Heidi Hein, Der Piłsudski-Kult und seine Bedeutung ... - Herder-Institut

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„Kommandant“ hatte jedoch mit dieser eigenmächtigen Aktion aus seiner Sicht den Krieg gegen die russische Teilungsmacht begonnen. Weil sie eine formelle Verbindung mit Piłsudski politisch benötigten, versuchten die galizischen Nationaldemokraten und die Kommission der Vereinigten Unabhängigkeitsparteien daraufhin, sich zu verständigen und die Schützenverbände dem Armee-Oberkommando zu unterstellen. Nach dessen Ultimatum an Piłsudski vom 13. August mit der Forderung, entweder die Schützenkompanie aufzulösen oder sie dem österreichischen Landsturm zu unterstellen, wurde durch die Intervention des Vorsitzenden des Polenclubs im Wiener Parlament die Zusage des Kaisers erreicht, nach einem Sieg eine Nationalregierung in Warschau zu erlauben. Als Gegenleistung dafür sollten Legionen aus den bereits bestehenden bewaffneten Organisationen unter dem österreichischen Armee-Oberkommando gebildet werden. Die politischen polnischen Gruppierungen schlossen sich am 16. August zum Naczelny Komitet Narodowy (Oberstes Nationalkomitee, NKN) zusammen, dem die im Rahmen der k.u.k. Armee kämpfenden Legionen unterstellt wurden. 38 Piłsudski erhielt die Befehlsgewalt über ein Regiment, das im Dezember in die Erste Brigade umgewandelt wurde. Obwohl das NKN Piłsudski dadurch vor einer politischen Niederlage bewahren und er dies als eigenen Erfolg angesichts der Gefahr einer totalen politischen Niederlage darstellen konnte, unterstützte er es nicht, weil er ein politisches Einvernehmen mit Deutschland und nicht mit Österreich-Ungarn suchte. Nachdem die politischen Gegensätze innerhalb des NKN wieder aufgebrochen waren, ließ er Jodko-Narkiewicz und Sokolnicki Anfang September ein eigenständiges Kriegskommissariat in Kielce und dessen zivile Zentralstelle, die Polska Organizacja Narodowa (Polnische Nationalorganisation), als Mittel der Auseinandersetzung mit dem NKN gründen. Sie scheiterte aber im November 1914 wegen des Mißtrauens der Bevölkerung den Mittelmächten gegenüber, wegen der politischen Differenzen mit dem NKN und der fehlenden Unterstützung durch die PPS. 39 Auch die im Herbst 1914 erfolgte Errichtung der Polska Organizacja Wojskowa (Polnische Militärorganisation, POW) auf Anregung Piłsudskis hin gehört zu den Bemühungen, eine ihm ergebene und von dem NKN unabhängige „Hausmacht“ aufzubauen. Der Gründungsaufruf betonte ihre enge Verbundenheit mit den Legionen. Nach dieser Deklaration war die POW eine formal unpolitische Organisation, die 38 Das österreichische Kriegsministerium gestattete am 23.VIII.1914 die Gründung der zwei Legionen. Die östliche in Lemberg wurde unter dem Eindruck der österreichischen Niederlage und der Propaganda der Nationaldemokratie schon bald wieder aufgelöst. Die westliche Legion in Krakau umfaßte neben der Ersten Brigade (Führung August 1914-September 1916 Józef Piłsudski, dann Marian Żegota-Januszajtis) seit dem Frühjahr 1915 die Zweite und die Dritte Brigade. Insgesamt waren ca. 30 000 junge Männer Legionäre. Vgl. MOLENDA, Piłsudczycy, S. 376; GARLICKI, Geneza; WRZOSEK, Zarys. 39 Michał Sokolnicki, Stanisław Downarowicz und Wacław Tokarz wurden nach einer Einigung mit dem NKN in dieses kooptiert. Vgl. GARLICKI, Piłsudski, S. 176; CONZE, S. 57. 43

