Heidi Hein, Der Piłsudski-Kult und seine Bedeutung ... - Herder-Institut
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Seit diesen Wahlen war die wachsende Opposition gegen das Regime immer deutlicher zu spüren, insbesondere als im Frühjahr 1929 auf ihre Initiative hin die finanzielle staatliche Unterstützung des BBWR durch Finanzminister Czechowicz vom Staatsgerichtshof zur Sprache gebracht wurde. Piłsudski stellte sich bei der Verhandlung vor diesen 106 und beschimpfte in diesem Zusammenhang – z.T. in Fäkalsprache – die Abgeordneten, so daß im In- und Ausland der Eindruck einer Geisteskrankheit Piłsudskis entstehen konnte. 107 Die nächste Konfrontation zwischen dem Piłsudski- Regime und der Sejm-Opposition entwickelte sich anläßlich der geplanten Sejm- Eröffnung am 31. Oktober 1929. Da Ministerpräsident Kazimierz Świtalski erkrankt war, wollte Piłsudski die Eröffnung persönlich vollziehen. Es hatten sich zu seiner Begrüßung im Foyer des Sejms etwa einhundert, z.T. bewaffnete Offiziere unter dem als brutal bekannten Oberst Wacław Kostek-Biernacki versammelt, worauf sich der Sejm-Marschall Daszyński weigerte, den Sejm in Anwesenheit von Revolvern und Bajonetten zu eröffnen, so daß dies verschoben wurde. Die zunehmende Auseinandersetzung mit der Opposition führte zu einer Schwächung der Machtposition Piłsudskis, da sich die Mitte-Links-Opposition im Centrolew (Mitte-Links-Block) zusammengeschlossen hatte. Sie erreichte nach einer weiteren Vertagung der Eröffnung des Sejms am 5. Dezember den Sturz der Regierung Kazimierz Świtalski, die infolge der Czechowicz-Affaire eingesetzt worden war. Nach dieser Krise berief Piłsudski kurzzeitig nochmals Bartel mit seiner auf Ausgleich mit dem Sejm bedachten Haltung. Doch kündigte schon die Regierung Świtalski an, daß anstelle der nach Bartel benannten kompromißbereiten, eher technokratischen Politik des bartlowanie ein Stilwechsel in der Regierungspolitik erfolgen würde. Nachdem Mißtrauensvoten gegen Arbeitsminister Aleksander Prystor und Erziehungsminister Sławomir Czerwiński im März 1930 zum Rücktritt Bartels geführt hatten, begann mit dem Kabinett des BBWR-Vorsitzenden Sławek die Reihe der Regierungen, die sich aus der „Gruppe der Obersten“ rekrutierten. Nach einem gewaltsamen Zusammenstoß zwischen der Opposition und den Piłsudczycy wurde der Sejm aufgelöst und damit die Immunität der Abgeordneten aufgehoben. Daraufhin begann in der Nacht vom 9. auf den 10. September 1930 eine Verhaftungswelle von insgesamt 5 000 Oppositionellen, davon 84 Abgeordnete und Senatoren. Sie wurden im Militärgefängnis in Brest Litowsk interniert und gefoltert, 106 Vgl. den Artikel vom 7.IV.1929 in der Głos Prawdy, in: Pisma Zbiorowe, Bd. 9, S. 143 ff. Der Staatsgerichtshof fällte ein salomonisches Urteil, das letztlich als ein Erfolg der Opposition zu werten ist: Die weitere Verhandlung der Affäre wurde an den Sejm zurückverwiesen, Czechowicz aber nicht entlastet. 107 Vgl. PIETSCH, S. 123. Im April 1928 hatte Piłsudski einen Schlaganfall erlitten, dessen Diagnose offiziell geheim gehalten wurde. Ob sich diese verbalen Ausfälle darauf zurückführen lassen, ist nicht zu klären. 59
so daß dieses zum Symbol der Ausschaltung der politischen Opposition wurde. 108 Begleitet wurden diese Festnahmen von gewalttätigen Demonstrationen der Opposition in Warschau, während im östlichen Galizien parallel dazu eine Repressionswelle gegen die geheime Ukrainische Heeresorganisation (Ukrajinśka Wijśkowa Orhanizacija) durchgeführt wurde, die offiziell als „Pazifikationsaktion“ bezeichnet wurde. Bis zu den Wahlen im November 1930, bei denen der BBWR die absolute Mehrheit erreichte, herrschten Polizeiterror und staatliche Willkür im Lande. Der Gewinn der „Brester Wahlen“ war nur durch die Ausschaltung der Opposition und durch Wahlfälschungen in großem Stil möglich. 109 Der BBWR hatte 1930 kein eigenes Wahlprogramm verfaßt. Diese Aufgabe sollten ersatzweise sieben Interviews erfüllen, die Piłsudski vor den Wahlen gab. In ihnen äußerte er sich aber lediglich grundsätzlich abfällig über das parlamentarische System, die Abhängigkeit der Regierung vom Sejm, das Parteienwesen, die Immunität der Abgeordneten und das Prinzip der Souveränität des Sejms. Ein konstruktives Alternativprogramm formulierte er jedoch nicht. 110 Vorrangigste Aufgabe war nun, eine neue, dem etablierten politischen System entsprechende Verfassung zu erarbeiten, die schließlich im April 1935 in Kraft trat. Sie war auf die Stellung Piłsudskis zugeschnitten und begründete eine starke Präsidentschaft, die die Prärogativen des Sejms einschränkte. 