zwischen den e<strong>in</strong>zelnen Sitzungen sollten nicht zu lange<br />

se<strong>in</strong> (m<strong>in</strong>destens zweimal wöchentlich), die Dauer der e<strong>in</strong>zelnen<br />

Sitzungen sollte ca. 30 M<strong>in</strong>uten <strong>und</strong> die Kurszeit ca. 3 Monate betragen.<br />

Kurze Wiederholungssitzungen s<strong>in</strong>d später s<strong>in</strong>nvoll.<br />

Nach e<strong>in</strong>iger Zeit können bei den Patienten positive Veränderungen festgestellt<br />

werden wie z. B. Mehr<strong>in</strong>teresse am Tagesablauf, vermehrtes Interesse an<br />

Alltagsaktivitäten (z. B. auch wieder Zeitunglesen), emotionale Ausgeglichenheit<br />

<strong>und</strong> Kommunikations<strong>in</strong>teresse.<br />

Ähnliche Ergebnisse s<strong>in</strong>d mit der progressiven Relaxation zu erzielen.<br />

Wenn zusätzlich verhaltenstherapeutische Interventionen e<strong>in</strong>gesetzt werden,<br />

wird dieses Verfahren bevorzugt.<br />

28.5.2 Tiefenpsychologisch orientierte Verfahren<br />

E<strong>in</strong>en erheblichen Beitrag zum Verstehen der sche<strong>in</strong>bar unverständlichen Innenwelt<br />

des Patienten mit Demenz <strong>und</strong> von dessen Gefühlsausbrüchen, Äußerungen<br />

sowie Handlungen kann die Psychoanalyse geben. Viele Handlungen<br />

von Patienten mit Demenz halten wir für »s<strong>in</strong>nlos«. Kennen wir die<br />

Lebensgeschichte <strong>und</strong> verstehen etwas von Symbolen, so lassen sich viele »Irrungen«<br />

nachvollziehen. Sche<strong>in</strong>bar unverständliche Worte, Handlungen <strong>und</strong><br />

Verhaltensweisen von Patienten mit Demenz könnten sich nach psychodynamischer<br />

Sichtweise sehr wohl als »s<strong>in</strong>nvoll«, aber für »Normale« nicht verstehbar<br />

herausstellen. Diesbezügliche Deutungen fördern den Behandlungsprozess.<br />

Manche Äußerungen von Patienten mit Demenz können als Material<br />

<strong>in</strong>terpretiert werden, welches freien Assoziationen vergleichbar ist. Weniger<br />

die Deutung ist hier s<strong>in</strong>nvoll als vielmehr, den Kontakt zwischen Nicht-Subjekt<br />

<strong>und</strong> Subjekt zu ermöglichen <strong>und</strong> damit als e<strong>in</strong>e Art »Prothese« zu wirken<br />

(Junkers 1994).


28.5 · Psychotherapeutische Möglichkeiten<br />

491<br />

. Tab. 28.2 Regressionsfördernde <strong>und</strong> -hemmende Maßnahmen.<br />

(Mod. nach Radebold 1994)<br />

Regressionsfördernde Maßnahmen Regressionshemmende Maßnahmen<br />

Neutralisieren als »Fall«<br />

Passivierende Pflege (»satt«, »sauber«,<br />

»ruhig« u. a.)<br />

Infantilisierende Umwelt<br />

Ausschließen bei Familien gesprächen<br />

Psychopharmaka<br />

»Fürsorgliche« Fixierung<br />

Kennenlernen der bisherigen Umwelt<br />

Kennenlernen der Lebensgeschichte<br />

Kompetenzerhaltende bzw. fördernde<br />

Maßnahmen<br />

Angehörigengespräche<br />

Stabile Bezugspersonen<br />

Vertraute Umwelt<br />

28<br />

Tiefenpsychologisch kann der demenzielle Prozess mit dem Konzept der<br />

Regression beschrieben werden (Radebold 1994). Für Interventionen bei Angehörigen<br />

lassen sich regressionsfördernde <strong>und</strong> -hemmende Maßnahmen<br />

beschreiben, die Bestandteil von Beratung <strong>und</strong> Psychotherapie se<strong>in</strong> können<br />

(. Tab. 28.2).<br />

E<strong>in</strong>e tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie kann e<strong>in</strong>zeln oder <strong>in</strong><br />

der Gruppe durchgeführt werden. Insbesondere am Anfang der Behandlung<br />

sollte e<strong>in</strong>e Bezugsperson bei den Sitzungen teilnehmen, um Ängste, Projektionen<br />

u. a. zu verr<strong>in</strong>gern. Die zeitliche Begrenzung der Behandlung sollte<br />

immer wieder thematisiert werden, um Autarkiebestrebungen zu fördern <strong>und</strong><br />

realistische Zukunft sperspektiven zu bearbeiten. Th emenschwerpunkte können<br />

se<strong>in</strong>:<br />

4 Bearbeitung der Trauer über zunehmende kognitive Verluste,<br />

4 Bearbeitung von realen <strong>und</strong> unbewussten Ängsten (aktiviert <strong>in</strong> der Beziehung<br />

Th erapeut-Patient),<br />

4 Bezug der depressiven Symptome zur Lebensgeschichte <strong>und</strong> deren Bewältigung,<br />

4 Bearbeitung von Scham <strong>und</strong> Hilfl osigkeit ,<br />

4 Bearbeitung von bestehenden Konfl ikten, die e<strong>in</strong>e Wiederholung früherer<br />

Traumata s<strong>in</strong>d.<br />

Der Bezug zwischen Gegenwart <strong>und</strong> früheren Konfl ikten fördert das Verstehen<br />

der derzeitigen Schwierigkeiten. Für den Th erapeuten ist es wichtig, dass<br />

er Aspekte der Gegenübertragung immer wieder verbalisiert <strong>und</strong> gewährend


28<br />

492 Kapitel 28 · Zur Psychotherapie<br />

Übertragungsmomente zulässt, um e<strong>in</strong>e tragende <strong>und</strong> haltende Behandlungssituation<br />

herstellen zu können, aus der dann e<strong>in</strong>zelne, im Vordergr<strong>und</strong> stehende<br />

Konfl ikte bearbeitet werden können. Die tiefenpsychologische Sichtweise<br />

fördert das Interesse an der Eigenart des E<strong>in</strong>zelnen, die Neugierde an<br />

der Ursache von »anormalem« Verhalten <strong>und</strong> das Interesse, den Kranken<br />

nicht nur als Patienten mit Demenz zu sehen, sondern als Menschen mit verändertem<br />

Verhalten <strong>und</strong> andersartiger Denk- <strong>und</strong> Fühlweise.<br />

28.5.3 Kognitiv-behavioristische Verfahren<br />

Voraussetzung kognitiv-behavioristischer Interventionen ist e<strong>in</strong>e patientenorientierte<br />

Verhaltensanalyse <strong>und</strong> Th erapieplanung, die besonders auch die<br />

Beobachtungen von Bezugspersonen mit e<strong>in</strong>bezieht .<br />

Die Verhaltenstherapie verfügt über bewältigungsorientierte Verfahren,<br />

die Patienten mit Demenz e<strong>in</strong>e Anpassung an verlorengegangene Fähigkeiten<br />

sowie e<strong>in</strong>e Verr<strong>in</strong>gerung von nichtkognitiven Begleitsymptomen <strong>und</strong> Verhaltensproblemen<br />

ermöglichen soll.<br />

Haupte<strong>in</strong>satzpunkte der Verhaltenstherapie bei <strong>Demenzen</strong><br />

(Ehrhardt u. Plattner 1999, Forstmeier u. Maercker 2008,<br />

Haupt 1993, Hirsch 1999, Junkers 1994)<br />

4 Modifikation von dysfunktionalen Kognitionen <strong>und</strong> Förderung von<br />

kognitiven Fähigkeiten (<strong>in</strong>sbesondere bei beg<strong>in</strong>nender Demenz)<br />

4 Aufbau <strong>und</strong> Stabilisierung von Alltagsaktivitäten , <strong>in</strong>sbesondere<br />

angenehme<br />

4 Förderung emotionaler Bewältigung <strong>und</strong> Stresssituationen<br />

4 Modifikation von Verhaltensproblemen <strong>und</strong> Verhaltensstörungen<br />

4 Förderung <strong>und</strong> Stabilisierung von funktionalen E<strong>in</strong>bußen<br />

4 Förderung von Interessen <strong>und</strong> sozialen Fähigkeiten<br />

4 Förderung vorhandener Kompetenzen <strong>und</strong> Fähigkeiten<br />

4 Verr<strong>in</strong>gerung von depressiven Symptomen<br />

4 Umstrukturierung von suizidalem Verhalten <strong>und</strong> Wertlosigkeits gefühlen<br />

4 Gezielte Umweltstrukturierung<br />

4 Gezielte externe Gedächtnis- <strong>und</strong> Orientierungshilfen


28.5 · Psychotherapeutische Möglichkeiten<br />

493<br />

28<br />

Um Verhaltensweisen zu verändern, werden im Frühstadium der Erkrankung<br />

eher kognitive Techniken (z. B. Selbst<strong>in</strong>struktion , Selbstkontrolle, kognitive<br />

Depressionsbehandlung , Rollenspiel, kognitive Umstrukturierung) <strong>und</strong><br />

Selbstsicherheitstra<strong>in</strong><strong>in</strong>gs , <strong>in</strong> späteren Stadien hauptsächlich operante Methoden<br />

<strong>und</strong> Modelllernen e<strong>in</strong>gesetzt. Allgeme<strong>in</strong>e Pr<strong>in</strong>zipien zur Modifi kation<br />

von Verhaltensproblemen s<strong>in</strong>d (Forstmeier u. Maercker 2008, Hirsch 1999):<br />

4 Stimuluskontrolle (Veränderung von Umweltbed<strong>in</strong>gungen),<br />

4 operante Konditionierung,<br />

4 Beratung <strong>und</strong> Anleitung von Angehörigen <strong>und</strong> Pfl egenden (z. B. auch lernen,<br />

Hilfe annehmen zu können),<br />

4 E<strong>in</strong>beziehung <strong>und</strong> Nutzen von regionalen Hilfsangeboten.<br />

Zur Modifi kation e<strong>in</strong>zelner Verhaltensweisen, wie z. B. selbstständiges Essen,<br />

Ankleiden, Waschen, Toilettengang u. ä. können Methoden wie positive verbale<br />

oder materielle Verstärkung e<strong>in</strong>gesetzt werden (. Tab. 28.3).<br />

Manche Patienten mit Demenz haben e<strong>in</strong>en erheblich gesteigerten Bewegungsdrang<br />

(»Weglauft endenz«) <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d hyperaktiv. Diese Verhaltensweisen<br />

lassen sich durch e<strong>in</strong>e gezielte mehrschichtige Verhaltensmodifi kation bee<strong>in</strong>fl<br />

ussen:<br />

Verhaltensmodifi kation bei verstärktem Bewegungsdrang<br />

<strong>und</strong> Hyperaktivität (nach Forstmeier u. Maercker 2008)<br />

4 Gegenstände mit Anreizcharakter, die Wohnung zu verlassen, entfernen<br />

(z. B. Mantel, Schirm, Hut)<br />

4 Tägliche Aktivitäten erweitern, Stimulation erhöhen (z. B. geme<strong>in</strong>same<br />

regelmäßige Spaziergänge), zu e<strong>in</strong>fachen Aktivitäten je nach Biographie<br />

– Haus- <strong>und</strong> Gartenarbeit, e<strong>in</strong>fache Bürotätigkeit, handwerkliche<br />

Tätigkeit – praktisch kont<strong>in</strong>uierlich anregen, diese unterstützen <strong>und</strong> <strong>in</strong><br />

die Tagesstrukturierung e<strong>in</strong>beziehen<br />

4 Stimulierende Reize reduzieren, wenn Überstimulierung ursächlich für<br />

das Verhalten ist (z. B. Geräuschpegel verm<strong>in</strong>dern, die Übersichtlichkeit<br />

des Raums verbessern)<br />

4 Sichere <strong>und</strong> geschützte barrierefreie Umgebung sowie ausreichende<br />

Lichtverhältnisse zum Gehen schaffen<br />

4 E<strong>in</strong>fache, gut sichtbare Orientierungshilfen anbr<strong>in</strong>gen 6


28<br />

494 Kapitel 28 · Zur Psychotherapie<br />

. Tab. 28.3 Verhaltensmodifikationen . (Mod. nach Hirsch 1999)<br />

Symptom Auffälliges Verhalten Reaktion der Umwelt Interventionsmöglicheiten<br />

Gedächtnishilfen (»Eselsbrücken«),<br />

Konzentrationsübungen ,<br />

Tagesstrukturierung , beruhigende<br />

Interaktion, klare Umweltstrukturierung,<br />

Modelllernen<br />

Ungeduld, Ärger, Fehl<strong>in</strong>terpretation<br />

Verlegen von <strong>und</strong> Suchen nach<br />

Gegenständen, Fremdbeschuldigungen,<br />

Verwechslungen,<br />

Fehlantworten, Fehlhandlungen<br />

Zunehmende<br />

Vergesslichkeit<br />

Räumliche <strong>und</strong> lokale Orientierungshilfen<br />

, Realitätsorientierungstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />

, soziales Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g, Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g,<br />

bestimmte Orte, Zimmer, Bett u. a.<br />

wiederzuf<strong>in</strong>den, shap<strong>in</strong>g , cha<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />

Angst, Besorgnis, »fürsorgliches«<br />

Fixieren, E<strong>in</strong>sperren, E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong><br />

die Psychiatrie<br />

Verlaufen, Nichterkennen oder<br />

Verwechseln von Bezugspersonen,<br />

Tageszeitverkennung, Fehle<strong>in</strong>schätzung<br />

der Situation<br />

Orientierungsstörungen<br />

Beruhigendes Milieu, e<strong>in</strong>fühlende<br />

Umgangsweisen, Ernstnehmen der<br />

Situation <strong>und</strong> nach Bewältigungsmöglichkeiten<br />

suchen, Entspannungstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g,beziehungsfördernde<br />

Maßnahmen<br />

Sedierende Medikamente,<br />

Erwiderung der Aggressionen,<br />

E<strong>in</strong>sperren, Fixieren, Schuldgefühle<br />

Affektlabilität Plötzliches We<strong>in</strong>en, aggressives<br />

Verhalten (<strong>in</strong> Worten <strong>und</strong><br />

Handlungen), Misstrauen<br />

Emotional beruhigende Atmosphäre,<br />

H<strong>in</strong>lenkung auf vorhandene<br />

Kompetenzen <strong>und</strong> deren<br />

Förderung (Modelllernen, cha<strong>in</strong><strong>in</strong>g,<br />

shap<strong>in</strong>g, time-out)<br />

Ärger, Wut, Streitgespräche,<br />

Beweisen wollen, Besorgnis,<br />

Drohen oder Durchführung von<br />

Gewaltmaßnahmen<br />

Vertuschen von Fehlern, erhebliche<br />

Überschätzung der eigenen<br />

Fähigkeiten, ohne Gr<strong>und</strong><br />

Verweigerung von Hilfsangeboten<br />

Verr<strong>in</strong>gerte<br />

E<strong>in</strong>sichts- <strong>und</strong><br />

Kritikfähigkeit


28.5 · Psychotherapeutische Möglichkeiten<br />

4 Verbal <strong>und</strong> nonverbal fre<strong>und</strong>lich ablenken <strong>und</strong> H<strong>in</strong>weise auf andere<br />

Möglichkeiten geben (z. B. fragen, ob man helfen kann, e<strong>in</strong> Getränk<br />

anbieten, auf gekannte Gegenstände h<strong>in</strong>weisen)<br />

4 Beruhigen (z. B. durch leise, sanfte Musik; entspannende Maßnahmen<br />

wie sanfte Berührungen, <strong>in</strong> den Arm nehmen, streicheln, Massage,<br />

Snoezelen, rhythmische Bewegungen, angenehme Düfte)<br />

4 Ortswechsel, wenn situative Auslöser oder Personen für die Hyperaktivität<br />

die Ursachen s<strong>in</strong>d<br />

4 Gefühle der Patienten frei äußern lassen, sie ernst nehmen <strong>und</strong> akzeptieren<br />

495<br />

28<br />

Entscheidend ist, dass nach sorgfältiger Verhaltensanalyse e<strong>in</strong>e gezielte Th erapieplanung<br />

stattfi ndet. Maßvoll sollten die Interventionen se<strong>in</strong> <strong>und</strong> den Kranken<br />

nicht überfordern. E<strong>in</strong> Zuviel schadet <strong>und</strong> führt eher zur Symptom<strong>in</strong>tensivierung.<br />

Alle Beteiligten können so dem Kranken e<strong>in</strong>e Stütze se<strong>in</strong>. Auch für<br />

immer wieder auft retende verbale oder tätliche Aggressionen von Patienten<br />

mit Demenz, denen häufi g e<strong>in</strong>e Fehl<strong>in</strong>terpretation von Gefühlen <strong>und</strong> Verhalten<br />

(beidseitig) zugr<strong>und</strong>e liegen <strong>und</strong> meist e<strong>in</strong> Ausdruck von Fehlhandlungen<br />

durch Hilfl osigkeit <strong>und</strong> Angst s<strong>in</strong>d, kann e<strong>in</strong>e Verhaltensmodifi kation zum<br />

Erfolg führen:<br />

Verhaltensmodifi kation bei aggressivem Verhalten<br />

(nach Forstmeier u. Maercker 2008)<br />

Vermeiden von aggressivem Verhalten durch Ausschalten von Auslösern:<br />

4 Fre<strong>und</strong>liches ruhiges Zugehen auf die Person, langsam <strong>und</strong> beruhigend<br />

sprechen, Augenkontakt halten, Kritik <strong>und</strong> Diskussionen vermeiden<br />

4 Nur e<strong>in</strong>e Anforderung auf e<strong>in</strong>mal erteilen, e<strong>in</strong>e Aufgabe erst beenden,<br />

bevor zur nächsten übergegangen wird, Aktivitäten vere<strong>in</strong>fachen <strong>und</strong><br />

<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>e Schritte aufteilen, wiederholen<br />

4 Pausen e<strong>in</strong>legen, um Ermüdung zu vermeiden<br />

4 Geräusche <strong>und</strong> andere Reize reduzieren<br />

4 Verstärken (Loben) von angemessenem Verhalten bei jedem Schritt 6


28<br />

496 Kapitel 28 · Zur Psychotherapie<br />

Umgang mit aggressivem Verhalten:<br />

4 Beruhigende Worte sprechen, fre<strong>und</strong>liche Zuwendung, Kritik <strong>und</strong><br />

Ause<strong>in</strong>andersetzung vermeiden, ke<strong>in</strong>en Zwang ausüben oder drohen<br />

4 Die Person aus der Situation behutsam wegführen<br />

4 Aggressionsauslösende Handlungen abbrechen (z. B. Waschen,<br />

Nahrung reichen, An- oder Ausziehen) <strong>und</strong> bei notwendigen<br />

Pflegehandlungen zu e<strong>in</strong>em späteren Zeitpunkt bei Berücksichtigung<br />

von <strong>in</strong>dividuellen Tagesschwankungen erneut versuchen<br />

4 Ablenken: e<strong>in</strong>e alternative Aktivität anbieten, welche die Person gerne<br />

ausführt (z. B. Musik hören), auf angenehme Reize h<strong>in</strong>weisen<br />

4 Wenn erforderlich: Unterstützung zur Lockerung oder Entzerrung<br />

holen<br />

Gezielt kann so manche der Verhaltensstörungen, wenn auch zeitlich begrenzt,<br />

bee<strong>in</strong>fl usst werden. Ähnlich der medikamentösen Behandlung ist e<strong>in</strong>e<br />

funktionelle Psychotherapie, deren Methoden sich an den Patienten anpassen<br />

müssen, notwendig.<br />

Für Patienten mit Alzheimer-Demen z im Frühstadium wurden <strong>in</strong> den<br />

letzten Jahren die folgenden beiden Verfahren entwickelt.<br />

Verhaltenstherapeutisches Kompetenztra<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />

Das verhaltenstherapeutische Kompetenztra<strong>in</strong><strong>in</strong> g (VKT, Ehrhardt u. Plattner<br />

1999) ist für E<strong>in</strong>zelbehandlung <strong>und</strong> Kle<strong>in</strong>gruppen konzipiert <strong>und</strong> setzt sich<br />

aus 6 Th erapiemodulen zusammen:<br />

1 Th erapieplanung <strong>und</strong> Verhaltensanalyse,<br />

2. Psychoedukatio n,<br />

<strong>3.</strong> Stressmanagemen t,<br />

4. Aktivitätenaufb au,<br />

5. Förderung sozialer Kompetenz,<br />

6. Modifi kation depressiogener Kognitionen.<br />

Dieses hat zum Ziel, den Patienten bei der Bewältigung der Belastungen, die<br />

sich aus der Erkrankung selbst sowie aus der Stellung der Diagnose ergeben,<br />

zu unterstützen. Vorhandene Ressourcen sollen mobilisiert werden, um e<strong>in</strong>e<br />

frühzeitige – den neuropsychologischen Defi ziten nicht entsprechende – De-


28.5 · Psychotherapeutische Möglichkeiten<br />

497<br />

28<br />

aktivierung zu vermeiden. Zudem sollen depressive Symptome verr<strong>in</strong>gert<br />

werden. Die diesbezüglichen Untersuchungsergebnisse s<strong>in</strong>d Erfolg versprechend.<br />

Interpersonelle Psychotherapie <strong>in</strong> »Late-life-Form«<br />

Die gr<strong>und</strong>legenden Arbeitstechniken der <strong>in</strong>terpersonellen Psychotherapie <strong>in</strong><br />

»Late-life-Form« (Bauer 1997) bestehen aus Exploration, Aff ektermunterung,<br />

Klärung, Kommunikationsanalyse <strong>und</strong> verhaltensmodifi zierenden Technike<br />

n. Durch diese Behandlung soll e<strong>in</strong> »Prozess des Sich-selbst-Aufsuchens«<br />

<strong>in</strong> Gang gesetzt werden. Zudem wird untersucht, <strong>in</strong> welchen <strong>in</strong>terpersonellen<br />

Situationen sich Unsicherheit <strong>und</strong> Nichtkönnen des Patienten verstärken bzw.<br />

durch welche Bed<strong>in</strong>gungen Leistungen des Patienten begünstigt werden. Erste<br />

Erfahrungen zu diesem Verfahren s<strong>in</strong>d ermutigend.<br />

Mediatorzentrierte Interaktion<br />

Da e<strong>in</strong> dementer Patient – je nach Schwerebild der Erkrankung – an beträchtlichen<br />

kognitiven Störungen leidet, s<strong>in</strong>d Interventionen, die auf <strong>in</strong>dividuelle<br />

Lernvorgänge zugeschnitten s<strong>in</strong>d, nur bed<strong>in</strong>gt Erfolg versprechen d. Vielmehr<br />

kommt es darauf an, Umwelt <strong>und</strong> Mitwelt des Kranken so zu gestalten, dass<br />

sie auf die krankheitsbed<strong>in</strong>gten Veränderungen <strong>in</strong>dividuell zugeschnitten<br />

s<strong>in</strong>d. Hierauf bezieht sich die »mediatorzentrierte Interaktionstherapie«<br />

(Haupt 1993). Sie kann bei jedem Patienten mit Demenz, gleich welcher<br />

Schwere der Erkrankung, e<strong>in</strong>gesetzt werden, im Heim <strong>und</strong> <strong>in</strong> der häuslichen<br />

Umgebung. Das Pr<strong>in</strong>zip dieser Th erapie liegt dar<strong>in</strong>, Emotionen des Kranken<br />

durch e<strong>in</strong>e Verhaltensmodifi kation der Bezugsperson zu reduzieren. Die Bezugsperson<br />

soll durch e<strong>in</strong>en geeigneten – neu erlernten – Umgangsstil zu e<strong>in</strong>er<br />

Verr<strong>in</strong>gerung der Verhaltensstörung beitragen. Diese verhaltenstherapeutische<br />

Intervention setzt nicht direkt am Kranken, sondern an dessen Bezugsperson<br />

an. Sie stellt e<strong>in</strong>e Form von »Kont<strong>in</strong>genzmanagement <strong>in</strong> der natürlichen<br />

Umgebung« dar <strong>und</strong> zielt darauf ab, der E<strong>in</strong>schränkung der Kont<strong>in</strong>uität,<br />

der Kompetenz, der Kongruenz <strong>und</strong> der Kommunikation des Patienten<br />

mit Demenz entgegenzuwirken. Überwiegend kommen die operanten Methoden<br />

zum E<strong>in</strong>satz.<br />

Generell gilt: Gegen e<strong>in</strong>en demenziellen Prozess »anzutra<strong>in</strong>ieren« hilft<br />

wenig <strong>und</strong> deprimiert Patienten, Angehörige <strong>und</strong> Pfl egepersonen sowie Th erapeuten<br />

(Gutzmann 1997). Konnten auch z. T. sehr e<strong>in</strong>drucksvolle Ergebnisse<br />

durch die Anwendung von verhaltenstherapeutischen Methoden erzielt


28<br />

498 Kapitel 28 · Zur Psychotherapie<br />

werden, so treten häufi g schon kurze Zeit nach Beendigung der Behandlung<br />

die früheren Verhaltensmuster wieder auf, wenn nicht zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong>tervallmäßig<br />

weiterbehandelt wird.<br />

28.6 Möglichkeiten der Psychotherapie<br />

für Angehörige<br />

Angehörige von Patienten mit Demenz sehen sich häufi g hilfl os dem Geschehen<br />

ausgeliefert. Sie ziehen sich zurück <strong>und</strong> isolieren sich damit selbst. Durch<br />

die zunehmende Hilfl osigkeit <strong>und</strong> Abhängigkeit des Patienten mit Demenz<br />

fühlen sie sich für ihn immer mehr verantwortlich, werden überfürsorglich<br />

<strong>und</strong> trauen sich dann kaum noch, ihn alle<strong>in</strong> zu lassen. Nachts können sie z. T.<br />

wegen der nächtlichen Unruhe des Kranken nicht mehr schlafen. Wut, Verzweifl<br />

ung, Angst vor der Zukunft , Unverstandense<strong>in</strong> von der Umwelt, völlige<br />

Überforderung, Hilfl osigkeit, Trauer <strong>und</strong> Verlust, mangelnde soziale Unterstützung<br />

<strong>und</strong> physische Erschöpfung können zu e<strong>in</strong>em Circulus vitiosus führen,<br />

aus welchem sich e<strong>in</strong> Angehöriger meist selbst nicht befreien kann. Die<br />

betreuenden Angehörigen leiden meist mehr als die Betroff enen selbst (Wettste<strong>in</strong><br />

2009). Sie zu stützen <strong>und</strong> bei auft retender Überbelastung, Reaktivierung<br />

von früheren Traumen, zunehmender Beziehungsstörung frühzeitig e<strong>in</strong>er<br />

Psychotherapie zuzuführen, bedeutet auch für den Kranken e<strong>in</strong>e Verbesserung<br />

se<strong>in</strong>er Situation.<br />

E<strong>in</strong>e psychoedukative Gruppenarbeit mit pfl egenden Angehörige n ist e<strong>in</strong><br />

empirisch gut belegter Ansatz, um bei Patienten mit Demenz <strong>und</strong> ihren Angehörigen<br />

Behandlungseff ekte erzielen zu können. Inhalt der Gruppenarbeit<br />

s<strong>in</strong>d Aufk lärung <strong>und</strong> Information über die Krankheit, Beseitigung von Unsicherheit<br />

<strong>und</strong> Motivation unter E<strong>in</strong>beziehung verschiedener psychotherapeutischer,<br />

zumeist supportiver Techniken. Durch diese Gruppenarbeit können<br />

z. B. gedächtnisassoziierte Alltagsleistungen, motorische Unruhezustände<br />

<strong>und</strong> Angst bei Patienten mit Demenz nachweislich verr<strong>in</strong>gert werden (Haupt<br />

et al. 2000). Berichtet wird auch über Behandlungseff ekte von Gruppen mit<br />

Patienten mit Demenz <strong>und</strong> ihren pfl egenden Angehörigen (Haupt et al. 2000).<br />

Belegt wurde, dass durch diese Gruppenarbeit z. B. e<strong>in</strong>e Konsolidierung des<br />

Funktionsniveaus des Kranken sowie e<strong>in</strong>e Verbesserung des Kommunikationsverhaltens<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>e deutliche Entlastung der pfl egenden Angehörigen<br />

ermöglicht wurde.


28.6 · Möglichkeiten der Psychotherapie<br />

499<br />

28<br />

Gibt es auch viele Stützen für Angehörige, so reichen diese oft nicht aus.<br />

H<strong>in</strong>zu kommt, dass e<strong>in</strong>ige von ihnen neben körperlichen Erkrankungen selbst<br />

auch unter psychischen Störungen (Psychosomatosen, Neurosen u. a.) leiden,<br />

deren Symptome sich durch ihre Situation verstärken <strong>und</strong>/oder vermehren.<br />

E<strong>in</strong>e Psychotherapie ist daher bei manchen Angehörigen <strong>in</strong>diziert. In dieser<br />

Behandlung geht es dann primär nicht um den dementen Angehörigen, sondern<br />

um ihn selbst. Treten hierbei Fragen nach besseren Umgangsmöglichkeiten<br />

mit dem Patienten mit Demenz auf, so können sie zwar kurzzeitig Inhalt<br />

e<strong>in</strong>er Behandlungsst<strong>und</strong>e se<strong>in</strong>, sollten aber nicht zu sehr thematisiert<br />

werden. Oft s<strong>in</strong>d sie Verdrängung eigener Bedürfnisse. Ziel dieser Behandlung<br />

ist neben e<strong>in</strong>er Verr<strong>in</strong>gerung der Symptomatik e<strong>in</strong>e Förderung der<br />

Selbstsicherheit, der Ich-Funktionen, der Genussfähigkeit, der Trauerfähigkeit,<br />

des Kontaktvermögens, der Arbeitsfähigkeit <strong>und</strong> der Ausbalancierung<br />

von Nähe <strong>und</strong> Distanz zu dem dementen Patienten.<br />

Folgende Indikationen für die Psychotherapie e<strong>in</strong>es Angehörigen s<strong>in</strong>d zu<br />

nenne n:<br />

Psychotherapie von Angehörigen: Indikationen<br />

4 Psychophysischer Erschöpfungszustan d<br />

4 Nichtbewältigenkönnen der Trauerarbeit<br />

4 Reaktiv-depressive Symptomatik<br />

4 Wiederauftreten eigener früherer psychischer Störungen<br />

4 Auftreten eigener nichtbewältigter Konflikte<br />

4 Psychosomatische Störungen<br />

4 Narzisstische Krise durch Identifikation <strong>und</strong> Verschmelzung<br />

mit dem Kranken<br />

4 Angstzustände <strong>und</strong> Panikattacken, ausgelöst durch Überforderun g<br />

<strong>in</strong> der Pflege<br />

Je nach psychischer Störung ist das entsprechende psychotherapeutische Verfahren<br />

auszuwählen. Mit dem Patienten ist zunächst zu klären, ob die Störungen<br />

eher durch e<strong>in</strong> klärungsorientiertes (z. B. tiefenpsychologisch orientierte<br />

Psychotherapie) oder e<strong>in</strong> problembewältigungsorientiertes (kognitivbehavioristisches)<br />

Vorgehen am besten behandelt werden können. Wichtig<br />

dabei ist, die bisherige Beziehung zwischen dem Patienten mit Demenz <strong>und</strong>


28<br />

500 Kapitel 28 · Zur Psychotherapie<br />

Angehörigem zu problematisieren, da hieraus wichtige Schlüsse für die Behandlung<br />

zu ziehen s<strong>in</strong>d. Häufi g bestehen – unabhängig von dem dementen<br />

Patienten – psychische Störungen beim Angehörigen, mit denen er bisher alle<strong>in</strong><br />

mehr oder weniger gut zurechtgekommen ist. Diese brechen unter den<br />

Belastungen hervor, die durch das Leben mit e<strong>in</strong>em Patienten mit Demenz<br />

entstanden <strong>und</strong> für die ke<strong>in</strong>e Abwehrkräft e mehr vorhanden s<strong>in</strong>d. Teil der<br />

Behandlung ist es, Möglichkeiten der Entlastung zu erarbeiten, eigene Bedürfnisse<br />

verwirklichen zu erlernen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er sozialen Isolation entgegenzuarbeiten).<br />

Psychotherapeutische Ziele für Angehörige<br />

zu e<strong>in</strong>em adäquaten Umgang mit dementen Patienten<br />

(mod. nach Junkers 1994)<br />

4 Zugang zu dem sche<strong>in</strong>bar Unverständlichen der Äußerungen (verbal<br />

<strong>und</strong> nonverbal) des Kranken: Vermittlung des Regressionskonzept s<br />

4 Verstehen, dass affektives Erleben der Gegenwart Wurzeln <strong>in</strong> der<br />

Vergangenheit hat: Dieses öffnet den Zugang zum Hier <strong>und</strong> Jetzt<br />

4 Übernahme von Hilfs-Ich-Funktione n: Orientierende <strong>und</strong> strukturierende<br />

Reize von außen fördern die <strong>in</strong>nere Sicherheit des Patienten mit<br />

Demenz <strong>und</strong> verr<strong>in</strong>gern se<strong>in</strong> <strong>in</strong>neres Chaos<br />

4 Erfassung <strong>und</strong> Verstärkung von früher entwickelten Gewohnheiten<br />

<strong>und</strong> Ritualen <strong>in</strong> Form von Handlungsabläufen: Diese vertrauten<br />

Umgangsweisen fördern die Selbstwertgefühle des Kranken<br />

4 Körperlicher Kontakt ist die früheste Ebene der Kommunikation. (»Das<br />

Ich ist primär e<strong>in</strong> Körperliches« sagt Freud): Diese Ur-Kommunikation<br />

schafft Vertrauen <strong>und</strong> verr<strong>in</strong>gert Angst <strong>und</strong> Panik<br />

28.7 Ausblick<br />

E<strong>in</strong>e Behandlung fi ndet immer <strong>in</strong> Beziehungen statt. S<strong>in</strong>d diese auch zwischen<br />

Patienten mit Demenz <strong>und</strong> Th erapeuten oft schwierig <strong>und</strong> anders als »normale«<br />

(Was ist »normal«?), so s<strong>in</strong>d Resignation <strong>und</strong> Fatalismus nicht angebracht.<br />

Wer Patienten mit Demenz <strong>und</strong> deren Angehörige behandelt, erfährt, wie


Literatur<br />

501<br />

28<br />

kompliziert, abstrakt <strong>und</strong> menschenfe<strong>in</strong>dlich unsere Welt geworden ist. Notwendig<br />

ist es, den dementen Patienten nicht nur mit Defekten zu sehen, denn<br />

er verfügt noch über manche Ressourcen, die wir kaum erkennen. Er ist auf<br />

unsere therapeutische Hilfe angewiesen ist. E<strong>in</strong> Vorteil der Psychotherapie ist<br />

es, den Menschen so zu erkennen, erfahren, erfühlen <strong>und</strong> wahrzunehmen,<br />

wie er ist, <strong>und</strong> ressourcenorientiert die salutogenetischen Anteile therapeutisch<br />

zu nutzen. Aufschrei e<strong>in</strong>es Patienten mit Demenz, der gerade Ärzten<br />

<strong>und</strong> Psychotherapeuten gilt, verdeutlicht dies: »Ich hoff e ja, dass mich jemand<br />

versteht. Denn ich leide so!«<br />

Literatur<br />

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28<br />

502 Kapitel 28 · Zur Psychotherapie<br />

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503<br />

Sozialpädagogische Hilfen<br />

Bett<strong>in</strong>a Förtsch, <strong>Hans</strong> <strong>Förstl</strong> <strong>und</strong> Eva Gratzl-Pabst<br />

29.1 Rechtliche <strong>und</strong> fi nanzielle Fragen – 504<br />

29.1.1 Wozu dient e<strong>in</strong>e Betreuung? – 504<br />

29.1.2 Wer haftet für Schäden,<br />

die e<strong>in</strong> dementer Patient verursacht? – 508<br />

29.1.3 Kann der Patient Geschäfte abschließen<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong> Testament errichten? – 510<br />

29.1.4 Kann der Patient e<strong>in</strong> Kraftfahrzeug führen? – 513<br />

29.2 F<strong>in</strong>anzielle Ansprüche – 514<br />

29.2.1 Pfl egeversicherung – 514<br />

29.2.2 Sozialhilfe für die häusliche Pfl ege – 521<br />

29.2.3 Sozialhilfe für die Pfl ege im Heim – 526<br />

29.2.4 Rentenversicherung – 527<br />

29.3 Schwerbeh<strong>in</strong>dertenausweis – 529<br />

29.<strong>3.</strong>1 Welche Vorteile bietet e<strong>in</strong> Schwerbeh<strong>in</strong>dertenausweis? – 529<br />

29.<strong>3.</strong>2 Wie wird e<strong>in</strong> Schwerbeh<strong>in</strong>dertenausweis beantragt? – 529<br />

29.4 Welche Vorausverfügungen<br />

sollte der Patient treff en? – 530<br />

29.4.1 Vorsorgevollmacht – 530<br />

29.4.2 Betreuungsverfügung – 532<br />

29.4.3 Patientenverfügung – 533<br />

29.5 Versorgung für Demente: ambulante, teilstationäre<br />

<strong>und</strong> stationäre Versorgungse<strong>in</strong>richtungen – 534<br />

29.5.1 Ambulante Pfl egedienste – 534<br />

29.5.2 Teilstationäre E<strong>in</strong>richtungen – 537<br />

29.5.3 Stationäre E<strong>in</strong>richtungen – 538<br />

Literatur – 540<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6_29,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

29


29<br />

504 Kapitel 29 · Sozialpädagogische Hilfen<br />

Zum Thema<br />

Erwachsene Personen, die aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er psychischen Erkrankung oder e<strong>in</strong>er<br />

körperlichen, geistigen oder seelischen Beh<strong>in</strong>derung nicht mehr <strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d,<br />

ihre Angelegenheiten ganz oder teilweise zu regeln, können seit dem 1.1.1992<br />

unter Betreuung des Vorm<strong>und</strong>schaftsgerichts gestellt werden. Die Betroffenen<br />

bekommen dann für die Angelegenheiten, die sie nicht mehr selbst erledigen<br />

können, e<strong>in</strong>en Betreuer als gesetzlichen Vertreter .<br />

29.1 Rechtliche <strong>und</strong> fi nanzielle Fragen<br />

29.1.1 Wozu dient e<strong>in</strong>e Betreuung?<br />

Welche Auswirkungen hat die Betreuung<br />

auf den Patienten?<br />

Die Betreuung hat ke<strong>in</strong>e Auswirkungen auf die Geschäft sfähigkeit des Patienten.<br />

Bei Betreuten, die ihr Vermögen erheblich gefährden, kann das Vorm<strong>und</strong>schaft<br />

sgericht e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>willigungsvorbehalt anordnen, der sie <strong>in</strong> der<br />

Ausübung von Rechtsgeschäft en begrenzt. Sie können bei Geschäft en ab<br />

e<strong>in</strong>em gewissen Betrag dann nur mit Zustimmung des Betreuers rechtswirksame<br />

Willenserklärungen abgeben. Auf die Eheschließung oder die Errichtung<br />

e<strong>in</strong>es Testaments können die Mitwirkung des Betreuers sowie der<br />

E<strong>in</strong>willigungsvorbehalt allerd<strong>in</strong>gs nicht ausgeweitet werden.<br />

> Die Betreuung wird nur für erforderliche Aufgabenkreise<br />

errichtet.<br />

Die betroff ene Person erhält nur <strong>in</strong> den Bereichen Unterstützung, die sie selbst<br />

nicht mehr bewältigen kann . Die e<strong>in</strong>zurichtenden Bereiche nennt man Aufgabenkreise<br />

(s. unten, Übersicht). Ist der Betroff ene z. B. nicht mehr <strong>in</strong> der<br />

Lage, Rechnungen zu begleichen, Geld von der Bank abzuheben oder anzulegen,<br />

wird nur der Aufgabenkreis Verwaltung des Vermögens e<strong>in</strong>gerichtet,<br />

wenn er ansonsten noch alle<strong>in</strong>e zurechtkommt. Die rechtliche Betreuung orientiert<br />

sich somit an bereits existierenden Defi ziten beim Betroff enen <strong>und</strong> ist<br />

gleichermaßen das Gegenstück zur sogenannten Vorsorgevollmacht , mit der<br />

man »<strong>in</strong> guten Zeiten für schlechte Zeiten« <strong>in</strong> rechtlicher H<strong>in</strong>sicht Vorsorge<br />

trifft , <strong>in</strong>dem man e<strong>in</strong>en anderen handlungsfähig macht, wenn man nicht mehr<br />

für sich selbst handeln kann.


