Heidi Hein, Der Piłsudski-Kult und seine Bedeutung ... - Herder-Institut
Heidi Hein, Der Piłsudski-Kult und seine Bedeutung ... - Herder-Institut Heidi Hein, Der Piłsudski-Kult und seine Bedeutung ... - Herder-Institut
In der Volksrepublik Polen kam es – teilweise mit Erfolg – zur Zerstörung von Stätten und Gegenständen der Erinnerung an Piłsudski 196 , vor allem jedoch sollte Piłsudski durch systematisches Verschweigen allmählich ganz in Vergessenheit geraten. Obwohl eine nähere Analyse dieser Praxis des kommunistischen Regimes hier nicht möglich ist, ist zumindest festzustellen, daß der Piłsudski-Mythos trotz dieser Verdrängungspolitik in der polnischen Gesellschaft weiterlebte, denn in Kreisen der politischen Opposition, insbesondere während der politischen und wirtschaftlichen Krise Ende der 1970er Jahre, kam es zu einer Renaissance der Piłsudski-Verehrung. Die Solidarność 197 (Solidarität) gebrauchte die Figur Piłsudskis als Symbol ihrer Opposition gegen das System und berief sich auf sein ideelles Erbe. In Piłsudskis Gestalt erkannte man den großen Kämpfer um Freiheit, Unabhängigkeit und Souveränität Polens, den Schöpfer eines einheitlichen polnischen Staates und seiner Armee sowie den siegreichen Führer, Politiker und Staatsmann. 198 Neu gegründete Gesellschaften, die das Gedächtnis an Piłsudski pflegten 199 , wollten dafür sorgen, daß das geistige Erbe Piłsudskis nicht in Vergessenheit geriet. Für sie war die von den Kommunisten auf den Marschall angewandte Politik des Verschweigens und der Geschichtsfälschung eine „antipolnische Tätigkeit, die die nationale Geschichte zerstört“ 200 . Diese Politik sei aus einem „mongolischen Despotismus“ 201 heraus entstanden. Auch hier zeigt sich ähnlich wie innerhalb der Sanacja in der Zweiten Republik die Tendenz, den Piłsudski-Kult politisch zu instrumentalisieren und als einigendes Band für die einzelnen Gruppierungen innerhalb der eigenen politischen Richtung zu funktionalisieren. 196 So sollte beispielsweise der Piłsudski-Erdhügel in Krakau in den 1960er Jahren zu einem Sportgelände umgestaltet werden. Es gibt auch mündlich überlieferte Berichte, nach denen die mit Piłsudski verbundenen Exponate im Warschauer Militärmuseum zerstört werden sollten. Interessanterweise fand wohl nie ein formaler Akt statt, der die Benennung der Warschauer Universität nach Piłsudski rückgängig gemacht hätte. Vgl. GARBACIK, S. 7-11 (dort mit einer ausführlichen Darstellung der Kritikpunkte). 197 Der Arbeiterführer der Solidarność und spätere Staatspräsident (1990-1995) Lech Wałęsa lieferte insofern ein Vorbild bei der Piłsudski-Verehrung, als er sich selbst als ein „zweiter Piłsudski“ gerierte (vgl. dazu URBANEK, Piłsudski bis; dies griff BIERNAT, Paradoks, in seiner als Vergleich angelegten Studie auf). Es gab auch Geldscheine mit dem Portrait Piłsudskis, die die Solidarność herausgab. Vgl. Banknoty opozycji w Polsce 1982-1988. 198 Vgl. Pamięć Narodowa 1 (1989), Nr. 1, S. 1. 199 1980 entstand ein Komitee für den Erhalt des Piłsudski-Erdhügels, 1988 wurden die Gesellschaft zur Pflege des Gedenkens an Piłsudski in Różan, die die Zeitschrift Piłsudczyk herausgibt, und eine weitere in Krakau gegründet. Zu den Zielen der Gesellschaft in Różan: Deklaracja programowa i statut. Vgl. auch ZĄBEK, S. 281-284. 200 „antypolska działalność, niszcząca narodową historię“ (Pamięć Narodowa 1 (1989), Nr. 1, S. 1). 201 „z mongolskiego despotyzmu“ (ebenda). Gemeint war die Sowjetunion. 364