111 Innenpolitisch hatte sich die Situation in Polen nach 1930 verändert. Die Ausschaltung der Opposition bedeutete das Ende der Auseinandersetzung der Sanacja mit dem Parlamentarismus und brachte die seit 1926 eingeleitete Entwicklung zu einem autoritären Regime zum Abschluß. 112 Der Prozeß um die Gefangenen von Brest, der bis Anfang 1933 dauerte, machte jedoch auch die Bemühungen der Sanacja zunichte, die Gesellschaft von der Politik zu isolieren. Es folgten zwar keine größeren Protest- oder Streikwellen, aber das Verfahren bot der Opposition eine bedeutsame politische Plattform. Der Centrolew fiel gleichwohl auseinander, während der Prozeß, die Bauernbewegung zu einigen, voranschritt. 113 108 So wurden von den insgesamt 1 600 Mitgliedern des Centrolew allein 1 000 PPS-Mitglieder interniert. Unter den Gefangenen befanden sich der Fraktionsvorsitzende der PPS Herman Lieberman, der Führer der Bauernpartei PSL-Piast Wincenty Witos und Wojciech Korfanty. Vgl. CZUBIŃSKI, Centrolew, S. 215; GARLICKI, Piłsudski, S. 586. 109 Vgl. ebenda, S. 590. 110 Vgl. ebenda, S. 593 f. 111 Für die Piłsudski-nahe Historiographie war die Aprilverfassung das letzte Werk des Marschalls. GARLICKI (ebenda, S. 593 f.) stellt jedoch deutlich heraus, daß Piłsudski kein Interesse mehr an der Erarbeitung dieser Verfassung hatte. 112 Für ROTHSCHILD, Coup d’Etat, S. 354 f., war die Brester Affaire auf ihre Art ein genauso bedeutsamer Wendepunkt wie der Maiumsturz, während GARLICKI, Piłsudski, S. 586-590 und S. 667, ihre Bedeutung noch stärker hervorhebt. Vgl. auch SULEJA, Piłsudski, S. 343. 113 Zur Bauernbewegung siehe TOMICKI. 60
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zu spüren, insbesondere als im Frühjahr 1929 auf ihre Initiative hin die finanzielle<br />
staatliche Unterstützung des BBWR durch Finanzminister Czechowicz vom<br />
Staatsgerichtshof zur Sprache gebracht wurde. <strong>Piłsudski</strong> stellte sich bei der Verhandlung<br />
vor diesen 106 <strong>und</strong> beschimpfte in diesem Zusammenhang – z.T. in Fäkalsprache<br />
– die Abgeordneten, so daß im In- <strong>und</strong> Ausland der Eindruck einer Geisteskrankheit<br />
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Regime <strong>und</strong> der Sejm-Opposition entwickelte sich anläßlich der geplanten Sejm-<br />
Eröffnung am 31. Oktober 1929. Da Ministerpräsident Kazimierz Świtalski erkrankt<br />
war, wollte <strong>Piłsudski</strong> die Eröffnung persönlich vollziehen. Es hatten sich zu <strong>seine</strong>r<br />
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Sejm-Marschall Daszyński weigerte, den Sejm in Anwesenheit von Revolvern <strong>und</strong><br />
Bajonetten zu eröffnen, so daß dies verschoben wurde.<br />
Die zunehmende Auseinandersetzung mit der Opposition führte zu einer Schwächung<br />
der Machtposition <strong>Piłsudski</strong>s, da sich die Mitte-Links-Opposition im Centrolew<br />
(Mitte-Links-Block) zusammengeschlossen hatte. Sie erreichte nach einer weiteren<br />
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Kazimierz Świtalski, die infolge der Czechowicz-Affaire eingesetzt worden war.<br />
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an, daß anstelle der nach Bartel benannten kompromißbereiten, eher technokratischen<br />
Politik des bartlowanie ein Stilwechsel in der Regierungspolitik erfolgen<br />
würde. Nachdem Mißtrauensvoten gegen Arbeitsminister Aleksander Prystor <strong>und</strong> Erziehungsminister<br />
Sławomir Czerwiński im März 1930 zum Rücktritt Bartels geführt<br />
hatten, begann mit dem Kabinett des BBWR-Vorsitzenden Sławek die Reihe der Regierungen,<br />
die sich aus der „Gruppe der Obersten“ rekrutierten.<br />
Nach einem gewaltsamen Zusammenstoß zwischen der Opposition <strong>und</strong> den Piłsudczycy<br />
wurde der Sejm aufgelöst <strong>und</strong> damit die Immunität der Abgeordneten aufgehoben.<br />
Daraufhin begann in der Nacht vom 9. auf den 10. September 1930 eine<br />
Verhaftungswelle von insgesamt 5 000 Oppositionellen, davon 84 Abgeordnete <strong>und</strong><br />
Senatoren. Sie wurden im Militärgefängnis in Brest Litowsk interniert <strong>und</strong> gefoltert,<br />
106 Vgl. den Artikel vom 7.IV.1929 in der Głos Prawdy, in: Pisma Zbiorowe, Bd. 9, S. 143 ff.<br />
<strong>Der</strong> Staatsgerichtshof fällte ein salomonisches Urteil, das letztlich als ein Erfolg der Opposition<br />
zu werten ist: Die weitere Verhandlung der Affäre wurde an den Sejm zurückverwiesen,<br />
Czechowicz aber nicht entlastet.<br />
107 Vgl. PIETSCH, S. 123. Im April 1928 hatte <strong>Piłsudski</strong> einen Schlaganfall erlitten, dessen Diagnose<br />
offiziell geheim gehalten wurde. Ob sich diese verbalen Ausfälle darauf zurückführen<br />
lassen, ist nicht zu klären.<br />
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