29.1 · Rechtliche <strong>und</strong> f<strong>in</strong>anzielle Fragen<br />

Mögliche Aufgabenkreise e<strong>in</strong>er Betreuung<br />

4 Fürsorge für ärztliche Heilbehandlung<br />

4 Bestimmung des Aufenthalts<br />

4 Organisation ambulanter Hilfen<br />

4 Wohnungsangelegenheiten<br />

4 Abschluss e<strong>in</strong>es Heimvertrags<br />

4 Weitere Aufgabenkreise<br />

505<br />

29<br />

E<strong>in</strong>e Betreuung kann nur e<strong>in</strong>gerichtet werden, wenn alle anderen Maßnahmen<br />

oder Hilfen (z. B. Vollmachten, ambulante Hilfen) nicht mehr ausreichen.<br />

Sollte allerd<strong>in</strong>gs bei e<strong>in</strong>em weglaufgefährdeten Patienten mit Alzheimer-Demenz<br />

e<strong>in</strong>e geschlossene Unterbr<strong>in</strong>gung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Pfl egeheim erforderlich<br />

werden, muss bei Fehlen e<strong>in</strong>er entsprechenden Vorsorgevollmacht e<strong>in</strong>e<br />

Betreuung angeregt werden. Darüber h<strong>in</strong>aus muss <strong>in</strong> jedem Fall die Zustimmung<br />

des Vorm<strong>und</strong>schaft sgerichts zu der geschlossenen Unterbr<strong>in</strong>gung e<strong>in</strong>geholt<br />

werden.<br />

Wer kann Betreuer werden?<br />

In der Regel wird der Vorm<strong>und</strong>schaft srichter geeignete Angehörige, Fre<strong>und</strong>e<br />

oder Bekannte als Betreuer bestellen. S<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e geeigneten Angehörigen vorhanden,<br />

werden Berufsbetreuer für diese Aufgabe e<strong>in</strong>gesetzt. Wünsche des<br />

Betroff enen nach e<strong>in</strong>em bestimmten Betreuer müssen berücksichtigt werden,<br />

wenn die Person bereit <strong>und</strong> geeignet ist.<br />

Wie wird e<strong>in</strong>e Betreuung angeregt?<br />

Die Anregung der Betreuung erfolgt beim Vorm<strong>und</strong>schaft sgericht des zuständigen<br />

Amtsgerichts auf dort anzufordernden Formblättern. Der zuständige<br />

Richter muss e<strong>in</strong> umfassendes fachärztliches Gutachten e<strong>in</strong>holen, den Betroffenen<br />

persönlich anhören <strong>und</strong> bei Bedarf e<strong>in</strong>en Verfahrenspfl eger h<strong>in</strong>zuziehen,<br />

bevor er e<strong>in</strong>en Beschluss fasst. Besitzt der Betreute über 5000 € Vermögen,<br />

muss er die Kosten für das Verfahren ganz oder teilweise selbst bezahlen.<br />

Nach spätestens 5 Jahren muss das Gericht prüfen, ob e<strong>in</strong>e Weiterführung der<br />

Betreuung oder e<strong>in</strong>e Ausweitung der Aufgabenkreise erforderlich ist. Dafür<br />

ist e<strong>in</strong> neues Verfahren mit neuen Gutachten, Wiederholung der Anhörung<br />

etc. notwendig. Die Kosten für e<strong>in</strong>en eventuell e<strong>in</strong>gesetzten Berufsbetreuer


29<br />

506 Kapitel 29 · Sozialpädagogische Hilfen<br />

müssen ab e<strong>in</strong>em Vermögen von 2600 € vom Betreuten übernommen werden.<br />

Bei ger<strong>in</strong>gerem Vermögen werden die Kosten von der Staatskasse übernommen.<br />

Das Eilverfahren<br />

E<strong>in</strong> Betreuungsverfahren ist oft e<strong>in</strong>e langwierige Angelegenheit, die mehrere<br />

Monate <strong>in</strong> Anspruch nehmen kann. Dieses Verfahren kann beschleunigt werden,<br />

wenn es als Eilverfahren gekennzeichnet beim zuständigen Vorm<strong>und</strong>schaft<br />

srichter vorgelegt wird. In bestimmten Eilfällen hat der Richter die<br />

Möglichkeit, durch e<strong>in</strong>stweilige Anordnungen e<strong>in</strong>en vorläufi gen Betreuer zu<br />

bestellen. Es müssen für diesen Fall dr<strong>in</strong>gende Gründe dafür sprechen, dass<br />

e<strong>in</strong> Aufschub der Betreuung mit Gefahr verb<strong>und</strong>en wäre. Außerdem muss e<strong>in</strong><br />

ärztliches Zeugnis über den Zustand des Betroff enen vorliegen.<br />

Die Aufgaben des Betreuers<br />

Der Betreuer muss <strong>und</strong> darf den Betreuten nur <strong>in</strong> den Bereichen gesetzlich<br />

vertreten, die ihm vom Vorm<strong>und</strong>schaft sgericht als Aufgabenkreise übertragen<br />

wurden . Er hat dabei die Wünsche <strong>und</strong> das Wohl des Betroff enen zu berücksichtigen.<br />

Der Betreuer muss e<strong>in</strong>en persönlichen Kontakt zum Betreuten<br />

pfl egen <strong>und</strong> die notwendigen Maßnahmen, soweit möglich, mit ihm besprechen.<br />

Der persönliche Lebensstil des Betroff enen muss berücksichtigt werden.<br />

So darf der Betreuer ihm nicht e<strong>in</strong>e sparsame Lebensführung aufzw<strong>in</strong>gen,<br />

wenn der Betreute über e<strong>in</strong> ausreichendes Vermögen verfügt.<br />

Aufgaben bei der Fürsorge zu ärztlicher Heilbehandlung<br />

Ärztliche Untersuchungen oder Behandlungen oder notwendige operative<br />

E<strong>in</strong>griff e s<strong>in</strong>d nur erlaubt, wenn der Patient se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>willigung dazu gibt . Es<br />

dürfen auch ke<strong>in</strong>e Behandlungen oder Operationen bei Personen vorgenommen<br />

werden, die aufgr<strong>und</strong> ihrer Erkrankung gar nicht mehr <strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d,<br />

e<strong>in</strong>e rechtswirksame E<strong>in</strong>willigung abzugeben. E<strong>in</strong>willigungsfähig ist nur, wer<br />

die Art, Bedeutung <strong>und</strong> Tragweite e<strong>in</strong>er Maßnahme, nach ausführlicher ärztlicher<br />

Aufk lärung <strong>und</strong> Beratung, zu erfassen <strong>und</strong> se<strong>in</strong>en Willen zu bestimmen<br />

vermag. Das heißt, es kann durchaus se<strong>in</strong>, dass e<strong>in</strong> dementer Patient für bestimmte<br />

ärztliche Behandlungen, z. B. bei grippalen Infekten oder e<strong>in</strong>em<br />

Knochenbruch, noch e<strong>in</strong>willigungsfähig ist, für andere, komplizierte E<strong>in</strong>griff e<br />

aber nicht mehr. Bei fehlender E<strong>in</strong>willigungsfähigkeit muss der bestellte Betreuer<br />

stellvertretend für den Patienten <strong>in</strong> die notwendige Operation oder


29.1 · Rechtliche <strong>und</strong> f<strong>in</strong>anzielle Fragen<br />

507<br />

29<br />

Heilbehandlung e<strong>in</strong>willigen. Handelt es sich bei der ärztlichen Behandlung<br />

um e<strong>in</strong>en lebensgefährlichen E<strong>in</strong>griff oder besteht die Gefahr e<strong>in</strong>es ges<strong>und</strong>heitlichen<br />

Schadens, muss der Betreuer dafür die Zustimmung des Vorm<strong>und</strong>schaft<br />

sgerichts e<strong>in</strong>holen.<br />

Zustimmung zur ärztlichen Behandlung im Heim<br />

Auch im Heim muss der Betreuer bei Untersuchungen oder Behandlungen<br />

se<strong>in</strong>e Zustimmung geben. Wird dem Patienten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Pfl egeheim ohne Zustimmung<br />

des Betreuers e<strong>in</strong>e Magensonde oder e<strong>in</strong> Blasenkatheter gelegt, die<br />

Medikation ohne Rückfrage geändert, oder wird der Patient zwangsernährt,<br />

kann e<strong>in</strong>e Anzeige wegen Körperverletzung erfolgen <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Anspruch auf<br />

Schadenersatz oder Schmerzensgeld entstehen.<br />

Zustimmung zu freiheitsentziehenden Maßnahmen im Heim<br />

Manchmal werden im Heim freiheitsentziehende Maßnahmen, z. B. die Fixierung<br />

am Bett mit Gurten, das Anbr<strong>in</strong>gen von Bettgittern oder die Ruhigstellung<br />

mit Medikamenten, zeitweise unumgänglich. Sie s<strong>in</strong>d nur dann zulässig,<br />

wenn sie zum Schutz des Patienten unbed<strong>in</strong>gt erforderlich s<strong>in</strong>d .<br />

Auch diese Maßnahmen müssen, sofern sie nicht nur e<strong>in</strong>malig erfolgen,<br />

mit dem Betreuer abgesprochen <strong>und</strong> von ihm genehmigt werden. Zudem<br />

muss auch das Vorm<strong>und</strong>schaft sgericht dazu se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>willigung geben. Alle<br />

freiheitsentziehenden Maßnahmen müssen vom Pfl egepersonal dokumentiert<br />

werden. Der Betreuer hat das Recht, die Aufzeichnungen <strong>in</strong> der Pfl egedokumentation<br />

e<strong>in</strong>zusehen.<br />

Aufgaben bei der Verwaltung des Vermögens<br />

Wird der Aufgabenkreis Verwaltung des Vermögens e<strong>in</strong>gerichtet, kann auch<br />

der Betreuer rechtswirksame Geschäft e für den Betreuten tätigen. Diese Ausweitung<br />

der Befugnisse bietet ke<strong>in</strong>en Schutz vor fi nanziellem Schaden, wenn<br />

der Betreute se<strong>in</strong> Vermögen durch unnütze Käufe erheblich schädigt, da der<br />

Betreute auch weiterh<strong>in</strong> Geschäft e abschließen kann.<br />

Erst e<strong>in</strong> vom Vorm<strong>und</strong>schaft sgericht e<strong>in</strong>gerichteter sog. E<strong>in</strong>willigungsvorbehalt<br />

beschränkt den Betroff enen <strong>in</strong> der Möglichkeit, Geschäft e abzuschließen<br />

oder Geld abzuheben. Nach E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>es E<strong>in</strong>willigungsvorbehalts<br />

können Geschäft e nur noch bis zu e<strong>in</strong>em vom Richter festgesetzten<br />

Betrag getätigt werden. Wird dieser überschritten, muss der Betreuer se<strong>in</strong>e<br />

Zustimmung geben, sonst ist das Geschäft unwirksam <strong>und</strong> kann nachträglich


29<br />

508 Kapitel 29 · Sozialpädagogische Hilfen<br />

rückgängig gemacht werden. Der Betreuer ist verpfl ichtet, das Vermögen des<br />

Betreuten uneigennützig <strong>und</strong> möglichst gew<strong>in</strong>nbr<strong>in</strong>gend zu verwalten. Das<br />

heißt, es dürfen ke<strong>in</strong>e größeren Schenkungen oder risikoreiche Aktienspekulationen<br />

vom Geld des Betroff enen getätigt werden. Größere Freiheiten bei<br />

der Verwaltung des Vermögens s<strong>in</strong>d gegeben, wenn rechtzeitig entsprechende<br />

Vollmachten erstellt wurden.<br />

Vermögensverzeichnis <strong>und</strong> Rechnungslegung<br />

Der Betreuer muss zu Beg<strong>in</strong>n der Betreuung e<strong>in</strong> Verzeichnis über das gesamte<br />

Vermögen des Betreuten erstellen. Zusätzlich muss dem Vorm<strong>und</strong>schaft sgericht<br />

jährlich e<strong>in</strong>e Abrechnung über die E<strong>in</strong>nahmen <strong>und</strong> Ausgaben vorgelegt<br />

werden. Wenn Ehegatten, Lebenspartner, Eltern oder K<strong>in</strong>der die Funktion<br />

des Betreuers erfüllen, können sie e<strong>in</strong>en Antrag auf Befreiung von der Rechnungslegungspfl<br />

icht stellen <strong>und</strong> müssen nicht für jeden ausgegebenen Euro<br />

Belege sammeln <strong>und</strong> diese dem Vorm<strong>und</strong>schaft sgericht nachweisen. Es bleibt<br />

jedoch bei der jährlichen Berichtspfl icht <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es aktuellen Vermögensverzeichnisses<br />

.<br />

Das Aufenthaltsbestimmungsrecht<br />

Wurde dem Betreuer der Aufgabenkreis Aufenthaltsbestimmung übertragen,<br />

hat er das Recht, den Betreuten nötigenfalls <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Heim unterzubr<strong>in</strong>gen .<br />

Sollte allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e geschlossene Unterbr<strong>in</strong>gung notwendig werden, muss<br />

dazu die E<strong>in</strong>willigung des Vorm<strong>und</strong>schaft sgerichts e<strong>in</strong>geholt werden. Wird<br />

dadurch e<strong>in</strong>e Wohnungsaufl ösung notwendig, kann der Betreuer nur dann<br />

das Mietverhältnis kündigen <strong>und</strong> die Wohnung räumen, wenn ihm dieser<br />

Aufgabenkreis vom Vorm<strong>und</strong>schaft sgericht übertragen wurde. E<strong>in</strong>e Wohnungsaufl<br />

ösung muss ebenfalls vom Vorm<strong>und</strong>schaft sgericht genehmigt werden.<br />

29.1.2 Wer haftet für Schäden,<br />

die e<strong>in</strong> dementer Patient verursacht?<br />

Patienten mit Demenz haben aufgr<strong>und</strong> ihrer Symptome e<strong>in</strong> erhöhtes Risiko,<br />

sich oder andere zu schädigen. Es stellt sich die Frage, <strong>in</strong>wiefern demente Patienten<br />

bei verursachten Schäden zivil- oder strafrechtlich zur Verantwortung<br />

gezogen werden können .


29.1 · Rechtliche <strong>und</strong> f<strong>in</strong>anzielle Fragen<br />

509<br />

> Bei Schuldunfähigkeit besteht ke<strong>in</strong> Schadenersatzanspruch.<br />

29<br />

Der Gesetzgeber regelt die zivilrechtliche Haft ungsfrage <strong>in</strong> § 827 BGB folgendermaßen:<br />

» E<strong>in</strong>e Person, die im Zustande der Bewusstlosigkeit oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em die freie<br />

Willensbestimmung ausschließenden Zustande krankhafter Störung der<br />

Geistestätigkeit e<strong>in</strong>em anderen Schaden zufügt, ist für den Schaden nicht<br />

verantwortlich. «<br />

Patienten mit e<strong>in</strong>er Alzheimer-Demenz gehören zu diesem Personenkreis,<br />

wenn sie sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen Zustand e<strong>in</strong>er krankhaft en Störung der Geistestätigkeit<br />

befi nden, der die freie Willensbestimmung ausschließt. Es kann<br />

ihnen dann zivilrechtlich nichts vorgeworfen werden, <strong>und</strong> demente Patienten<br />

müssen deshalb für verursachte Schäden <strong>in</strong> der Regel auch nicht haft en. Dies<br />

gilt nicht nur für die zivilrechtliche Haft ung, sondern auch für e<strong>in</strong>e eventuelle<br />

strafrechtliche Beurteilung. E<strong>in</strong>e Person, die nicht <strong>in</strong> der Lage ist, das Unrecht<br />

e<strong>in</strong>er Tat e<strong>in</strong>zusehen <strong>und</strong> nach dieser E<strong>in</strong>sicht zu handeln, ist strafrechtlich<br />

nicht schuldfähig. Kommt es zu e<strong>in</strong>er Anzeige, z. B. wenn e<strong>in</strong> dementer Patient<br />

im Supermarkt etwas ohne zu bezahlen <strong>in</strong> die Tasche gesteckt hat oder<br />

bl<strong>in</strong>dl<strong>in</strong>gs auf die Straße läuft <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en Autounfall verursacht, würde von<br />

e<strong>in</strong>er strafrechtlichen Verfolgung abgesehen <strong>und</strong> das Verfahren wegen Schuldunfähigkeit<br />

e<strong>in</strong>gestellt werden.<br />

Müssen Angehörige für vom Patienten verursachte Schäden<br />

haften?<br />

Angehörige, z. B. Ehepartner, s<strong>in</strong>d gegenseitig nicht für Schäden haft bar zu<br />

machen. Jeder erwachsene Mensch haft et nur dann für e<strong>in</strong>en Schaden, wenn<br />

er ihn selbst schuldhaft , also vorsätzlich oder fahrlässig, verursacht hat. Die<br />

Tatsache, dass man mit dem Schadenverursacher verheiratet ist, führt nicht zu<br />

e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen zivilrechtlichen Verantwortlichkeit. Es besteht auch ke<strong>in</strong>e<br />

Haft ungsverpfl ichtung für Angehörige wegen Verletzung der Aufsichtspfl icht .<br />

Eheleute <strong>und</strong> volljährige Angehörige s<strong>in</strong>d sich gegenseitig gr<strong>und</strong>sätzlich nicht<br />

gesetzlich zur Aufsicht verpfl ichtet.<br />

> Der Haushaltsvorstand muss voraussehbare Gefahrenquellen<br />

beseitigen.


29<br />

510 Kapitel 29 · Sozialpädagogische Hilfen<br />

Wenn feststeht, dass e<strong>in</strong> dementer Patient, der e<strong>in</strong>en Schaden verursacht hat,<br />

wegen Schuldunfähigkeit nicht haft et, muss damit gerechnet werden, dass der<br />

Geschädigte versuchen wird, Angehörige dafür verantwortlich zu machen. Er<br />

wird sich auf den Gr<strong>und</strong>satz berufen, dass der Haushaltsvorstand aufgr<strong>und</strong><br />

se<strong>in</strong>er Stellung <strong>in</strong> der Familie verh<strong>in</strong>dern muss, dass e<strong>in</strong> Mitglied se<strong>in</strong>es Hausstandes<br />

oder se<strong>in</strong> Ehepartner e<strong>in</strong>en Dritten verletzt oder schädigt. Ob er damit<br />

durchkommt, hängt von der Würdigung der E<strong>in</strong>zelumstände ab.<br />

Abschluss e<strong>in</strong>er Haftpfl ichtversicherung<br />

Es ist <strong>in</strong> jedem Fall anzuraten, e<strong>in</strong>e Haft pfl ichtversicherung abzuschließen,<br />

mit der die Ehepartner bzw. die ganze Familie vor Schadenersatzansprüchen<br />

geschützt werden. Allerd<strong>in</strong>gs ist wichtig, dass die Versicherung bei Abschluss<br />

des Vertrags ausdrücklich über das Bestehen der Alzheimer-Demenz <strong>in</strong>formiert<br />

wird <strong>und</strong> dass sie sich ausdrücklich bereit erklärt, die Betroff enen bzw.<br />

den Betroff enen mitzuversichern. Ist dies der Fall, so haft et das Versicherungsunternehmen<br />

für die vertraglich versicherten Schäden. Bei e<strong>in</strong>er bereits<br />

bestehenden Haft pfl ichtversicherung muss e<strong>in</strong>e »nachträglich e<strong>in</strong>getretene<br />

Gefahrenerhöhung« wie die Alzheimer-Demenz der Versicherung gemeldet<br />

werden. Andernfalls kann das Versicherungsunternehmen im Schadenfall<br />

den Vertrag fristlos kündigen <strong>und</strong> die Leistung verweigern.<br />

Haftung des gesetzlichen Betreuers<br />

Betreuer können für schuldhaft e Pfl ichtverletzung der ihnen übertragenen<br />

Aufgabenkreise haft bar gemacht werden. Zu diesen Aufgabenkreisen gehört<br />

die Aufsichtspfl icht aber nur dann, wenn dem Betreuer die gesamte Personensorge<br />

übertragen wurde. Ehrenamtliche Betreuer s<strong>in</strong>d z. B. <strong>in</strong> Bayern automatisch<br />

staatlich haft pfl ichtversichert, sodass bei fahrlässigen Handlungen Versicherungsschutz<br />

gegeben ist.<br />

29.1.3 Kann der Patient Geschäfte abschließen<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong> Testament errichten?<br />

Demente Patienten können ihre Angelegenheiten, besonders bei Geldgeschäften,<br />

oft nicht mehr überblicken . Sie s<strong>in</strong>d nicht mehr <strong>in</strong> der Lage, selbstständig<br />

Geld von der Bank abzuheben oder E<strong>in</strong>käufe zu erledigen. Den Inhalt von


29.1 · Rechtliche <strong>und</strong> f<strong>in</strong>anzielle Fragen<br />

511<br />

29<br />

Schrift stücken <strong>und</strong> Schreiben von Behörden, die ihnen vorgelegt werden,<br />

können sie oft nicht mehr nachvollziehen. Daraus ergeben sich Konsequenzen<br />

für die Geschäft s- <strong>und</strong> Testierfähigkeit .<br />

Wann ist der Patient geschäftsunfähig?<br />

Im Bürgerlichen Gesetzbuch ist geregelt, dass<br />

» Personen, die unter e<strong>in</strong>er nicht nur vorübergehenden krankhaften Störung<br />

der Geistestätigkeit leiden, welche die freie Willensbestimmung ausschließt,<br />

geschäftsunfähig s<strong>in</strong>d. Willenserklärungen, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen Zustand<br />

abgegeben werden, s<strong>in</strong>d nichtig. «<br />

<strong>Demenzen</strong> s<strong>in</strong>d meist den nicht nur vorübergehenden krankhaft en Störungen<br />

der Geistestätigkeit zuzuordnen. Ob sie die freie Willensbestimmung ausschließen,<br />

muss im E<strong>in</strong>zelfall geprüft bzw. nachgewiesen werden.<br />

Ist jeder demente Patient geschäftsunfähig?<br />

Besonders im frühen <strong>und</strong> oft auch noch im mittleren Stadium der Krankheit<br />

besteht bei überschaubaren Geschäft en, wie dem Kauf e<strong>in</strong>es neuen Fernsehapparats,<br />

noch die Fähigkeit, e<strong>in</strong>e gültige Willenserklärung abzugeben. Sollte<br />

der Patient aber e<strong>in</strong>en komplizierten Pachtvertrag abschließen, der e<strong>in</strong>e Fülle<br />

von Klauseln <strong>und</strong> Kle<strong>in</strong>gedrucktem be<strong>in</strong>haltet, wird wahrsche<strong>in</strong>lich ke<strong>in</strong>e<br />

Geschäft sfähigkeit mehr vorliegen. Die Geschäft sfähigkeit von dementen Patienten<br />

kann allerd<strong>in</strong>gs oft nicht e<strong>in</strong>deutig beurteilt werden, was durch den<br />

Wechsel von verwirrten <strong>und</strong> relativ klaren Tagen noch erschwert wird.<br />

Was kann man tun, wenn e<strong>in</strong> dementer Patient<br />

sich durch uns<strong>in</strong>nige Geschäfte erheblich schädigt?<br />

Raten Sie den Angehörigen, zu versuchen, das Geschäft zunächst auf dem Kulanzweg<br />

rückgängig zu machen. Viele Firmen s<strong>in</strong>d bereit, e<strong>in</strong> Geschäft zu annullieren,<br />

wenn sie darum gebeten <strong>und</strong> über die Geschäft sunfähigkeit des<br />

K<strong>und</strong>en <strong>in</strong>formiert werden. Sollte das nicht ausreichen, muss dem Geschäft spartner<br />

e<strong>in</strong> ärztliches Attest vorgelegt werden, das die Geschäft sunfähigkeit<br />

für dieses Geschäft nachweist. E<strong>in</strong>e solche fachärztliche Besche<strong>in</strong>igung sollte<br />

Aussagen darüber treff en, ob e<strong>in</strong>e dauerhaft e, krankhaft e Störung der Geistestätigkeit<br />

vorliegt, die das Urteilsvermögen <strong>und</strong> die Willensbildung erheblich<br />

bee<strong>in</strong>trächtigt. Der Arzt wird sich e<strong>in</strong> Bild davon machen, <strong>in</strong>wiefern die Bedeutung<br />

des Rechtsgeschäft s erkannt wurde, nach dieser Erkenntnis gehan-


29<br />

512 Kapitel 29 · Sozialpädagogische Hilfen<br />

delt werden konnte <strong>und</strong> ob Entscheidungen nach vernünft igen Erwägungen<br />

getroff en werden konnten. Im Rahmen e<strong>in</strong>es Attests muss außerdem geprüft<br />

werden, ob sich der Betroff ene <strong>in</strong> krankhaft er Weise von dem Willen e<strong>in</strong>es<br />

anderen bezüglich des Rechtsgeschäft s bee<strong>in</strong>fl ussen ließ.<br />

> Die gesetzliche Betreuung hat ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fl uss auf die Geschäftsfähigkeit<br />

des Betreuten.<br />

Dies gilt auch dann, wenn der Aufgabenkreis Verwaltung des Vermögens<br />

dem Betreuer übertragen wurde. Es besteht allerd<strong>in</strong>gs bei Bedarf die Möglichkeit,<br />

durch e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>willigungsvorbehalt den Betreuten bei der Durchführung<br />

von Rechtsgeschäft en zu beschränken.<br />

> Vollmachtgeber müssen geschäftsfähig se<strong>in</strong>.<br />

Vollmachten sollten rechtzeitig, im frühen Stadium der Demenz verfasst werden,<br />

da sie nur von voll geschäft sfähigen Personen erteilt werden können. Bei<br />

fraglicher Geschäft sfähigkeit ist es ratsam, e<strong>in</strong>en Notar h<strong>in</strong>zuzuziehen, der die<br />

Geschäft sfähigkeit im Rahmen der Beurk<strong>und</strong>ung überprüft .<br />

Kann e<strong>in</strong> dementer Patient<br />

e<strong>in</strong> rechtsgültiges Testament errichten?<br />

E<strong>in</strong> wirksames Testament kann nur von testierfähigen Personen errichtet werden,<br />

<strong>und</strong> das setzt die volle Geschäft sfähigkeit voraus. Im Bürgerlichen Gesetzbuch<br />

wird bestimmt, dass<br />

» e<strong>in</strong> Testament nicht errichten kann, wer unter krankhafter Störung der<br />

Geistestätigkeit (…) nicht <strong>in</strong> der Lage ist, die von ihm abgegebene Willenserklärung<br />

e<strong>in</strong>zusehen. «<br />

Sollte die Testierfähigkeit fraglich se<strong>in</strong>, ist es wie bei der Erstellung e<strong>in</strong>er Vollmacht<br />

s<strong>in</strong>nvoll, e<strong>in</strong>en Notar h<strong>in</strong>zuzuziehen <strong>und</strong> das Testament notariell beurk<strong>und</strong>en<br />

zu lassen. Ist die Testierfähigkeit vom Notar nicht e<strong>in</strong>deutig e<strong>in</strong>zuschätzen,<br />

sollte man e<strong>in</strong> fachärztliches Gutachten erstellen lassen. Im Rahmen<br />

dieses Attests muss sich der Arzt davon überzeugen, dass der Patient weiß,<br />

dass er e<strong>in</strong> Testament errichtet, den Inhalt des Testaments kennt <strong>und</strong> ihn mit<br />

eigenen Worten wiedergeben kann. Darüber h<strong>in</strong>aus muss überprüft werden,<br />

<strong>in</strong>wieweit der Patient <strong>in</strong> der Lage ist, sich e<strong>in</strong> klares Urteil darüber zu bilden,<br />

welche Auswirkungen das Testament auf die persönlichen <strong>und</strong> fi nanziellen<br />

Verhältnisse der betroff enen Person hat. Der Patient muss bei der Abfassung


29.1 · Rechtliche <strong>und</strong> f<strong>in</strong>anzielle Fragen<br />

513<br />

29<br />

des Testaments frei von E<strong>in</strong>fl üssen Dritter handeln können, d. h., er darf nicht<br />

dazu gedrängt oder genötigt worden se<strong>in</strong>.<br />

Anfechtung e<strong>in</strong>es Testaments<br />

Sollte e<strong>in</strong> Angehöriger das Testament später gerichtlich anfechten, muss er<br />

nachweisen, dass die Person nicht mehr testierfähig war, als sie das Testament<br />

unterzeichnete . Dieser Nachweis ist ohne entsprechend zeitnahes ärztliches<br />

Gutachten im Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> meistens sehr schwer zu erbr<strong>in</strong>gen, da die Anfechtung<br />

oft Jahre nach der Unterzeichnung des Testaments erfolgt <strong>und</strong> der Erblasser<br />

zu diesem Zeitpunkt oft schon verstorben ist.<br />

29.1.4 Kann der Patient e<strong>in</strong> Kraftfahrzeug führen?<br />

Schon im frühen Stadium kann e<strong>in</strong> Patient mit Demenz nicht mehr sicher mit<br />

dem Auto fahren . Durch die Erkrankung ist zum e<strong>in</strong>en die Konzentration<br />

herabgesetzt, zum anderen ist die E<strong>in</strong>schätzung von Geschw<strong>in</strong>digkeiten <strong>und</strong><br />

Entfernungen bee<strong>in</strong>trächtigt. Das kann <strong>in</strong> Situationen, <strong>in</strong> denen rasch <strong>und</strong><br />

sicher reagiert werden muss, Gefahren für den Patienten <strong>und</strong> für andere Verkehrsteilnehmer<br />

verursachen.<br />

> H<strong>in</strong>dern Sie den Patienten daran, mit dem Auto zu fahren.<br />

Behandelnde Ärzte <strong>und</strong> Angehörige müssen darauf bestehen, dass der Patient<br />

nicht mehr selbst fährt, um möglichen Gefahren für ihn <strong>und</strong> andere Verkehrsteilnehmer<br />

vorzubeugen. Da gerade männliche Patienten oft erhebliche Widerstände<br />

entwickeln, wenn das Fahren aufgegeben werden soll, sollte der<br />

Arzt den Patienten mit se<strong>in</strong>er ganzen Autorität <strong>und</strong> mit viel F<strong>in</strong>gerspitzengefühl<br />

über die bestehenden E<strong>in</strong>schränkungen der Fahrtauglichkeit <strong>in</strong>formieren.<br />

Bei krankheitsune<strong>in</strong>sichtigen Patienten helfen manchmal kle<strong>in</strong>e »Tricks«,<br />

um das Fahren zu verh<strong>in</strong>dern.<br />

»Tricks«, mit denen der Verzicht auf das Autofahren<br />

erleichtert werden kann<br />

Die Angehörigen erleichtern dem Patienten mit Behauptungen wie z. B. »Das<br />

Auto ist kaputt, die Reparatur vor dem TÜV wäre unglaublich teuer«, »Der<br />

Autoschlüssel ist verloren gegangen«, sich an e<strong>in</strong> Leben ohne Auto zu gewöhnen.<br />

Notfalls kann das Auto <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en fahruntüchtigen Zustand versetzt wer-


29<br />

514 Kapitel 29 · Sozialpädagogische Hilfen<br />

den, <strong>in</strong>dem die Batterie abgeklemmt wird. Manchmal ist es erforderlich, dass<br />

die Angehörigen die Autoschlüssel an e<strong>in</strong>em sicheren Ort aufb ewahren, der<br />

dem Patienten nicht zugänglich ist. Meist besteht dieses Problem nur im frühen<br />

Stadium der Demenz, <strong>und</strong> das Interesse am Autofahren lässt mit dem<br />

Fortschreiten der Krankheit nach.<br />

29.2 F<strong>in</strong>anzielle Ansprüche<br />

Bei der Pfl ege e<strong>in</strong>es dementen Patienten können e<strong>in</strong>e Reihe von fi nanziellen<br />

Ansprüchen geltend gemacht werden. Dazu gehören die Leistungen der Pfl egeversicherung,<br />

bei Bedarf auch Leistungen der Sozialhilfe <strong>und</strong> der Rentenversicherung.<br />

29.2.1 Pfl egeversicherung<br />

Patienten mit Demenz, die für die Verrichtungen des täglichen Lebens dauerhaft<br />

auf Hilfe <strong>und</strong> Betreuung für m<strong>in</strong>destens 90 M<strong>in</strong>uten täglich angewiesen<br />

s<strong>in</strong>d, haben Anspruch auf Leistungen der Pfl egeversicherun g (. Tab. 29.1).<br />

E<strong>in</strong>geschränkte Alltagskompetenz, Pfl egestufen<br />

<strong>und</strong> Härtefälle<br />

Pfl egestufe »0«:�Per Defi nition s<strong>in</strong>d Patienten mit e<strong>in</strong>er Demenz <strong>in</strong> ihrer Alltagskompetenz<br />

erheblich e<strong>in</strong>geschränkt. Für den dadurch entstehenden erheblichen,<br />

allgeme<strong>in</strong>en Betreuungsbedarf kann seit dem 1.7.2008 e<strong>in</strong>e Unterstützung<br />

zur Verfügung gestellt werden. Seit der Pfl egereform können die<br />

Betroff enen durch diese Regelung bis zu 200 € im Monat erhalten, entweder<br />

zusätzlich zur festgestellten Pfl egestufe, oder auch wenn ke<strong>in</strong>e Stufe 1–3 vorliegt.<br />

Pfl egestufe I – erhebliche Pfl egebedürftigkeit��iegt vor bei e<strong>in</strong>em m<strong>in</strong>destens<br />

e<strong>in</strong>mal täglich erforderlichen Hilfebedarf bei m<strong>in</strong>destens zwei Verrichtungen<br />

aus e<strong>in</strong>em oder mehreren Bereichen der Gr<strong>und</strong>pfl ege. Zusätzlich<br />

muss mehrfach wöchentlich Hilfe bei der hauswirtschaft lichen Versorgung<br />

benötigt werden. Der wöchentliche Zeitaufwand muss im Tagesdurchschnitt<br />

m<strong>in</strong>destens 90 M<strong>in</strong>uten betragen, <strong>und</strong> dabei müssen auf die Gr<strong>und</strong>pfl ege<br />

mehr als 45 M<strong>in</strong>uten entfallen.


