Heidi Hein, Der Piłsudski-Kult und seine Bedeutung ... - Herder-Institut

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die „Riten der Passage“ bzw. die Riten der Trauer und des Begräbnisses, die Teilnehmer durch ihre spezifische Funktionsweise in das Gemeinschaftsgefühl der Trauer einbinden kann. Dies gilt nicht nur für die unmittelbaren Teilnehmer an einem solchen Staatsbegräbnis, sondern auch für diejenigen, die die Trauer und die Begräbnisfeierlichkeiten medial erleben. Grundlage hierfür ist, daß die Vermittlung der Ereignisse durch die Medien eine allgemeine Betroffenheit und somit kollektive Trauer in der Gesellschaft auslösen, da die Bereitschaft, der Trauer zu folgen, und die Akzeptanz der Bevölkerung für die Erfüllung dieses Identifikationsangebots von entscheidender Bedeutung sind. Dafür müssen Riten, Nekrologe und Medienberichte die zu betrauernde herausragende Persönlichkeit mit einer mythischen Aura versehen und als von dieser entrückt darstellen. Andererseits unterstreichen sie dadurch nicht nur die der Persönlichkeit zugeschriebene bedeutende historische Rolle 4 , sondern auch das Selbstverständnis und das Geschichtsbild der staatlichen Repräsentanten. Daher müssen Staatsbegräbnisse vor allem an die politischen Verdienste des Verstorbenen erinnern. 5 Somit sind die Begräbnisfeierlichkeiten Piłsudskis als wichtiger Teil des Kultes um seine Person mit Blick auf ihre symbolische Aussage, Funktion und den Interpretationsgehalt des Staatsbegräbnisses zu beschreiben. Der Öffentlichkeit wurde der Tod des Marschalls am 12. Mai gegen 22 Uhr bekanntgegeben. Für den überwiegenden Teil der Bevölkerung war dies ein Schock. 6 „Um das Belweder herum, an den es umgebenden Gittern, hatten sich schon [ca. 2 Uhr nachts] Menschenmengen versammelt. [...] Die Nachricht vom Tod Piłsudskis verbreitete sich in der Stadt [Warschau]. Um das Belweder wurde das Schweigen immer wieder durch Weinen unterbrochen. Die Leute standen mit entblößten Häuptern, mit versteinerten Gesichtern.“ 7 Der Tod des Ersten Marschalls traf auch viele Regierungsmitglieder unerwartet, da sein wahrer Gesundheitszustand bis zuletzt geheim geblieben war. Nachdem der Tod Piłsudskis festgestellt worden war und Staatspräsident Mościcki gegen Mitternacht und die Minister ca. eine Stunde später dem Leichnam ihre Ehrer- 4 Geschichte wird durch diese Würdigungen als Ergebnis des Handelns eines Individuums gewertet. In der Natur der Sache liegt es daher, daß jeder Redner bzw. Kommentator die historische Rolle des Toten maximiert. Dieser erscheint somit als jemand, der historische Strukturen maßgeblich beeinflußt und verändert hat. 5 Vgl. ROK, S. 186. 6 Bis auf die nationaldemokratische Gazeta Warszawska berichteten alle Zeitungen darüber, wie Menschen sich auf die Todesnachricht hin auf öffentlichen Plätzen versammelten. 7 „Około Belwederu, przy kratach otaczających pałac, już się zbierały tłumy ludzi. [...] Wieść o śmierci Piłsudskiego rozeszła się po mieście. Koło Belwederu była cisza przerywana coraz to płaczem. Ludzie stawali z odkrytymi głowami, ze skamieniałymi twarzami“ (W. JĘDRZEJEWICZ, Wspomnienia, S. 247). 64

