Heidi Hein, Der Piłsudski-Kult und seine Bedeutung ... - Herder-Institut

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zu der Lech Wałęsas auseinander und erläutert in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Piłsudski-Legende und des Mythos für die Herrschaft des Marschalls. 146 Der Piłsudski-Kult wurde bisher von der westlichen Kult-Forschung nicht beachtet, obwohl sie einerseits in zahlreichen insbesondere philosophischen, soziologischen, religionswissenschaftlichen und anthropologischen Schriften das Phänomen Kult interpretiert und zahlreiche historische Studien zu verschiedenen Ausformungen von politischen Kulten hervorgebracht hat. Diese Untersuchungen unterscheiden sich häufig sehr in ihren methodischen Ansätzen. So gibt es Analysen des politischen Totenkultes 147 und von Heiligenkulten 148 . Eine bedeutende Rolle spielt auch die Forschung zu Personenkulten 149 , z.B. zu den Kulten der „großen“ Diktatoren Lenin 150 , Stalin 151 , Hitler 152 , Mussolini 153 , aber auch zur kultischen Verehrung von anderen historischen Persönlichkeiten wie zum Kult um Napoleon Bonaparte 154 und um Bismarck 155 . Es fehlt also eine systematisch und umfassend angelegte Studie, die den Piłsudski-Kult, seine Charakteristika und Funktionen beschreibt. 1.3. Methodik, Quellen und Aufbau Grundlegende These dieser Studie ist, daß der Piłsudski-Kult über die Verehrung des Marschalls durch dessen Anhänger hinausgehend wichtige Funktionen für den jungen polnischen Staat in der Phase der Sanacja-Herrschaft zwischen 1926 und 1939 wahrzunehmen hatte. Er diente zur Legitimation des Regimes einerseits und sollte anderer- 146 Vgl. ebenda, S. 119-132. 147 Vgl. zum politischen Totenkult z.B.: Der politische Totenkult; ACKERMANN, Identität. 148 Siehe zu Heiligenkulten etwa: Le culte des saints; zum Kult um einzelne Heilige etwa: REMPEL (Roland); JAKUBOWSKI (Stanisław). Bis ins 20. Jh. lassen sich politische Heiligenkulte nachweisen, siehe dazu: ANGENENDT; KORFF, Bemerkungen, zeigt, wie in der Neuzeit katholische Heilige politisch instrumentalisiert wurden. 149 Zu Personenkulten im allgemeinen siehe: The Cult of Power; SUEDFELD. Siehe auch: STÖLTING; GEIGER; KOENEN. 150 Siehe dazu: ENNKER, Anfänge; DERS., Ende; DERS., Leninkult; TURKMARIN, Lenin Lives; DIES., Religion; TUCKER, Theory; BRAHM, WELIKANOWA. Zur sowjetischen Ausprägung des Führer-Kultes siehe auch: GILL, Leader Cult; DERS., Personality Cult; PALTIEL; MEYER- LANDRUT; zur Vorbildwirkung des Lenin-Begräbnisses siehe: ZAREMBA. 151 Siehe dazu: LÖHMANN; STITIES; TUCKER, Rise; HEIZER. 152 Aus der umfangreichen Literatur seien stellvertretend genannt: KERSHAW, Hitler-Mythos; DERS., Führer Image; DERS., „Mythe du Führer“; WIESSBECKER; KETTENACKER; OBER- MEIER; VONDUNG. Siehe auch die frühe Darstellung von GAMM. 153 Siehe zum Mussolini-Kult: PESCHKEN. 154 Siehe zum Napoleon-Kult und -Mythos: LUCAS-DUBRETON; TULARD. 155 Siehe zum Bismarck-Kult und -Mythos: MACHTAN; REUTER; MÜLLER-WUSTERWITZ; HE- DINGER, Bismarckkult; DERS., Bismarck-Denkmäler; PARR; BREITENBORN. 27