29.2 · F<strong>in</strong>anzielle Ansprüche<br />

515<br />

29<br />

Pfl egestufe II – Schwerpfl egebedürftigkeit��iegt vor bei e<strong>in</strong>em m<strong>in</strong>destens<br />

dreimal täglich zu verschiedenen Zeiten erforderlichen Hilfebedarf bei<br />

der Gr<strong>und</strong>pfl ege <strong>und</strong> bei zusätzlich notwendiger Hilfe <strong>in</strong> der hauswirtschaft -<br />

lichen Versorgung. Im Tagesdurchschnitt muss der wöchentliche Zeitaufwand<br />

m<strong>in</strong>destens 3 St<strong>und</strong>en betragen, davon m<strong>in</strong>destens 2 St<strong>und</strong>en für die Gr<strong>und</strong>pfl<br />

ege.<br />

Pfl egestufe III – Schwerstpfl egebedürftigkeit� �iegt vor bei jederzeit,<br />

»r<strong>und</strong> um die Uhr« gegebenem Hilfebedarf <strong>und</strong> bei mehrfach wöchentlich<br />

notwendiger Hilfe <strong>in</strong> der hauswirtschaft lichen Versorgung. Im Schnitt muss<br />

der tägliche Hilfebedarf m<strong>in</strong>destens 5 St<strong>und</strong>en betragen, davon 4 St<strong>und</strong>en für<br />

die Gr<strong>und</strong>pfl ege.<br />

Härtefallregelung bei Pfl egestufe III:� Voraussetzungen für die Feststellung<br />

e<strong>in</strong>es Härtefalls mit höheren Leistungen s<strong>in</strong>d:<br />

4 Gr<strong>und</strong>pfl ege m<strong>in</strong>destens 6-mal täglich, davon m<strong>in</strong>destens 3-mal nachts,<br />

oder<br />

4 Gr<strong>und</strong>pfl ege kann tagsüber <strong>und</strong> nachts nur von mehreren Pfl egekräft en<br />

gleichzeitig <strong>und</strong> geme<strong>in</strong>sam erbracht werden. Dabei muss m<strong>in</strong>destens<br />

e<strong>in</strong>mal neben e<strong>in</strong>er professionellen Pfl egekraft e<strong>in</strong>e weitere Pfl egeperson<br />

notwendig se<strong>in</strong>.<br />

4 Bei der hauswirtschaft lichen Versorgung muss zusätzlich <strong>in</strong> jedem Fall<br />

ständige Hilfe notwendig se<strong>in</strong>.<br />

Gewöhnliche <strong>und</strong> wiederkehrende Verrichtungen im S<strong>in</strong>ne des Gesetzes s<strong>in</strong>d:<br />

4 Im Bereich der Körperpfl ege:<br />

4 Waschen, Duschen, Baden, Kämmen, Rasieren, Zahnpfl ege <strong>und</strong><br />

Darm- <strong>und</strong> Blasenentleerung.<br />

4 Im Bereich der Ernährung:<br />

4 M<strong>und</strong>gerechtes Zubereiten der Nahrung, Hilfe bei der Nahrungsaufnahme.<br />

4 Im Bereich der Mobilität:<br />

4 Aufstehen, Zu-Bett-Gehen <strong>und</strong> Umlagern, An- <strong>und</strong> Auskleiden, Gehen,<br />

Stehen, Treppensteigen, Verlassen <strong>und</strong> Wiederaufsuchen der<br />

Wohnung, Begleitung zum Arzt <strong>und</strong> zu ärztlich verordneten Th erapien.<br />

Der Antrag auf Leistungen der Pfl egeversicherung muss förmlich bei der Pfl egeversicherung<br />

gestellt werden. Die Antragsformulare erhält man von der


29<br />

516 Kapitel 29 · Sozialpädagogische Hilfen<br />

. Tab. 29.1 Leistungen der Pflegeversicherung im Überblick (Stand: 1. Juli 2008; B<strong>und</strong>esges<strong>und</strong>heitsm<strong>in</strong>isterium 2008)<br />

(In<br />

Härtefällen)<br />

Pflegestufe III<br />

Schwerstpflegebedürftige<br />

Pflegestufe II<br />

Schwerpflegebedürftige<br />

Leistungsart Zeitraum Pflegestufe I<br />

Erheblich<br />

Pflegebedürftige<br />

384,– 921,– 1432,– (1918,–)<br />

Häusliche Pflege Pflegesachleistung bis zu … €<br />

monatlich<br />

ab 01.07.2008 420,– 980,– 1470,– (1918,–)<br />

ab 01.01.2010 440,– 1040,– 1510,– (1918,–)<br />

ab 01.01.2012 450,– 1100,– 1550,– (1918,–)<br />

Pflegegeld … € monatlich 205,– 410,– 665,–<br />

ab 01.07.2008 215,– 420,– 675,–<br />

ab 01.01.2010 225,– 430,– 685,–<br />

ab 01.01.2012 235,– 440,– 700,–<br />

Pflegevertretung Pflegeaufwendungen bis zu 4 Wochen<br />

665,– a<br />

410,– a<br />

Durch nahe Angehörige Im Kalenderjahr bis zu … € 205,– a<br />

Durch sonstige Personen 1432,– 1432,– 1432,–<br />

675,– a<br />

420,– a<br />

Durch nahe Angehörige ab 01.07.2008 215,– a<br />

Durch sonstige Personen 1470,– 1470,– 1470,–


29.2 · F<strong>in</strong>anzielle Ansprüche<br />

. Tab. 29.1 Fortsetzung<br />

Leistungen der Pflegeversicherung im Überblick (Stand: 1. Juli 2008; B<strong>und</strong>esges<strong>und</strong>heitsm<strong>in</strong>isterium 2008)<br />

(In<br />

Härtefällen)<br />

Pflegestufe III<br />

Schwerstpflegebedürftige<br />

Pflegestufe II<br />

Schwerpflegebedürftige<br />

Leistungsart Zeitraum Pflegestufe I<br />

Erheblich<br />

Pflegebedürftige<br />

685,– a<br />

430,– a<br />

Durch nahe Angehörige ab 01.01.2010 225,– a<br />

Durch sonstige Personen 1510,– 1510,– 1510,–<br />

700,– a<br />

440,– a<br />

Durch nahe Angehörige ab 01.01.2012 235,– a<br />

Durch sonstige Personen 1550,– 1550,– 1550,–<br />

1432,– 1432,– 1432,–<br />

Kurzzeitpflege Pflegeaufwendungen bis zu<br />

… € im Jahr<br />

ab 01.07.2008 1470,– 1470,– 1470,–<br />

ab 01.01.2010 1510,– 1510,– 1510,–<br />

a Auf Nachweis werden den nahen Angehörigen notwendige Aufwendungen (Verdienstausfall , Fahrtkosten etc.) bis zum<br />

517<br />

Gesamtbetrag von 1432,– € erstattet.<br />

29


29<br />

518 Kapitel 29 · Sozialpädagogische Hilfen<br />

Krankenkasse. Dem Antrag sollte unbed<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong> aussagekräft iges ärztliches<br />

Attest beifügt werden, das neben dem Bef<strong>und</strong> auch auf den Hilfebedarf des<br />

Patienten bei den o. g. Verrichtungen des täglichen Lebens <strong>in</strong> den Bereichen<br />

Körperpfl ege, Ernährung, Mobilität <strong>und</strong> hauswirtschaft liche Versorgung e<strong>in</strong>geht.<br />

Der Mediz<strong>in</strong>ische Dienst der Krankenkasse (MdK) schickt nach e<strong>in</strong>er<br />

Term<strong>in</strong>vere<strong>in</strong>barung e<strong>in</strong>en Gutachter, der den Patienten zu Hause untersucht<br />

<strong>und</strong> <strong>in</strong> die Pfl egestufe e<strong>in</strong>gruppiert. Die Angehörigen sollten dem Gutachter<br />

bei se<strong>in</strong>em Besuch detailliert vom Umfang der Pfl ege berichten können. Dazu<br />

ist es zweckmäßig, e<strong>in</strong> Pfl egeprotokoll anzufertigen, das aufzeigt, wie viel Zeit<br />

für die e<strong>in</strong>zelnen Pfl egemaßnahmen täglich aufgewendet werden muss. Pfl egeprotokolle<br />

s<strong>in</strong>d ebenfalls bei der Krankenkasse erhältlich. Wenn im Beise<strong>in</strong><br />

des Patienten nicht off en über den Hilfebedarf gesprochen werden kann, kann<br />

man e<strong>in</strong> zusätzliches Gespräch ohne den Betroff enen mit dem Gutachter verlangen,<br />

<strong>in</strong> dem die entsprechenden Angaben gemacht werden können.<br />

Pfl egebedürftigkeit – Empfehlungen<br />

des B<strong>und</strong>esges<strong>und</strong>heitsm<strong>in</strong>isteriums (2008)<br />

1. Setzen Sie sich mit Ihrer Kranken-/Pflegekasse <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung.<br />

Selbstverständlich kann das auch e<strong>in</strong> Familienangehöriger, Nachbar<br />

oder guter Bekannter für Sie übernehmen, wenn Sie ihn dazu bevollmächtigen.<br />

2. Wenn Sie e<strong>in</strong>en Antrag bei Ihrer Pflegekasse gestellt haben, beauftragt<br />

diese den Mediz<strong>in</strong>ischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit<br />

der Begutachtung zur Feststellung Ihrer Pflegebedürftigkeit.<br />

<strong>3.</strong> Führen Sie e<strong>in</strong> Pflegetagebuch darüber, bei welchen Verrichtungen<br />

geholfen werden muss (z. B. Waschen, Anziehen, Essen), <strong>und</strong> wie viel<br />

Zeit die Hilfe <strong>in</strong> Anspruch nimmt. Diese Angaben s<strong>in</strong>d wichtig für die<br />

Begutachtung durch den MDK.<br />

4. Bitten Sie Ihre Pflegeperson, bei der Begutachtung durch den MDK<br />

anwesend zu se<strong>in</strong>.<br />

5. Sofern Sie es bereits e<strong>in</strong>schätzen können, teilen Sie Ihrer Pflegekasse<br />

bei der Antragstellung mit, ob Sie zu Hause oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Pflegeheim<br />

gepflegt werden möchten.<br />

6. Versuchen Sie e<strong>in</strong>zuschätzen, ob die Pflege längerfristig durch Ihre<br />

Angehörigen durchgeführt werden kann <strong>und</strong> ob Sie ergänzend 7


29.2 · F<strong>in</strong>anzielle Ansprüche<br />

519<br />

29<br />

oder ausschließlich auf die Hilfe e<strong>in</strong>es ambulanten Pflegedienstes<br />

zurückgreifen müssen.<br />

7. Ist Ihre Pflege zu Hause nicht möglich, so können Sie sich von Ihrer<br />

Pflegekasse über geeignete stationäre Pflegee<strong>in</strong>richtungen <strong>in</strong>formieren<br />

<strong>und</strong> beraten lassen.<br />

8. Bitten Sie Ihre Pflegekasse, Ihnen zum Kostenvergleich e<strong>in</strong>e Liste der<br />

zugelassenen ambulanten Pflegedienste bzw. stationären Pflegee<strong>in</strong>richtungen<br />

zu geben <strong>und</strong> Sie über niederschwellige Angebote zur<br />

Entlastung bei der Versorgung zu <strong>in</strong>formieren <strong>und</strong> zu beraten.<br />

9. Sollten Sie weitere Informationen benötigen, so können Sie sich an<br />

den Pflegestützpunkt <strong>in</strong> Ihrer Nähe oder an die Pflegeberatung Ihrer<br />

Pflegekasse wenden. Informationen erhalten Sie auch über das<br />

Bürgertelefon des B<strong>und</strong>esm<strong>in</strong>isteriums für Ges<strong>und</strong>heit unter 01805-<br />

9966-03 (Festpreis 14ct/M<strong>in</strong>ute, abweichende Preise aus den<br />

Mobilfunknetzen möglich).<br />

Privat Versicherte können sich an das Versicherungsunternehmen<br />

wenden, bei dem sie versichert s<strong>in</strong>d, oder an den Verband der privaten<br />

Krankenversicherung e. V., Bayenthalgürtel 26, 50968 Köln.<br />

Anerkannte Formen der Hilfe<br />

Die Hilfe bei e<strong>in</strong>er »Verrichtung des täglichen Lebens« kann <strong>in</strong> unterschiedlicher<br />

Form erbracht werden. So wird neben der teilweisen oder vollständigen<br />

Übernahme e<strong>in</strong>er Verrichtung sowie der Unterstützung bei e<strong>in</strong>er Pfl egeverrichtung<br />

auch die Anleitung <strong>und</strong> Beaufsichtigung als Hilfsform gesetzlich anerkannt.<br />

Hält sich der Pfl egende während der gesamten Verrichtung direkt<br />

beim dementen Patienten (d. h. im selben Raum) auf, wird diese Pfl egezeit als<br />

Hilfebedarf angerechnet. Oft ist e<strong>in</strong>e geeignete Anleitung für den Pfl egenden<br />

e<strong>in</strong>e langwierigere Tätigkeit als die rasche Übernahme, es lässt sich jedoch die<br />

Selbstständigkeit des Pfl egebedürft igen dadurch länger erhalten, was im S<strong>in</strong>ne<br />

der »aktivierenden Pfl ege « gesetzlich gefördert wird.<br />

Leistungen der Pfl egeversicherung für die häusliche Pfl ege<br />

Die Pfl egeversicherung sieht für die Anspruchsberechtigten Geld- oder Sachleistungen<br />

vor (. Tab. 29.2 <strong>und</strong> . Tab. 29.3) . Geldleistungen s<strong>in</strong>d zu erhalten,<br />

wenn die Familie oder andere Personen die Pfl ege des Patienten selbst über-


29<br />

520 Kapitel 29 · Sozialpädagogische Hilfen<br />

. Tab. 29.2 Pflegegeld (B<strong>und</strong>esges<strong>und</strong>heitsm<strong>in</strong>isterium 2008)<br />

Pflegestufe (Angaben <strong>in</strong> €) 2008 2010 2012<br />

Stufe I 215,– 225,– 235,–<br />

Stufe II 420,– 430,– 440,–<br />

Stufe III 675,– 685,– 700,–<br />

. Tab. 29.3 Ambulante Sachleistungen (Pflegehilfe ) (B<strong>und</strong>esges<strong>und</strong>heitsm<strong>in</strong>isterium<br />

2008)<br />

Pflegestufe (Angaben <strong>in</strong> €) 2008 2010 2012<br />

Stufe I 420,– 440,– 450,–<br />

Stufe II 980,– 1040,– 1100,–<br />

Stufe III a 1470,– 1510,– 1550,–<br />

a Die Stufe III für Härtefälle im ambulanten Bereich <strong>in</strong> Höhe von 1918 € monatlich<br />

bleibt unverändert.<br />

nehmen können. Die höheren Sachleistungen können <strong>in</strong> Anspruch genommen<br />

werden, wenn e<strong>in</strong> Pfl egedienst, der e<strong>in</strong>en Versorgungsvertrag mit der<br />

Krankenkasse abgeschlossen hat, die Pfl ege übernehmen soll oder der Betroffene<br />

z. B. e<strong>in</strong>e Tagespfl egee<strong>in</strong>richtung besucht. Es ist aber auch möglich, sowohl<br />

Geld- als auch Sachleistungen als sog. Komb<strong>in</strong>ationsleistungen zu beanspruchen.<br />

Da man sich schon vorab für e<strong>in</strong>e Leistungsform entscheiden muss,<br />

sollten sich Angehörige bei der Alzheimer-Gesellschaft oder der Pfl egekasse<br />

über die für sie günstigste Leistungsart beraten lassen, wobei e<strong>in</strong>e Änderung<br />

der beantragten Leistungsform bei allen Kassen gr<strong>und</strong>sätzlich möglich ist.<br />

Verh<strong>in</strong>derungspfl ege<br />

Bei Verh<strong>in</strong>derung der Pfl egeperson durch Krankheit oder e<strong>in</strong>en notwendigen<br />

Erholungsurlaub sollten die Betroff enen über e<strong>in</strong>en bestehenden Anspruch<br />

auf »Verh<strong>in</strong>derungspfl ege « <strong>in</strong>formiert werden. Diese Leistung kann zu Hause,


29.2 · F<strong>in</strong>anzielle Ansprüche<br />

521<br />

29<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen Wohnung oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>richtung, z. B. e<strong>in</strong>em Pfl egeheim,<br />

durchgeführt werden. Die entstehenden Kosten <strong>in</strong> Höhe von bis zu 1470 €, ab<br />

2010 1510 € <strong>und</strong> ab 2012 1550 € im Jahr werden mit den ambulanten Diensten<br />

bzw. den erwerbsmäßig tätigen Pfl egepersonen direkt abgerechnet.<br />

Kurzzeitpfl ege<br />

Zusätzlich zur Verh<strong>in</strong>derungspfl ege kann e<strong>in</strong>mal im Jahr für maximal 4 Wochen<br />

Kurzzeitpfl ege beansprucht werden. Auch dafür zahlt die Pfl egekasse<br />

jährlich 1470 €. Die Kurzzeitpfl ege muss allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er stationären E<strong>in</strong>richtung<br />

durchgeführt werden.<br />

Die Leistungen nach dem »Pfl egeleistungs-<br />

Ergänzungsgesetz«<br />

Diese gibt es seit dem 1.7.2008 nicht mehr, sie wurden durch Pfl egestufe 0<br />

ersetzt (7 29.2.1).<br />

Weitere Leistungen<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus gibt es noch Leistungen der Pfl egeversicherung für Pfl egehilfsmittel,<br />

technische Hilfsmittel <strong>und</strong> Kostenerstattung für beh<strong>in</strong>dertengerechte<br />

Umbaumaßnahmen der Wohnung bis zu 2557 €. Angehörige, die e<strong>in</strong>en<br />

dementen Patienten m<strong>in</strong>destens 14 St<strong>und</strong>en wöchentlich pfl egen <strong>und</strong> nicht<br />

mehr als 30 St<strong>und</strong>en <strong>in</strong> der Woche erwerbstätig s<strong>in</strong>d, können zudem Beiträge<br />

<strong>in</strong> die Rentenversicherung beanspruchen. Außerdem s<strong>in</strong>d sie kostenlos gesetzlich<br />

unfallversichert. Der Versicherungsschutz muss <strong>in</strong> beiden Fällen gesondert<br />

bei der Pfl egekasse beantragt werden.<br />

Leistungen zur stationären Pfl ege im Heim<br />

Für die Kosten der Pfl ege im Heim können ebenfalls Leistungen von der Pfl egeversicherung<br />

beantragt werden. Auch die Höhe der zu beanspruchenden<br />

Leistungen im Heim richten sich nach der Höhe der Pfl egestufe, die der MdK<br />

nach Begutachtung festlegt (. Tab. 29.4).<br />

29.2.2 Sozialhilfe für die häusliche Pfl ege<br />

Jede Person, die durch Krankheit oder Beh<strong>in</strong>derung <strong>in</strong> Not gerät <strong>und</strong> die notwendige<br />

Pfl ege nicht selbst fi nanzieren kann, hat Anspruch auf Sozialhilfe .


29<br />

522 Kapitel 29 · Sozialpädagogische Hilfen<br />

. Tab. 29.4 Leistungen der Pflegeversicherung im Überblick (Stand: 1. Juli 2008; B<strong>und</strong>esges<strong>und</strong>heitsm<strong>in</strong>isterium 2008)<br />

(In<br />

Härtefällen)<br />

Pflegestufe III<br />

Schwerstpflegebedürftige<br />

Pflegestufe II<br />

Schwerpflegebedürftige<br />

Leistungsart Zeitraum Pflegestufe I<br />

Erheblich<br />

Pflegebedürftige<br />

384,– 921,– 1432,–<br />

Pflegeaufwendungen<br />

bis zu … € monatlich<br />

Teilstationäre Tages<strong>und</strong><br />

Nachtpflege<br />

1470,– a<br />

980,– a<br />

ab 01.07.2008 420,– a<br />

1510,– a<br />

1040,– a<br />

ab 01.01.2010 440,– a<br />

1550,– a<br />

1100,– a<br />

ab 01.01.2012 450,– a<br />

460,– 460,– 460,–<br />

Leistungsbetrag<br />

bis zu … € jährlich<br />

2400,– b<br />

2400,– b<br />

ab 01.07.2008 2400,– b<br />

Ergänzende Leistungen<br />

für Pflegebedürftige mit<br />

erheblichem allgeme<strong>in</strong>em<br />

Betreuungsbedarf<br />

1023,– 1279,– 1432,– (1688,–)<br />

Vollstationäre Pflege Pflegeaufwendungen<br />

pauschal € monatlich<br />

ab 01.07.2008 1023,– 1279,– 1432,– (1750,–)<br />

ab 01.01.2010 1023,– 1279,– 1432,– (1825,–)<br />

ab 01.01.2012 1023,– 1279,– 1432,– (1918,–)<br />

Pflegeaufwendungen <strong>in</strong> Höhe von 10% des Heimentgelts, höchstens € 265,– monatlich<br />

Pflege <strong>in</strong> vollstationären<br />

E<strong>in</strong>richtungen der Hilfe<br />

für beh<strong>in</strong>derte Menschen<br />

Aufwendungen bis zu € 31,–monatlich<br />

Hilfsmittel, die zum Verbrauch<br />

bestimmt s<strong>in</strong>d


29.2 · F<strong>in</strong>anzielle Ansprüche<br />

. Tab. 29.4 Leistungen Fortsetzungder<br />

Pflegeversicherung im Überblick (Stand: 1. Juli 2008; B<strong>und</strong>esges<strong>und</strong>heitsm<strong>in</strong>isterium 2008)<br />

(In<br />

Härtefällen)<br />

Pflegestufe III<br />

Schwerstpflegebedürftige<br />

Pflegestufe II<br />

Schwerpflegebedürftige<br />

Leistungsart Zeitraum Pflegestufe I<br />

Erheblich<br />

Pflegebedürftige<br />

Technische Hilfsmittel Aufwendungen <strong>in</strong> Höhe von 90% der Kosten, unter Berücksichtigung von höchstens € 25,–<br />

Eigenbeteiligung je Hilfsmittel<br />

Aufwendungen <strong>in</strong> Höhe von bis zu € 2557,– je Maßnahme unter Berücksichtigung e<strong>in</strong>er<br />

angemessenen Eigenbeteiligung<br />

Maßnahnen zur Verbesserung<br />

des Wohnumfeldes<br />

Je nach Umfang 131,87<br />

der Pflegetätigkeit<br />

bis zu … € monatlich<br />

c<br />

263,74c 395,61c (Beitrittsgebiet) (111,44) (222,88) (334,32)<br />

Zahlung von Rentenversicherungsbeiträgen<br />

für Pflegepersonen<br />

8,20<br />

ab 01.07.2008 … €<br />

monatlich<br />

Zahlung von Beiträgen zur<br />

Arbeitslosenversicherung für<br />

Pflegepersonen bei Pflegezeit<br />

(Beitrittsgebiet) (6,93)<br />

523<br />

Zuschüsse zur Kranken- <strong>und</strong> ab 01.07.2008 monatlich durchschnittlich ca. € 140,–<br />

Pflegeversicherung für<br />

Pflegepersonen bei Pflegezeit<br />

a<br />

Neben dem Anspruch auf Tagespflege bleibt e<strong>in</strong> hälftiger Anspruch auf die jeweilige ambulante Pflegesachleistung oder das Pflegegeld<br />

erhalten.<br />

b<br />

Abhängig von der persönlichen Pflegesituation auf der Gr<strong>und</strong>lage der dauerhaften <strong>und</strong> regelmäßigen Schädigungen oder Fähigkeitsstörungen<br />

nach § 45a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1–9 SGB XI werden künftig bis zu 1200 € (Gr<strong>und</strong>betrag) bzw. bis zu 2400 € (erhöhter Betrag) gewährt.<br />

c<br />

Bei wenigstens 14 St<strong>und</strong>en Pflegetätigkeit pro Woche, wenn die Pflegeperson ke<strong>in</strong>er Beschäftigung von über 30 St<strong>und</strong>en nachgeht <strong>und</strong> sie<br />

29<br />

noch ke<strong>in</strong>e Vollrente wegen Alters bezieht.


29<br />

524 Kapitel 29 · Sozialpädagogische Hilfen<br />

Das heißt, dass auch materiell bedürft ige Menschen e<strong>in</strong> Recht auf häusliche<br />

Pfl ege haben oder nicht unterversorgt zu Hause leben müssen. Nach dem sog.<br />

Subsidiaritätspr<strong>in</strong>zip, das die Nachrangigkeit staatlicher Hilfen verlangt, gibt<br />

es diese Unterstützung aber nur, wenn der Hilfebedürft ige sich nicht selbst<br />

helfen kann <strong>und</strong> alle anderen Leistungen, auf die e<strong>in</strong> Anspruch besteht, ausgeschöpft<br />

s<strong>in</strong>d. Dazu gehören Leistungen der Kranken- <strong>und</strong> Pfl egekassen, der<br />

Beihilfe <strong>und</strong> der Rentenversicherungsträger. Auch Unterhaltsansprüche gegenüber<br />

Familienmitgliedern müssen geltend gemacht werden, bevor e<strong>in</strong> Anspruch<br />

entsteht.<br />

Wer hat Anspruch auf Hilfe zur Pfl ege durch das Sozialamt?<br />

Personen, die wegen Krankheit oder Beh<strong>in</strong>derung für die gewöhnlichen <strong>und</strong><br />

regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens<br />

auf fremde Hilfe angewiesen s<strong>in</strong>d, haben Anspruch auf Hilfe zur Pfl ege . Der<br />

Anspruch entsteht allerd<strong>in</strong>gs nur, wenn die Leistungen der Pfl egeversicherung<br />

nicht ausreichen (oder noch gar ke<strong>in</strong> Anspruch besteht), um den tatsächlichen<br />

Pfl egebedarf abzudecken. Als behandelnder Arzt sollten Sie, im<br />

Falle e<strong>in</strong>er fi nanziellen Notlage e<strong>in</strong>es Patienten, den Allgeme<strong>in</strong>en Sozialdienst<br />

(ASD) der Stadt oder Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong>formieren. Der zuständige Sozialarbeiter<br />

ist verpfl ichtet, auf Ihre Meldung zu reagieren <strong>und</strong> wird sich selbst, im Rahmen<br />

e<strong>in</strong>es Hausbesuchs, e<strong>in</strong> Bild von der Versorgungslage des Patienten machen.<br />

Er <strong>in</strong>formiert die Betroff enen ausführlich <strong>und</strong> <strong>in</strong>dividuell über die möglichen<br />

Hilfen <strong>und</strong> wird dann geme<strong>in</strong>sam mit den Betroff enen die zu beanspruchenden<br />

Leistungen beim örtlichen Sozialhilfeträger beantragen.<br />

> Eigenes E<strong>in</strong>kommen <strong>und</strong> Vermögen zur F<strong>in</strong>anzierung der Pfl egekosten<br />

muss e<strong>in</strong>gebracht werden.<br />

Zunächst muss das eigene E<strong>in</strong>kommen <strong>und</strong> Vermögen zur F<strong>in</strong>anzierung der<br />

Pfl egekosten e<strong>in</strong>gebracht werden.<br />

Das Sozialamt zahlt erst dann, wenn die Ersparnisse bis auf e<strong>in</strong> Schonvermögen<br />

verbraucht s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong> selbst bewohntes E<strong>in</strong>familienhaus gehört ebenfalls<br />

zum Schonvermögen <strong>und</strong> muss nicht verkauft werden, um die Pfl ege mit<br />

dem Erlös zu fi nanzieren.<br />

Unterhaltspfl icht durch Verwandte <strong>in</strong> gerader L<strong>in</strong>ie<br />

K<strong>in</strong>der s<strong>in</strong>d ihren <strong>in</strong> Not geratenen Eltern gegenüber zum Unterhalt verpfl ichtet.<br />

Da ihnen beim E<strong>in</strong>satz des Vermögens e<strong>in</strong> hoher Freibetrag e<strong>in</strong>geräumt


29.2 · F<strong>in</strong>anzielle Ansprüche<br />

525<br />

29<br />

wird, sollte aber auf ke<strong>in</strong>en Fall auf e<strong>in</strong>en Sozialhilfeantrag verzichtet werden.<br />

Seit dem 1.1.2003 gilt zudem das sogenannte Gr<strong>und</strong>sicherungsgesetz. Nach<br />

diesem Gesetz können bei entsprechender Bedürft igkeit eigenständige soziale<br />

Leistungen unter weitestgehendem Verzicht auf Unterhaltsansprüche gegenüber<br />

Angehörigen <strong>in</strong> Anspruch genommen werden.<br />

Welche Leistungen können beansprucht werden?<br />

Die Kosten für die notwendige Pfl ege durch e<strong>in</strong>en ambulanten Dienst werden<br />

vom Sozialamt übernommen, wenn die Leistungen der Pfl egeversicherung<br />

ausgeschöpft s<strong>in</strong>d. Allerd<strong>in</strong>gs dürfen gegenüber e<strong>in</strong>er Heimunterbr<strong>in</strong>gung<br />

ke<strong>in</strong>e unverhältnismäßigen Mehrkosten entstehen.<br />

F<strong>in</strong>anzierung von Haushaltshilfen<br />

Wenn ke<strong>in</strong>e weiteren Angehörigen im Haushalt leben, die <strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d,<br />

die Hausarbeit zu verrichten, können die anfallenden Kosten für e<strong>in</strong>e Haushaltshilfe<br />

übernommen werden. Das gilt aber ebenfalls nur, wenn die Leistungen<br />

der Pfl egeversicherung bereits ausgeschöpft s<strong>in</strong>d.<br />

F<strong>in</strong>anzierung von Tagespfl egee<strong>in</strong>richtungen<br />

E<strong>in</strong>e notwendige teilstationäre Pfl ege <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Tagespfl egee<strong>in</strong>richtung kann<br />

über die Sozialhilfe fi nanziert werden, wenn die Leistungen der Pfl egeversicherung<br />

dafür nicht ausreichen. Darüber h<strong>in</strong>aus können auch anfallende<br />

Fahrtkosten, wie der Hol- <strong>und</strong> Br<strong>in</strong>gdienst, beantragt werden.<br />

F<strong>in</strong>anzierung von Kurzzeitpfl egee<strong>in</strong>richtungen<br />

Wenn für pfl egende Angehörige e<strong>in</strong> Kur- oder Krankenhausaufenthalt für ihre<br />

Ges<strong>und</strong>heit notwendig wird, können die Kosten für die vorübergehende<br />

Unterbr<strong>in</strong>gung des Patienten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Kurzzeitpfl egee<strong>in</strong>richtung von der Sozialhilfe<br />

übernommen werden .<br />

Wie wird Sozialhilfe beantragt?<br />

Sozialhilfe muss förmlich , d. h. mit Formblättern des Sozialamts, beantragt<br />

werden. Die Sozialhilfe setzt erst dann e<strong>in</strong>, wenn das Sozialamt von der Notlage<br />

e<strong>in</strong>er Person erfährt. Örtlich zuständig ist das Sozialamt, <strong>in</strong> dessen Bereich<br />

sich der Hilfesuchende tatsächlich aufh ält. Das Sozialamt verlangt Nachweise<br />

über die E<strong>in</strong>kommensverhältnisse <strong>und</strong> das Vermögen des Hilfesuchenden<br />

<strong>und</strong> der Personen oder Familienangehörigen, die mit ihm im gleichen


29<br />

526 Kapitel 29 · Sozialpädagogische Hilfen<br />

Haushalt leben. Zudem müssen auch die unterhaltspfl ichtigen Angehörigen,<br />

wie K<strong>in</strong>der, Nachweise über ihr E<strong>in</strong>kommen <strong>und</strong> Vermögen erbr<strong>in</strong>gen. Der<br />

Antragsteller ist zur Mitwirkung bei diesem Antragsverfahren verpfl ichtet,<br />

d. h., dass alle Besche<strong>in</strong>igungen, die das Sozialamt verlangt, beschafft <strong>und</strong> vorgelegt<br />

werden müssen.<br />

29.2.3 Sozialhilfe für die Pfl ege im Heim<br />

Wenn die Angehörigen der Belastung durch die Pfl ege zu Hause nicht mehr<br />

gewachsen s<strong>in</strong>d, wird meist e<strong>in</strong>e Unterbr<strong>in</strong>gung des Patienten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Pfl egeheim<br />

erforderlich . Die Übernahme der Kosten für das Heim kann beim<br />

überörtlichen Sozialhilfeträger beantragt werden, wenn der Betroff ene die anfallenden<br />

Kosten nicht selbst tragen kann.<br />

Wann kann man Kosten für die Pfl ege im Heim<br />

von der Sozialhilfe beantragen?<br />

Der Betroff ene muss zunächst das eigene E<strong>in</strong>kommen <strong>und</strong> Vermögen für die<br />

F<strong>in</strong>anzierung der Pfl egeheimkosten verbrauchen. Zudem müssen Unterhaltsansprüche<br />

gegenüber Verwandten <strong>in</strong> gerader L<strong>in</strong>ie <strong>und</strong> die Leistungen der<br />

Pfl egeversicherung ausgeschöpft se<strong>in</strong>, bevor der Sozialhilfeträger die Heimkosten<br />

fi nanziert.<br />

Muss der Betroff ene se<strong>in</strong> gesamtes E<strong>in</strong>kommen<br />

<strong>und</strong> Vermögen für die Heimfi nanzierung aufbrauchen?<br />

Das eigene E<strong>in</strong>kommen <strong>und</strong> Vermögen muss bis auf e<strong>in</strong> verbraucht se<strong>in</strong>, bevor<br />

der Sozialhilfeträger die Kosten übernimmt. Verbleibt der Ehepartner des<br />

Betroff enen zu Hause <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em eigenen E<strong>in</strong>familienhaus, muss das Haus nicht<br />

verkauft werden, um von dem Erlös die Kosten für das Heim zu fi nanzieren.<br />

Der notwendige Lebensunterhalt des zu Hause lebenden Ehepartners wird<br />

anhand der laufenden Kosten, z. B. für Miete, errechnet <strong>und</strong> bleibt erhalten.<br />

Wer ist unterhaltspfl ichtig?<br />

Verwandte <strong>in</strong> gerader L<strong>in</strong>ie (K<strong>in</strong>der, Eltern) <strong>und</strong> Ehepartner s<strong>in</strong>d gegenseitig<br />

zum Unterhalt verpfl ichtet <strong>und</strong> werden zur Heimfi nanzierung herangezogen,<br />

wenn sie dazu <strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d. Die Ehepartner der Unterhaltspfl ichtigen, Enkelk<strong>in</strong>der<br />

<strong>und</strong> geschiedene Ehepartner werden nicht zu Zahlungen herangezogen<br />

.


