Heidi Hein, Der Piłsudski-Kult und seine Bedeutung ... - Herder-Institut
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1242) in der Sowjetunion kultisch verehrt wurde. Zu solchen Personen oder Ereignissen gehört auch die Totenverehrung von Gefallenen für das eigene Vaterland. Daraus ergibt sich ein weiterer Teilaspekt des Mythos. Die kultisch verehrten Persönlichkeiten werden häufig, besonders bei den staatlich geförderten Kulten, als Erzieher bzw. Lehrer dargestellt, wodurch diese und ihre Taten eine Vorbildfunktion erhalten. Lenin galt als Lehrer und Vorbild für den Klassenkampf, während sich dieses Charakteristikum beispielsweise auch in der Benennung von Bibliotheken nach Atatürk oder Piłsudski widerspiegelt. Ein wichtiger Topos beim Totenkult ist meistens das Vermächtnis des jeweiligen Kultobjekts, das jedoch häufig quellenmäßig schwer faßbar ist. So galt es nicht nur, nach dem Tode Piłsudskis dessen Vermächtnis in Polen, sondern auch das Lenins in der Sowjetunion und das Mao Tse-tungs in China zu bewahren. Generell wird daher die kultisch verehrte Persönlichkeit meist als Landesvater bzw. Staatsgründer, als „Vater des Vaterlandes“, als charismatischer, genialer, heldenhafter und für sein Volk opferbereiter „Führer“ und „Erzieher“ seines Volkes angesehen. Diese Aspekte des Mythos kulminieren dann häufig in der Vorstellung, daß die kultisch verehrte Person das Symbol des Staates bzw. der Bewegung selbst sei, so wie Hitler beispielsweise seit 1933 das „neue Deutschland“ oder Piłsudski das 1918 wiedergegründete Polen symbolisierte. Dies bedeutet, daß sich der Mythos, der sich auf eine kultisch verehrte Persönlichkeit bezieht, allein auf die historische Leistung des jeweiligen Kultobjekts konzentriert. Die historische Perspektive bzw. das Geschichtsbild wird dadurch verengt, so daß andere konkurrierende Entwicklungen darin keinen Platz haben. Die weiteren Inhalte des vermittelten Mythos sind von den spezifischen historischen und weltanschaulichen Bedingungen abhängig, unter denen sich der Kult entwickelt hat, wobei etwa der Piłsudski-Mythos auf die Bedürfnisse der Sanacja zugeschnitten war. Beispielsweise wurde Tadeusz Kościuszko unter den Bedingungen der Teilungen Polens zunächst als Freiheitskämpfer für sein Volk und als Feind der russischen Teilungsmacht verehrt. Unter dem Einfluß der Bauern-Bewegung wurde der Mythos später noch durch die Vorstellung ergänzt, daß sich Kościuszko vor allem um die kämpfenden Bauern gekümmert habe. 105 Lenin etwa wurde, im Sinne des Postulats von der Weltrevolution, als „Führer der proletarischen Armee“, als „Genius der Arbeiterklasse“, als deren Lehrer und Führer gefeiert, der sich mit geradezu übermenschlicher Arbeitskraft in den Dienst der internationalen Arbeiterklasse gestellt und sich für diese aufgeopfert habe. Dadurch wurde er zum Symbol der neuen kommunistischen Welt. Nach Lenins Tod sollten – so die Rhetorik des Lenin-Kultes – in jedem Sowjetmenschen ein Teil Lenins, sein Geist und sein Name weiterleben und sich in Gestalt der Einheit von Arbeitern und Bauern fortpflanzen. 106 105 Vgl. MICIŃSKA, Myth, S. 193 f. 106 Vgl. ENNKER, Anfänge, S. 90-93. 344
Da die menschlichen Prädispositionen in bezug auf Emotionen und damit die Empfänglichkeit für Rituale und Symbole grundsätzlich gegeben sind, gleichen sich die grundlegenden Funktionen von politischen Kulten. Sie kommen aber nicht bei jedem Kult gleichermaßen zum Tragen. Politische Kulte entstehen vor allem in politischen Systemen, die erhebliche Legitimations- bzw. Identifikationsdefizite haben, was sich durch die Berufung auf die kultisch überhöhte, verstorbene Persönlichkeit oder die kultische Verehrung zu deren Lebzeiten ausdrückt. Da sie sich ausschließlich auf die (historischen) Taten und Leistungen der jeweils verehrten Persönlichkeit konzentrieren, verstärken sie die charismatische Rolle des Verehrten im Sinne Max Webers. Dabei soll der Totenkult den Nachfolgern des Kultobjekts zugute kommen, da diese von dessen „Glanz bestrahlt“ werden und somit eine eigene Legitimität erhalten sollen. Aus diesem Grund förderten die Epigonen Piłsudskis den Kult um den Staatsgründer, ähnlich