ietung erwiesen hatten, begannen die Vorbereitungen zur Einbalsamierung 8 des Leichnams, die bis in den Morgen des 13. Mai dauerte, und zur Herausnahme des Herzens 9 und des Gehirns. Letzeres wurde – auf Piłsudskis Wunsch hin – wissenschaftlichen Untersuchungen zur Verfügung gestellt. 10 Außerdem nahm Prof. Jan Szczepkowski die Totenmaske ab. Die Regierung traf sich gegen 21 Uhr im Büro von Ministerpräsident Sławek. Sie verfaßte dort einen Aufruf an das Volk 11 , den Mościcki unterzeichnete, und traf mit der Regelung der Nachfolge Piłsudskis wichtige politische Weichenstellungen: General Edward Rydz-Śmigły wurde zum Generalinspekteur der Streitkräfte und General Tadeusz Kasprzycki zum Leiter des Ministeriums für Militärangelegenheiten ernannt. 12 Zwar sprach Ministerpräsident Sławek noch in der Nacht zum 13. Mai mit der Witwe Aleksandra Piłsudska über das Begräbnis, aber der Ministerrat traf letztlich die Entscheidungen über dessen Ablauf. Er beriet diesbezüglich in den ersten Tagen nach dem Tod Piłsudskis fast täglich 13 , wobei er am 13. Mai die grundlegenden Beschlüsse über den Verlauf der Beisetzung faßte. Der Ministerrat legte die Staatstrauer auf sechs Wochen 14 fest und bestimmte, daß bis zu ihrem Ende alle Beamten am linken Arm eine Trauerbinde tragen und sich aller Vergnügungen enthalten mußten. Er verbot sämtliche Vorstellungen und Vergnügungen bis zum Ende der Begräbnisfeierlichkeiten. Bis dahin mußte an allen öffentlichen 8 Über den Beschluß bzw. die Beweggründe, den Leichnam einbalsamieren zu lassen, finden sich in den ausgewerteten Archivmaterialien keine Informationen. Die Akte AAN, WWNK, 42 enthält lediglich Beschreibungen über die Einbalsamierung bei den Ägyptern und von Kaiser Napoleon Bonaparte. 9 Vgl. IJPA, AJP, 41. 10 In seinem Testament vom April 1935 wird dieser Wunsch nicht erwähnt. Piłsudski hat angeblich in Gesprächen mit seiner Frau Aleksandra und seinem Bruder Adam mehrfach den Wunsch geäußert, sein Gehirn der wissenschaftlichen Forschung an der Stefan-Batory- Universität zur Verfügung zu stellen. Vgl. ROSE, dessen Band die Fotografien der Anatomie des Gehirns zeigt; vgl. auch W. JĘDRZEJEWICZ/CISEK Bd. 3, S. 362 f. 11 Siehe Anhang 3. 12 Vgl. W. JĘDRZEJEWICZ, Wspomnienia, S. 244-247. 13 In den Sitzungsprotokollen des Ministerrates (AAN, PRM, PP, 78) sind keine Protokolle von Sitzungen zwischen dem 13. und 20. Mai vorhanden. Die Sitzungen waren oft inoffizieller Art, so daß Wacław Jędrzejewicz sich nicht sicher war, ob bei allen Sitzungen Protokoll geführt wurde. Vgl. W. JĘDRZEJEWICZ, Wspomnienia, S. 249. 14 Die Entscheidung wurde auf Drängen W. Jędrzejewiczs getroffen, da einige für drei Monate plädierten (vgl. ebenda, S. 249 f.; AAN, PRM, a.-g. VI 7-1 Ia, B. 503 f.; die Anweisungen für das Militär, in: CAW, GISZ, I. 302.4.128, n.pag.). Die sechswöchige Frist geht auf christliche Vorstellungen über den Verbleib der Seele im Leib zurück. Sechs Wochen oder 40 Tage betrug in der Regel auch die Staatstrauer bei Königen. Vgl. ACKERMANN, Totenfeiern, S. 47. 65

die „Riten der Passage“ bzw. die Riten der Trauer <strong>und</strong> des Begräbnisses, die Teilnehmer<br />

durch ihre spezifische Funktionsweise in das Gemeinschaftsgefühl der Trauer<br />

einbinden kann. Dies gilt nicht nur für die unmittelbaren Teilnehmer an einem solchen<br />