29.2 · F<strong>in</strong>anzielle Ansprüche<br />

527<br />

29<br />

Müssen K<strong>in</strong>der ihr Vermögen<br />

zur Heimfi nanzierung e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen?<br />

K<strong>in</strong>der müssen, wenn sie sehr wohlhabend s<strong>in</strong>d, von ihrem Teil des Vermögens<br />

e<strong>in</strong>en Beitrag <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er Zuzahlung zu den Heimkosten erbr<strong>in</strong>gen.<br />

K<strong>in</strong>der s<strong>in</strong>d, im Gegensatz zu den Ehepartnern, nicht gesteigert unterhaltspfl<br />

ichtig, <strong>und</strong> es wird ihnen somit e<strong>in</strong> wesentlich höherer Freibetrag beim<br />

Vermögen zugestanden. Auch hier zählen e<strong>in</strong> selbstbewohntes E<strong>in</strong>familienhaus<br />

oder e<strong>in</strong>e selbstbewohnte Eigentumswohnung zum Schonvermögen ,<br />

<strong>und</strong> diese werden nicht zum Vermögen gerechnet.<br />

> Schenkungen müssen zurückgegeben werden.<br />

Hat der Betroff ene oder se<strong>in</strong> Ehepartner se<strong>in</strong> Vermögen verschenkt <strong>und</strong> ist<br />

dann selbst sozialhilfebedürft ig geworden, muss er e<strong>in</strong>e bis zu 10 Jahre zurückliegende<br />

Schenkung rückgängig machen. Wurde e<strong>in</strong> Haus <strong>in</strong> den letzten<br />

10 Jahren an die K<strong>in</strong>der überschrieben, s<strong>in</strong>d diese verpfl ichtet, so lange die<br />

Kosten für das Pfl egeheim zu übernehmen, bis der geschätzte damalige Verkehrswert<br />

des Hauses aufgebraucht ist.<br />

> Das Bankgeheimnis bleibt unangetastet.<br />

Der Sozialhilfeträger verlangt e<strong>in</strong>e Off enlegung der E<strong>in</strong>künft e <strong>und</strong> des Vermögens<br />

des Antragstellers <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er Angehörigen. Das Bankgeheimnis darf<br />

aber nicht angetastet werden. Sieht das Sozialamt jedoch berechtigte Gründe,<br />

dass die vorgelegten Belege unvollständig s<strong>in</strong>d, kann es sich e<strong>in</strong>e Erklärung<br />

vom Antragsteller unterzeichnen lassen, nach der die Bank von ihrem Bankgeheimnis<br />

entb<strong>und</strong>en wird <strong>und</strong> die vom Sozialamt direkt geforderten Auskünft<br />

e geben muss. Die Angaben zum Vermögen werden anhand der vorgelegten<br />

Konten über e<strong>in</strong>en Zeitraum von bis zu 10 Jahren überprüft .<br />

29.2.4 Rentenversicherung<br />

Demente Patienten s<strong>in</strong>d häufi g schon im frühen Stadium der Krankheit den<br />

Anforderungen im Berufsleben nicht mehr gewachsen. Um Überforderungen<br />

<strong>und</strong> Kränkungen am Arbeitsplatz zu vermeiden, sollte man ihnen e<strong>in</strong>en rechtzeitigen<br />

<strong>und</strong> würdevollen Ausstieg aus dem Berufsleben ermöglichen .


29<br />

528 Kapitel 29 · Sozialpädagogische Hilfen<br />

Unter welchen Umständen können sich demente Patienten<br />

vorzeitig berenten lassen?<br />

Wenn e<strong>in</strong> dementer Patient aus ges<strong>und</strong>heitlichen Gründen nicht mehr <strong>in</strong> der<br />

Lage ist, se<strong>in</strong>en Beruf auszuüben, da er höchstens noch e<strong>in</strong>er Tätigkeit <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Umfang von täglich maximal 3 St<strong>und</strong>en nachgehen kann, ist er oder sie<br />

erwerbsgem<strong>in</strong>dert <strong>und</strong> kann e<strong>in</strong>e Rente wegen Erwerbsm<strong>in</strong>derung beantragen.<br />

Für die Gewährung e<strong>in</strong>er Erwerbsm<strong>in</strong>derungsrente gelten folgende Voraussetzungen:<br />

4 der Rentenversicherungsträger (BfA oder LVA) hat die Erwerbsunfähigkeit<br />

festgestellt,<br />

4 die Wartezeit (= M<strong>in</strong>destversicherungszeit) von 5 Jahren ist erfüllt,<br />

4 während der letzten 5 Jahre bestand m<strong>in</strong>destens 3 Jahre lang e<strong>in</strong> versicherungspfl<br />

ichtiges Arbeitsverhältnis.<br />

E<strong>in</strong> H<strong>in</strong>zuverdienst zur Rente ist nur auf Ger<strong>in</strong>gfügigkeitsbasis möglich. Der<br />

Antrag auf Erwerbsm<strong>in</strong>derungsrente wird förmlich beim Rentenversicherungsträger<br />

gestellt. Das Verfahren kann mehrere Monate dauern. Als behandelnder<br />

Arzt sollten Sie den Patienten also rechtzeitig auff ordern, vor dem<br />

Ablaufen des Krankengeldes (Laufzeit maximal 18 Monate) e<strong>in</strong>en Rentenantrag<br />

zu stellen. Versichertenälteste helfen dem Patienten kostenlos beim Ausfüllen<br />

der Anträge <strong>und</strong> beraten über die Höhe der zu erwartenden Erwerbsm<strong>in</strong>derungsrente.<br />

E<strong>in</strong>e Adressenliste der Versichertenältesten <strong>in</strong> der Nähe<br />

kann beim Rentenversicherungsträger angefordert werden.<br />

Besonders im frühen Stadium der Demenz besteht die Gefahr, dass die<br />

ärztlichen Gutachter der Rentenversicherung die berufl iche Leistungsfähigkeit<br />

des Patienten überschätzen <strong>und</strong> den Rentenantrag ablehnen. Teilweise<br />

wird den Betroff enen empfohlen, fi rmen<strong>in</strong>tern an e<strong>in</strong>e Stelle mit ger<strong>in</strong>gerer<br />

Leistungsanforderung zu wechseln. Da bei dementen Patienten ja gerade das<br />

Neue<strong>in</strong>speichern von Informationen gestört ist, wirkt sich e<strong>in</strong> solcher Stellenwechsel<br />

<strong>in</strong> jedem Fall kontraproduktiv aus. In diesem Fall sollte unbed<strong>in</strong>gt<br />

rechtzeitig Widerspruch e<strong>in</strong>gelegt werden. Erstellen Sie als behandelnder Arzt<br />

e<strong>in</strong> aussagekräft iges ärztliches Attest, das dem Widerspruchsschreiben beigelegt<br />

wird. In Zusammenarbeit mit dem Vorgesetzten des Patienten <strong>und</strong>/oder<br />

dem Betriebsarzt sollten die kognitiven Defi zite, Fehlleistungen bei der Erledigung<br />

der berufl ichen Tätigkeit <strong>und</strong> die Überforderungssituationen im Attest<br />

möglichst konkret <strong>und</strong> beispielhaft beschrieben werden.


29.3 · Schwerbeh<strong>in</strong>dertenausweis<br />

29.3 Schwerbeh<strong>in</strong>dertenausweis<br />

29.<strong>3.</strong>1 Welche Vorteile bietet e<strong>in</strong><br />

Schwerbeh<strong>in</strong>dertenausweis?<br />

529<br />

29<br />

E<strong>in</strong>e Demenz wird ab e<strong>in</strong>em gewissen Schweregrad als Schwerbeh<strong>in</strong>derung<br />

anerkannt. Durch die Anerkennung als Schwerbeh<strong>in</strong>derter entsteht e<strong>in</strong> Anspruch<br />

auf e<strong>in</strong>en Schwerbeh<strong>in</strong>dertenausweis mit den entsprechenden Nachteilsausgleichen.<br />

Als Beh<strong>in</strong>derung wird e<strong>in</strong>e Erkrankung angesehen, die dauerhaft<br />

zu Funktionsbee<strong>in</strong>trächtigungen <strong>in</strong> allen Lebensbereichen führt. Dieser<br />

Zustand muss für m<strong>in</strong>destens 6 Monate bestehen. Demenzerkrankungen<br />

werden im Allgeme<strong>in</strong>en als »chronische Leiden, die nicht zu heilen s<strong>in</strong>d <strong>und</strong><br />

zu Bee<strong>in</strong>trächtigungen <strong>in</strong> allen Bereichen des Lebens führen« als Beh<strong>in</strong>derung<br />

anerkannt. Schwerbeh<strong>in</strong>derte s<strong>in</strong>d Personen mit e<strong>in</strong>em Grad der Beh<strong>in</strong>derung<br />

(GdB) von m<strong>in</strong>destens 50 von 100.<br />

E<strong>in</strong> Schwerbeh<strong>in</strong>dertenausweis kann e<strong>in</strong>e Reihe von steuerlichen <strong>und</strong><br />

nichtsteuerlichen »Nachteilsausgleichen« br<strong>in</strong>gen. Die wichtigsten davon<br />

s<strong>in</strong> d:<br />

4 Kraft fahrzeugsteuerbefreiung oder -ermäßigung,<br />

4 Freibetrag bei der Lohn- <strong>und</strong> E<strong>in</strong>kommensteuer,<br />

4 Freifahrten mit öff entlichen Verkehrsmitteln <strong>und</strong> Freifahrten für Begleitpersonen,<br />

4 Ermäßigung/Befreiung bei R<strong>und</strong>funk- <strong>und</strong> Telefongebühren,<br />

4 Zuschüsse zur Wohnraumanpassung.<br />

29.<strong>3.</strong>2 Wie wird e<strong>in</strong> Schwerbeh<strong>in</strong>dertenausweis beantragt?<br />

Anträge auf Anerkennung als Schwerbeh<strong>in</strong>derter müssen beim Versorgungsamt<br />

gestellt werden. Im Antrag sollten alle vorliegenden Beh<strong>in</strong>derungen aufgelistet<br />

<strong>und</strong> alle Ärzte, Krankenhäuser <strong>und</strong> Rehabilitationskl<strong>in</strong>iken angegeben<br />

werden, die Atteste oder Gutachten zur Beh<strong>in</strong>derung des Patienten erstellen<br />

könne n. Der Patient muss die behandelnden Ärzte von der Schweigepfl icht<br />

entb<strong>in</strong>den, sonst dürfen sie Diagnosen <strong>und</strong> Bef<strong>und</strong>e nicht weiterreichen. Dafür<br />

gibt es entsprechende Vordrucke, die dem Antrag beiliegen. Es dauert oft<br />

mehrere Monate, bis das Verfahren abgeschlossen ist <strong>und</strong> bis die Betroff enen<br />

e<strong>in</strong>en Schwerbeh<strong>in</strong>dertenausweis erhalten, der den Grad der Beh<strong>in</strong>derung


29<br />

530 Kapitel 29 · Sozialpädagogische Hilfen<br />

<strong>und</strong> die anerkannten Merkzeichen enthält. Letztere müssen dem Antrag eigens<br />

angeführt werden. Für Patienten mit Alzheimer-Demenz kommen die<br />

vier Merkzeichen H (für Hilfl osigkeit), G (für Gehbeh<strong>in</strong>derung aufgr<strong>und</strong> örtlicher<br />

Desorientierung), B (für die erforderliche Begleitung) <strong>und</strong> RF (Befreiung<br />

von R<strong>und</strong>funkgebühren, wenn aufgr<strong>und</strong> von krankheitsbed<strong>in</strong>gtem störendem<br />

Verhalten wie Bewegungsunruhe, Aggressivität oder lautem Sprechen<br />

nicht mehr an öff entlichen Veranstaltungen teilgenommen werden kann) <strong>in</strong>frage.<br />

29.4 Welche Vorausverfügungen<br />

sollte der Patient treff en?<br />

Patienten, die an e<strong>in</strong>er Demenz im frühen Stadium leiden, sollten rechtzeitig<br />

durch Vollmachten <strong>und</strong> Verfügunge n Vorsorge für die Zukunft treff en. Im<br />

frühen Stadium der Demenz s<strong>in</strong>d die Betroff enen noch <strong>in</strong> der Lage, zu bestimmen,<br />

wer <strong>in</strong> Zukunft ihre Behördenangelegenheiten regeln <strong>und</strong> ihr Vermögen<br />

verwalten soll, wie im Falle der Pfl egebedürft igkeit die mediz<strong>in</strong>ische<br />

Behandlung auszusehen hat <strong>und</strong> wen sie sich ggf. als gesetzlichen Betreuer<br />

wünschen. Ganz besonders für alle<strong>in</strong>stehende Erkrankte ist e<strong>in</strong>e solche Regelung<br />

ihrer wichtigsten Lebensbereiche <strong>in</strong> rechtzeitiger, möglichst weitgehender<br />

Eigenbestimmung von Bedeutung, da sie nicht auf die diesbezüglichen<br />

Ressourcen von Angehörigen zurückgreifen können. Als behandelnder Arzt<br />

sollten Sie den Patienten <strong>und</strong> ggf. se<strong>in</strong>e Familie nachdrücklich auf die Notwendigkeit<br />

der frühzeitigen Errichtung von Willenserklärungen zur Vorsorge<br />

h<strong>in</strong>weisen.<br />

Es gibt dafür verschiedene Möglichkeiten. Die wichtigsten s<strong>in</strong>d:<br />

4 Vorsorgevollmacht,<br />

4 Patientenverfügung,<br />

4 Betreuungsverfügung.<br />

29.4.1 Vorsorgevollmacht<br />

E<strong>in</strong>e Vorsorgevollmacht ist e<strong>in</strong>e schrift liche Willenserklärung, durch die e<strong>in</strong>e<br />

oder mehrere Personen für die <strong>in</strong> der Vollmacht genannten Aufgaben zu<br />

e<strong>in</strong>em späteren Zeitpunkt für den Vollmachtgeber handeln könne n. E<strong>in</strong>e Vor-


29.4 · Vorausverfügungen<br />

531<br />

29<br />

sorgevollmacht befugt den Bevollmächtigten also nicht sofort zu rechtswirksamem<br />

Handeln, sondern erst zu dem Zeitpunkt, der <strong>in</strong> der Vollmacht bestimmt<br />

wurde. Der Patient sollte ärztlicherseits dah<strong>in</strong>gehend beraten werden,<br />

rechtzeitig e<strong>in</strong>er Person se<strong>in</strong>es Vertrauens e<strong>in</strong>e Vorsorgevollmacht auszustellen,<br />

die den Bevollmächtigten befugt, im Krankheitsfall für den Patienten<br />

Bankgeschäft e zu erledigen, bei Behörden oder Versicherungen Anträge zu<br />

stellen <strong>und</strong> die Post zu öff nen. Nur voll geschäft sfähige Personen können<br />

rechtsgültige Vollmachten erteilen. E<strong>in</strong>e Vollmacht wird nicht wie e<strong>in</strong>e gesetzliche<br />

Betreuung von staatlicher Seite kontrolliert.<br />

Warum ist e<strong>in</strong>e Vorsorgevollmacht s<strong>in</strong>nvoll?<br />

Viele Banken weigern sich, ohne Vollmacht an Angehörige Geld auszugeben,<br />

<strong>und</strong> bei Behörden müssen oft Unterschrift en vor Ort geleistet werden, was<br />

ohne Vollmacht nur der Betroff ene selbst tun kann. Weiterh<strong>in</strong> spricht für e<strong>in</strong>e<br />

Vollmacht, dass Angelegenheiten, die durch Vollmachten geregelt werden,<br />

später nicht zum Gegenstand e<strong>in</strong>es gerichtlichen Betreuungsverfahrens gemacht<br />

werden müssen. Das aufwändige <strong>und</strong> bürokratische Verfahren e<strong>in</strong>er<br />

rechtlichen Betreuung erübrigt sich beim Vorliegen e<strong>in</strong>er entsprechenden<br />

Vollmacht oft gänzlich. Manche Banken akzeptieren Vollmachten nur dann,<br />

wenn sie vor Ort auf förmlichen Anträgen der Bank unterschrieben werde n.<br />

Vollmachten werden staatlicherseits nicht kontrolliert. Es besteht also ke<strong>in</strong><br />

Schutz vor Missbrauch. Der Patient sollte deshalb nur e<strong>in</strong>e absolut zuverlässige<br />

Vertrauensperson bevollmächtigen, von der er sich sicher ist, dass sie später<br />

im beabsichtigten S<strong>in</strong>n handeln wird.<br />

Was soll e<strong>in</strong>e Vorsorgevollmacht be<strong>in</strong>halten?<br />

In der Vorsorgevollmacht können Wünsche über den späteren Lebensstil, die<br />

Verwaltung des Vermögens, die Zustimmung zu ärztlicher Heilbehandlung<br />

<strong>und</strong> die Auswahl des Alten- <strong>und</strong> Pfl egeheims aufgenommen werde n. Die Willenserklärungen<br />

des Patienten sollten möglichst konkret formuliert werden,<br />

um spätere Missverständnisse zu vermeiden. Die städtischen Betreuungsstellen<br />

stellen oft Musterdokumente zur Verfügung, die bei der Formulierung der<br />

Vollmacht helfen können. Die Betroff enen können sich aber auch bei der Alzheimer-Gesellschaft<br />

beraten lassen. In Bayern steht e<strong>in</strong>e vom Bayerischen Justizm<strong>in</strong>isterium<br />

herausgegebene Broschüre zur Vorsorge für Unfall, Krankheit<br />

<strong>und</strong> Alter zu Verfügung, <strong>in</strong> der sich die festzulegenden Bereiche der Vollmacht<br />

an den Aufgabenbereichen der rechtlichen Betreuung orientieren.


29<br />

532 Kapitel 29 · Sozialpädagogische Hilfen<br />

Muss die Vorsorgevollmacht durch e<strong>in</strong>en Notar<br />

beurk<strong>und</strong>et werden?<br />

Vorsorgevollmachten müssen nur notariell beurk<strong>und</strong>et oder beglaubigt werden,<br />

wenn sie auch Immobiliengeschäft e be<strong>in</strong>halten. Größere Sicherheit bietet<br />

aber immer e<strong>in</strong>e notarielle Beurk<strong>und</strong>ung oder Beglaubigung. Wenn e<strong>in</strong>e Vorsorgevollmacht<br />

schon gut ausgearbeitet ist, kostet das nicht viel. Die Kosten<br />

des Notars für diese Tätigkeit richten sich nach der Höhe des Vermögens. Für<br />

die Beurk<strong>und</strong>ung e<strong>in</strong>er Vollmacht wird derzeit bei e<strong>in</strong>em Vermögen von<br />

50.000 € e<strong>in</strong>e Gebühr von 70 € zuzüglich Mehrwertsteuer <strong>in</strong> Rechnung gestellt.<br />

Kann die Vollmacht zu Hause aufbewahrt werden?<br />

Die Vollmacht ist nur als Orig<strong>in</strong>al rechtsgülti g. Deshalb sollte sie unbed<strong>in</strong>gt<br />

an e<strong>in</strong>em sicheren Ort aufb ewahrt werden, um Missbrauch vorzubeugen. Die<br />

Vollmacht kann der Patient zu Hause oder bei der Bank h<strong>in</strong>terlegen. Natürlich<br />

ist es wichtig, dass sie im Ernstfall auch gef<strong>und</strong>en wird. Größere Sicherheit<br />

bietet aber die Aufb ewahrung bei e<strong>in</strong>em Notar. E<strong>in</strong>e Kopie der Vorsorgevollmacht<br />

sollte der Patient zu Hause haben. Sie kann dann jederzeit nachgelesen<br />

<strong>und</strong> ggf. der Inhalt verändert werden. Der Bevollmächtigte sollte über den<br />

Aufb ewahrungsort der Vollmacht natürlich auch <strong>in</strong>formiert se<strong>in</strong>, um später<br />

handeln zu können.<br />

29.4.2 Betreuungsverfügung<br />

Mit e<strong>in</strong>er Betreuungsverfügung kann der Patient frühzeitig e<strong>in</strong>en Betreuer<br />

bestimmen, der im Falle späterer Hilfl osigkeit vom Vorm<strong>und</strong>schaft sgericht<br />

als gesetzlicher Vertreter e<strong>in</strong>gesetzt werden soll. Darüber h<strong>in</strong>aus kann geregelt<br />

werden, wie die Verwaltung des Vermögens <strong>und</strong> die spätere Lebensgestaltung<br />

aussehen soll, um dem späteren Betreuer zu ermöglichen, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em S<strong>in</strong>ne zu<br />

handeln. E<strong>in</strong>e Betreuungsverfügung kann auch noch von nicht mehr geschäft<br />

sfähigen Patienten verfasst werde n.<br />

Soll die Betreuungsverfügung<br />

zu Hause aufbewahrt werden?<br />

Die Betreuungsverfügung sollte beim Amtsgericht, Abteilung Vorm<strong>und</strong>schaft<br />

sgericht, h<strong>in</strong>terlegt werden. Wird die Betreuungsverfügung mit e<strong>in</strong>er


29.4 · Vorausverfügungen<br />

533<br />

29<br />

Vorsorgevollmacht <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Patientenverfügung komb<strong>in</strong>iert, kann man sie<br />

geme<strong>in</strong>sam beim Amtsgericht h<strong>in</strong>terlegen.<br />

29.4.3 Patientenverfügung<br />

Durch e<strong>in</strong>e Patientenverfügung kann der Patient für die Zeit möglicher späterer<br />

Hilfl osigkeit Wünsche zur mediz<strong>in</strong>ischen <strong>und</strong> ärztlichen Behandlung<br />

formulieren . Dabei hat er die Möglichkeit, se<strong>in</strong>e Wünsche bezüglich der medikamentösen<br />

Behandlung, des E<strong>in</strong>satzes von mediz<strong>in</strong>ischen Apparaten zu<br />

äußern <strong>und</strong> zu bestimmen, ob er im fi nalen Stadium der Krankheit lebensverlängernde<br />

Maßnahmen wünscht oder nicht. Es ist sowohl für den behandelnden<br />

Arzt als auch für die Angehörigen s<strong>in</strong>nvoll, Wünsche an die spätere Behandlung<br />

möglichst genau zu formulieren. Es sollten die Umstände, die<br />

Gr<strong>und</strong>erkrankung <strong>und</strong> der körperliche <strong>und</strong> geistige Zustand beschrieben<br />

werden, bei deren E<strong>in</strong>treten beispielsweise ke<strong>in</strong>e lebensverlängernden Maßnahmen<br />

ergriff en werden sollen, um e<strong>in</strong>e spätere Entscheidung zu erleichtern.<br />

S<strong>in</strong>d die formulierten Wünsche b<strong>in</strong>dend für den Arzt?<br />

Wenn möglich, sollten Sie als behandelnder Arzt die <strong>in</strong> der Patientenverfügung<br />

formulierten Wünsche des Patienten beachten . E<strong>in</strong>e ärztliche Behandlung<br />

darf nicht gegen den Willen des Patienten erfolgen. Das Problem ist aber,<br />

dass der geäußerte Wille nicht immer auf die praktische Situation angewendet<br />

werden kann. Bei akut auft retendem Handlungsbedarf können sich Ärzte auf<br />

die Verpfl ichtung zu ärztlicher Notfallbehandlung berufen. Es ist ebenfalls zu<br />

berücksichtigen, dass sich der mediz<strong>in</strong>ische Kenntnisstand fortwährend ändert<br />

<strong>und</strong> zum Zeitpunkt der Behandlung e<strong>in</strong> Wissen vorliegen kann, dass dem<br />

Patienten zum Zeitpunkt se<strong>in</strong>er Willenserklärung nicht zugänglich war. Auch<br />

ist die rechtliche Würdigung auft retender Schwierigkeiten <strong>und</strong> Grenzsituationen<br />

auf diesem Gebiet nicht abschließend geklärt.<br />

Wo sollte die Patientenverfügung aufbewahrt werden?<br />

E<strong>in</strong>e Patientenverfügung kann wie die Vorsorgevollmacht beim Notar oder<br />

e<strong>in</strong>er Person des Vertrauens h<strong>in</strong>terlegt werden. Im Betreuungsfall wird sie<br />

dem Vorm<strong>und</strong>schaft sgericht vorgelegt. Auch der Hausarzt sollte e<strong>in</strong>e Kopie<br />

der Patientenverfügung erhalten.


29<br />

534 Kapitel 29 · Sozialpädagogische Hilfen<br />

29.5 Versorgung für Demente: ambulante, teilstationäre<br />

<strong>und</strong> stationäre Versorgungse<strong>in</strong>richtungen<br />

29.5.1 Ambulante Pfl egedienste<br />

Welche Art der Unterstützungsmöglichkeiten für den Patienten s<strong>in</strong>nvoll ist,<br />

hängt vom Stadium der Demenz ab . Im frühen Stadium kommen ambulante<br />

Hilfen <strong>in</strong> Betracht, z. B. Nachbarschaft shilfen, Kreise ehrenamtlicher Helfer<br />

oder Sozialstationen. Im mittleren Krankheitsstadium braucht die Familie<br />

möglicherweise e<strong>in</strong>e wirksamere Entlastung; hierfür kommen neben ambulanten<br />

Hilfen Tagesstätten oder E<strong>in</strong>richtungen der Kurzzeitpfl ege <strong>in</strong> Betracht.<br />

Im fortgeschrittenen Stadium kann die Pfl egebedürft igkeit des Patienten e<strong>in</strong>en<br />

Grad annehmen, dass die Pfl ege zu Hause nicht mehr zu leisten ist <strong>und</strong><br />

der Patient <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Pfl egeheim oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e gerontopsychiatrische Abteilung<br />

e<strong>in</strong>es Krankenhauses gebracht werden muss.<br />

Bei der Auswahl e<strong>in</strong>es ambulanten Pfl egedienstes ist folgendes zu beachten:<br />

Das Pfl egepersonal sollte über prof<strong>und</strong>e Kenntnisse über Pfl egemodelle<br />

für demente Patienten <strong>und</strong> die Erstellung von Pfl egeanamnesen <strong>und</strong> Pfl egeplanung<br />

verfügen. Überfürsorge fördert die Regression <strong>und</strong> somit die Hilfebedürft<br />

igkeit des Erkrankten. Aus diesem Gr<strong>und</strong> sollten die Pfl egedienste<br />

nach dem Pr<strong>in</strong>zip der Hilfe zur Selbsthilfe, der sog. aktivierenden Pfl ege arbeiten.<br />

»Bezugspfl ege« mit e<strong>in</strong>em möglichst ger<strong>in</strong>gen Wechsel der Pfl egepersonen<br />

ist für demente Patienten besonders wichtig.<br />

Es gibt vier Leistungen, die durch die ambulante Pfl ege <strong>in</strong> Anspruch genommen<br />

werden können:<br />

4 Gr<strong>und</strong>pfl ege umfasst die Hilfe beim Anziehen, beim Waschen <strong>und</strong> der<br />

Zahnpfl ege, das Lagern <strong>und</strong> Betten.<br />

4 Behandlungspfl ege umfasst das Wechseln von Verbänden, die Medikamentenabgabe,<br />

Geh- <strong>und</strong> Bewegungsübungen, E<strong>in</strong>reibungen, Blutdruckmessungen<br />

usw. Sie kann vom Arzt als »häusliche Krankenpfl ege« verordnet<br />

werden <strong>und</strong> wird dann von der Krankenkasse fi nanziert.<br />

4 Hauswirtschaft liche Versorgung umfasst das Re<strong>in</strong>igen der Wohnung, die<br />

Re<strong>in</strong>igung von Wäsche <strong>und</strong> Kleidung <strong>und</strong> das E<strong>in</strong>kaufen <strong>und</strong> Kochen.<br />

4 Psychosoziale Betreuung umfasst die Begleitung bei Gängen außer Haus,<br />

z. B. bei E<strong>in</strong>käufen <strong>und</strong> Besuchen kultureller Veranstaltungen, das Strukturieren<br />

des Tages durch geeignete Beschäft igungsangebote <strong>und</strong> die Beaufsichtigung<br />

zu Hause zum Schutz vor Gefahren.


29.5 · Versorgung für Demente<br />

Zu den ambulanten Pfl egediensten zählen<br />

4 Nachbarschaft shilfe,<br />

4 Sozialstation,<br />

4 private Pfl egedienste,<br />

4 ehrenamtliche Helfer,<br />

4 Betreuungsgruppen,<br />

4 Essen auf Rädern,<br />

4 Haushaltshilfen.<br />

535<br />

29<br />

Nachbarschaftshilfe<br />

Die Laienhelfer der Nachbarschaft shilfe leisten vorwiegend Besuchs- <strong>und</strong><br />

E<strong>in</strong>kaufsdienste. Sie helfen bei kle<strong>in</strong>eren Hausarbeiten <strong>und</strong> bieten persönliche<br />

Ansprache <strong>und</strong> Zuwendung, um e<strong>in</strong>er Vere<strong>in</strong>samung entgegenzuwirken.<br />

Pfl ege leisten sie nur <strong>in</strong> Ausnahmefällen. Nachbarschaft shilfen werden meistens<br />

von Kirchengeme<strong>in</strong>den oder den Wohlfahrtsverbänden getragen <strong>und</strong><br />

können v. a. alle<strong>in</strong>stehende Erkrankte unterstützen, aber auch pfl egenden Angehörigen<br />

dann Entlastung bieten, wenn e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> paar St<strong>und</strong>en Ruhe oder<br />

Zeit für andere Beschäft igungen gebraucht werden.<br />

Ehrenamtliche Helfer<br />

E<strong>in</strong>ige Vere<strong>in</strong>e, Initiativgruppen <strong>und</strong> Helferdienste vermitteln ehrenamtliche<br />

Laienhelfer , die wie die Helfer der Nachbarschaft shilfe Patienten besuchen,<br />

um e<strong>in</strong>er Isolierung vorzubeugen. Zudem wird bei kle<strong>in</strong>eren Hausarbeiten<br />

geholfen, auch die körperliche Aktivierung durch Spaziergänge, Wandern<br />

oder Sport kann zu ihren Aufgaben gehören. Den pfl egenden Angehörigen<br />

verschaff en sie e<strong>in</strong> gewisses Maß an Entlastung <strong>und</strong> persönlichem Freiraum.<br />

Ehrenamtliche Helfer erhalten <strong>in</strong> der Regel e<strong>in</strong>e überschaubare st<strong>und</strong>enweise<br />

Vergütung, die im Rahmen des Pfl egeleistungsergänzungsgesetzes von der<br />

Pfl egekasse erstattet wird, sofern e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>stufung erfolgt ist.<br />

Sozialstationen, Pfl egevere<strong>in</strong>e<br />

Die qualifi zierten Alten- oder Krankenpfl egekräft e der Sozialstationen oder<br />

Pfl egevere<strong>in</strong>e leisten vorwiegend Gr<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Behandlungspfl ege <strong>und</strong> hauswirtschaft<br />

liche Versorgung. Für Betreuung, wie ausführliche Gespräche oder<br />

Begleitung außer Haus, fehlt ihnen meist die Zeit. Träger s<strong>in</strong>d die freien Wohlfahrtsverbände<br />

(Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Diakonie, Paritätischer Wohlfahrtsverband)<br />

oder die Geme<strong>in</strong>den.


29<br />

536 Kapitel 29 · Sozialpädagogische Hilfen<br />

Private Pfl egedienste<br />

Die ebenfalls qualifi zierten Pfl egekräft e der privat-gewerblichen Pfl egedienste<br />

leisten <strong>in</strong> der Regel jede Art von Pfl ege, die man anfordert. Neben der Gr<strong>und</strong>-<br />

<strong>und</strong> Behandlungspfl ege, der hauswirtschaft lichen Versorgung <strong>und</strong> psychosozialen<br />

Betreuung, werden Tag- <strong>und</strong> Nachtwachen <strong>und</strong> R<strong>und</strong>-um-die-Uhr-<br />

Pfl ege (auch am Wochenende) angeboten. Die meisten privaten Pfl egedienste<br />

rechnen mit den Kranken- <strong>und</strong> Pfl egekassen ab. Oft übersteigen die Kosten<br />

für solche Leistungen aber sehr rasch den fi nanziellen Rahmen der Pfl egeversicherung,<br />

sodass der Restbetrag von den Betroff enen selbst übernommen<br />

werden muss. Bei der Auswahl e<strong>in</strong>es Pfl egedienstes sollte man darauf achten,<br />

dass die E<strong>in</strong>richtung über Erfahrungen mit gerontopsychiatrischen Erkrankungen<br />

verfügt, entsprechend qualifi zierte Alten- oder Krankenpfl eger e<strong>in</strong>setzen<br />

kann <strong>und</strong> ihren Sitz möglichst <strong>in</strong> der Nähe des Patienten hat.<br />

Betreuungsgruppen<br />

Viele regionale Alzheimer-Gesellschaft en organisieren Betreuungsgruppen<br />

für demente Patienten, um pfl egende Angehörige st<strong>und</strong>enweise zu entlasten.<br />

Die kle<strong>in</strong>en Patientengruppen treff en sich meist e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> der Woche ganz-<br />

oder halbtags zum geme<strong>in</strong>samen S<strong>in</strong>gen, Kaff eetr<strong>in</strong>ken, Basteln <strong>und</strong> Gestalten<br />

oder für kle<strong>in</strong>e Ausfl üge. Betreut werden sie <strong>in</strong> der Regel von e<strong>in</strong>er Fachkraft<br />

<strong>und</strong> mehreren Laienhelfern. Der günstige Personalschlüssel <strong>in</strong> solchen<br />

Gruppen lässt es zu, die Eigenständigkeit der Patienten zu fördern, ihre Orientierungsfähigkeit<br />

aufrechtzuerhalten oder sogar zu verbessern, Beschäft igungsimpulse<br />

zu geben <strong>und</strong> soziale Kontakte zu beleben. Auch hier können<br />

die anfallenden Kosten über die Pfl egeversicherung rückerstattet werden.<br />

Essen auf Rädern<br />

Die verschiedenen Wohlfahrtsverbände bieten Essen auf Rädern an, das fertig<br />

zubereitet oder als Tiefk ühlkost <strong>in</strong>s Haus gebracht wird. Es wird meist auch<br />

Diabetikerkost angeboten.<br />

Haushaltshilfen<br />

Haushaltshilfen werden von den Sozialstationen, Pfl egevere<strong>in</strong>en <strong>und</strong> den<br />

privaten Pfl egediensten vermittelt. Häufi g übernehmen Zivildienstleistende<br />

gegen Entgelt das Re<strong>in</strong>igen der Wohnung, das E<strong>in</strong>kaufen <strong>und</strong> Kochen. Der<br />

Patient kann sich auch privat e<strong>in</strong>e Re<strong>in</strong>igungskraft oder Haushaltshilfe<br />

suchen.