konspirativ gegen die russische Teilungsmacht und geheimdienstlich für die polnische Unabhängigkeit tätig sein sollte. Letztlich richtete sich die POW völlig auf die Person Piłsudskis aus, der die Ideologie und das fehlende Programm der POW ersetzte bzw. es verkörperte. Für Piłsudski war die POW sowohl ein Instrument des Partisanenkrieges als auch der Kaderbildung für die Armee eines zukünftigen polnischen Staates. 40 Im Herbst 1914 konnte Piłsudski schließlich einen seiner wichtigsten militärischen Triumphe verbuchen, der von starkem Willen und politischer Zielstrebigkeit zeugte. Als nach der Offensive Rußlands der Rückzug über die österreichische Grenze befohlen wurde, verweigerte Piłsudski dies und brach in einem riskanten Manöver mit seiner Brigade in einem Korridor zwischen den Fronten bei Ulina Mała nach Krakau durch. Die Kühnheit und der Erfolg dieser Aktion wurden durch die in der Ersten Brigade teilnehmenden Dichter und Künstler zur Legende stilisiert. 41 Nach den militärischen Erfolgen der Mittelmächte wurde aber deutlich, wie wenig Piłsudski gegen die Ausweitung der Tätigkeit des NKN ausrichten konnte. Die Propagierung der Legionen als polnische Militäreinheiten erwies sich als nicht wirkungsvoll, weil sie als Freiwilligeneinheit im Kampf der Mittelmächte gegen Rußland erschienen. Dieses Dilemma ließ Piłsudski zunächst an ihre Auflösung denken. Er konnte aber seit Herbst 1915 seinen Einfluß auf die anderen Brigaden der westlichen Legion, insbesondere auf die Dritte, ausbauen. 42 Schließlich konnte sich der „Kommandant“ zwar unter den Legionären mit seinem Unabhängigkeitsprogramm gegenüber dem gemäßigten, proösterreichischen NKN durchsetzen, jedoch weder durch den Ausbau der POW noch durch die Gründung des Centralny Komitet Narodowy (Zentrales Nationalkomitee) eine annähernd gleichwertige politische Alternative bieten. Da Piłsudski den österreichischen Führungsanspruch und die Ausgleichspolitik des NKN angriff, entschloß sich das Armee-Oberkommando am 19. September 1916, eine alte Forderung des NKN zu realisieren und die Legion in „Polnisches Hilfskorps“ umzubenennen. Daraufhin trat Piłsudski am 26. September als Kommandant der Ersten Brigade zurück, wodurch die Legionäre in eine tiefe psychologische Krise 40 Vgl. dazu T. NAŁĘCZ, POW, S. 19-48. Nach NAŁĘCZ, ebenda, S. 237, lag die Bedeutung der POW weniger in der Rolle, die sie bei Kriegsende spielte, als in der Ausbreitung und Verfestigung des Einflusses der Piłsudczycy in den breiten Massen der Bevölkerung. Danach waren im Oktober 1918 50-60 Prozent der Mitglieder Bauern, 10-15 Prozent Arbeiter, 20-25 Prozent entstammten dem Bürgertum und 5-10 Prozent der Intelligenz. Die Angaben über die Mitgliederzahlen schwanken für Ende 1915 im österreichischen Teilgebiet zwischen 1 000 und 3 500-4 000. Im April 1916 waren insgesamt nur ca. 3 200-3 400 Personen organisiert, davon die Hälfte in Warschau, im November 1916 ca. 7 000 (vgl. ebenda, S. 58 f.). MOLENDA, Piłsudczycy, S. 376, nennt eine Mitgliederzahl von insgesamt 21 717 für Kongreßpolen. Zu den einzelnen Entwicklungsphasen vgl. T. NAŁĘCZ, POW 1914-1918, S. 74-84. 41 Vgl. W. JĘDRZEJEWICZ, Life, S. 57 f.; SULEJA, Piłsudski, S. 125 ff. 42 Vgl. GARLICKI, Piłsudski, S. 185 f. 44

konspirativ gegen die russische Teilungsmacht <strong>und</strong> geheimdienstlich für die polnische<br />

Unabhängigkeit tätig sein sollte. Letztlich richtete sich die POW völlig auf die Person<br />

<strong>Piłsudski</strong>s aus, der die Ideologie <strong>und</strong> das fehlende Programm der POW ersetzte bzw.<br />

es verkörperte. Für <strong>Piłsudski</strong> war die POW sowohl ein Instrument des Partisanenkrieges<br />

als auch der Kaderbildung für die Armee eines zukünftigen polnischen Staates. 40<br />