seits wesentlich dazu beitragen, das Defizit des jungen polnischen Staates an nationaler Identität und Integration abzubauen. Diese These zeigt den methodischen Weg auf: Die theoretische Prämisse ist, daß der Personenkult um Piłsudski im Sinne des Ansatzes der imagined communities von Benedict Anderson 156 , der invention of tradition von Eric Hobsbawm und Terence Ranger 157 und auch der lieux de mémoire von Pierre Nora 158 wirkt. Anderson geht davon aus, daß aufgrund von vorhandenen und neuen Kommunikationsstrukturen Gemeinschaften beständig ihr Selbstbild konstruieren, weil eine Nation weder als eine natürliche oder historische Größe noch als Netz verdichteter Kommunikation besteht. Mythen, Symbole und Rituale haben dabei als Mittel der Selbstvergewisserung einen besonders herausgehobenen Stellenwert, weil die Nation durch dieses principe spirituel (Ernest Renan) erst für ihre Mitglieder erfahrbar wird. Eine „vorgestellte“ (nationale) Gemeinschaft bedeutet daher, daß sich die meisten Mitglieder dieser politischen Gemeinschaft nicht kennen, sie aber „im Kopf“ eines jeden Mitglieds als souveräne und territorial begrenzte Gemeinschaft besteht. 159 Anderson greift damit auf die Formel von Ernest Renan zurück, wonach die Nation ein plebiscite de tous les jours sei. Dies bedeutet, daß das in der Bevölkerung verbreitete nationale Zusammengehörigkeitsgefühl immer wieder neu bestätigt werden muß. Die Formel der imagined communities charakterisiert den konstruktivistischen Ansatz einprägsam, der auch in dieser Studie bemüht wird. Sie resultiert aus einer breiteren Strömung vor allem bei französischen und angloamerikanischen Forschern, die seit Beginn der 1980er Jahre den „künstlichen“ bzw. „gemachten“ Charakter von nationalen und ethnischen Gemeinschaften hervorhebt. Dazu gehören die auch in der vorliegenden Studie über den Piłsudski-Kult berücksichtigten Ansätze der von Eric Hobsbawm und Terence Ranger entwickelten Formel von der invention of tradition und der von Pierre Nora vertretene Ansatz der lieux de mémoire. Während die lieux de mémoire Kristallisationspunkte für das (französische) historische Gedächtnis beschreiben, bezeichnen Hobsbawm und Ranger unter „erfundenen Traditionen“ einerseits neu konstruierte und formal institutionalisierte Traditionen und andererseits das Auftauchen von Traditionen in einer weniger kurzen, datierbaren Periode. Diese Traditionen werden von einer Reihe von Praktiken, die durch allgemein akzeptierte Regeln, Symbole und Rituale beherrscht werden, vermittelt und versuchen eine Kontinuität zur Vergangenheit herzustellen. Aus diesen sich grundsätzlich ergänzenden Konzepten, die sich auf die Vorstellung des mémoire collective 160 (Maurice Halbwachs) zurückführen lassen, entstanden 156 Vgl. ANDERSON. 157 Vgl. HOBSBAWM, S. 1-14. 158 Vgl. Les lieux de mémoire; siehe auch NORA, S. 83-92. Vgl. zum folgenden FRANÇOIS u.a., S. 13-38, und VOGEL, S. 13. 159 Vgl. ANDERSON, S. 14-17. 160 Vgl. HALBWACHS. 28

seits wesentlich dazu beitragen, das Defizit des jungen polnischen Staates an nationaler<br />

Identität <strong>und</strong> Integration abzubauen. Diese These zeigt den methodischen Weg<br />

auf: Die theoretische Prämisse ist, daß der Personenkult um <strong>Piłsudski</strong> im Sinne des<br />