29.5 · Versorgung für Demente<br />

29.5.2 Teilstationäre E<strong>in</strong>richtungen<br />

Zu den teilstationären E<strong>in</strong>richtungen zählen<br />

4 Tagesstätten,<br />

4 Tagespfl ege <strong>und</strong><br />

4 Tageskl<strong>in</strong>iken.<br />

537<br />

29<br />

Tagesstätten<br />

Demente Patienten, die noch kaum auf Betreuung <strong>und</strong> Pfl ege angewiesen<br />

s<strong>in</strong>d, profi tieren von Tagesstätten für ältere oder psychisch kranke Menschen.<br />

Die Besucher verpfl ichten sich nicht zum regelmäßigen Besuch <strong>und</strong> können<br />

diese E<strong>in</strong>richtungen kostenlos nutzen. Angeboten werden geme<strong>in</strong>same Unternehmungen,<br />

kreatives Gestalten, Bewegungsangebote <strong>und</strong> gemütliches Zusammense<strong>in</strong>.<br />

Manche Tagesstätten bieten den Besuchern auch e<strong>in</strong> Frühstück<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>en Mittagstisch an. Fahrdienste gibt es <strong>in</strong> der Regel nicht. Tagesstätten<br />

werden vorwiegend von Wohlfahrtsverbänden, Kommunen oder geme<strong>in</strong>nützigen<br />

Vere<strong>in</strong>en getragen.<br />

Tagespfl ege<br />

In Tagespfl egee<strong>in</strong>richtungen werden feste Patientengruppen tagsüber von<br />

montags bis freitags von Altenpfl egern betreut. Die Tagespfl ege kann auch nur<br />

an e<strong>in</strong>zelnen Tagen <strong>in</strong> Anspruch genommen werden. E<strong>in</strong>ige E<strong>in</strong>richtungen<br />

haben sich auf die Pfl ege <strong>und</strong> Betreuung von dementen Patienten spezialisiert.<br />

Sie bieten neben dem Frühstück <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em Mittagessen vielfältige Angebote,<br />

die den Tag strukturieren. Beschäft igungen können se<strong>in</strong>: Gymnastik, kreatives<br />

Gestalten, S<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> kle<strong>in</strong>e Ausfl üge oder Spaziergänge. E<strong>in</strong>ige Tagespfl<br />

egen leisten gelegentlich Hilfe bei der Gr<strong>und</strong>pfl ege, z. B. beim Duschen.<br />

Die Medikamente werden den Patienten bei Bedarf verabreicht. Die meisten<br />

haben e<strong>in</strong>en Fahrdienst, der die Besucher abholt <strong>und</strong> nach Hause br<strong>in</strong>gt. Sie<br />

s<strong>in</strong>d häufi g an Alten- <strong>und</strong> Pfl egeheime angeschlossen. Die Kosten für die Tagespfl<br />

ege können bei Vorliegen e<strong>in</strong>er Pfl egestufe direkt mit der Pfl egeversicherung<br />

abgerechnet werden.<br />

Tageskl<strong>in</strong>iken<br />

Tageskl<strong>in</strong>iken s<strong>in</strong>d häufi g an psychiatrische Krankenhäuser oder gerontopsychiatrische<br />

Zentren angeschlossen. Manche diagnostizieren <strong>und</strong> behandeln<br />

auch demente Patienten. Die Patienten besuchen die Tageskl<strong>in</strong>ik tagsü-


29<br />

538 Kapitel 29 · Sozialpädagogische Hilfen<br />

ber von montags bis freitags. Die Versorgung <strong>in</strong> der übrigen Zeit muss gewährleistet<br />

se<strong>in</strong>. Viele Tageskl<strong>in</strong>iken verfügen über e<strong>in</strong>en Fahrdienst. Die<br />

Aufenthaltsdauer ist auf die Zeit der notwendigen Behandlung begrenzt <strong>und</strong><br />

stellt ke<strong>in</strong>e längerfristige Lösung zu Betreuung dar.<br />

29.5.3 Stationäre E<strong>in</strong>richtungen<br />

Dazu zählen<br />

4 Pfl egeheime,<br />

4 gerontopsychiatrische Wohngruppen/Hausgeme<strong>in</strong>schaft en<br />

4 gerontopsychiatrische Krankenhausabteilungen,<br />

4 Kurzzeitpfl ege,<br />

4 Wohngeme<strong>in</strong>schaft en für Patienten mit Demenz,<br />

4 Alzheimer-Th erapiezentrum Bad Aibl<strong>in</strong>g.<br />

Pfl egeheime<br />

Häufi g werden die Hausärzte von Angehörigen befragt, wann der demente<br />

Patient <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Heim untergebracht werden soll <strong>und</strong> welches Haus für die<br />

Pfl ege dieser Patienten geeignet ist. Gr<strong>und</strong>sätzlich s<strong>in</strong>d demente Patienten am<br />

besten <strong>in</strong> der häuslichen Umgebung orientiert. Durch die bee<strong>in</strong>trächtigte Fähigkeit,<br />

neue Informationen im Gedächtnis e<strong>in</strong>zuspeichern, wirkt sich jeder<br />

Umgebungswechsel sehr negativ auf die Orientierung <strong>und</strong> somit auf die Befi<br />

ndlichkeit des Patienten aus. Durch die Organisation engmaschiger ambulanter<br />

oder teilstationärer Hilfen können die Patienten oft erstaunlich lange zu<br />

Hause versorgt werden.<br />

Muss e<strong>in</strong> dementer Patient <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Pfl egeheim untergebracht werden,<br />

sollte e<strong>in</strong> Heim empfohlen werden, das konzeptionell auf diese Patientengruppe<br />

e<strong>in</strong>gerichtet ist. Heime, die »betreutes Wohnen« anbieten, s<strong>in</strong>d für demente<br />

Patienten ebenso ungeeignet wie Altenwohnstift e oder die Unterbr<strong>in</strong>gung im<br />

Wohnbereich von Altenheimen. Die Betreuungsmöglichkeiten dort werden<br />

den Bedürfnissen der Dementen nach Tagesstrukturierung, Orientierungshilfe<br />

<strong>und</strong> geeigneten Beschäft igungs- <strong>und</strong> Bewegungsangeboten nicht gerecht.<br />

Mehrgliedrige Alten- <strong>und</strong> Pfl egeheime bieten e<strong>in</strong> abgestuft es Angebot von<br />

Wohnbereichen <strong>und</strong> off enen <strong>und</strong> beschützenden (geschlossenen) Pfl egebereichen<br />

an. Damit kann der Bewohner je nach Pfl egebedarf <strong>in</strong> die erforderlichen<br />

Abteilungen des Hauses wechseln. Daneben gibt es geschlossene Pfl egeheime,<br />

die speziell auf verwirrte oder psychisch kranke Menschen e<strong>in</strong>gerichtet s<strong>in</strong>d.


29.5 · Versorgung für Demente<br />

539<br />

29<br />

Bei der Auswahl e<strong>in</strong>es geeigneten Pfl egeheims, für das e<strong>in</strong>e Anmeldung aufgr<strong>und</strong><br />

der langen Wartelisten möglichst frühzeitig erfolgen sollte, empfi ehlt es<br />

sich, folgende Gesichtspunkte baulicher <strong>und</strong> organisatorischer Art mit zu berücksichtigen:<br />

begrenzte Größe, Off enheit nach außen <strong>in</strong> Bezug auf Mahlzeiten<br />

<strong>und</strong> Aktivitäten, Verteilung der Pfl egestufen, E<strong>in</strong>bettzimmer als Standard,<br />

Wegfl ächen zum Ausleben des Bewegungsdrangs, Vorhandense<strong>in</strong> von<br />

Geme<strong>in</strong>schaft sräumen, Garten oder Veranda, Orientierungshilfen <strong>und</strong> Vorkehrungen<br />

gegen Sturzgefahr, ausreichender Personalschlüssel, aktivierende<br />

Gr<strong>und</strong>haltung, feste, aber elastische Tagesstruktur, reichhaltige Beschäft igungsmöglichkeiten,<br />

E<strong>in</strong>beziehung der Angehörigen.<br />

Gerontopsychiatrische Wohngruppen/Hausgeme<strong>in</strong>schaften<br />

Manche Pfl egeheime bieten für verwirrte oder psychisch kranke Patienten gerontopsychiatrische<br />

Wohngruppen oder sog. Hausgeme<strong>in</strong>schaft en an. Die<br />

Bewohner werden dort <strong>in</strong> familienähnlichen kle<strong>in</strong>en Gruppen gepfl egt <strong>und</strong><br />

betreut. Im Vordergr<strong>und</strong> steht die Strukturierung des Tages mit an der der<br />

Biographie des Bewohners orientierten Beschäft igungsangeboten. Es wird<br />

versucht, e<strong>in</strong> möglichst hohes Maß an Normalität <strong>in</strong> den Alltag zu br<strong>in</strong>gen.<br />

Die Bewohner können sich an hauswirtschaft lichen Tätigkeiten beteiligen,<br />

wie Kochen, Tisch decken oder Blumen gießen. Die Wohngruppen stellen oft<br />

e<strong>in</strong>e bessere personelle Ausstattung als Pfl egeheime <strong>und</strong> e<strong>in</strong> multiprofessionelles<br />

Team bereit.<br />

Gerontopsychiatrische Krankenhausabteilungen<br />

Bei akuter Verschlechterung des Krankheitsbildes, die mit starken Verhaltensauff<br />

älligkeiten wie Aggressivität oder ausgeprägten Weglauft endenzen<br />

verb<strong>und</strong>en s<strong>in</strong>d, können demente Patienten <strong>in</strong> gerontopsychiatrischen Krankenhäusern<br />

untergebracht werden. Diese s<strong>in</strong>d meist an psychiatrische Kl<strong>in</strong>iken<br />

oder gerontopsychiatrische Zentren angeschlossen. Dort können die<br />

Patienten so lange bleiben, bis die Untersuchungen <strong>und</strong> Behandlungen abgeschlossen<br />

s<strong>in</strong>d. Bei geschlossener Unterbr<strong>in</strong>gung, die vom Hausarzt <strong>in</strong>itiiert<br />

werden kann, muss die Kl<strong>in</strong>ik die Unterbr<strong>in</strong>gung vom Vorm<strong>und</strong>schaft sgericht<br />

genehmigen lassen.<br />

Kurzzeitpfl ege<br />

Der Patient kann vorübergehend <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Kurzzeitpfl egee<strong>in</strong>richtung untergebracht<br />

werden, wenn der pfl egende Angehörige wegen Krankheit oder Urlaub<br />

ausfällt. Nicht selten s<strong>in</strong>d diese E<strong>in</strong>richtungen strukturell mit Pfl egeheimen


29<br />

540 Kapitel 29 · Sozialpädagogische Hilfen<br />

verb<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> die Patienten werden r<strong>und</strong> um die Uhr von Fachpersonal gepfl<br />

egt <strong>und</strong> betreut. Die meisten Kurzzeitpfl egee<strong>in</strong>richtungen s<strong>in</strong>d off en <strong>und</strong><br />

können somit ke<strong>in</strong>e weglaufgefährdeten Personen aufnehmen. E<strong>in</strong>e Kurzzeitpfl<br />

ege kommt zudem <strong>in</strong> Frage, wenn der Patient dauerhaft <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Pfl egeheim<br />

untergebracht werden soll, aber, bei akuter Verschlechterung des Krankheitsbildes,<br />

kurzfristig ke<strong>in</strong> geeigneter Heimplatz gef<strong>und</strong>en werden kann.<br />

Wohngeme<strong>in</strong>schaften für Patienten mit Demenz<br />

Gerontopsychiatrische Wohngeme<strong>in</strong>schaft en für Patienten mit Demenz stellen<br />

e<strong>in</strong>e Alternative zum konventionellen Pfl egeheim dar. Der Gr<strong>und</strong>gedanke<br />

solcher Wohnformen besteht dar<strong>in</strong>, für 6–7 ältere demente Patienten e<strong>in</strong>e familienähnliche<br />

Wohn- <strong>und</strong> Lebensform zu schaff en. Diese lehnt sich eng an<br />

die üblichen Anforderungen des täglichen Lebens an, sodass die negativen<br />

Auswirkungen e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>stitutionellen Milieus weitgehend vermieden werden.<br />

Wohngeme<strong>in</strong>schaft en für an Patienten mit Demenz lassen sich <strong>in</strong> gewöhnlichen<br />

Wohnhäusern e<strong>in</strong>richten. Jeder Bewohner hat se<strong>in</strong> eigenes Zimmer mit<br />

se<strong>in</strong>en persönlichen Möbeln, zum Geme<strong>in</strong>schaft bereich gehören Speisezimmer,<br />

Küche <strong>und</strong> Bad. Im Mittelpunkt steht die Gestaltung des normalen Alltags,<br />

wobei jeder Bewohner <strong>in</strong> die Lage versetzt werden soll, je nach den persönlichen<br />

Fähigkeiten <strong>und</strong> Gewohnheiten se<strong>in</strong>en Alltag gestalten zu können.<br />

Betreut wird die Wohngeme<strong>in</strong>schaft r<strong>und</strong> um die Uhr von e<strong>in</strong>em Team, das<br />

von e<strong>in</strong>em ambulanten Pfl egedienst oder anderen E<strong>in</strong>richtungen zur Verfügung<br />

gestellt wird.<br />

In Deutschland wurden mit dieser Wohnform z. B. <strong>in</strong> Bielefeld, Berl<strong>in</strong><br />

<strong>und</strong> München bereits Erfahrungen gesammelt, die viel versprechend s<strong>in</strong>d <strong>und</strong><br />

darauf hoff en lassen, dass es darüber h<strong>in</strong>aus auch <strong>in</strong> anderen Städten weitere<br />

Angebote geben wird.<br />

Literatur<br />

Alzheimer Europe (<strong>Hrsg</strong>) (2005) Handbuch der Betreuung <strong>und</strong> Pfl ege von Alzheimer-Patienten,<br />

2. Aufl . Thieme, Stuttgart<br />

B<strong>und</strong>esges<strong>und</strong>heitsm<strong>in</strong>isterium (2008) Ratgeber Pfl ege. Anzufordern über Tel. 01805-778090<br />

oder E-mail publikationen@b<strong>und</strong>esregierung.de<br />

Gratzl E, Bernet M, Kurz A (2003) Ratgeber <strong>in</strong> rechtlichen <strong>und</strong> fi nanziellen Fragen, <strong>3.</strong> Aufl .<br />

Deutsche Alzheimer-Gesellschaft e. V. (<strong>Hrsg</strong>)<br />

Schwarz G (2004) Leitfaden zur Pfl egeversicherung, 5. Aufl . Deutsche Alzheimer-Gesellschaft<br />

e. V. (<strong>Hrsg</strong>)


Anhang<br />

A1 Geriatrisches Screen<strong>in</strong>g – 543<br />

A2 Barthel Index – 547<br />

A3 M<strong>in</strong>i-Mental-State-Test – 551<br />

A4 Uhren-Test – 553<br />

A5 SIDAM für ICD-10 – 557<br />

A6 Geriatric Depression Scale – 565<br />

A7 Adressen von Alzheimer-Gesellschaften <strong>und</strong> L<strong>in</strong>ks<br />

zu weiteren Internet-Informationsangeboten<br />

<strong>in</strong> Deutschland, Österreich <strong>und</strong> der Schweiz – 567<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

541<br />

A


543<br />

Geriatrisches Screen<strong>in</strong>g<br />

(modifi ziert nach Siegel)<br />

A1


544 A1 · Geriatrisches Screen<strong>in</strong>g<br />

Problem Untersuchung Pathologisches Resultat<br />

1. Sehen F<strong>in</strong>gerzahl mit Brille <strong>in</strong> 2 m<br />

Entfernung erkennen<br />

Nahvisus oder Lesen e<strong>in</strong>er<br />

Überschrift<br />

Frage: Hat sich Ihre Sehfähigkeit<br />

<strong>in</strong> letzter Zeit verschlechtert?<br />

2. Hören Flüstern der folgenden Zahlen<br />

<strong>in</strong> ca. 50 cm Entfernung<br />

nach Ausatmung <strong>in</strong> das angegebene<br />

Ohr, während das<br />

andere zugehalten wird:<br />

6 1 9 – l<strong>in</strong>kes Ohr<br />

2 7 3 – rechtes Ohr<br />

<strong>3.</strong> Arme Bitten Sie den Patienten:<br />

1. beide Hände h<strong>in</strong>ter den<br />

Kopf zu legen <strong>und</strong><br />

2. e<strong>in</strong>en Kugelschreiber von<br />

Tisch/Bettdecke aufzuheben<br />

4. Be<strong>in</strong>e Bitten Sie den Patienten:<br />

aufzustehen, e<strong>in</strong>ige Schritte<br />

zu gehen <strong>und</strong> sich wieder zu<br />

setzen<br />

5. Blasenkont<strong>in</strong>enz<br />

6. Stuhlkont<strong>in</strong>enz<br />

7. Ernährung<br />

8a. Kognitiver<br />

Status<br />

Frage: Konnten Sie <strong>in</strong> letzter<br />

Zeit den Ur<strong>in</strong> versehentlich<br />

nicht halten?<br />

Frage: Konnten Sie <strong>in</strong> letzter<br />

Zeit den Stuhl versehentlich<br />

nicht halten?<br />

Schätzen Sie das Patientengewicht<br />

Nennen Sie dem Patienten<br />

die folgenden Begriffe, <strong>und</strong><br />

bitten Sie ihn, sie sich zu<br />

merken:<br />

Apfel – Pfennig – Tisch<br />

Bitten Sie den Patienten, die<br />

Begriffe zu wiederholen.<br />

Ke<strong>in</strong> korrektes Erkennen<br />

bzw. Lesen möglich oder<br />

die Frage mit JA beantwortet<br />

Mehr als e<strong>in</strong>e Zahl wird<br />

falsch erkannt<br />

M<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e Aufgabe<br />

wird nicht gelöst<br />

Patient ist nicht <strong>in</strong> der<br />

Lage, e<strong>in</strong>e dieser Tätigkeiten<br />

selbstständig auszuführen<br />

�<br />

�<br />

�<br />

�<br />

Antwort des Patienten: JA �<br />

Antwort des Patienten: JA �<br />

�<br />


A1 · Geriatrisches Screen<strong>in</strong>g<br />

545<br />

Problem Untersuchung Pathologisches Resultat<br />

9. Aktivität Fragen Sie den Patienten:<br />

Können Sie sich selbst anziehen?<br />

Können Sie m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e<br />

Treppe steigen?<br />

Können Sie selbst e<strong>in</strong>kaufen<br />

gehen?<br />

10. Depression<br />

8b. Kognitiver<br />

Status<br />

11. Soziale<br />

Unterstützung<br />

12. Allgeme<strong>in</strong>eRisikofaktoren<br />

1<strong>3.</strong> Allgeme<strong>in</strong>eRisikofaktoren<br />

14. Allgeme<strong>in</strong>eRisikofaktoren<br />

15. Allgeme<strong>in</strong>eRisikofaktoren<br />

Kommentar zum Interview:<br />

Fragen Sie den Patienten:<br />

Fühlen Sie sich oft traurig<br />

oder niedergeschlagen?<br />

Fragen Sie die Begriffe aus 8a<br />

ab:<br />

Apfel – Pfennig – Tisch<br />

Frage: Haben Sie Personen,<br />

auf die Sie sich verlassen <strong>und</strong><br />

die Ihnen zu Hause regelmäßig<br />

helfen können?<br />

Frage: Wann waren Sie zum<br />

letzten Mal im Krankenhaus?<br />

S<strong>in</strong>d Sie <strong>in</strong> den letzten 3 Monaten<br />

gestürzt?<br />

Nehmen Sie regelmäßig<br />

mehr als 5 verschiedene Medikamente?<br />

Leiden Sie häufig unter<br />

Schmerzen?<br />

E<strong>in</strong>e oder mehr Frage(n)<br />

mit NEIN beantwortet<br />

Bei Antwort JA oder ggf.<br />

E<strong>in</strong>druck des Arztes<br />

E<strong>in</strong>en oder mehrere Begriffe<br />

vergessen<br />

Bei Antwort des Patienten:<br />

NEIN<br />

Vor weniger als 3 Monaten<br />

(ungeplant)<br />

A1<br />

�<br />

�<br />

�<br />

�<br />

�<br />

Antwort: JA �<br />

Antwort: JA �<br />

Antwort: JA �<br />

Akuter Verwirrtheitszustand: _______ Aphasie: _______ Verweigerung: _______<br />

Andere:<br />

Bemerkungen:


Barthel-Index<br />

(modifi ziert nach Siegel)<br />

547<br />

A2


548 A2 · Barthel-Index<br />

Name: _____________________________________________ Geb. Datum: ______________<br />

Essen<br />

Unabhängig, isst selbstständig, benutzt<br />

Geschirr <strong>und</strong> Besteck<br />

Braucht etwas Hilfe, z. B. Fleisch oder Brot<br />

zu schneiden<br />

Nicht selbstständig, auch wenn o. g. Hilfe<br />

gewährt wird<br />

Bett/(Roll-)Stuhltransfer<br />

Unabhängig <strong>in</strong> allen Phasen der Tätigkeit 15<br />

Ger<strong>in</strong>ge Hilfen oder Beaufsichtigung 10<br />

erforderlich<br />

Erhebliche Hilfe beim Transfer, Lagewechsel,<br />

Liegen/Sitz selbstständig<br />

Nicht selbstständig, auch wenn o. g. Hilfe<br />

gewährt wird<br />

Waschen<br />

Unabhängig beim Waschen von Gesicht,<br />

Händen; Kämmen, Zähnepflege<br />

Punkte Erst -<br />

bef<strong>und</strong><br />

10<br />

Nicht selbständig bei o. g. Tätigkeit 0<br />

Toilettenbenutzung<br />

Unabhängig <strong>in</strong> allen Phasen der Tätigkeit<br />

(<strong>in</strong>kl. Re<strong>in</strong>igung)<br />

Benötigt Hilfe, z. B. wegen unzureichendem<br />

Gleichgewicht oder Kleidung/<br />

Re<strong>in</strong>igung<br />

Nicht selbstständig, auch wenn o. g. Hilfe<br />

gewährt wird<br />

Baden<br />

Unabhängig bei Voll- <strong>und</strong> Duschbad <strong>in</strong><br />

allen Phasen der Tätigkeit<br />

Nicht selbstständig bei o. g. Tätigkeit 0<br />

5<br />

0<br />

5<br />

0<br />

5<br />

10<br />

5<br />

0<br />

5<br />

Zwi schenbef<strong>und</strong><br />

End -<br />

bef<strong>und</strong>


A2 · Barthel-Index<br />

Gehen auf Flurebene bzw. Rollstuhlfahren<br />

Unabhängig beim Gehen über 50 m,<br />

Hilfsmittel erlaubt, nicht aber Gehwagen<br />

Ger<strong>in</strong>ge Hilfe oder Überwachung<br />

erforderlich, kann mit<br />

Hilfsmittel 50 m gehen<br />

Nicht selbstständig beim Gehen, kann<br />

aber Rollstuhl selbstständig bedienen,<br />

auch um Ecken herum <strong>und</strong> an e<strong>in</strong>en Tisch<br />

heranfahren, Strecke m<strong>in</strong>destens 50 m<br />

Nicht selbstständig beim Gehen oder<br />

Rollstuhlfahren<br />

Treppensteigen<br />

Unabhängig bei der Bewältigung e<strong>in</strong>er<br />

Treppe (mehrere Stufen)<br />

Benötigt Hilfe oder Überwachung beim<br />

Treppensteigen<br />

Nicht selbstständig, auch wenn o. g. Hilfe<br />

gewährt wird<br />

An- <strong>und</strong> Auskleiden<br />

Unabhängig beim An- <strong>und</strong> Auskleiden<br />

(ggf. auch Korsett)<br />

Benötigt Hilfe, kann aber 50% der Tätigkeit<br />

selbst erledigen<br />

Nicht selbstständig, auch wenn o. g. Hilfe<br />

gewährt wird<br />

Stuhlkontrolle<br />

Ständig kont<strong>in</strong>ent 10<br />

Gelegentlich <strong>in</strong>kont<strong>in</strong>ent, maximal e<strong>in</strong>mal 5<br />

pro Woche<br />

Häufiger/ständig <strong>in</strong>kont<strong>in</strong>ent 0<br />

Punkte Erst -<br />

bef<strong>und</strong><br />

15<br />

10<br />

5<br />

0<br />

10<br />

5<br />

0<br />

10<br />

5<br />

0<br />

549<br />

Zwi schenbef<strong>und</strong><br />

A2<br />

End -<br />

bef<strong>und</strong>


550 A2 · Barthel-Index<br />

Ur<strong>in</strong>kontrolle<br />

Ständig kont<strong>in</strong>ent, ggf. unabhängig bei<br />

Versorgung mit DK/Cystofix<br />

Gelegentlich <strong>in</strong>kont<strong>in</strong>ent, maximal e<strong>in</strong>mal<br />

proTag, Hilfe bei externer Harnableitung<br />

Punkte Erst -<br />

bef<strong>und</strong><br />

10<br />

Häufiger/ständig <strong>in</strong>kont<strong>in</strong>ent 0<br />

Summe:<br />

5<br />

Zwi schenbef<strong>und</strong><br />

End -<br />

bef<strong>und</strong>


M<strong>in</strong>i-Mental-State-Test<br />

(modifi ziert nach Siegel)<br />

551<br />

A3


552 A3 · M<strong>in</strong>i-Mental-State-Test<br />

Max. Punkte Parameter<br />

1. Orientierung<br />

5 Welches Jahr, Jahreszeit, Monat, Wochentag, Datum von heute?<br />

5 Wo s<strong>in</strong>d wir? (Land, B<strong>und</strong>esland, Ort, <strong>Praxis</strong>/Kl<strong>in</strong>ik, Arztname)<br />

2. Aufnahmefähigkeit<br />

3 Nachsprechen: Drei Worte: Zitrone – Schlüssel – Ball<br />

(E<strong>in</strong> Wort pro Sek<strong>und</strong>e)<br />

<strong>3.</strong> Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Rechnen<br />

5 Von 100 jeweils 7 subtrahieren (93/86/79/72/65)<br />

(Jede richtige Antwort: E<strong>in</strong> Punkt; nach 5 Antworten aufhören)<br />

4. Gedächtnis<br />

3 Frage nach den oben nachgesprochenen Worten<br />

(Pro Wort e<strong>in</strong> Punkt)<br />

5. Sprache<br />

1 Benennen: Was ist das?<br />

(Bleistift)<br />

1 Was ist das?<br />

(Uhr)<br />

1 Nachsprechen: »Wie Du mir, so ich Dir.«<br />

6. Ausführen e<strong>in</strong>es dreiteiligen Befehls<br />

3 »Nehmen Sie das Blatt <strong>in</strong> die rechte Hand, falten Sie es <strong>in</strong> der Mitte<br />

<strong>und</strong> legen Sie es auf den Boden.«<br />

(Jeder Teil e<strong>in</strong> Punkt)<br />

7. Lesen <strong>und</strong> Ausführen (auf separatem Blatt vorbereiten)<br />

1 »Schließen Sie Ihre Augen.«<br />

(1 Punkt nur für beides)<br />

8. Schreiben: E<strong>in</strong>en x-beliebigen Satz schreiben lassen<br />

1 (nicht diktieren/muss spontan geschrieben werden)<br />

9. Kopieren (konstruktive <strong>Praxis</strong>)<br />

1 Sich überschneidende fünfeckige Figur nachzeichnen lassen<br />

(Extrablatt vorlegen)


Uhren-Test<br />

(modifi ziert nach Siegel)<br />

553<br />

A4


554 A4 · Uhren-Test<br />

Der Uhren-Test<br />

Anweisungen zur Durchführung:<br />

1. Geben Sie dem Patienten e<strong>in</strong> Blatt Papier mit e<strong>in</strong>em vorgezeichneten Kreis.<br />

Zeigen Sie ihm, wo oben <strong>und</strong> unten ist.<br />

2. Geben Sie dem Patienten folgende Anweisung: Dies soll e<strong>in</strong>e Uhr se<strong>in</strong>. Ich<br />

bitte Sie, <strong>in</strong> diese Uhr die fehlenden Ziffern zu schreiben. Zeichnen Sie danach<br />

die Uhrzeit 10 nach 11 e<strong>in</strong>.<br />

<strong>3.</strong> Machen Sie sich Notizen zur Ausführung der gestellten Aufgabe (Reihenfolge,<br />

Korrekturen etc.).<br />

4. Bewerten Sie die angefertigte Zeichnung gemäß der unten stehenden Kriterien.<br />

Notieren Sie den Score zusammen mit Datum <strong>und</strong> Namen des Patienten<br />

auf dem Zeichenblatt.<br />

5. Der validierte Cut-Off zur Unterscheidung zwischen Normalbef<strong>und</strong> e<strong>in</strong>erseits<br />

<strong>und</strong> kognitiver Bee<strong>in</strong>trächtigung im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er evtl. vorliegenden<br />

Demenz andererseits liegt zwischen 2 <strong>und</strong> <strong>3.</strong> Anders ausgedrückt: E<strong>in</strong> Score<br />

von 3 Punkten ist als pathologisch anzusehen.<br />

Bewertung (1 = ohne Fehler, 6 = ke<strong>in</strong>e Uhr erkennbar)


A4 · Uhren-Test<br />

555<br />

A4<br />

Score Beschreibung Beispiele<br />

1 »Perfekt«<br />

– Ziffern 1–12 richtig e<strong>in</strong>gesetzt<br />

– Zwei Zeiger, die die richtige Uhrzeit (11:10 Uhr) anzeigen<br />

2 Leichte visuell-räumliche Fehler<br />

– Abstände zwischen Ziffern nicht gleichmäßig<br />

– Ziffern außerhalb des Kreises<br />

– Blatt wird gedreht, sodass Ziffern auf dem Kopf stehen<br />

– Pat. verwendet L<strong>in</strong>ien (»Speichen«) zur Orientierung<br />

3 Fehlerhafte Uhrzeit bei erhaltener visuell-räumlicher Darstellung<br />

der Uhr<br />

– Nur e<strong>in</strong> Zeiger<br />

– »10 nach 11« (o. ä.) als Text h<strong>in</strong>geschrieben<br />

– Ke<strong>in</strong>e Uhrzeit e<strong>in</strong>gezeichnet<br />

4 Mittelgradige visuell-räumliche Desorganisation, sodass e<strong>in</strong><br />

korrektes E<strong>in</strong>zeichnen der Uhrzeit unmöglich wird<br />

– Unregelmäßige Zwischenräume<br />

– Ziffern vergessen<br />

– Perserveration: wiederholt den Kreis, Ziffern jenseits der 12<br />

– Rechts-L<strong>in</strong>ks-Umkehr (Ziffern gegen den Uhrzeigers<strong>in</strong>n)<br />

– Dysgraphie – ke<strong>in</strong>e lesbare Darstellung der Ziffern<br />

5 Schwergradige visuell-räumliche Desorganisation<br />

wie unter (4) beschreiben, aber stärker ausgeprägt<br />

6 Ke<strong>in</strong>e Darstellung e<strong>in</strong>er Uhr<br />

(cave: Ausschluss Depression/Delir!)<br />

– Ke<strong>in</strong> wie auch immer gearteter Versuch, e<strong>in</strong>e Uhr zu zeichnen<br />

– Ke<strong>in</strong>e entfernte Ähnlichkeit mit e<strong>in</strong>er Uhr<br />

– Pat. schreibt Wort oder Name


SIDAM für ICD-10<br />

557<br />

A5


558 A5 · SIDAM für ICD-10<br />

I. Leistungsteil<br />

O. Orientierung, Rechnen, Abzeichnen<br />

1. Welches Jahr haben wir?<br />

2. Welche Jahreszeit haben wir?<br />

<strong>3.</strong> Welches Datum haben wir?<br />

4. Welcher Wochentag ist heute?<br />

5. Welchen Monat haben wir?<br />

6. Ich werde Ihnen jetzt drei D<strong>in</strong>ge nennen <strong>und</strong> möchte,<br />

dass Sie diese Begriffe wiederholen:<br />

APFEL – TISCH – PFENNIG (kodiere den ersten Versuch)<br />

a) Apfel<br />

b) Tisch<br />

c) Pfennig<br />

(Lasse so oft wiederholen, bis alle drei D<strong>in</strong>ge er<strong>in</strong>nert werden).<br />

Versuchen Sie, sich diese Begriffe zu merken, weil ich Sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen<br />

M<strong>in</strong>uten nochmals danach fragen werde.<br />

7. Können Sie mir sagen, <strong>in</strong> welchem Staat wir uns befi nden?<br />

8. In welchem B<strong>und</strong>esland?<br />

9. In welcher Stadt?<br />

10. In welchem Stockwerk befi nden wir uns momentan?<br />

11. Wie lautet der Name dieser Kl<strong>in</strong>ik/Institution?<br />

0<br />

?<br />

nicht zutreffend, falsch 1 zutreffend, richtig<br />

nicht beurteilbar, unklar M<strong>in</strong>i-Mental State (MMS)<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →


A5 · SIDAM für ICD-10<br />

559<br />

12. Würden Sie jetzt bitte von 100 sieben abziehen; vom Rest ziehen<br />

Sie bitte nochmals sieben ab <strong>und</strong> ebenso vom Ergebnis,<br />

das Sie dann erhalten. Fahren Sie bitte fort,<br />

bis ich Sie bitte, aufzuhören.<br />

Falls e<strong>in</strong> Rechenfehler gemacht wird <strong>und</strong> die darauffolgenden<br />

Ergebnisse konsequent verschoben s<strong>in</strong>d (e<strong>in</strong> Siebener-Schritt),<br />

so wird nur e<strong>in</strong> Fehler kodiert.<br />

a) 93<br />

b) 86<br />

c) 79<br />

d) 72<br />

e) 65<br />

1<strong>3.</strong> Als nächstes werde ich Ihnen e<strong>in</strong> Wort buchstabieren.<br />

Sie sollen dasselbe Wort rückwärts buchstabieren.<br />

Das Wort ist V-O-G-E-L.<br />

Buchstabieren Sie nun bitte das Wort »Vogel« rückwärts,<br />

also mit dem letzten Buchstaben beg<strong>in</strong>nend!<br />

(Falls notwendig, nochmals vorwärts buchstabieren.)<br />

14. Schreiben Sie nun bitte irgende<strong>in</strong>en vollständigen Satz<br />

auf dieses Blatt. Der Satz sollte zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong> Subjekt<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong> Verb haben, <strong>und</strong> S<strong>in</strong>n ergeben.<br />