Da die Verehrung des Marschalls insbesondere durch die Solidarność, aber wohl auch unter dem Einfluß der Piłsudski-nahen Emigration, wieder auflebte, setzten in den 1980er Jahren auch wieder offizielle Feiern zum 11. November ein. 202 Viele Zeitungen Polens, darunter auch das Parteiorgan Trybuna Ludu („Tribüne des Volkes“) widmeten Piłsudski zu wichtigen Jahrestagen, vor allem zum 50. Todestag 1985, Artikel, wobei die Regime-nahen Blätter im Sinne der eingangs skizzierten negativen historischen Bewertung des Marschalls schrieben. 203 Danach setzte aber eine Wende in der Haltung der Regierung gegenüber Piłsudski ein. Im Jahre 1988 legte etwa der Staatsratsvorsitzende Barcikowski an den Särgen Piłsudskis und Sikorskis in der Wawel-Kathedrale anläßlich des 70. Jahrestag der Staatsgründung einen Kranz nieder. 204 In dem vom kommunistischen Regime befreiten demokratischen Polen konnte nun auch öffentlich Piłsudskis gedacht werden. 1990 wurde der 11. November erneut als Staatsfeiertag eingeführt. Eine Welle von Straßenumbenennungen setzte ein, in deren Gefolge man wieder auf den Namen Piłsudskis zurückgriff. 205 Die symbolträchtigste Umbenennung fand dabei in Warschau statt, wo der Plac Zwycięstwa (Siegesplatz [der Roten Armee]) wieder in Plac Piłsudskiego (Piłsudski-Platz) zurückverwandelt wurde. Es entstanden rasch in vielen Städten Denkmäler, die oft auf Vorlagen oder Entwürfen der Zweiten Republik beruhten. So wurde im Jahre 1993 in Kattowitz 206 das bereits vor dem Zweiten Weltkrieg fertiggestellte Piłsudski-Denkmal aufgestellt, während 1995 in Warschau ein Denkmal auf dem Piłsudski-Platz gegenüber dem Grabmal des Unbekannten Soldaten errichtet wurde. Dieses war jedoch umstritten, weil es angeblich zu klein und der Ort nicht geeignet war. Nach weiteren Diskussionen wurde schließlich 1998 ein 4,5 Meter hohes Piłsudski-Denkmal vor dem Belwe- 202 Obwohl der 22. Juli in der Volksrepublik Nationalfeiertag wurde, blieb der 11. November im kollektiven Gedächtnis verankert. Das kommunistische Regime versuchte vergeblich, dessen „sozialistische Wurzeln“ offenzulegen, so daß der 11. November erst unter dem Einfluß der Solidarność-Bewegung seine gesellschaftliche Bedeutung wiedererlangte. Vgl. S. GRABOWSKI, Rezeption; DIES., Wiedergeburt. 203 Z.B. J. LOBMAN: Z krypty głos nie dobiega [...] Wokół legendy J. Piłsudskiego [Aus der Krypta ertönt die Stimme nicht [...] Um die J.-Piłsudski-Legende], in: Trybuna Ludu, 111 (1985), S. 6, in: Herder-Institut, Pressearchiv, P 29 Piłsudski, n.pag.; GARLICKI, Postać; J.M. NOWAKOWSKI: Polityk i legenda, in: Przegląd Tygodniowy („Wochenrundschau“), Nr. 16 (1985), S. 10. 204 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.XI.1988, in: Herder-Institut, Pressearchiv, P 29, n.pag. 205 Beispielsweise wurden eine Weichselbrücke in Toruń und eine Straße in Krakau wieder nach Piłsudski benannt. 206 1997 wurden dazu noch die vor dem Zweiten Weltkrieg geplanten vier Figuren von schlesischen Aufständischen errichtet (vgl. Głos Pomorza („Die Stimme Pommerns“) vom 10./11.XI.1997). Zum Piłsudski-Denkmal siehe auch die schriftliche Auskunft der Kattowitzer Stadtverwaltung (UAiNB-II-7335/226/96/EP/BJ). 365
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In der Volksrepublik Polen kam es – teilweise mit Erfolg – zur Zerstörung von<br />
Stätten <strong>und</strong> Gegenständen der Erinnerung an <strong>Piłsudski</strong> 196 , vor allem jedoch sollte <strong>Piłsudski</strong><br />
durch systematisches Verschweigen allmählich ganz in Vergessenheit geraten.<br />
Obwohl eine nähere Analyse dieser Praxis des kommunistischen Regimes hier nicht<br />
möglich ist, ist zumindest festzustellen, daß der <strong>Piłsudski</strong>-Mythos trotz dieser Verdrängungspolitik<br />