Ansatzes der imagined communities von Benedict Anderson 156 , der invention of tradition<br />

von Eric Hobsbawm <strong>und</strong> Terence Ranger 157 <strong>und</strong> auch der lieux de mémoire von<br />

Pierre Nora 158 wirkt.<br />

Anderson geht davon aus, daß aufgr<strong>und</strong> von vorhandenen <strong>und</strong> neuen Kommunikationsstrukturen<br />

Gemeinschaften beständig ihr Selbstbild konstruieren, weil eine Nation<br />

weder als eine natürliche oder historische Größe noch als Netz verdichteter Kommunikation<br />

besteht. Mythen, Symbole <strong>und</strong> Rituale haben dabei als Mittel der Selbstvergewisserung<br />

einen besonders herausgehobenen Stellenwert, weil die Nation durch<br />

dieses principe spirituel (Ernest Renan) erst für ihre Mitglieder erfahrbar wird. Eine<br />

„vorgestellte“ (nationale) Gemeinschaft bedeutet daher, daß sich die meisten Mitglieder<br />

dieser politischen Gemeinschaft nicht kennen, sie aber „im Kopf“ eines jeden<br />

Mitglieds als souveräne <strong>und</strong> territorial begrenzte Gemeinschaft besteht. 159 Anderson<br />

greift damit auf die Formel von Ernest Renan zurück, wonach die Nation ein plebiscite<br />

de tous les jours sei. Dies bedeutet, daß das in der Bevölkerung verbreitete nationale<br />

Zusammengehörigkeitsgefühl immer wieder neu bestätigt werden muß.<br />

Die Formel der imagined communities charakterisiert den konstruktivistischen<br />

Ansatz einprägsam, der auch in dieser Studie bemüht wird. Sie resultiert aus einer<br />

breiteren Strömung vor allem bei französischen <strong>und</strong> angloamerikanischen Forschern,<br />

die seit Beginn der 1980er Jahre den „künstlichen“ bzw. „gemachten“ Charakter von<br />

nationalen <strong>und</strong> ethnischen Gemeinschaften hervorhebt. Dazu gehören die auch in der<br />

vorliegenden Studie über den <strong>Piłsudski</strong>-<strong>Kult</strong> berücksichtigten Ansätze der von Eric<br />

Hobsbawm <strong>und</strong> Terence Ranger entwickelten Formel von der invention of tradition<br />

<strong>und</strong> der von Pierre Nora vertretene Ansatz der lieux de mémoire. Während die lieux<br />

de mémoire Kristallisationspunkte für das (französische) historische Gedächtnis beschreiben,<br />

bezeichnen Hobsbawm <strong>und</strong> Ranger unter „erf<strong>und</strong>enen Traditionen“ einerseits<br />

neu konstruierte <strong>und</strong> formal institutionalisierte Traditionen <strong>und</strong> andererseits das<br />

Auftauchen von Traditionen in einer weniger kurzen, datierbaren Periode. Diese Traditionen<br />

werden von einer Reihe von Praktiken, die durch allgemein akzeptierte Regeln,<br />

Symbole <strong>und</strong> Rituale beherrscht werden, vermittelt <strong>und</strong> versuchen eine Kontinuität<br />

zur Vergangenheit herzustellen.<br />

Aus diesen sich gr<strong>und</strong>sätzlich ergänzenden Konzepten, die sich auf die Vorstellung<br />

des mémoire collective 160 (Maurice Halbwachs) zurückführen lassen, entstanden<br />

156<br />

Vgl. ANDERSON.<br />

157<br />

Vgl. HOBSBAWM, S. 1-14.<br />

158<br />

Vgl. Les lieux de mémoire; siehe auch NORA, S. 83-92. Vgl. zum folgenden FRANÇOIS u.a.,<br />

S. 13-38, <strong>und</strong> VOGEL, S. 13.<br />

159<br />

Vgl. ANDERSON, S. 14-17.<br />

160 Vgl. HALBWACHS.<br />

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