(Rechtschreib- <strong>und</strong> Grammatikfehler bleiben unberücksichtigt.)<br />

15. Sie sehen hier e<strong>in</strong>e geometrische Figur. Zeichnen Sie bitte diese<br />

Figur auf das Blatt, das ich Ihnen gebe.<br />

(Blatt 1 zeigen <strong>und</strong> e<strong>in</strong> leeres Blatt reichen – Richtig, wenn die<br />

Schnittfl äche der beiden fünfeckigen Figuren e<strong>in</strong>e viereckige<br />

Figur ergibt.)<br />

Bitte merken Sie sich die Figur. Ich werde Sie bitten, die Figur<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong> paar M<strong>in</strong>uten nochmals zu zeichnen.<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

A. Gedächtnis<br />

16. Kommen wir nun zu den drei Begriffen zurück, die sie sich merken sollten. Wir lauten<br />

diese drei Begriffe?<br />

a) Apfel<br />

? 0 1 →<br />

b) Tisch<br />

? 0 1 →<br />

c) Pfennig<br />

? 0 1 →<br />

A5


560 A5 · SIDAM für ICD-10<br />

17. Ich werde Ihnen nun e<strong>in</strong>en Namen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Adresse nennen, die Sie sich bitte<br />

merken sollen.<br />

Ich werde Sie jetzt anschließend <strong>und</strong> dann noch e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> wenigen M<strong>in</strong>uten<br />

nach dieser Adresse fragen.<br />

MAX MÜLLER – DORFSTRASSE 10 – MÜNCHEN<br />

Wiederholen Sie bitte die Adresse mit Namen.<br />

(Die Adresse kann maximal fünfmal vom Interviewer wiederholt werden,<br />

bis sie korrekt wiedergegeben wird.)<br />

Kodiere die Anzahl der notwendigen Vorgaben durch den Interviewer,<br />

bis der Befragte sie korrekt wiedergegeben hat.<br />

1 – 2 – 3 – 4 – 5<br />

18. Welchen Schulabschluss haben Sie?<br />

19. In welchem Jahr haben Sie die Schule beendet?<br />

20. Wie heißt der derzeitige B<strong>und</strong>eskanzler?<br />

21. Wie hieß der erste B<strong>und</strong>eskanzler nach dem 2. Weltkrieg?<br />

22. Wann war der 1. Weltkrieg?<br />

2<strong>3.</strong> Wann war der 2. Weltkrieg?<br />

24. Wo lebt der Papst?<br />

25. Jetzt sage ich Ihnen e<strong>in</strong>ige Ziffern, <strong>und</strong> wenn ich fertig b<strong>in</strong>, sollen Sie mir die Ziffern<br />

wiederholen:<br />

6 1 9 4 7 3<br />

Wiedergabe: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

? 0 1 →<br />

26. Jetzt sage ich Ihnen wieder e<strong>in</strong>ige Ziffern, aber Sie sollen die Ziffern <strong>in</strong> umgekehrter<br />

Reihenfolge wiederholen.<br />

Wenn ich z.B. sage »1 9 5«, sollen Sie (Pause) »5 9 1« sagen:<br />

3 2 7 9<br />

Wiedergabe: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

27. Er<strong>in</strong>nern Sie sich bitte an die Zeichnung (Blatt 1), die Sie vorher<br />

gemacht haben (machen sollten). Könnten Sie diese nochmals<br />

aus dem Gedächtnis zeichnen?<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →


A5 · SIDAM für ICD-10<br />

28. Können Sie sich an den Namen <strong>und</strong> die Adresse er<strong>in</strong>nern,<br />

die ich Ihnen genannt habe?<br />

a) MAX<br />

b) MÜLLER<br />

c) DORFSTRASSE 10<br />

d) MÜNCHEN<br />

B. Intellektuelle/kognitive Fähigkeiten <strong>und</strong> Persönlichkeit<br />

B.1. Bee<strong>in</strong>trächtigung des abstrakten Denkens<br />

29. Als nächstes werde ich Ihnen zwei Begriffe nennen.<br />

561<br />

Erklären Sie mir bitte den Unterschied zwischen den beiden Begriffen<br />

a) FLUSS – SEE<br />

Antwort: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

b) LEITER – TREPPE<br />

Antwort: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

A5<br />

30. Kennen Sie das Sprichwort:<br />

»Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm?« – Können Sie mir die übertragene Bedeutung<br />

dieses Sprichwortes erklären?<br />

Antwort: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

? 0 1 →<br />

B.2. Bee<strong>in</strong>trächtigtes Urteilsvermögen<br />

31. Ich werde Ihnen jetzt e<strong>in</strong>e Frage stellen:<br />

»E<strong>in</strong> Maurer fi el vom Gerüst <strong>und</strong> brach sich beide Be<strong>in</strong>e. Um sofort ärztlich behandelt zu<br />

werden, lief er <strong>in</strong>s nächste Krankenhaus.«<br />

F<strong>in</strong>den Sie das richtig?<br />

Antwort: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

32. Was passiert auf diesem Bild?<br />

(Luria-Figur Blatt 2 zeigen)<br />

Antwort: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

B.<strong>3.</strong> Andere Bee<strong>in</strong>trächtungen höherer kortikaler Funktionen wie z. B. Aphasie, Apraxie,<br />

Agnosie<br />

3<strong>3.</strong> Und nun zeichnen Sie bitte diesen Würfel ab! (Blatt 3)<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →


562 A5 · SIDAM für ICD-10<br />

34. Bitte zeichnen Sie als nächstes diese Figur ab! (Bild 4)<br />

35. (Interviewer: Zeige dem Patienten e<strong>in</strong>e Armbanduhr!)<br />

a) Was ist das?<br />

Antwort: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

(Interviewer: Zeige dem Patienten e<strong>in</strong>en Bleistift/Kugelschreiber!)<br />

b) Was ist das?<br />

Antwort: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

36. (Interviewer: Zeige dem Patienten das Blatt 5!)<br />

Bitte lesen Sie, was auf dem Blatt steht, <strong>und</strong> führen Sie dies dann aus!<br />

(Richtig, wenn Patient die Augen schließt)<br />

37. Nun möchte ich, dass Sie mir e<strong>in</strong>en Satz nachsprechen, <strong>und</strong> zwar:<br />

»Ich kaufe mir e<strong>in</strong>en verschließbaren Fernsehapparat.«<br />

(Nur e<strong>in</strong> Versuch ist erlaubt. Kodiere »1« nur bei richtig artikulierter<br />

Wiederholung)<br />

38. (Zeige dem Patienten das Blatt 6!)<br />

Bitte lesen Sie, was auf dem Blatt steht, <strong>und</strong> führen Sie dies<br />

dann aus!<br />

(Rechter Zeigefi nger an das l<strong>in</strong>ke Ohr.)<br />

39. (Zeige dem Patienten De<strong>in</strong>e F<strong>in</strong>gerknöchel <strong>und</strong> frage:)<br />

Wie nennt man das?<br />

Antwort: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

40. (Lies folgende Anweisung vor <strong>und</strong> reiche dem Patienten e<strong>in</strong><br />

leeres Blatt Papier; die nun folgende Anweisung darf nicht<br />

wiederholt werden, <strong>und</strong> es darf<br />

dem Patienten nicht geholfen werden)<br />

»Ich gebe Ihnen jetzt e<strong>in</strong> Blatt Papier.«<br />

Bitte nehmen Sie dieses Blatt <strong>in</strong> die rechte Hand, falten Sie es<br />

mit beiden Händen <strong>in</strong> der Mitte, <strong>und</strong> legen Sie es <strong>in</strong> Ihren Schoß!«<br />

a) nimmt Blatt <strong>in</strong> rechte Hand<br />

b) faltet es <strong>in</strong> der Mitte<br />

c) legt es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Schoß<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →


A5 · SIDAM für ICD-10<br />

II. Kl<strong>in</strong>ische Beurteilung<br />

B.4. Personlichkeitsveränderung (wenn möglich,<br />

fremdanamnestische Angaben berücksichtigen!)<br />

563<br />

41. Der Patient sche<strong>in</strong>t wesensverändert<br />

(z. B. er reagiert leicht zornig, entrüstet <strong>und</strong> aggressiv, <strong>und</strong>/oder we<strong>in</strong>t<br />

oder lacht bei ger<strong>in</strong>gfügigem Anlass im S<strong>in</strong>ne von Affekt<strong>in</strong>kont<strong>in</strong>enz,<br />

er ist nicht mehr »er selbst«, völlig anders geworden, frühere<br />

Persönlichkeitszüge können überspitzt/karikiert se<strong>in</strong>)<br />

42. Es besteht e<strong>in</strong>e deutliche Bee<strong>in</strong>trächtigung des Sozialverhaltens<br />

als Folge e<strong>in</strong>er Persönlichkeitsveränderung<br />

(z. B. ist der Patient taktlos, enthemmt, vernachlässigt die Kleidung<br />

<strong>und</strong> Hygiene, fällt durch derbe <strong>und</strong> verletzende Sprache auf,<br />

generelle Missachtung der konventionellen Regeln sozialen<br />

Verhaltens)<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

? 0 1 →<br />

4<strong>3.</strong> Der Patient ersche<strong>in</strong>t im Antrieb verm<strong>in</strong>dert, wirkt <strong>in</strong>teresselos,<br />

apathisch, motivationsarm <strong>und</strong> wenig spontan ? 0 1 →<br />

A5


565<br />

Geriatric Depression Scale (GDS)<br />

(Nach Sheikh <strong>und</strong> Yesavage 1986)<br />

A6


566 A6 · Geriatric Depression Scale (GDS)<br />

Ja Ne<strong>in</strong><br />

1. S<strong>in</strong>d Sie gr<strong>und</strong>sätzlich mit Ihrem Leben zufrieden? � �<br />

2. Haben Sie viele von Ihren Tätigkeiten <strong>und</strong> Interessen<br />

aufgegeben?<br />

� �<br />

<strong>3.</strong> Haben Sie das Gefühl, Ihr Leben sei leer? � �<br />

4. Ist Ihnen oft langweilig? � �<br />

5. S<strong>in</strong>d Sie meistens guter Laune? � �<br />

6. Befürchten Sie, dass Ihnen etwas Schlechtes zustoßen wird? � �<br />

7. S<strong>in</strong>d Sie meistens zufrieden? � �<br />

8. Fühlen Sie sich oft hilflos? � �<br />

9. S<strong>in</strong>d Sie lieber zu Hause, statt auszugehen <strong>und</strong> etwas zu<br />

unternehmen?<br />

10. Glauben Sie, dass Sie mit dem Gedächtnis mehr Schwierigkeiten<br />

haben als andere Leute?<br />

� �<br />

� �<br />

11. F<strong>in</strong>den Sie, es sei w<strong>und</strong>erbar, jetzt zu leben? � �<br />

12. Fühlen Sie sich so, wie Sie jetzt s<strong>in</strong>d eher wertlos? � �<br />

1<strong>3.</strong> Fühlen Sie sich energiegeladen? � �<br />

F<strong>in</strong>den Sie, Ihre Lage sei hoffnungslos? � �<br />

15. Glauben Sie, die meisten anderen Leute haben es besser als Sie? � �<br />

0– 5 Punkte: unauffällig<br />

5–10 Punkte: leichte bis mäßige Depression<br />

11–15 Punkte: schwere Depression<br />

Total GDS _______________


567<br />

Adressen von Alzheimer-<br />

Gesellschaften <strong>und</strong> L<strong>in</strong>ks<br />

zu weiteren Internet-<br />

Informationsangeboten<br />

<strong>in</strong> Deutschland, Österreich<br />

<strong>und</strong> der Schweiz<br />

A7


568 A7 · Adressen <strong>und</strong> L<strong>in</strong>ks<br />

1 International<br />

Alzheimer Europe<br />

145 Route de Thionville<br />

L-2611 Luxembourg<br />

Tel. +352–297970<br />

Fax +352–297972<br />

<strong>in</strong>fo@alzheimer-europe.org<br />

http://www.alzheimer-europe.org<br />

Alzheimer’s Disease International (ADI)<br />

64 Great Suffolk Street<br />

London SE1 0BL<br />

Tel. +44–20–7981–0880<br />

Fax +44–20–79282357<br />

<strong>in</strong>fo@alz.co.uk<br />

http://www.alz.co.uk<br />

2 Deutschland<br />

Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V.<br />

Friedrichstraße 236<br />

10969 Berl<strong>in</strong><br />

Tel. +49–(0)30–315057–33<br />

Fax +49–(0)30–315057–35<br />

deutsche.alzheimer.ges@t-onl<strong>in</strong>e.de<br />

http://www.deutsche-alzheimer.ges.de<br />

Dort können alle weiteren wichtigen Informationen erfragt werden.<br />

Auf der Internet-Seite der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V. s<strong>in</strong>d zu f<strong>in</strong>den:<br />

4 die Adressen der regionalen Gesellschaften sowie sonstiger Angehörigen-<br />

<strong>und</strong> Selbsthilfegruppen,<br />

4 die Adressen von Gedächtnissprechst<strong>und</strong>en, Gedächtnisambulanzen<br />

<strong>und</strong> Memory-Kl<strong>in</strong>iken,<br />

4 Internetadressen, die Unterstützungsangebote für Demenzkranke <strong>und</strong> Pflegebedürftige<br />

regional oder b<strong>und</strong>esweit auflisten,<br />

4 zahlreiche weitere <strong>in</strong>teressante L<strong>in</strong>ks zum Thema Demenz,<br />

4 Informationsmaterialien.<br />

Alzheimer-Telefon<br />

01803–171017 (9 Ct pro M<strong>in</strong>ute aus dem deutschen Festnetz)<br />

oder 030–259379514<br />

Beratung für Angehörige, Betroffene, aber auch professionelle Helfer<br />

(Mo–Do 9–18, Fr 9–15 Uhr)<br />

Term<strong>in</strong>vere<strong>in</strong>barung möglich unter <strong>in</strong>fo@deutsche-alzheimer.de.


A7 · Adressen <strong>und</strong> L<strong>in</strong>ks<br />

Alzheimer Angehörigen Initiative e.V.<br />

<strong>in</strong>fo@alzheimerforum.de<br />

http://www.alzheimerforum.de<br />

Alzheimer Forschung Initiative e.V.<br />

<strong>in</strong>fo@alzheimer-forschung.de<br />

http://www.alzheimer-forschung.de<br />

Alzheimer Onl<strong>in</strong>e Informations Service<br />

<strong>in</strong>fo@pfi zer.de<br />

http://www.alois.de<br />

3 Österreich<br />

Österreichische Alzheimer Gesellschaft<br />

Neurologische Universitätskl<strong>in</strong>ik Graz<br />

Kontaktperson: Univ.-Prof. Dr. Re<strong>in</strong>hold Schmidt<br />

Auenbruggerplatz 22<br />

A-8036 Graz<br />

Tel. +43–(0)316–385–83397<br />

Fax +43–(0)316–325520<br />

re<strong>in</strong>hold.schmidt@uni-graz.at<br />

http://www.alzheimer-gesellschaft.at<br />

569<br />

A7<br />

Österreichische Alzheimer-Liga<br />

Sozialmediz<strong>in</strong>isches Zentrum Baumgartner Höhe<br />

Otto Wagner Spital mit Pfl egezentrum – Psychiatrisches Zentrum<br />

Kontaktperson: Dr. Marion Eleonore Kalousek<br />

Baumgartner Höhe 1<br />

A-1145 Wien<br />

Tel. +43–(0)1–9106011–301<br />

Fax +43–(0)1–9106011–309<br />

Marion.Kalousek@wienkav.at<br />

http://www.alzheimer-liga.at<br />

Nationale Organisationen, Beratungsstellen, Gedächtnisambulanzen,<br />

Angehörigengruppen <strong>in</strong> Österreich <strong>und</strong> weitere Informationen für Patienten <strong>und</strong> Angehörige<br />

können dort abgerufen werden.<br />

Alzheimer Angehörige Austria<br />

alzheimeraustria@aon.at<br />

http://www.alzheimer-selbsthilfe.at


570 A7 · Adressen <strong>und</strong> L<strong>in</strong>ks<br />

4 Schweiz<br />

Schweizerische Alzheimervere<strong>in</strong>igung<br />

Rue des Pêcheurs 8 E<br />

CH-1400 Yverdon-les-Ba<strong>in</strong>s<br />

Tel. +41–(0)24–426–2000<br />

<strong>in</strong>fo@alz.ch<br />

http://www.alz.ch<br />

Die Adressen der kantonalen Sektionen <strong>und</strong> weitere Informationen<br />

können dort abgerufen werden.<br />

Alzheimer-Telefon<br />

+41–(0)24–426–0606<br />

(Mo–Fr 8–12 <strong>und</strong> 14–17 Uhr)


Stichwortverzeichnis<br />

H. <strong>Förstl</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Demenzen</strong> <strong>in</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-642-19795-6,<br />

© Spr<strong>in</strong>ger-Verlag Berl<strong>in</strong> Heidelberg 2011<br />

571


572 Stichwortverzeichnis<br />

A<br />

Aachener Aphasie-Test (AAT) 86, 105, 345,<br />

347<br />

Abrufdefi zite 348f<br />

Abs<strong>in</strong>thismus 212<br />

Aceruloplasm<strong>in</strong>ämie 142<br />

Aceton 224<br />

Acetylchol<strong>in</strong> 62, 204<br />

Acetylchol<strong>in</strong>esteraseaktivität 56, 66<br />

Acetylchol<strong>in</strong>esterasehemmer (AChE-I) 303 f,<br />

311, 410, 446<br />

Acetylchol<strong>in</strong>rezeptordichte 56<br />

activities of daily liv<strong>in</strong>g 7 Alltagsaktivitäten<br />

ADAS-cog.-Test 53<br />

Addenbrooke Cognitive Exam<strong>in</strong>ation Revised<br />

165<br />

α 1 -Adrenozeptoren <strong>und</strong> Neuroleptika 258<br />

aff ektiv-emotionale Verhaltenskontrolle 18<br />

Aff ektlabilität 98, 229<br />

Aff ektnivellierung 181<br />

Aff ektstabilisierung 485<br />

Aff ektverfl achung 19, 184, 349<br />

Aff ektvergröberung 484<br />

age-associated memory impairment 32, 40<br />

age-consistent memory impairment 28, 40<br />

age<strong>in</strong>g-associated cognitive decl<strong>in</strong>e 28, 32,<br />

40<br />

Aggressivität 54, 290, 307, 311, 407, 430,<br />

442, 457, 470, 483<br />

– somatische Ursachen 408<br />

Agitiertheit 307<br />

– Quantifi zierung 393<br />

Agnosie 182<br />

– assoziative 162<br />

Agrammatismus 161, 270<br />

Agranulozytose 259<br />

AIDS 160<br />

– AIDS-Demenz 181, 227<br />

– AIDS-Enzephalopathie 150, 181<br />

Akathisie 256<br />

Ak<strong>in</strong>ese 98, 161<br />

Aktivitätsförderung 302, 475<br />

Aktometrie 393<br />

aktivierende Pfl ege 519<br />

Akutgeriatrie 449<br />

Albträume 193<br />

alien hand/alien limb 164<br />

Alkalose 202<br />

Alkoholabhängigkeit 50, 212 ff<br />

– Epidemiologie 212<br />

Alkoholabusus 184, 228, 272, 342<br />

Alkoholanamnese 215<br />

Alkoholdemenz 228 f, 273<br />

– früh beg<strong>in</strong>nende 75<br />

– <strong>in</strong> der Bildgebung 373<br />

Alkoholentzug 185<br />

Alkoholentzugsdelir 202, 209<br />

Alkoholfolgekrankheiten 370<br />

Allgeme<strong>in</strong>er Sozialdienst 524<br />

Allgeme<strong>in</strong>veränderung im EEG 391 f<br />

Alltagsaktivitäten 34, 50, 53, 109, 291, 428<br />

– Bereiche 518<br />

– e<strong>in</strong>geschränkte 440, 514<br />

– Stabilisierung 492<br />

– <strong>und</strong> Pfl egestufen 515<br />

Alltagsbewältigung, Bee<strong>in</strong>trächtigung 6,<br />

34, 52<br />

Alten- <strong>und</strong> Pfl egeheime 294<br />

– freiheitsentziehende Maßnahmen 507<br />

Altenheime 468 ff<br />

– ärztliche Versorgung <strong>in</strong> 475<br />

– Ausstattungsanforderungen 473<br />

– Auswahlkriterien 471 f<br />

– organisatorische Merkmale 474<br />

– s<strong>in</strong>nvolle Umgangsformen <strong>in</strong> 476<br />

– Übersiedlung <strong>und</strong> E<strong>in</strong>gewöhnung 478<br />

Altenpfl egee<strong>in</strong>richtungen 468 ff<br />

– Qualitätsmerkmale 473 f<br />

Altenservicezentren 425<br />

Alter<br />

– als Risikofaktor der Alzheimer-Demenz 9<br />

– physiologische Veränderungen im 440<br />

– <strong>und</strong> Alzheimer-Demenz 48<br />

– <strong>und</strong> Demenzrisiko 57<br />

– kognitiver Abbau 29 f<br />

– <strong>und</strong> Verwirrtsheitszustände 199 f<br />

Altersdepression 36<br />

alterspsychiatrische Fachabteilungen 454


Stichwortverzeichnis<br />

Altersvergesslichkeit, gutartige 27 f, 32<br />

Altgedächtnis 13, 195<br />

– autobiographisches 22<br />

– episodisches 22<br />

– Leistungen 180<br />

– semantisches 22<br />

– Störungen 21 f<br />

Alzheimer-Demenz (AD) 48 ff , 74 ff , 104,<br />

107, 122, 126, 150, 168, 179, 268, 301 ff ,<br />

318, 342, 392, 422 ff , 428<br />

– diagnostische Kriterien 49<br />

– Diff erenzialdiagnose 197, 361<br />

– Diff erenzialdiagnose vs. Depression 346<br />

– Diff erenzialdiagnose vs. frontotemporale<br />

Demenz 348<br />

– Epidemiologie 9, 56 f<br />

– Forschungskriterien 50<br />

– Früherkennung 344<br />

– Frühzeichen 270<br />

– funktionelle Neuroanatomie 62<br />

– genetische Marker 381<br />

– <strong>in</strong> der Bildgebung 361<br />

– Lebenserwartung 55<br />

– Lewy-Körperchen-Variante 118 f, 271, 428<br />

– Liquormarker 79, 82<br />

– Mutationen bei 58<br />

– Neurobiologie 58 ff<br />

– neuropathologische Kriterien 62<br />

– Pharmakotherapie 63 f<br />

– Risikofaktoren 48, 57<br />

– Stadien 52 ff , 383<br />

– Todesursachen 55<br />

– <strong>und</strong> Depression 235<br />

– <strong>und</strong> FTLD 157<br />

– <strong>und</strong> Lösungsmittel<strong>in</strong>halation 225<br />

– <strong>und</strong> Psychotherapie 496<br />

Alzheimer-Demenz (AD), präsenile 74 ff<br />

– diagnostische Besonderheiten 84<br />

– Epidemiologie 75<br />

– Fallbeispiele 77 ff<br />

– genetische Ursachen 76<br />

– kl<strong>in</strong>ische Symptomatik 76<br />

– therapeutisches Vorgehen 79, 83, 88<br />

Alzheimer-Gesellschaften 288, 425, 434,<br />

472, 567 ff<br />

573<br />

A<br />

Alzheimer-Zentrum 421<br />

ambulante Hilfen 425<br />

ambulante Pfl egedienste 473<br />

– Leistungen 534<br />

– Auswahl 534<br />

γ-Am<strong>in</strong>obuttersäure 7 GABA<br />

Amisulprid 254, 258 f<br />

Ammoniak 219<br />

Amnesien<br />

– anterograde 20, 178<br />

– dienzephale 183<br />

– epileptische 178<br />

– funktionelle 187<br />

– nach Schädel-Hirn-Trauma 182<br />

– organische 175<br />

– permanente 179 ff<br />

– posttraumatische 176<br />

– progrediente 179<br />

– psychogene 175, 187<br />

– retrograde 21 f, 176 ff , 187, 239<br />

– stabile 181 ff<br />

– Taxonomie 175 ff<br />

– transitorische 175 ff<br />

amnestic MCI 28, 34<br />

amnestische Syndrome 174 ff , 266, 342<br />

amotivationales Syndrom 222<br />

Amphetam<strong>in</strong>e 226<br />

Amusie 164<br />

Amygdala 17 ff , 117, 130<br />

β-Amyloid 36, 49, 59, 79, 82, 379<br />

– bei Hyperhomozyste<strong>in</strong>ämie 326<br />

– Nachweis 158<br />

Amyloid-Plaques 48 f, 56, 59 ff , 102, 122 ff ,<br />

126, 235<br />

– Dichte 63<br />

Amyloidangiopathie 102, 110<br />

– <strong>in</strong> der Bildgebung 368<br />

Amyloidvorläuferprote<strong>in</strong> (APP) 58 f<br />

– Gen 76, 272<br />

– Spaltung 60<br />

amyotrophe Lateralsklerose 129, 150,<br />

159<br />

Analgetika 203, 216<br />

Ancrod 110<br />

Aneurysmaruptur 175


574 Stichwortverzeichnis<br />

Angehörige, pfl egende<br />

– Beratung 286, 433, 472<br />

– Beratungsziele 287<br />

– Entlastung 293<br />

– Ges<strong>und</strong>heitsrisiken 289<br />

– Psychoedukation für 294, 302<br />

– Psychotherapie für 498<br />

– <strong>und</strong> Heime<strong>in</strong>weisung 469 ff<br />

Angehörigenbegleitung 44, 111<br />

Angehörigengruppen 90, 434<br />

Angehörigensem<strong>in</strong>are 90<br />

Angst 197, 214, 236, 302, 483<br />

Anleitung <strong>und</strong> Beaufsichtigung als Hilfsform<br />

519<br />

Anoxie 175<br />

Anpassungsstörungen 189<br />

Antibiotika 203<br />

antichol<strong>in</strong>erge Wirkungen von Neuroleptika<br />

258<br />

Antichol<strong>in</strong>ergika 187, 203 f, 209, 220, 256,<br />

302<br />

– <strong>und</strong> Park<strong>in</strong>son-Demenz-Syndrom 134<br />

Antidementiva 42, 66 f, 88, 300, 393, 424,<br />

430<br />

– Kontra<strong>in</strong>dikationen, Interaktionen <strong>und</strong><br />

Nebenwirkungen 65<br />

Antidepressiva 111, 250, 308 f<br />

– trizyklische 203, 310<br />

Antidiabetika 110<br />

Antiemetika <strong>und</strong> Park<strong>in</strong>son-Demenz-Syndrom<br />

134<br />

Antiepileptika 219<br />

antihypertensive Therapie <strong>und</strong> Kognition<br />

319<br />

Antikonvulsiva 203, 308<br />

Antioxidanzien 222<br />

Antiphlogistika 203<br />

Antipsychotika 7 Neuroleptika<br />

antiretrovirale Therapie 331<br />

Antirheumatika, nichtsteroidale 306<br />

Antriebsm<strong>in</strong>derung 181, 236, 470<br />

Antriebssteigerung 19, 236<br />

Antriebsstörungen 184, 484<br />

Antriebsverfl achung 19<br />

Anxiolytika 308<br />

Apathie 117, 160 f, 195, 219, 236, 270, 430,<br />

457<br />

– Quantifi zierung 393<br />

Aphasie 37, 96, 156, 164<br />

– langsam progrediente 365<br />

– progrediente unfl üssige 158, 161<br />

– semantische 162<br />

Apolipoprote<strong>in</strong> E 57 f, 104<br />

– Gen 76, 168<br />

– Polymorphismus 59<br />

Apraxie 37, 96, 164, 458<br />

– okulomotorische 157<br />

Aprosodie 164<br />

Arbeitsgedächtnis 13<br />

– aff ektiv-emotionale Ebene 18<br />

– basales Vorderhirn 18<br />

– Hirnstrukturen 16<br />

– Störungen 179 f<br />

Arbeitslosenversicherung für Pfl egepersonen,<br />

Leistungen der Pfl egeversicherung<br />

523<br />

Area subcallosa 19<br />

Aripiprazol 254, 259<br />

Arteria basilaris, Basilariskopfthrombose 99<br />

Arteria-carotis-<strong>in</strong>terna-Verschluss 99<br />

Arteria-cerebri-anterior-Infarkte 98<br />

Arteria-cerebri-posterior-Infarkte 98<br />

Arteriitis cranialis B<strong>in</strong>g Horton 102<br />

Arteriosklerose 99<br />

Artikulationsstörungen 100<br />

Aspontaneität 349<br />

Assessment-Tests 443<br />

Assoziationsareale, Neurofi brillenablagerung<br />

61<br />

Asthma bronchiale <strong>und</strong> kognitive Defi zite<br />

324<br />

Astrozyten 60<br />

– S100-Prote<strong>in</strong> 151<br />

Astrozytom 107<br />

atactic hemiparesis 100<br />

Ataxie 148, 219, 222, 224, 230, 429<br />

– magnetische 135<br />

– optische 157<br />

– zerebelläre 159<br />

Atemdepression 222


Stichwortverzeichnis<br />

Äther 224<br />

atrophische Paresen 159<br />

Atypika 208<br />

Aufenthaltsbestimmung 296, 478<br />

Aufenthaltsbestimmungsrecht 462, 508<br />

Aufklärung von Patienten <strong>und</strong> Angehörigen<br />

286<br />

– bei präseniler AD 87<br />

Aufmerksamkeitspotenziale 393<br />

Aufmerksamkeitsschwankungen 349<br />

Aufmerksamkeitsstörungen 6, 98, 189<br />

Aufsichtspfl icht 509<br />

aufsteigendes retikuläres aktivierendes<br />

System (ARAS) 62<br />

Augenmuskellähmung 231<br />

autobiographischer Identitätsbezug 187<br />

autogenes Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g 489<br />

Autoimmunerkrankungen 180<br />

Autonomie der Betroff enen 287<br />

autosomal-dom<strong>in</strong>ante Mutationen 58<br />

Azidose 202<br />

B<br />

Bab<strong>in</strong>ski-Zeichen 98<br />

Bagatelltrauma 458<br />

Bal<strong>in</strong>t-Syndrom 157<br />

Bandaletta diagonalis 17<br />

Bankgeheimnis 527<br />

Barbiturate 218<br />

Barthel-Index 445, 547 ff<br />

basales Vorderhirn 16<br />

– Arbeitsgedächtnis 18<br />

Basalganglien 22<br />

– Kalzifi kation 117, 132<br />

Basalganglienerkrankungen, <strong>Demenzen</strong> bei<br />

114 ff<br />

Basilariskopfthrombose 99<br />

Beck-Depressions-Inventar 79, 347 f<br />

Behaltensspanne 179<br />

Behandlungspfl ege 534<br />

behavioral and psychological symptoms of<br />

dementia (BPSD) 53<br />

Belastungsreaktionen, akute 423<br />

575<br />

A–B<br />

Belastungssituationen, akute <strong>und</strong><br />

chronische 239<br />

belle <strong>in</strong>diff erence 238<br />

Benennstörungen 161<br />

benign senescent forgetfulness 28, 32<br />

Benperidol 254<br />

Benz<strong>in</strong>schnüff eln 224<br />

Benzodiazep<strong>in</strong>e 50, 151, 207, 212, 215, 217,<br />

250, 256, 311, 405<br />

– Initoxikation 391<br />

– Missbrauch 217<br />

Beobachtungsskalen 343<br />

Beratung, rationelle 286 ff<br />

Beratungsorganisationen, multiprofessionelle<br />

469<br />

Berentung, vorzeitige 527<br />

Bestehlungswahn 409, 458, 465<br />

Betreuung 433, 504 ff<br />

– Aufgabenfelder 296, 504<br />

– Bestellung <strong>und</strong> Aufgaben der Betreuer<br />

505 f<br />

– gesetzliche 295<br />

– Konzepte für demente Patienten 473 ff<br />

– Versorgungsbereiche 462<br />

Betreuungsgruppen 536<br />

Betreuungsverfahren 506<br />

Betreuungsverfügung 296, 532<br />

Betreuungsvorsorge 296<br />

Bewegungsarmut 195<br />

Bewegungsdrang 291, 473, 493<br />

Bewegungsmangel <strong>und</strong> kognitiver Abbau<br />

331<br />

Bewegungsstörungen 114 f<br />

– 7 auch extrapyramidalmotorische<br />

Störungen<br />

Bewegungsstörungen, hyperk<strong>in</strong>etische 143<br />

– mit Demenz 123, 143<br />

Bewegungsstörungen, hypok<strong>in</strong>etische 136<br />

– mit Demenz 120, 136<br />

Bewegungstherapie 448<br />

Bewusstlosigkeit 224<br />

Bewusstse<strong>in</strong>sstörung 230, 239<br />

Bewusstse<strong>in</strong>sstörungen 6, 193, 231<br />

Bezugspfl ege 411<br />

bilaterale thalamische Infarkte 20


576 Stichwortverzeichnis<br />

Bildgebung 354 ff<br />

– strukturelle 354<br />

– Verfahren 354 ff<br />

Biperiden 256<br />

Blickkrämpfe 256<br />

Blickparese, supranukleäre 119, 121, 127 f,<br />

157, 159, 169, 271<br />

– <strong>und</strong> Bildgebung 361<br />

– vertikale 130<br />

Bl<strong>in</strong>dheit, kortikale 104<br />

Blutbildveränderungen 215<br />

Blutdiagnostik 376<br />

Blutdrucke<strong>in</strong>stellung 109<br />

Blut-Hirn-Schranke 224, 228<br />

Bolustod 164<br />

Borderl<strong>in</strong>e-Persönlichkeitsstörung 249<br />

Borreliose 135, 247<br />

bov<strong>in</strong>e spongiforme Enzephalopathie (BSE)<br />

149<br />

Boxerdemenz 61<br />

Braak-Stadien 61<br />

Bradyk<strong>in</strong>ese 127, 130<br />

Bradyphrenie 125, 130, 236<br />

Bromide 219<br />

Bromismus 219<br />

Brücke 100<br />

Bulbärparalyse 159<br />

Bürgerhilfe 293<br />

Burnout-Syndrom 86<br />

Buspiron 311<br />

C<br />

CADASIL 101 f, 111, 272<br />

CAG-Repeat-Expansion 138<br />

California Verbal Learn<strong>in</strong>g Test 85, 345 f, 349<br />

CAMDEX 36 f<br />

Cannabis 213, 222<br />

Carbamazep<strong>in</strong> 250, 308<br />

Caudatum 114<br />

– Läsionen 115<br />

Caudatumkopfatrophie 138<br />

Centrum medianum 115<br />

CERAD 39, 78, 82, 422<br />

cha<strong>in</strong><strong>in</strong>g 494<br />

Chloroform 224<br />

Cholester<strong>in</strong> <strong>und</strong> Demenzrisiko 321<br />

chol<strong>in</strong>erge Denervation 62<br />

chol<strong>in</strong>erge Neurotransmission 202<br />

chol<strong>in</strong>erges Defi zit 216, 237<br />

Chol<strong>in</strong>ergika 258<br />

Chol<strong>in</strong>esterasehemmer 64, 80, 83, 88, 109,<br />

126, 171, 204<br />

– Kontra<strong>in</strong>dikationen, Interaktionen <strong>und</strong><br />

Nebenwirkungen 65<br />

– zentrale 125<br />

Chorea Hunt<strong>in</strong>gton 50, 116, 119 f, 123, 138,<br />

150, 272, 343, 424<br />

– Genetik 432<br />

– genetische Marker 386<br />

– <strong>und</strong> Bildgebung 364<br />

– Westphal-Variante 139<br />

Choreoakanthozytose 117, 139<br />

Choreoathetose 159, 226<br />

Chromosom 3 170<br />

Chromosom 4 138<br />

Chromosom 9 170<br />

Chromosom 12 123, 139<br />

Chromosom 13 124, 140<br />

Chromosom 14 132<br />

Chromosom 17 130, 157<br />

Chromosom 19 57, 101<br />

Chromosom 20 141, 150<br />

chronisch hypertensive Enzephalopathie<br />

<strong>und</strong> Bildgebung 366<br />

chronische hepatische Enzephalopathie<br />

231<br />

chronisch-obstruktive Lungenerkrankung<br />

<strong>und</strong> kognitive Störungen 323<br />

chunks <strong>und</strong> Gedächtnis 12<br />

C<strong>in</strong>gulum 117<br />

Citalopram 310<br />

Clomethiazol 209, 308, 311, 405<br />

Clonazepam 151<br />

Clozap<strong>in</strong> 117, 254, 257 ff , 308<br />

cognitively impaired not demented 28<br />

Cohen-Mansfi eld Agitation Inventory 474<br />

CO-Intoxikation 366<br />

Computertomographie 107, 354 ff


Stichwortverzeichnis<br />

– Hirn<strong>in</strong>farkte 99<br />

– kraniale 55<br />

– Vor- <strong>und</strong> Nachteile 355<br />

Corpus callosum 231<br />

Creutzfeldt-Jakob-ähnliche Syndrome 219<br />

Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung 122, 146 ff ,<br />

168, 268, 393, 424, 428<br />

– Diagnosekriterien 146<br />

– Diff erenzialdiagnose 148, 369<br />

– <strong>in</strong> der Bildgebung 369<br />

– Liquormarker 380<br />

Cycas circ<strong>in</strong>alis 129<br />

Cyclophosphamid 103, 111<br />

D<br />

Dauerstress, Gedächtnisstörungen bei 188<br />

deformation-based morphometry (DBM) 357<br />

deklarative Gedächtnisleistungen 14, 52<br />

Dekubitalgeschwüre 55<br />

Delikte 160<br />

Delir 192 ff , 209, 249<br />

– gemischtes 400<br />

– hyper- <strong>und</strong> hypoaktives 195, 400<br />

– Konsilanforderung bei 399 ff<br />

– multifaktorielles Modell 401<br />

– Neurotransmittermodell 401<br />

– Prävention 405<br />

– 7 auch Verwirrtheitszustände<br />

– Symptome 402<br />

deliriogene Medikamente 203, 402<br />

Delirrisiko 308<br />

dementia lack<strong>in</strong>g dist<strong>in</strong>ctive histopathology<br />