Im Herbst 1914 konnte <strong>Piłsudski</strong> schließlich einen <strong>seine</strong>r wichtigsten militärischen<br />

Triumphe verbuchen, der von starkem Willen <strong>und</strong> politischer Zielstrebigkeit zeugte.<br />

Als nach der Offensive Rußlands der Rückzug über die österreichische Grenze befohlen<br />

wurde, verweigerte <strong>Piłsudski</strong> dies <strong>und</strong> brach in einem riskanten Manöver mit <strong>seine</strong>r<br />

Brigade in einem Korridor zwischen den Fronten bei Ulina Mała nach Krakau<br />

durch. Die Kühnheit <strong>und</strong> der Erfolg dieser Aktion wurden durch die in der Ersten<br />

Brigade teilnehmenden Dichter <strong>und</strong> Künstler zur Legende stilisiert. 41<br />

Nach den militärischen Erfolgen der Mittelmächte wurde aber deutlich, wie wenig<br />

<strong>Piłsudski</strong> gegen die Ausweitung der Tätigkeit des NKN ausrichten konnte. Die Propagierung<br />

der Legionen als polnische Militäreinheiten erwies sich als nicht wirkungsvoll,<br />

weil sie als Freiwilligeneinheit im Kampf der Mittelmächte gegen Rußland erschienen.<br />

Dieses Dilemma ließ <strong>Piłsudski</strong> zunächst an ihre Auflösung denken. Er<br />

konnte aber seit Herbst 1915 <strong>seine</strong>n Einfluß auf die anderen Brigaden der westlichen<br />

Legion, insbesondere auf die Dritte, ausbauen. 42 Schließlich konnte sich der „Kommandant“<br />

zwar unter den Legionären mit <strong>seine</strong>m Unabhängigkeitsprogramm gegenüber<br />

dem gemäßigten, proösterreichischen NKN durchsetzen, jedoch weder durch<br />

den Ausbau der POW noch durch die Gründung des Centralny Komitet Narodowy<br />

(Zentrales Nationalkomitee) eine annähernd gleichwertige politische Alternative bieten.<br />

Da <strong>Piłsudski</strong> den österreichischen Führungsanspruch <strong>und</strong> die Ausgleichspolitik<br />

des NKN angriff, entschloß sich das Armee-Oberkommando am 19. September 1916,<br />

eine alte Forderung des NKN zu realisieren <strong>und</strong> die Legion in „Polnisches Hilfskorps“<br />

umzubenennen. Daraufhin trat <strong>Piłsudski</strong> am 26. September als Kommandant<br />

der Ersten Brigade zurück, wodurch die Legionäre in eine tiefe psychologische Krise<br />

40 Vgl. dazu T. NAŁĘCZ, POW, S. 19-48. Nach NAŁĘCZ, ebenda, S. 237, lag die <strong>Bedeutung</strong><br />

der POW weniger in der Rolle, die sie bei Kriegsende spielte, als in der Ausbreitung <strong>und</strong><br />

Verfestigung des Einflusses der Piłsudczycy in den breiten Massen der Bevölkerung. Danach<br />

waren im Oktober 1918 50-60 Prozent der Mitglieder Bauern, 10-15 Prozent Arbeiter,<br />

20-25 Prozent entstammten dem Bürgertum <strong>und</strong> 5-10 Prozent der Intelligenz. Die Angaben<br />

über die Mitgliederzahlen schwanken für Ende 1915 im österreichischen Teilgebiet<br />

zwischen 1 000 <strong>und</strong> 3 500-4 000. Im April 1916 waren insgesamt nur ca. 3 200-3 400 Personen<br />

organisiert, davon die Hälfte in Warschau, im November 1916 ca. 7 000 (vgl. ebenda,<br />

S. 58 f.). MOLENDA, Piłsudczycy, S. 376, nennt eine Mitgliederzahl von insgesamt<br />

21 717 für Kongreßpolen. Zu den einzelnen Entwicklungsphasen vgl. T. NAŁĘCZ, POW<br />

1914-1918, S. 74-84.<br />

41 Vgl. W. JĘDRZEJEWICZ, Life, S. 57 f.; SULEJA, <strong>Piłsudski</strong>, S. 125 ff.<br />

42 Vgl. GARLICKI, <strong>Piłsudski</strong>, S. 185 f.<br />

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