in der polnischen Gesellschaft weiterlebte, denn in Kreisen der politischen<br />
Opposition, insbesondere während der politischen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Krise<br />
Ende der 1970er Jahre, kam es zu einer Renaissance der <strong>Piłsudski</strong>-Verehrung.<br />
Die Solidarność 197 (Solidarität) gebrauchte die Figur <strong>Piłsudski</strong>s als Symbol ihrer<br />
Opposition gegen das System <strong>und</strong> berief sich auf sein ideelles Erbe. In <strong>Piłsudski</strong>s Gestalt<br />
erkannte man den großen Kämpfer um Freiheit, Unabhängigkeit <strong>und</strong> Souveränität<br />
Polens, den Schöpfer eines einheitlichen polnischen Staates <strong>und</strong> <strong>seine</strong>r Armee sowie<br />
den siegreichen Führer, Politiker <strong>und</strong> Staatsmann. 198 Neu gegründete Gesellschaften,<br />
die das Gedächtnis an <strong>Piłsudski</strong> pflegten 199 , wollten dafür sorgen, daß das geistige<br />
Erbe <strong>Piłsudski</strong>s nicht in Vergessenheit geriet. Für sie war die von den Kommunisten<br />
auf den Marschall angewandte Politik des Verschweigens <strong>und</strong> der Geschichtsfälschung<br />
eine „antipolnische Tätigkeit, die die nationale Geschichte zerstört“ 200 . Diese<br />
Politik sei aus einem „mongolischen Despotismus“ 201 heraus entstanden.<br />
Auch hier zeigt sich ähnlich wie innerhalb der Sanacja in der Zweiten Republik<br />
die Tendenz, den <strong>Piłsudski</strong>-<strong>Kult</strong> politisch zu instrumentalisieren <strong>und</strong> als einigendes<br />
Band für die einzelnen Gruppierungen innerhalb der eigenen politischen Richtung zu<br />
funktionalisieren.<br />
196<br />
So sollte beispielsweise der <strong>Piłsudski</strong>-Erdhügel in Krakau in den 1960er Jahren zu einem<br />
Sportgelände umgestaltet werden. Es gibt auch mündlich überlieferte Berichte, nach denen<br />
die mit <strong>Piłsudski</strong> verb<strong>und</strong>enen Exponate im Warschauer Militärmuseum zerstört werden<br />
sollten. Interessanterweise fand wohl nie ein formaler Akt statt, der die Benennung<br />
der Warschauer Universität nach <strong>Piłsudski</strong> rückgängig gemacht hätte. Vgl. GARBACIK, S.<br />
7-11 (dort mit einer ausführlichen Darstellung der Kritikpunkte).<br />
197<br />
<strong>Der</strong> Arbeiterführer der Solidarność <strong>und</strong> spätere Staatspräsident (1990-1995) Lech Wałęsa<br />
lieferte insofern ein Vorbild bei der <strong>Piłsudski</strong>-Verehrung, als er sich selbst als ein „zweiter<br />
<strong>Piłsudski</strong>“ gerierte (vgl. dazu URBANEK, <strong>Piłsudski</strong> bis; dies griff BIERNAT, Paradoks, in<br />
<strong>seine</strong>r als Vergleich angelegten Studie auf). Es gab auch Geldscheine mit dem Portrait<br />
<strong>Piłsudski</strong>s, die die Solidarność herausgab. Vgl. Banknoty opozycji w Polsce 1982-1988.<br />
198<br />
Vgl. Pamięć Narodowa 1 (1989), Nr. 1, S. 1.<br />
199<br />
1980 entstand ein Komitee für den Erhalt des <strong>Piłsudski</strong>-Erdhügels, 1988 wurden die Gesellschaft<br />
zur Pflege des Gedenkens an <strong>Piłsudski</strong> in Różan, die die Zeitschrift Piłsudczyk<br />
herausgibt, <strong>und</strong> eine weitere in Krakau gegründet. Zu den Zielen der Gesellschaft in<br />
Różan: Deklaracja programowa i statut. Vgl. auch ZĄBEK, S. 281-284.<br />
200<br />
„antypolska działalność, niszcząca narodową historię“ (Pamięć Narodowa 1 (1989), Nr. 1,<br />
S. 1).<br />
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„z mongolskiego despotyzmu“ (ebenda). Gemeint war die Sowjetunion.<br />
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