118, 170<br />

Dementia pugilistica 135<br />

Dementia Rat<strong>in</strong>g Scale (DRS) 105<br />

Demenz<br />

– alkohol<strong>in</strong>duzierte 214<br />

– beg<strong>in</strong>nende 428<br />

– bei AIDS 181<br />

– bei Morbus Park<strong>in</strong>son 303, 428<br />

– bei Morbus Pick 118 f<br />

– Depressionssyndrome der 235 f<br />

– Diff erenzialdiagnose vs. Delir 414<br />

577<br />

B–D<br />

– Diff erenzialdiagnose vs. Depression 86,<br />

414, 428<br />

– Diff erenzialdiagnose vs. Schizophrenie<br />

247 f<br />

– Epidemiologie 8 f<br />

– Gedächtnise<strong>in</strong>bußen bei 179<br />

– gemischte (mixed dementia) 96, 104, 108,<br />

368, 422<br />

– HIV-1-assoziierte 331<br />

– Konsilanforderung bei 398<br />

– mit Park<strong>in</strong>sonismus 119 f<br />

– reversible, Diagnose 274<br />

– thalamische 99<br />

– seltene Ursachen 429<br />

– <strong>und</strong> dissoziative Störungen 238<br />

– <strong>und</strong> Substanzmissbrauch 212 ff<br />

– <strong>und</strong> Verwirrtheitszustände 192 ff , 399 ff<br />

– vom dysexekutivem Typ 114<br />

Demenz mit Lewy-Körperchen (DLK) 118 ff ,<br />

125 f, 237, 268, 303, 360, 394<br />

– Liquormarker 380<br />

– <strong>und</strong> Bildgebung 362<br />

Demenzambulanz 421<br />

Demenzdiagnostik 375 ff<br />

– Früherkennung 341<br />

– genetische Marker 381<br />

– Labornachweisverfahren 381<br />

– neuropsychologische 338 ff<br />

– Verlaufskontrolle 343<br />

Demenzrisiko 272, 424, 427<br />

– somatische Faktoren 318 ff<br />

Demenzschwelle 427<br />

Demenzstadien 6<br />

– leicht 52<br />

– mittelschwer 53<br />

– schwer 54<br />

Demenzsyndrome 6, 9, 49<br />

– assoziierte Gene 381<br />

– Diagnosekriterien 5<br />

– Labordiagnostik 381<br />

– Liquordiagnostik 377 ff<br />

– Schweregrade 7 f<br />

– Syndromdiagnose 266 f, 273<br />

Demenzsyndrom der Depression 52, 234 ff ,<br />

273, 392


578 Stichwortverzeichnis<br />

– <strong>und</strong> Bildgebung 372<br />

Demenztherapie<br />

– Interventionsstrategien 302 ff<br />

– Kostenfragen 300<br />

– Ziele 301<br />

DemTect 413, 421, 457<br />

Demyel<strong>in</strong>isierungsherde 101<br />

Dentatorubropallido-Luysiane-Atrophie<br />

123, 139<br />

Depression 26, 57, 118, 126, 148, 165, 175,<br />

179, 195, 213, 219, 234 ff , 270, 272, 302,<br />

309, 342, 247, 423, 430, 483<br />

– bei Angehörigen 289<br />

– Demenzsyndrom der 52, 234 ff , 272 f,<br />

392<br />

– Diff erenzialdiagnose vs. Alzheimer-<br />

Demenz 86, 346<br />

– Diff erenzialdiagnose vs. beg<strong>in</strong>nende<br />

Demenz 428<br />

– kognitive Behandlung 493<br />

– latente 189<br />

– <strong>und</strong> beg<strong>in</strong>nende Demenz 428<br />

– <strong>und</strong> <strong>Demenzen</strong> 235 f<br />

– <strong>und</strong> Gedächtnisstörung im Alter 347<br />

depressiv gefärbte Gr<strong>und</strong>stimmung 98<br />

Depressivität 35, 197<br />

Dermatitis 230<br />

Desorientiertheit 54, 193 ff<br />

Dextransulfat 152<br />

Diabetes mellitus 100, 201<br />

– E<strong>in</strong>stellung 110<br />

– <strong>und</strong> kognitiver Abbau 320<br />

Diagnoserichtl<strong>in</strong>ien 275<br />

Diagnostik, rationelle 266 ff<br />

diagnostische Interviews 343<br />

Diarrhö 230<br />

Diät 105, 109<br />

Diazepam 217<br />

Dienzephalon<br />

– Langzeitgedächtnis 19<br />

– mediales 16<br />

– Schädigung 182<br />

Diff erenzialdiagnostik demenzieller<br />

Erkrankungen 268 ff<br />

diff usion tensor imag<strong>in</strong>g (DTI) 357<br />

diff usion-weighted imag<strong>in</strong>g (DWI) 357<br />

Diphenhydram<strong>in</strong> 219<br />

Dis<strong>in</strong>hibition-Demenz-Park<strong>in</strong>sonismus-<br />

Amyotrophie-Komplex 129<br />

dissoziative Störungen <strong>und</strong> Demenz 238<br />

Distraktoren 345<br />

DNS-Analyse bei CADASIL 102<br />

Donepezil 43, 66 f, 109, 304<br />

– Kontra<strong>in</strong>dikationen, Interaktionen <strong>und</strong><br />

Nebenwirkungen 65<br />

Dopam<strong>in</strong> 204, 225 f<br />

Dopam<strong>in</strong>agonisten 209<br />

Dopam<strong>in</strong>mangel 124, 360<br />

Dopam<strong>in</strong>rezeptoren 115<br />

– <strong>und</strong> Neuroleptika 254<br />

dorsaler Vaguskern 124, 130<br />

Doxep<strong>in</strong> 310<br />

Drogenabhängigkeit 50, 212 ff<br />

– Epidemiologie 212<br />

Drogenanamnese 215<br />

drogenassoziierte Syndrome 221 ff<br />

Drogenmissbrauch 272<br />

DSM-IV-TR, Kriterien der leichten kognitiven<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigung 29 ff<br />

Durchgangssyndrom 193<br />

Durstantrieb, Abnahme 440<br />

Dysarthria-clumsy-hand-Syndrom 100<br />

Dysarthrie 122, 127, 195, 222, 231, 429<br />

Dysautonomie 128<br />

Dysexekutivsyndrom 18<br />

Dysgraphie 163<br />

Dysk<strong>in</strong>esie 139, 149 f<br />

Dyslexie 163<br />

Dystonie, akute 256<br />

E<br />

Echolalie 161, 167<br />

Ecstasy (MDMA) 213, 225<br />

EEG 7 Elektroenzephalographie<br />

ehrenamtliche Helfer 535<br />

Eifersuchtswahn 409<br />

Eilverfahren 506<br />

Eilbetreuung 463


Stichwortverzeichnis<br />

E<strong>in</strong>bruchswahn 409<br />

E<strong>in</strong>weisung<br />

– <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Alten- oder Pfl egeheim 468 ff<br />

– <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e geriatrische Station 441 ff<br />

– <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e gerontopsychiatrische Abteilung<br />

454 ff<br />

E<strong>in</strong>willigungsfähigkeit 415, 478<br />

E<strong>in</strong>willigungsvorbehalt 504, 507, 512<br />

E<strong>in</strong>zel<strong>in</strong>farktdemenz, strategische 98<br />

Eisenablagerungen 128, 141, 362<br />

elastische Fasern, Abnahme 440<br />

Elektroenzephalographie 56, 390 ff<br />

– Bef<strong>und</strong>e 390 f<br />

– quantitative 393<br />

Elektrokonvulsionsamnesie, transitorische<br />

179<br />

Elektrokrampftherapie 179<br />

Elektrolytstörungen 55, 201, 231<br />

Embolie 55, 96 f, 110<br />

emotionale Labilität 187, 483<br />

Emotionsstabilisierung 485<br />

Encephalitis lethargica 133<br />

Endocarditis lenta 96<br />

Energieverlust 236<br />

Enkodierung 13<br />

Enthemmung 117, 270, 429, 484<br />

– frontale Enthemmungszeichen 160<br />

– somatische Ursachen 408<br />

Entmarkungskrankheiten 101, 231<br />

entorh<strong>in</strong>aler Kortex 20, 117<br />

Entspannungstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g 489<br />

Enzephalitis 150, 174, 187, 202, 247<br />

Enzephalopathie<br />

– hepatische 229<br />

– hypertensive 108<br />

– mitochondriale (MELAS) 104, 111<br />

– toxische 224<br />

Epiduralhämatom 370<br />

Epilepsie 55, 104, 157, 165, 174, 178, 247,<br />

393<br />

epilepsiechirurgische E<strong>in</strong>griff e 182<br />

Ergotherapie 111, 411<br />

Er<strong>in</strong>nerungstherapie 302, 411, 431<br />

Ernährung 303<br />

– mediterrane 332<br />

579<br />

Erschöpfungszustand 392<br />

Erwerbsm<strong>in</strong>derungsrente 528<br />

Essen auf Rädern 536<br />

Essverhalten, abnormes 148, 161, 164<br />

Euphorie 197, 222, 224, 229<br />

evozierte Potenziale 393<br />

Exsikkose 402<br />

extrapyramidalmotorische Störungen 98,<br />

126, 256, 271, 307<br />

F<br />

D–F<br />

Fahrtauglichkeit 53, 158, 160, 297, 513<br />

Fahrtkosten 517<br />

false memory syndrome 188<br />

Familiarität 272<br />

Fasciculus unc<strong>in</strong>atus 21<br />

Faszikulationen 149, 159<br />

Fazialisparese 95, 98<br />

fi ber track<strong>in</strong>g 357<br />

Fieber 201<br />

Florbetaben 167<br />

Flügelschlagtremor 140<br />

fl uid attenuated <strong>in</strong>version recovery (FLAIR)<br />

357<br />

fl uide Intelligenz 35<br />

Fluoxet<strong>in</strong> 171<br />

Flupentixol 254<br />

Fluphenaz<strong>in</strong> 254<br />

Flüssigkeitshaushalt 303, 440<br />

Folsäure 110, 215, 326<br />

– Mangel 230<br />

Formatio reticularis 217<br />

Fornix 17<br />

freez<strong>in</strong>g 133<br />

freie Willensbestimmung 511<br />

Freiheitsentziehung 461, 463<br />

Fremdbeurteilungsskalen 348<br />

Fremdgefährdung 463<br />

– E<strong>in</strong>weisungsgründe bei 465<br />

fremdschädigendes Verhalten 195<br />

Frontalhirnsyndrom 98<br />

Frontallappentests 166<br />

frontosubkortikale Demenz 114


580 Stichwortverzeichnis<br />

frontosubkortikale Schaltkreise 115 f<br />

frontotemporale Degeneration 349, 392, 428 f<br />

– genetische Marker 386<br />

– <strong>in</strong> der Bildgebung 365<br />

– Liquormarker 380<br />

– mit Park<strong>in</strong>son-Symptomatik, Bildgebung<br />

361<br />

– Varianten 365<br />

frontotemporale Demenz 118, 120, 156,<br />

158, 160<br />

– Defi zite bei 349<br />

– Diff erenzialdiagnose vs. Alzheimer-<br />

Demenz 348<br />

– kl<strong>in</strong>ische Kriterien 161<br />

frontotemporale Demenz mit Park<strong>in</strong>son-<br />

Syndrom<br />

– bei Mutation auf Chromosom 17 130<br />

– mit pallidopontonigraler Degeneration<br />

121<br />

frontotemporale Lobärdegeneration (FTLD)<br />

120 f, 156 ff , 169 f, 268, 422<br />

Früherkennung<br />

– histopathologische E<strong>in</strong>teilung 169<br />

– kognitiver Veränderungen, Screen<strong>in</strong>g<br />

447<br />

– von <strong>Demenzen</strong> 398, 426<br />

Früherwachen 236<br />

Fugue 188<br />

Fürsorge für ärztliche Heilbehandlung 506<br />

G<br />

GABA 217<br />

GABA-/Enkephal<strong>in</strong>-Neurone 114<br />

GABAerge Interneurone 62<br />

Galantam<strong>in</strong> 43, 66 f, 109, 171, 304<br />

– Kontra<strong>in</strong>dikationen, Interaktionen <strong>und</strong><br />

Nebenwirkungen 65<br />

Gangstörungen 97, 101, 108, 270, 442<br />

Ganser-Syndrom 234, 238<br />

Gedächtnis 12 ff<br />

– akustisches 12<br />

– Altgedächtnis 13<br />

– anterograde Defi zite 20<br />

– Arbeitsgedächtnis 13<br />

– deklarative Leistungen 14, 52<br />

– echoisches 12<br />

– E<strong>in</strong>teilung 12<br />

– Enkodierung 13<br />

– episodisches 14, 86<br />

– funktionelle Neuroanatomie 16 ff<br />

– ikonisches 12<br />

– Konsolidierung 20<br />

– Kurzzeitgedächtnis 12<br />

– Langzeitgedächtnis 13<br />

– materialspezifi sche Defi zite 181<br />

– Neugedächtnis 20, 52, 176, 188, 195, 222,<br />

234<br />

– nichtdeklarative Leistungen 14 f, 22, 52,<br />

180<br />

– prospektives 13<br />

– semantisches 14<br />

– Ultrakurzzeitgedächtnis 12<br />

– <strong>und</strong> Konditionierung 15<br />

– <strong>und</strong> motorisches Lernen 15<br />

– Verarbeitung 16 ff<br />

Gedächtnis- <strong>und</strong> Orientierungshilfen 52,<br />

89, 492, 494<br />

Gedächtnissprechst<strong>und</strong>e 420 f<br />

Gedächtnisstörungen 108, 174, 195<br />

– bei alle<strong>in</strong>stehenden Patienten 425<br />

– bei jungen Patienten 423 f<br />

– Erkrankungen mit 174<br />

Gedächtnisstufen 14<br />

Gedächtnistra<strong>in</strong><strong>in</strong>gsprogramme 313<br />

Gedankenabreißen 248<br />

Gefahrenquellen im Haushalt 463<br />

Gefäßamyloidose 60<br />

Gefäßendothelschädigung 231<br />

Gene, demenzassoziierte 381<br />

Generalvollmacht 464<br />

genetische Disposition 432<br />

Geriatric Depression Scale (GDS) 445, 565 f<br />

geriatrische Stationen 438 ff<br />

– E<strong>in</strong>weisung 441 ff<br />

geriatrisches Assessment 443 f<br />

– beim Hausarzt 445<br />

geriatrisches Screen<strong>in</strong>g 445, 447, 543 ff<br />

Ger<strong>in</strong>nungsstörungen 96


Stichwortverzeichnis<br />

gerontopsychiatrische Stationen 454 ff , 539<br />

– Arbeitsweise 455<br />

– E<strong>in</strong>weisungsgründe 457<br />

– E<strong>in</strong>weisungsprozedere 461 f<br />

– juristische Rahmenbed<strong>in</strong>gungen 461<br />

gerontopsychiatrische Wohngruppen 539<br />

Gerstmann-Sträussler-Sche<strong>in</strong>ker-Syndrom<br />

149, 272<br />

Geschäftsfähigkeit 295, 415, 504, 510<br />

Gesetze zur Behandlung psychisch Kranker<br />

462<br />

Gestaltungstherapie 487<br />

Ges<strong>und</strong>heitsfürsorge 296, 462<br />

Gewichtsverlust 236<br />

Gewichtszunahme unter Neuroleptika 259<br />

ghost tangles 61<br />

G<strong>in</strong>kgo-Biloba-Extrakt 304, 306<br />

Gliose 169<br />

Globus pallidus externus 114 ff<br />

Globus pallidus <strong>in</strong>ternus 114 ff<br />

Glukokortikoide 152, 188<br />

Golgi-Apparat 60<br />

Grenzzonenischämie 99<br />

Gr<strong>und</strong>pfl ege 534<br />

Gruppenaktivitäten 478 f<br />

Gruppenpfl egepr<strong>in</strong>zip 474<br />

Gyrus-angularis-Infarkte 98<br />

Gyrus-c<strong>in</strong>guli-anterior-Läsionen 117<br />

Gyrus dentatus 171<br />

Gyrus fusiformis 182<br />

H<br />

Hach<strong>in</strong>ski-Ischämie-Score (HIS) 105<br />

Haftpfl ichtversicherung 510<br />

Haftungsverpfl ichtung 509<br />

Halluz<strong>in</strong>ationen 102, 193, 195, 197, 219,<br />

224, 247, 458<br />

– akustische 239, 243<br />

– koka<strong>in</strong><strong>in</strong>duzierte 225<br />

– somatische Ursachen 410<br />

Haloperidol 204, 208, 220, 254, 258, 309<br />

Hamburg-Wechsler Intelligenztest für<br />

Erwachsene 346<br />

581<br />

F–H<br />

Hämorrhagien 231<br />

Härtefallregelung <strong>und</strong> Pfl egeversicherung<br />

514<br />

Hausarzt<br />

– als Case-Manager 450<br />

– geriatrisches Assessment durch 445<br />

– <strong>und</strong> Demenzfrüherkennung 426<br />

– <strong>und</strong> E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> die Gerontopsychiatrie<br />

456<br />

– <strong>und</strong> Heime<strong>in</strong>weisung 472<br />

Hausgeme<strong>in</strong>schaften 539<br />

Haushaltshilfen 536<br />

– F<strong>in</strong>anzierung von 525<br />

häusliche Pfl ege<br />

– Leistungen der Pfl egeversicherung 516,<br />

519<br />

– Sozialhilfe für 521<br />

hauswirtschaftliche Versorgung 534<br />

Hautbiopsie bei CADASIL 102<br />

Heime<strong>in</strong>weisung 468 ff<br />

Heimfi nanzierung 526<br />

Heimplatzsuche 471 ff<br />

Hemiballismus 100<br />

Hemiparese 95, 98<br />

Hepatitis-C-Virus <strong>und</strong> kognitive Defi zite 330<br />

hepatolentikuläre Degeneration 124, 361<br />

hepatozerebrale Degeneration 134<br />

Herdbef<strong>und</strong> 270<br />

– im EEG 392<br />

Hero<strong>in</strong>missbrauch 221<br />

Herpes zoster 102<br />

Herpes-simplex-Enzephalitis 160, 187<br />

Herz<strong>in</strong>suffi zienz 202<br />

– <strong>und</strong> kognitive Störungen 323<br />

Herzklappenfehler 110<br />

Herzm<strong>in</strong>utenvolumen, Abnahme 440<br />

Herzratenvariabilität 393<br />

Herzrhythmusstörungen 259<br />

Herzstillstand 181<br />

Herzwandaneurysma 96<br />

Heubnersche Endarteriitis 102<br />

Hilfl osigkeit 483, 491<br />

Hilfs-Ich-Funktionen 500<br />

Hilfsmittel, technische<br />

– Leistungen der Pfl egeversicherung 523


582 Stichwortverzeichnis<br />

Hilfsmittel, zum Verbrauch<br />

– Leistungen der Pfl egeversicherung 522<br />

H<strong>in</strong>zuverdienst zur Rente 528<br />

Hippokampus 17 ff , 62, 117, 223, 225, 228,<br />

235<br />

Hippokampusatrophie 56<br />

– <strong>in</strong> der Bildgebung 359<br />

Hippokampuskomplex, Langzeitgedächtnis<br />

20<br />

Hirnabszess 222<br />

Hirnatrophie 217, 228<br />

Hirnbiopsie 103<br />

Hirnblutung 224 f<br />

Hirn<strong>in</strong>farkte 55, 96 ff , 222, 225 f, 239, 247,<br />

268<br />

– im Grenzzonengebiet 99<br />

– multiple kortikale 96<br />

– multiple lakunäre 100<br />

– strategische 98<br />

Hirnödem 224<br />

Hirnschädigung, dienzephale <strong>und</strong><br />

temporale 182<br />

Hirntrauma 55<br />

Hirntumore 107, 174<br />

Hirnveränderungen <strong>und</strong> Altern 358<br />

Histam<strong>in</strong>rezeptoren <strong>und</strong> Neuroleptika 258<br />

histrionisch bed<strong>in</strong>gte kognitive Defi zite 238<br />

histrionische Konversionsreaktionen 238<br />

HIV-Infektion 168, 202, 215<br />

– assoziierte kognitive Störungen 331<br />

– sek<strong>und</strong>ärer Park<strong>in</strong>sonismus nach 132<br />

– <strong>und</strong> Drogenabhängigkeit 227<br />

Hoff nungslosigkeit 236, 289<br />

Hormonersatztherapie 329<br />

humanes Imm<strong>und</strong>efi zienzvirus 7 HIV-Infektion<br />

Hunt<strong>in</strong>gt<strong>in</strong>gen 386<br />

γ-Hydroxybuttersäure 227<br />

Hydrozephalus 134<br />

– chronischer 7 Normaldruckhydro zephalus<br />

– kommunizierender 229<br />

– obstruktiver 135<br />

hyperaktives Delir<br />

– Charakteristika 195<br />

– Konsilanforderung bei 400<br />

Hyperaktivität 160<br />

Hypercholester<strong>in</strong>ämie 57, 109<br />

Hyperhidrosis 196<br />

Hyperhomozyste<strong>in</strong>ämie <strong>und</strong> kognitive<br />

Störungen 326<br />

Hyperlipidämie <strong>und</strong> kognitive Defi zite 321<br />

Hypermetamorphosis 163<br />

Hyperoralität 163, 429<br />

Hyperparathyreoidismus 382<br />

Hyperrefl exie 166<br />

Hypersexualität 163<br />

hypertensive Enzephalopathie 108<br />

hypertensive Krise 101<br />

Hyperthermie 202<br />

Hyperthyreoidismus, subkl<strong>in</strong>ischer 330<br />

Hypertonie 100, 201<br />

– <strong>und</strong> kognitive Defi zite 319<br />

Hypnotika 216<br />

– sedierende 214<br />

hypoaktives Delir<br />

– Charakteristika 195<br />

– Konsilanforderung bei 400<br />

Hypoglykämie 216, 383<br />

Hypomagnesiämie 149<br />

Hypomimie 236<br />

Hypoparathyreoidismus 382<br />

Hypothermie 201 f<br />

Hypothese der somatischen Marker 18<br />

Hypothyreoidismus, subkl<strong>in</strong>ischer 329<br />

Hypothyreose 57, 168<br />

Hypotonie 161<br />

Hypoxie 175<br />

hypoxische Hirnschäden 149<br />

hysterische Analgesie 239<br />

I<br />

Ich-Störungen 243<br />

illegale Drogen 220 ff<br />

illusionäre Verkennungen 195, 197<br />

Immobilität 441<br />

Imm<strong>und</strong>efekte 180<br />

Infl uenza-A-Virus 133<br />

Inhalanzienmissbrauch 224


Stichwortverzeichnis<br />

Inkohärenz 18, 54, 97, 101, 108, 161, 270,<br />

289, 441 f, 484<br />

In-situ-Thrombose 99<br />

Insomnie 309<br />

– sporadische 149<br />

– tödliche familiäre 149<br />

Instabilität 441<br />

<strong>in</strong>tellektueller Abbau 441<br />

<strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>äre Langzeitstudie für<br />

Erwachsene (ILSE) 40<br />

Interessenverarmung 98<br />

<strong>in</strong>terpersonelle Psychotherapie,<br />

Late-life-Form 497<br />

Intoxikationen 174, 216<br />

Intrusionen 345, 348<br />

Irritierbarkeit 187, 193<br />

isolierte Angiitis des ZNS 103, 111<br />

K<br />

Kaliumruhepotenzial 62<br />

Kalzifi kation der Basalganglien 117, 132<br />

Kardiaka 203<br />

Karotisstenose 96, 110<br />

Karz<strong>in</strong>om 196<br />

Kayser-Fleischer-R<strong>in</strong>g 140<br />

Kernsp<strong>in</strong>tomographie, CADASIL 103<br />

Klebstoff e 224<br />

Kle<strong>in</strong>hirndegeneration 228<br />

Klüver-Bucy-Syndrom 160, 167<br />

– Leitsymptome 163<br />

Knochenmarkaktivität, reduzierte 440<br />

kognitiv-behavioristische Psychotherapie<br />

492<br />

kognitive Defi zite 269<br />

– durch Medikamente 216 ff<br />

– <strong>und</strong> somatische Erkrankungen 413<br />

kognitive Therapie 448<br />

kognitive Verhaltenstherapie 411<br />

kognitives Screen<strong>in</strong>g 412<br />

kognitiver Abbau, altersbed<strong>in</strong>gter 29 f<br />

kognitives Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g 431<br />

Kohlenwasserstoff e, aromatische <strong>und</strong><br />

halogenierte 224<br />

583<br />

H–K<br />

Koka<strong>in</strong> 213, 225<br />

– Intoxikationsdelir 225<br />

Kolibri-Zeichen 127<br />

Kollagenose 102, 111<br />

Koma 231<br />

Kommunikationstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g 411<br />

Konditionierung 15<br />

Konfabulationen 183, 230<br />

Konsiliar- <strong>und</strong> Liaisonpsychiatrie bei<br />

Demenz 396 ff<br />

Kont<strong>in</strong>enztra<strong>in</strong><strong>in</strong>g 303<br />

Kontrakturen 55<br />

Konversionsstörungen 238<br />

Konzentrationsstörungen 6, 35, 181, 222,<br />

236<br />

Konzentrationsübungen 494<br />

KORDIAL-Studie 80<br />

Korsakow-Syndrom 7 Wernicke-Korsakow-<br />

Syndrom<br />

kortikale Demenz 118<br />

kortikobasale Degeneration 119, 121, 131,<br />

169, 268, 271<br />

– <strong>und</strong> Bildgebung 361<br />

kortikobasales Syndrom 159<br />

kortikohippokampale Rückkopplung 20<br />

Kortikosteroide 103<br />

kortiko-striato-thalamo-kortikale Schaltkreise<br />

114 f<br />

Kortison 152<br />

Krampfschwelle 308<br />

Krankengymnastik 111<br />

Krankheitsbewältigung, Formen 286<br />

Krankheitse<strong>in</strong>sicht 183<br />

Krisensituationen, Vermeidung 291<br />

Kryptokokkose 132<br />

Kunsttherapie 411, 487<br />

Kupferablagerungen 140<br />

Kuru 149<br />

Kurzzeitgedächtnis 12, 36, 52, 180, 230<br />

Kurzzeitpfl ege 293, 473<br />

– Leistungen der Pfl egeversicherung 517,<br />

521<br />

Kurzzeitpfl egee<strong>in</strong>richtungen 539<br />

– F<strong>in</strong>anzierung von 525


584 Stichwortverzeichnis<br />

L<br />

Labordiagnostik 375 ff , 424<br />

Lachen, pathologisches 98<br />

Lachgas 224<br />

lakunäre Infarkte 100<br />

Langzeitdrogenkonsum 214<br />

Langzeitgedächtnis 13, 19 ff , 37, 108<br />

– Hirnstrukturen 19<br />

– Leistung 179<br />

late-life forgetfulness 28, 40<br />

L-DOPA 120 ff , 360 f<br />

– Resistenz 130, 133<br />

Lebensverlängerung, Maßnahmen 292<br />

Lebererkrankung, chronische 196<br />

Leberschäden 215, 228<br />

Leberversagen 149<br />

leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung (LKB)<br />

26 ff , 50, 53, 343, 422<br />

– Defi nition 26 f<br />

– Diagnosekriterien 29 ff<br />

– Epidemiologie 40<br />

– Konversionsrisiko zur Demenz 32, 37 f<br />

– Liquormarker 381<br />

– Pharmakotherapie 41 f<br />

– Reversibilität 36<br />

– somatische Risikofaktoren 318 ff<br />

– Soziotherapie 44<br />

– Subkategorisierung 34<br />

– Synonyma 28<br />

– Überlebensrate 40<br />

– <strong>und</strong> Bildgebung 358<br />

– <strong>und</strong> Demenzrisiko 427<br />

– <strong>und</strong> Diabetes mellitus 321<br />

– Verhaltenstherapie 43<br />

– Verlaufsstudien 37<br />

Leistungsprofi lanalyse 339<br />

Leitl<strong>in</strong>ien 277 f<br />

Leptomen<strong>in</strong>gen, Infarkte 102<br />

Lese- <strong>und</strong> Sehstörungen 157<br />

Lethargie-Abulie-Syndrome 182<br />

Leukoaraiose 55, 60, 101, 134, 270, 319,<br />

356, 358<br />

Leukodystrophie 101<br />

Leukozytopenie 259<br />

Leukozytose 201<br />

Levomepromaz<strong>in</strong> 254<br />

Lewy-Körperchen 119<br />

Lewy-Körperchen-Krankheit 7 Demenz mit<br />

Lewy-Körperchen (DLK)<br />

Liaisonpsychiatrie 396 ff<br />

Lichtregie 291, 302<br />

Liegegeschwüre 196<br />

limbische Enzephalitis <strong>in</strong> der Bildgebung<br />

355<br />

limbische Schleife 17<br />

– Diskonnektion 20<br />

limbisches System 61, 115, 217<br />

– De-Aff erenzierung <strong>und</strong> -Eff erenzierung<br />

62<br />

limited dementia 28<br />

Lipohyal<strong>in</strong>ose 134<br />

Liquordiagnostik 82, 85, 377 ff<br />

Lithium 203, 219, 250<br />

– Intoxikation 393<br />

– <strong>und</strong> Park<strong>in</strong>son-Demenz-Syndrom 134<br />

Lobäratrophie 55, 166<br />

Locus coeruleus 124, 130<br />

Logoklonie 159<br />

Logotherapie 111<br />

Lösungsmittel 224<br />

lower body park<strong>in</strong>sonism 122, 133<br />

Lues 102, 160, 168, 202, 247<br />

Lumbalpunktion, diagnostische 377<br />

Lupus erythematodes 102<br />

Lyme-Borreliose 102, 135, 168<br />

M<br />

magnetisation transfer imag<strong>in</strong>g (MTI) 357<br />

Magnetresonanztomographie 55, 107,<br />

354 ff<br />

– Hirn<strong>in</strong>farkte 100<br />

– Vor- <strong>und</strong> Nachteile 355<br />

Mamillarkörper 17<br />

Mangan<strong>in</strong>toxikation 134<br />

Mangelernährung 202<br />

Manie 165, 219


Stichwortverzeichnis<br />

Maprotil<strong>in</strong> <strong>und</strong> Park<strong>in</strong>son-Demenz-<br />