Staatsbegräbnis, sondern auch für diejenigen, die die Trauer <strong>und</strong> die Begräbnisfeierlichkeiten<br />

medial erleben. Gr<strong>und</strong>lage hierfür ist, daß die Vermittlung der Ereignisse<br />

durch die Medien eine allgemeine Betroffenheit <strong>und</strong> somit kollektive Trauer in<br />

der Gesellschaft auslösen, da die Bereitschaft, der Trauer zu folgen, <strong>und</strong> die Akzeptanz<br />

der Bevölkerung für die Erfüllung dieses Identifikationsangebots von entscheidender<br />

<strong>Bedeutung</strong> sind. Dafür müssen Riten, Nekrologe <strong>und</strong> Medienberichte die zu<br />

betrauernde herausragende Persönlichkeit mit einer mythischen Aura versehen <strong>und</strong><br />

als von dieser entrückt darstellen. Andererseits unterstreichen sie dadurch nicht nur<br />

die der Persönlichkeit zugeschriebene bedeutende historische Rolle 4 , sondern auch<br />

das Selbstverständnis <strong>und</strong> das Geschichtsbild der staatlichen Repräsentanten. Daher<br />

müssen Staatsbegräbnisse vor allem an die politischen Verdienste des Verstorbenen<br />

erinnern. 5<br />

Somit sind die Begräbnisfeierlichkeiten <strong>Piłsudski</strong>s als wichtiger Teil des <strong>Kult</strong>es<br />

um <strong>seine</strong> Person mit Blick auf ihre symbolische Aussage, Funktion <strong>und</strong> den Interpretationsgehalt<br />

des Staatsbegräbnisses zu beschreiben.<br />

<strong>Der</strong> Öffentlichkeit wurde der Tod des Marschalls am 12. Mai gegen 22 Uhr bekanntgegeben.<br />

Für den überwiegenden Teil der Bevölkerung war dies ein Schock. 6<br />

„Um das Belweder herum, an den es umgebenden Gittern, hatten sich schon [ca. 2<br />

Uhr nachts] Menschenmengen versammelt. [...] Die Nachricht vom Tod <strong>Piłsudski</strong>s<br />

verbreitete sich in der Stadt [Warschau]. Um das Belweder wurde das Schweigen<br />

immer wieder durch Weinen unterbrochen. Die Leute standen mit entblößten Häuptern,<br />

mit versteinerten Gesichtern.“ 7 <strong>Der</strong> Tod des Ersten Marschalls traf auch viele<br />

Regierungsmitglieder unerwartet, da sein wahrer Ges<strong>und</strong>heitszustand bis zuletzt geheim<br />

geblieben war.<br />

Nachdem der Tod <strong>Piłsudski</strong>s festgestellt worden war <strong>und</strong> Staatspräsident Mościcki<br />

gegen Mitternacht <strong>und</strong> die Minister ca. eine St<strong>und</strong>e später dem Leichnam ihre Ehrer-<br />

4 Geschichte wird durch diese Würdigungen als Ergebnis des Handelns eines Individuums<br />

gewertet. In der Natur der Sache liegt es daher, daß jeder Redner bzw. Kommentator die<br />

historische Rolle des Toten maximiert. Dieser erscheint somit als jemand, der historische<br />

Strukturen maßgeblich beeinflußt <strong>und</strong> verändert hat.<br />

5 Vgl. ROK, S. 186.<br />

6 Bis auf die nationaldemokratische Gazeta Warszawska berichteten alle Zeitungen darüber,<br />

wie Menschen sich auf die Todesnachricht hin auf öffentlichen Plätzen versammelten.<br />

7 „Około Belwederu, przy kratach otaczających pałac, już się zbierały tłumy ludzi. [...]<br />

Wieść o śmierci <strong>Piłsudski</strong>ego rozeszła się po mieście. Koło Belwederu była cisza przerywana<br />

coraz to płaczem. Ludzie stawali z odkrytymi głowami, ze skamieniałymi twarzami“<br />

(W. JĘDRZEJEWICZ, Wspomnienia, S. 247).<br />

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