Syndrom 134<br />

Marchiafava-Bignami-Syndrom 215, 231<br />

Marihuana 222<br />

Marklagerarterien 100 f<br />

Marklagerveränderungen 55, 60, 100 ff ,<br />

133, 270, 356<br />

materialspezifi sche Gedächtnisdefi zite 181<br />

MCI 7 leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung<br />

(LKB)<br />

McLeod-Syndrom 123 f, 139<br />

MDMA 7 Ecstasy<br />

mediatorzentrierte Interaktion 497<br />

Medikamente<br />

– Abhängigkeit 50, 212 ff<br />

– Abusus 342, 272<br />

– Anamnese 215<br />

– Entzug 216<br />

– Nebenwirkungen 214<br />

Mediotemporallappen 55<br />

Mediz<strong>in</strong>ischer Dienst der Krankenkassen<br />

478, 518<br />

Melaton<strong>in</strong> 302, 311<br />

Melperon 254<br />

Memant<strong>in</strong> 43, 66 f, 109, 305 f, 311<br />

– Kontra<strong>in</strong>dikationen, Interaktionen <strong>und</strong><br />

Nebenwirkungen 65<br />

Memory-Kl<strong>in</strong>iken 420 ff<br />

– Defi nition 420<br />

– Überweisungs<strong>in</strong>dikationen 422<br />

– Ziele <strong>und</strong> Strukturen 421<br />

Men<strong>in</strong>geom 107, 166, 202<br />

Men<strong>in</strong>gitis 202<br />

men<strong>in</strong>goenzephalitische Erkrankungen,<br />

Gedächtnisstörungen 187<br />

mesolimbisches System 223, 226, 254<br />

Methanol 224<br />

Methylprednisolon 111<br />

Metronidazol 203<br />

Mickey-Mouse-Zeichen 121, 127, 362<br />

Migräne 102, 178<br />

Mikroangiopathie 96 ff<br />

– <strong>in</strong> der Bildgebung 367<br />

Mikroglia 60<br />

Miktionsstörungen 97<br />

585<br />

L–M<br />

mild cognitive decl<strong>in</strong>e 28<br />

mild cognitive impairment (MCI) 7 leichte<br />

kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung (LKB)<br />

mild dementia 28<br />

mild forgetfulness 28<br />

Milieutherapie 302, 313, 411, 431, 476<br />

M<strong>in</strong>derbegabung 6, 238<br />

m<strong>in</strong>imal dementia 28<br />

M<strong>in</strong>i-Mental State Exam<strong>in</strong>ation (MMSE) 28,<br />

39, 53, 79, 82, 105, 267, 342, 344, 347 f,<br />

413, 421, 445, 457, 551 f<br />

Mirtazap<strong>in</strong> 310<br />

Missense-Mutationen 59<br />

Misstrauen 236<br />

mitochondriale Enzephalopathien 104,<br />

111<br />

Mitralstenose 96<br />

mixed dementia 96, 104, 108, 368, 422<br />

mnestisches Blockadesyndrom 188<br />

Moclobemid 310<br />

Modelllernen 494<br />

Mongolismus <strong>und</strong> Demenzrisiko 272<br />

Morbus B<strong>in</strong>swanger 94 ff , 100, 133<br />

– Risikofaktoren 101<br />

Morbus Bodig 129<br />

Morbus Hallervorden-Spatz 141<br />

Morbus Lytico 129<br />

Morbus Lytico-Bodig 129<br />

Morbus Park<strong>in</strong>son 50, 57, 63, 118 f, 209,<br />

343, 360, 424<br />

– Demenz bei 428<br />

– kl<strong>in</strong>ische Subtypen 125<br />

– mit Demenz 120, 361<br />

– <strong>und</strong> Bildgebung 362<br />

– <strong>und</strong> Depression 236<br />

Morbus Pick 169, 365<br />

Morbus Wilson 124, 361<br />

Mosaiktest 345, 347, 349<br />

Motivationsverlust 236<br />

Motoneuronerkrankungen 129 f, 157, 165<br />

motorischer Kortex 115<br />

motorisches Lernen 15, 180<br />

Multi<strong>in</strong>farktdemenz 96 ff , 268<br />

– <strong>und</strong> Bildgebung 366<br />

Multimorbidität 216, 344, 440, 455, 460


586 Stichwortverzeichnis<br />

multiple ischämische Infarkte, Bildgebung<br />

367<br />

multiple lakunäre Infarkte 100<br />

multiple Persönlichkeit 188<br />

multiple Sklerose 101, 150, 160, 175<br />

– Gedächtnisstörungen bei 180<br />

multiple-doma<strong>in</strong> amnestic MCI 34<br />

Multisystematrophie 128, 271<br />

– <strong>in</strong> der Bildgebung 363<br />

Multisystem-hereditäre Tauopathien 129<br />

Musiktherapie 411, 487<br />

Muskelmasse, Abnahme 440<br />

Muskelschwäche 224<br />

Mutismus 161<br />

– ak<strong>in</strong>etischer 117, 147<br />

Myokard<strong>in</strong>farkt 55<br />

Myoklonus 55, 121, 128, 132 ff , 149, 159,<br />

165, 271, 429<br />

Myoklonus-Epilepsie 123<br />

– progressive 149<br />

Myorrhythmien 132<br />

N<br />

Nachbarschaftshilfe 535<br />

Nahrungszufuhr, Probleme bei 293, 409<br />

Neglekt 96, 157<br />

– Tests 165<br />

Neokortex 62, 115<br />

– <strong>und</strong> Gedächtnis 20, 22<br />

Nervenleitungsgeschw<strong>in</strong>digkeit, Verlangsamung<br />

440<br />

Nervenzellverlust 48 f<br />

Neugedächtnis 20, 52, 176, 188, 195, 222,<br />

234<br />

Neuroborreliose 101<br />

Neuroferrit<strong>in</strong>opathie 142<br />

Neurofi brillen 48 f, 61, 235<br />

– Ausbreitung 63<br />

Neurofi brillenbündel (neurofi brillary<br />

tangles) 119, 122 ff , 126<br />

Neuroleptika 117, 192, 208, 216, 220, 244,<br />

250 ff , 302, 308 f, 393, 405<br />

– atypische 254, 308<br />

– Auswahlkriterien für 255<br />

– Depotpräparate 256<br />

– Dosierung 255<br />

– Gruppen 254<br />

– Nebenwirkungen 256<br />

– niedrigpotente 309<br />

– orthostatische Dysregulation unter 258<br />

– QT-Zeit-Verlängerung durch 259<br />

– Rout<strong>in</strong>euntersuchungen unter 252<br />

– Sedierung unter 258<br />

– typische 307<br />

– Überempfi ndlichkeit 126<br />

– <strong>und</strong> Park<strong>in</strong>son-Demenz-Syndrom 134<br />

Neurolues 247<br />

neuronenspezifi sche Enolase 151<br />

neuropsychologische Untersuchung 338 ff<br />

– Fallbeispiele 344 ff<br />

– Indikationen 340 f<br />

– Vorgehensweise <strong>und</strong> Komponenten 339<br />

NIA-AA-Kriterien 279 ff<br />

Niac<strong>in</strong> 230<br />

nichtdeklarative Gedächtnisleistungen 14 f,<br />

22, 52, 180<br />

nichtkognitive Störungen 53<br />

Nierendurchblutung, Abnahme 440<br />

Nieren<strong>in</strong>suffi zienz, chronische <strong>und</strong><br />

kognitive Störungen 324<br />

Nikot<strong>in</strong>abst<strong>in</strong>enz 110<br />

Nikot<strong>in</strong>säure 230<br />

Nikot<strong>in</strong>säuremangelenzephalopathie 230<br />

NINDS-AIREN-Kriterien 94<br />

NMDA-Rezeptor 227, 228<br />

Nootropika 42<br />

Noradrenal<strong>in</strong> 225 f<br />

Normaldruckhydrozephalus 50, 55, 101,<br />

107 f, 123, 134, 166, 268, 270<br />

– Diff erenzialdiagnose 372<br />

Nortriptyl<strong>in</strong> 310<br />

Notch-3-Gen 101<br />

Nuclei des diagonalen Bandes 62<br />

Nucleus accumbens 117<br />

Nucleus amygdalae 62<br />

Nucleus basalis Meynert 62, 125<br />

Nucleus caudatus 116, 118<br />

– Ischämie 98


Stichwortverzeichnis<br />

Nucleus dentatus 131, 139<br />

Nucleus lentiformis 140<br />

Nucleus mediodorsalis thalami 116 f<br />

Nucleus reticularis thalami 62<br />

Nucleus ruber 130, 139<br />

Nucleus subthalamicus 114, 139<br />

– Stimulation 115<br />

Nucleus ventralis anterior 115<br />

Nucleus ventrolateralis 115<br />

Nürnberger Alters<strong>in</strong>ventar 346, 349<br />

O<br />

Oberschenkelhalsfraktur 460<br />

Objektagnosie 162<br />

Off enlegung von E<strong>in</strong>künften <strong>und</strong> Vermögen<br />

527<br />

Ohnmacht 289<br />

okulogyre Krise 130, 133<br />

Okulomotorik 166<br />

Olanzap<strong>in</strong> 254, 258 f, 308<br />

olivopontozerebelläre Atrophie 128<br />

Ophthalmoplegie 104, 230<br />

Opiate 221<br />

Optikusneuropathie 224<br />

orbitofrontaler Kortex 117<br />

Orientiertheit 37<br />

Orientierungshilfen 494<br />

Östrogene 306<br />

– neuroprotektive Eff ekte 328<br />

Östrogenmangel 57<br />

Oxazepam 311, 405<br />

P<br />

Pachymen<strong>in</strong>giosis haemorrhagica <strong>in</strong>terna<br />

231<br />

paired helical fi laments 61<br />

Palilalie 161<br />

palliative Strategien 293<br />

pallidopontonigrale Degeneration 130<br />

Pallidum 139<br />

Panarteriitis nodosa 102<br />

587<br />

M–P<br />

Panenzephalitis, subakut sklerosierende<br />

150<br />

Panik 483<br />

Pantothenk<strong>in</strong>ase-2-Gen 141<br />

Papp-Lantos-Körperchen 129<br />

parahippokampaler Gyrus 20<br />

paraneoplastisches Syndrom 102<br />

Paranoia 248, 290<br />

Paraphasien 53, 161 ff<br />

Parathormonstörungen 134<br />

Park<strong>in</strong>son-Demenz 150<br />

– Liquormarker 380<br />

Park<strong>in</strong>son-Demenz-ALS-Komplex von Guam<br />

129<br />

Park<strong>in</strong>sonismus<br />

– L-DOPA-resistenter 130<br />

– medikamentös <strong>in</strong>duzierter 257<br />

– nach HIV-Infektion 132<br />

– postenzephalitischer 133<br />

– sek<strong>und</strong>ärer 132 ff<br />

Park<strong>in</strong>sonismus-Demenz, familiäre mit NFT<br />

130<br />

Park<strong>in</strong>sonmittel 203<br />

Park<strong>in</strong>sonoid 307<br />

park<strong>in</strong>sonoider Rigor 55<br />

Park<strong>in</strong>son-plus-Syndrome mit Demenz 118,<br />

126 f<br />

Park<strong>in</strong>son-Syndrome 157<br />

– atypische 361<br />

– Diff erenzialdiagnose 362<br />

Patientenbegleitung 111<br />

Patientenverfügung 296, 533<br />

– <strong>und</strong> ärztliche Behandlung 533<br />

Patientenvollmacht 433<br />

Pentoxifyll<strong>in</strong> 101<br />

Peraz<strong>in</strong> 254<br />

perfusion-weighted imag<strong>in</strong>g (PWI) 357<br />

perirh<strong>in</strong>aler Kortex 20, 117<br />

periventrikuläres Marklager 100<br />

Perseverationen 98, 248<br />

Personensorge 510<br />

Persönlichkeitsstörungen 118, 239, 270,<br />

423<br />

Persönlichkeitsveränderungen 18, 160, 429,<br />

484


588 Stichwortverzeichnis<br />

Pessimismus 236<br />

Pfl ege<br />

– aktivierende 519<br />

– ambulante 470 ff , 534<br />

– teilstationäre 294<br />

– vollstationäre 522<br />

Pfl egebedürftigkeit<br />

– Begutachtung 478<br />

– Empfehlungen des B<strong>und</strong>esges<strong>und</strong>heitsm<strong>in</strong>isteriums<br />

518<br />

Pfl egedokumentation 507<br />

Pfl egegeld 520<br />

Pfl egeheime 468 ff , 538<br />

– ärztliche Versorgung <strong>in</strong> 475<br />

– Ausstattungsanforderungen 473<br />

– Auswahlkriterien 471 f<br />

– organisatorische Merkmale 474<br />

– s<strong>in</strong>nvolle Umgangsformen <strong>in</strong> 476<br />

– Übersiedlung <strong>und</strong> E<strong>in</strong>gewöhnung 478<br />

– <strong>und</strong> psychoaktive Medikamente 216<br />

Pfl egehilfe 520<br />

Pfl egepersonen<br />

– Arbeitslosenversicherung für 523<br />

– Leistungen der Pfl egeversicherung 523<br />

– Überforderung 470, 499<br />

Pfl egepersonen, professionelle<br />

– Qualifi kation 476<br />

– <strong>und</strong> Umgang mit Angehörigen 477<br />

– <strong>und</strong> Umgang mit dementen Patienten 476<br />

Pfl egeprotokoll 518<br />

Pfl egestufen 478, 514<br />

Pfl egevere<strong>in</strong>e 535<br />

Pfl egeversicherung 433, 471, 523<br />

– Leistungen 514 ff<br />

Pfl egevertretung, Leistungen der Pfl egeversicherung<br />

516<br />

Phänomen der fremden Hand/Gliedmaße<br />

131<br />

Phencyclid<strong>in</strong> 227<br />

phonematische Paraphasien 157<br />

Physostigm<strong>in</strong> 204<br />

Pick-Komplex 55, 120 f, 156 ff<br />

– diagnostische Kriterien 159<br />

– kl<strong>in</strong>ische Syndrome 158 ff<br />

– mit bitemporaler Atrophie 164<br />

Pick-Körper 156, 170 f<br />

Pick-Zellen 171<br />

Pimozid 220<br />

Pipamperon 254<br />

Plaques 7 Amyloid-Plaques<br />

Pneumonie 55, 196<br />

Polyneuropathie 128<br />

Polypharmazie 201, 216, 402<br />

Polysomnographie 394<br />

Polytoxikomanie 220<br />

Positronenemissionstomographie 56, 107,<br />

354<br />

postanoxische Enzephalitis 393<br />

posteriore kortikale Atrophie 157, 164, 270<br />

Prädemenzphase 427<br />

präfrontaler Kortex 16, 116<br />

– Arbeitsgedächtnis 17<br />

prämotorischer Kortex 115<br />

präsenile Demenz 7 Alzheimer-Demenz<br />

(AD), präsenile<br />

Präsenil<strong>in</strong>gen 58 f, 272, 385<br />

– Mutationen 76<br />

Presbyophrenie 27<br />

primäre progrediente Aphasie 121<br />

– logopenische Variante 157<br />

Prim<strong>in</strong>g 180<br />

– <strong>und</strong> Gedächtnis 15<br />

Primitivrefl exe 161, 231<br />

Prionen 150<br />

– Infektionsquellen 152<br />

Prionkrankheiten 122, 146 ff<br />

– E<strong>in</strong>teilung 149<br />

– hereditäre 151<br />

Prionprote<strong>in</strong> 150 f<br />

Prionprote<strong>in</strong>gen 150<br />

– pathogene Mutationen 151<br />

Progranul<strong>in</strong> 168<br />

Progranul<strong>in</strong>gen 157, 386<br />

progrediente supranukleäre (Blick-)Parese<br />

119, 121, 127 f, 157, 159, 169, 271<br />

– <strong>und</strong> Bildgebung 361<br />

progrediente unfl üssige Aphasie 156, 158,<br />

161, 364<br />

– kl<strong>in</strong>ische Kriterien 161<br />

progressive Relaxation 489


Stichwortverzeichnis<br />

progressive spongiforme Leukoenzephalopathie<br />

222<br />

Propentofyll<strong>in</strong> 101<br />

Prosopagnosie 162, 182<br />

protease sensitive prionopathy 148<br />

Proteaseresistenz 151<br />

Prote<strong>in</strong> 14–3-3 151, 380<br />

pseudobulbäres Syndrom 98<br />

Pseudobulbärparalyse 101, 127<br />

Pseudodemenz 342<br />

– hysterische 238<br />

– depressive 234<br />

Pseudorem<strong>in</strong>iszenzen 183<br />

Psychiatrie-Personal-Verordnung 455<br />

psychoaktive Substanzen bei Älteren 216 ff<br />

Psychoanalyse 490<br />

psychoedukative Ansätze<br />

– bei <strong>Demenzen</strong> 496, 498<br />

– <strong>in</strong> der Schizophren<strong>in</strong>ebehandlung 260<br />

psychometrische Tests 339 ff<br />

Psychomotorik 195, 199<br />

psychomotorische Unruhe 195, 290, 307 f,<br />

311<br />

psychomotorische Verlangsamung 117,<br />

236<br />

Psychopharmaka<strong>in</strong>toxikationen 149<br />

psychophysischer Erschöpfungszustand<br />

499<br />

Psychose, <strong>in</strong>duzierte 247<br />

psychosomatische Symptome 189<br />

psychosoziale Betreuung 534<br />

psychosoziale Prädiktoren 287<br />

Psychotherapie 431<br />

– Kriterien 482<br />

Psychotherapie bei Demenz 482 ff<br />

– Verfahren 487 ff<br />

– Ziele 484<br />

Psychotherapie für Angehörige von Patienten<br />

mit Demenz 498<br />

– Indikationen 499<br />

– Ziele 500<br />

psychotische Zustandsbilder 307<br />

psychotrope Substanzen 212 ff<br />

Puerilismus 238<br />

pure motor stroke 100<br />

589<br />

pure sensory stroke 100<br />

Putamen 114 f, 118<br />

Pyramidenbahnzeichen 98, 231<br />

Q<br />

QT-Zeit-Verlängerung durch Neuroleptika<br />

259<br />

questionable dementia 28<br />

Quetiap<strong>in</strong> 254<br />

R<br />

P–R<br />

Radikalfänger 305<br />

ragged red fi bers 104<br />

rationelle Beratung 286 ff<br />

rationelle Diagnostik 266 ff<br />

rationelle Therapie 300 ff<br />

Reaktionsmuster, Identifi kation 291<br />

Realitätsorientierungstherapie 313<br />

Realitätsorientierungstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g 302, 431, 494<br />

Recency-Eff ekt 348<br />

Rechnungslegungspfl icht 508<br />

Regio entorh<strong>in</strong>alis 61<br />

Regio transentorh<strong>in</strong>alis 61<br />

Regression 238, 484<br />

– Konzept 491, 500<br />

Regressionsfördernde/-hemmende Maßnahmen<br />

491<br />

Rehabilitationse<strong>in</strong>richtungen, geriatrische,<br />

ambulant vs. stationär 447<br />

rehearsal <strong>und</strong> Gedächtnis 12<br />

REM-Schlaf-Verhaltensstörung 125, 128<br />

Rentenantrag 528<br />

Rentenversicherung 527<br />

Rentenversicherungsbeiträge für Pfl egepersonen,<br />

Leistungen der Pfl egeversicherung<br />

523<br />

Residualsyndrome, schizophrene 150, 244,<br />

392<br />

Ret<strong>in</strong>itis pigmentosa 104<br />

retrograde Amnesie 21 f, 176 ff , 239<br />

– fokale 181, 187


590 Stichwortverzeichnis<br />

Rett-Syndrom 140<br />

β-Rezeptorenblocker 256, 311<br />

rheumatische Klappenerkrankung 96<br />

Ribotsches Gesetz 21, 176, 180<br />

Richard-Syndrom 128<br />

Rigor 125, 130, 146, 161<br />

– axialer 131<br />

Risikofaktoren, somatische 318 ff<br />

– Bewertung 333<br />

– <strong>Demenzen</strong> 319 ff<br />

– leichte kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigung 319 ff<br />

– Morbus B<strong>in</strong>swanger 101<br />

Risperidon 208, 254, 308, 405, 411<br />

Rivastigm<strong>in</strong> 43, 66 f, 171, 304<br />

– Kontra<strong>in</strong>dikationen, Interaktionen <strong>und</strong><br />

Nebenwirkungen 65<br />

Room<strong>in</strong>g-<strong>in</strong>, stationäres 445<br />

Ruhelosigkeit 54, 485<br />

S<br />

Sachleistungen, ambulante 520<br />

Sauerstoff aufnahme im Blut, reduzierte 440<br />

Schädel-Hirn-Trauma 57, 159, 174 f, 239, 271<br />

– <strong>und</strong> Bildgebung 364<br />

Schadenersatzansprüche 508<br />

Scham 491<br />

Schenkung 527<br />

Schilddrüsendysfunktion 201, 302<br />

– <strong>und</strong> kognitive Störungen 329<br />

schizoaff ektive Störungen 247<br />

– <strong>und</strong> Bildgebung 372<br />

schizophrene Störung 239<br />

Schizophrenie 165, 272, 423<br />

– Abgrenzung zu anderen psychiatrischen<br />

Störungen 249<br />

– chronische 242 ff<br />

– Diagnosekriterien 242<br />

– Diff erenzialdiagnose vs. Demenz 247 f<br />

– Leitsymptome 249<br />

– Negativ- <strong>und</strong> Positivsymptome 244<br />

– nichtmedikamentöse Therapie 260<br />

– Prodromalsymptome 244<br />

– Residualsymptomatik 150, 244, 392<br />

– Rout<strong>in</strong>ediagnostik 251<br />

– Rückfallprophylaxe 260<br />

– Spätschizophrenie 242 ff<br />

– Vulnerabilitäts-Stress-Modell 242<br />

schizophrenieartige Psychosen 225<br />

schizophreniforme Störung, akute 249<br />

Schlafstörungen 148, 193, 236, 307, 342,<br />

430<br />

– REM-Schlaf 394<br />

Schlaf-Wach-Rhythmus 197<br />

– Umkehr 193<br />

Schlaganfall 95, 104, 174, 226<br />

Schmerzl<strong>in</strong>derung 292<br />

Schmerzwahrnehmung, Veränderung 440<br />

Schnüff eln 224<br />

Schonvermögen 527<br />

Schreckreaktion 178<br />

– gesteigerte 149<br />

Schreiattacke 292<br />

Schuldfähigkeit 508<br />

Schuldgefühle 289<br />

Schwerbeh<strong>in</strong>dertenausweis 529<br />

Schwerhörigkeit 442<br />

Schwitzen 215<br />

Scrapie 150<br />

Screen<strong>in</strong>g, geriatrisches 445, 447, 543 ff<br />

Screen<strong>in</strong>g-Verfahren für kognitive E<strong>in</strong>bußen<br />

341<br />

Sedativa 216<br />

Sedierung unter Neuroleptika 258<br />

Sehstörungen 104<br />

Sekretasen 59<br />

sek<strong>und</strong>ärer Park<strong>in</strong>sonismus 132 ff<br />

Selbstbestimmungsrecht, e<strong>in</strong>geschränktes<br />

287<br />

Selbstbeurteilungsskalen 348<br />

Selbsterhaltungstherapie 302, 313, 411,<br />

431, 476<br />

Selbstgefährdung 463<br />

– E<strong>in</strong>weisungsgründe bei 464<br />

Selbsthilfegruppen 288<br />

Selbst<strong>in</strong>struktion 493<br />

selbstschädigendes Verhalten 195<br />

Selbstsicherheitstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g 493<br />

Selbstunsicherheit 483


Stichwortverzeichnis<br />

Selbstwerte<strong>in</strong>buße 290<br />

semantische Demenz 121, 156, 158, 162,<br />

364<br />

– <strong>in</strong> der Bildgebung 365<br />

– kl<strong>in</strong>ische Kriterien 162<br />

senile Plaques 119<br />

Sensibilitätsstörungen 166, 231<br />

Sepsis 55<br />

Septumregion 17<br />

Seroton<strong>in</strong> 225 f<br />

Seroton<strong>in</strong>rezeptoren <strong>und</strong> Neuroleptika 254<br />

Seroton<strong>in</strong>syndrom 310<br />

Seroton<strong>in</strong>wiederaufnahmehemmer, selektive<br />

(SSRI) 171, 237, 310, 408, 411<br />

Sert<strong>in</strong>dol 254, 259<br />

Sertral<strong>in</strong> 171<br />

shap<strong>in</strong>g 494<br />

Shy-Drager-Syndrom 128<br />

Sial<strong>in</strong>ose 149<br />

SIDAM 30 ff , 105, 557 ff<br />

Silberkörnchenkrankheit 169<br />

simulierte kognitive Störungen 239<br />

Simultanagnosie 157<br />

S<strong>in</strong>gle-Photon Emission Computed<br />

Tomography (SPECT) 56, 107, 354<br />

s<strong>in</strong>gle-voxel morphometry (SVM) 357, 359,<br />

374<br />

somatoviszerale Muster 19<br />

Sozialamt, Hilfe zur Pfl ege 524<br />

Sozialberatung 425<br />

Sozialbeziehungen, gestörte 160<br />

soziale Isolierung 289<br />

sozialer Rückzug 160<br />

Sozialhilfe<br />

– Beantragung 525<br />

– für die häusliche Pfl ege 521<br />

– für die Pfl ege im Heim 526<br />

sozialpädagogische Hilfen 433, 504 ff<br />

sozialpsychiatrischer Dienst 426<br />

Sozialstationen 294, 535<br />

sozialtherapeutische Konzepte 313<br />

Soziopathie, langsam progrediente 365<br />

Spätschizophrenie 242 ff<br />

– Defi nition 246<br />

– sensorische Beh<strong>in</strong>derungen bei 246<br />

591<br />

R–S<br />

Sprachänderungen 442<br />

Sprachsemantik 86<br />

spray heads 224<br />

Sprech- <strong>und</strong> Sprachstörungen 161, 195<br />

SSRI 7 Seroton<strong>in</strong>wiederaufnahmehemmer,<br />

selektive<br />

Stammganglien 100<br />

Stat<strong>in</strong>e 110<br />

– Wirkmechanismus 321<br />

stationäre E<strong>in</strong>richtungen 538<br />

Status epilepticus 225<br />

Status lacunaris 100<br />

Steele-Richardson-Olszewski-Syndrom 127<br />

Stereotypie 55, 161<br />

Stimulationsverfahren 411<br />

strategische E<strong>in</strong>zel<strong>in</strong>farktdemenz 98<br />

strategische Läsionen 23<br />

Stress 204, 342<br />

– Bewältigung 217<br />

– Management 288, 496<br />

– prolongierte Exposition 188<br />

striatonigrale Degeneration 128<br />

Striatum 114 f<br />

– Infarkt 361<br />

Stürze 97, 126, 196, 257, 307, 474<br />

subakut sklerosierende Panenzephalitis<br />

(SSPE) 61<br />

subakute spongiforme Enzephalopathie<br />

122<br />

sub-cl<strong>in</strong>ical senescent cognitive disorder 28<br />

Subduralhämatom 55, 107, 134, 166, 215,<br />

231, 370, 458<br />

subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie<br />

(SAE) 100, 122, 133, 271<br />

subkortikale Demenz 114 ff , 118<br />

subkortikale vaskuläre Enzephalopathie,<br />

Bildgebung 366<br />

Substantia nigra 114, 116, 118, 130, 360<br />

Substanzentzug 202<br />

Substanz<strong>in</strong>toxikation 202<br />

Substanzmissbrauch 212 ff , 272<br />

Suchterkrankungen 423<br />

Suizidalität 165, 167, 246, 463<br />

s<strong>und</strong>own<strong>in</strong>g 55, 311<br />

Supermarktaufgabe 349


592 Stichwortverzeichnis<br />

supplementärmotorische Area 115<br />

susceptibility-weighted imag<strong>in</strong>g (SWI) 357<br />

Sympathomimetika 203<br />

Symptomschwankungen 470<br />

Synapsenfunktion 61<br />

Syndrom des dorsolateralen präfrontalen<br />

Kortex 116<br />

Syndrom-Kurztest 445<br />

Synkopen 258<br />

Syphilis 132, 228<br />

Systematrophien 424<br />

T<br />

Tachykardie 196<br />

tageskl<strong>in</strong>ische Betreuung 425, 537<br />

Tagespfl egee<strong>in</strong>richtungen 294, 473, 537<br />

– F<strong>in</strong>anzierung von 525<br />

Tagesstätten 537<br />

Tagesstrukturierung 302, 311, 458, 475, 494<br />

Tag-Nacht-Rhythmus 291, 302, 311, 458<br />

Taktlosigkeit 160<br />

tardive Dysk<strong>in</strong>esien 257, 307<br />

Tau-Gen 157, 386<br />

Tauopathien 130<br />

Tau-Prote<strong>in</strong> 36, 49, 61, 79, 82, 126, 151, 170,<br />

379<br />

– Isoformen 168<br />

– phosphoryliertes 168, 379<br />

Teilnahmslosigkeit 197<br />

teilstationäre E<strong>in</strong>richtungen 537<br />

– Leistungen der Pfl egeversicherung 522<br />

teilstationäre Pfl ege 294<br />

Temporalhornaufweitung 56<br />

Temporallappensystem, mediales 16<br />

– Langzeitgedächtnis 19<br />

Temporalpolläsionen 164<br />

Testament 295<br />

– Anfechtung 513<br />

– Errichtung 512<br />

Testierfähigkeit 511 f<br />

Testosteron <strong>und</strong> kognitive Prozesse 327<br />

Tetrahydrocannab<strong>in</strong>ol 222<br />

Tetraparese 231<br />

Thalamus 100, 115 f<br />

– anteriorer 17<br />

– Degenerationen 142<br />

– Infarkte 98<br />

– Schrittmacherneurone 62<br />

– thalamische Demenz 99<br />

Therapiestrategien, rationelle 300 ff<br />

Thiam<strong>in</strong>mangel 183 f, 202, 209, 230, 370<br />

Thioridaz<strong>in</strong> 220, 259<br />

Thromboserisiko 55<br />

Thrombozytenaggregation 101<br />

Thrombozytenaggregationshemmer 110<br />

Thujon 212<br />

Tics 149, 226<br />

tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie<br />

490<br />

Toluol<strong>in</strong>halation 224<br />

Tonusanomalien 98<br />

Tower of London 166<br />

Toxoplasmose 132<br />

Tranquilizer 216<br />

transitorische Amnesien 175 ff<br />

– Elektrokonvulsionsamnesie 179<br />

– epileptische 178<br />

– globale, diagnostische Leitl<strong>in</strong>ien 177<br />

transitorische ischämische Attacke 174, 178<br />

Trazodon 171, 310<br />

Tremor 130, 146, 149, 161, 196<br />

Treponema pallidum 215<br />

Trichlorethan 224<br />

Trisomie 21 57, 58<br />

Trockenmasse des Körpers, Zunahme 440<br />

Tropheryma whipelii 132<br />

Tuberkulose 102, 132<br />

Tuberkulostatika 203<br />

Tumore 50, 55, 182, 247<br />

– <strong>und</strong> Park<strong>in</strong>son-Demenz-Syndrom 134<br />

Turm von Hanoi 349<br />

U<br />

Überforderung von Pfl egenden 470, 499<br />

Überfürsorglichkeit 288<br />

Ubiquit<strong>in</strong> 59, 118, 125, 170


Stichwortverzeichnis<br />

Uhrentest 413, 445, 447, 553 ff<br />

Ultrakurzzeitgedächtnis 12, 52<br />

Umweltstrukturierung 492<br />

Unruhe 160, 215, 302, 408, 430, 445, 458,<br />

470<br />

Unterbr<strong>in</strong>gungsgesetz 463<br />

Unterhaltsansprüche gegenüber<br />

Angehörigen 525 f<br />

Urämie 149<br />

utilization behavior 161<br />

V<br />

Validation 411, 431<br />

Valproat 219, 308<br />

vaskuläre <strong>Demenzen</strong> 36, 94 ff , 122, 301 ff ,<br />

343, 392, 422, 428<br />

– Diagnosekriterien 94<br />

– diagnostische Pr<strong>in</strong>zipien 106 ff<br />

– Diff erenzialdiagnosen 107<br />

– Epidemiologie 95<br />

– früh beg<strong>in</strong>nende 75<br />

– kl<strong>in</strong>ische Merkmale 97 f<br />

– Liquormarker 380<br />

– Pharmakotherapie 109<br />

– Primärprophylaxe 109<br />

– Sek<strong>und</strong>ärprophylaxe 110<br />

– serologische Tests 102<br />

– <strong>und</strong> Bildgebung 366<br />

– <strong>und</strong> Depression 236<br />

– Unterformen 96 f<br />

vaskuläre Hirnerkrankungen 50, 57, 102,<br />

111<br />

vaskuläre Risikofaktoren 308<br />

Venlafax<strong>in</strong> 310<br />

ventrales tegmentales Areal 115<br />

verbale Lern- <strong>und</strong> Gedächtnisleistungen<br />

345, 347<br />

Verdienstausfall 517<br />

Vere<strong>in</strong>fachung der Umgebung 291<br />

Verfolgungswahn 246<br />

Vergessen 35<br />

Vergröberung der Persönlichkeitszüge 181<br />

Verhaltensänderungen 442, 494<br />

593<br />

S–V<br />

– bei aggressivem Verhalten 495<br />

– bei Hyperaktivität 493<br />

Verhaltensauff älligkeiten 407<br />

– Umgang mit 289<br />

Verhaltensbeobachtung 339<br />

Verhaltensstörungen 161<br />

– Konsilanforderung bei 406 ff<br />

verhaltenstherapeutisches Kompetenztra<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />

496<br />

Verhaltenstherapie 313, 431<br />

Verh<strong>in</strong>derungspfl ege 520<br />

Verkennungen 290<br />

Verlangsamung 98, 101<br />

– kognitive 35<br />

– geistige <strong>und</strong> körperliche 440<br />

Verlegen von Gegenständen 35<br />

Vermögenssorge 462<br />

Vermögensverwaltung 296, 507<br />

Vermögensverzeichnis 508<br />

Vernichtungswahn 465<br />

Verwirrtheitszustände 192 ff , 209, 214, 239,<br />

272, 392, 429, 470<br />

– ätiologische Faktoren 202 f<br />

– Diagnosekriterien 196<br />

– Diff erenzialdiagnose 197<br />

– Epidemiologie 199<br />

– postoperative 200 f<br />

– Prodromalsymptome 193<br />

– Risikofaktoren 201 ff , 406<br />

– Risikogruppen 201<br />

– 7 auch Delir<br />

– Therapie 404<br />

– Ursachen 400 ff<br />

Virustatika 203<br />

Visuokonstruktion 86, 345<br />

Visusstörungen 148<br />

Vitalkapazität, Abnahme 440<br />

Vitam<strong>in</strong> B 12 110, 215<br />

Vitam<strong>in</strong> C 42, 110, 304<br />

Vitam<strong>in</strong> E 42, 110, 304<br />

Vitam<strong>in</strong>mangelzustände 215<br />

– Vitam<strong>in</strong>-B 12 -Mangel <strong>und</strong> kognitive<br />

Dysfunktion 202, 230, 325<br />

– Vitam<strong>in</strong>-D-Mangel <strong>und</strong> kognitive Defi zite<br />

327


594 Stichwortverzeichnis<br />

Vollmachten 512<br />

vollstationäre Pfl ege, Leistungen der Pfl egeversicherung<br />

522<br />

Vorausverfügungen 530 ff<br />

Vor- <strong>und</strong> Begleiterkrankungen von<br />

<strong>Demenzen</strong> 271<br />

Vorderhornerkrankungen, motorische 424<br />

Vorhoffl immern 96, 110<br />

Vorhofmyxom 96<br />

Vorm<strong>und</strong>schaftsgericht 505 ff<br />

Vorsorgevollmacht 295, 462, 478, 504, 530<br />

– Beurk<strong>und</strong>ung 532<br />

– Inhalt 531<br />

– Vorteile 531<br />

Vulnerabilitäts-Stress-Modell 242<br />

W<br />

Wahn 102, 193, 247, 410, 458<br />

wahnhafte Störung 248<br />

Wahnsymptome 243, 307<br />

Wahnvorstellungen 197<br />

Wahrnehmungsstörungen 195, 222<br />

Wandertrieb 160 f<br />

Warnzeichen für beg<strong>in</strong>nende Demenz 426<br />

Wegenersche Granulomatose 102<br />

Weglaufgefährdung 445, 457, 470, 475, 485<br />

We<strong>in</strong>en, pathologisches 98<br />

Wernicke-Enzephalopathie 183 ff , 370<br />

– Diagnosekriterien 185<br />

Wernicke-Korsakow-Syndrom 174, 183 ff ,<br />

209, 215, 229 f, 370<br />

– Pathogenese 185<br />

Wilhelmsen-Lynch-Krankheit 130<br />

Willenserklärung, gültige 511<br />

Wiscons<strong>in</strong>-Card-Sort<strong>in</strong>g-Test 116, 166<br />

Wohngeme<strong>in</strong>schaften für Demente 294<br />

Wohnumfeldverbesserung<br />

– Leistungen der Pfl egeversicherung 523<br />

– Wohnungsanpassung 433<br />

Wortfi ndungsstörungen 53, 157, 161, 167,<br />

248, 270, 426<br />

Wortfl üssigkeit 349<br />

Wortgedächtnis 225<br />

Worts<strong>in</strong>nverständnis 162 ff , 270<br />

Wortwiedererkennung 222<br />

X<br />

X-Chromosom 123, 140<br />

Z<br />

Zahlenverb<strong>in</strong>dungstest 345, 349<br />

Zeitgitterstörungen 183<br />

zentrale pont<strong>in</strong>e Myel<strong>in</strong>olyse 231<br />

– <strong>in</strong> der Bildgebung 373<br />

Zerebellum <strong>und</strong> Gedächtnis 22<br />

zerebrale Angiographie 178<br />

zerebrale Durchblutungsstörungen 95<br />

zerebrale Lipofusz<strong>in</strong>ose Kufs 149<br />

zerebrovaskuläre Prozesse 226<br />

– <strong>und</strong> Alkohol 231<br />

Zerfahrenheit 18<br />

Ziprasidon 254, 259<br />

zirkadiane Rhythmik, gestörte 55<br />

Zittern 215<br />

Zungenschl<strong>und</strong>krämpfe 256<br />

Zwangsverhalten 117<br />

Zyanidvergiftung 134<br />

Zytok<strong>in</strong>e 60, 204<br />

Zytomegalievirus 132<br />

Zytostatika 203

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