wie sich Napoleon III. für den Kult um Napoleon Bonaparte verwendete, obwohl er auch versuchte, einen Kult um seine eigene Person zu etablieren. Politische Kulte sollen daher den jeweiligen Trägerschichten (resp. Machthabern im Staat) die nötige Legitimität verschaffen, indem sie die Autorität des Kultobjekts auf sich selbst projizieren oder zumindest von dessen öffentlichem Ansehen zu profitieren versuchen. Gleichzeitig soll die Mobilisierung der Massen im Rahmen des jeweiligen Kultes plebiszitäre bzw. akklamatorische Wirkung entfalten, sie an das System binden und damit in das eigene Herrschaftssystem integrieren. Daß diese integrative Funktion auch für demokratische Staaten eine Rolle spielen kann, zeigt die kultische Verehrung Abraham Lincolns 107 und George Washingtons 108 , dessen Name zum Symbol für die demokratisch legitimierten USA geworden ist. 109 Legitimations- und Identitätsdefizite können während einer Revolution oder aus Anlaß von sonstigen politisch-sozialen Umbruchs- oder Krisensituation entstehen. Dies bedeutet, daß Kulte in Krisenzeiten bzw. in der Etablierungsphase von politischen Systemen eine besondere „Konjunktur“ haben, wie das Beispiel des Kultes um Ceauşescu und ansatzsweise auch das Gesetz von 1996 über die Verankerung des 107 Das Lincoln-Memorial in Washington, D.C. ist mit Aussagen Lincolns über die Einheit der USA versehen und Ort von Kundgebungen mit grundlegender Bedeutung für die amerikanische Gesellschaft (z.B. von Anti-Vietnam-Demonstrationen). 108 Vgl. SCHWARTZ, Washington; DERS., Social Change. 109 Insgesamt scheinen aber der Grad und die Bedeutsamkeit von politischen Kulten bei demokratischen Staaten deswegen geringer zu sein, weil ein demokratisch legitimiertes System durch andere, hier nicht näher zu erläuternde Faktoren Identifikationsangebote machen kann. Darauf deutet auch die kultische Überhöhung von Theodor Herzl in Israel bzw. Giuseppe Garibaldi in Italien hin. Vgl. auch die Debatte um die Identifikationsfigur des merowingischen Herrschers Chlodwig in Frankreich bei MAISSEN. 345
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1242) in der Sowjetunion kultisch verehrt wurde. Zu solchen Personen oder Ereignissen<br />
gehört auch die Totenverehrung von Gefallenen für das eigene Vaterland.<br />
Daraus ergibt sich ein weiterer Teilaspekt des Mythos. Die kultisch verehrten Persönlichkeiten<br />
werden häufig, besonders bei den staatlich geförderten <strong>Kult</strong>en, als Erzieher<br />
bzw. Lehrer dargestellt, wodurch diese <strong>und</strong> ihre Taten eine Vorbildfunktion<br />
erhalten. Lenin galt als Lehrer <strong>und</strong> Vorbild für den Klassenkampf, während sich dieses<br />
Charakteristikum beispielsweise auch in der Benennung von Bibliotheken nach<br />
Atatürk oder <strong>Piłsudski</strong> widerspiegelt.<br />
Ein wichtiger Topos beim Totenkult ist meistens das Vermächtnis des jeweiligen<br />
<strong>Kult</strong>objekts, das jedoch häufig quellenmäßig schwer faßbar ist. So galt es nicht nur,<br />
nach dem Tode <strong>Piłsudski</strong>s dessen Vermächtnis in Polen, sondern auch das Lenins in<br />
der Sowjetunion <strong>und</strong> das Mao Tse-tungs in China zu bewahren.<br />
Generell wird daher die kultisch verehrte Persönlichkeit meist als Landesvater<br />
bzw. Staatsgründer, als „Vater des Vaterlandes“, als charismatischer, genialer, heldenhafter<br />
<strong>und</strong> für sein Volk opferbereiter „Führer“ <strong>und</strong> „Erzieher“ <strong>seine</strong>s Volkes angesehen.<br />
Diese Aspekte des Mythos kulminieren dann häufig in der Vorstellung, daß<br />
die kultisch verehrte Person das Symbol des Staates bzw. der Bewegung selbst sei, so<br />
wie Hitler beispielsweise seit 1933 das „neue Deutschland“ oder <strong>Piłsudski</strong> das 1918<br />
wiedergegründete Polen symbolisierte.<br />
Dies bedeutet, daß sich der Mythos, der sich auf eine kultisch verehrte Persönlichkeit<br />
bezieht, allein auf die historische Leistung des jeweiligen <strong>Kult</strong>objekts konzentriert.<br />
Die historische Perspektive bzw. das Geschichtsbild wird dadurch verengt, so<br />
daß andere konkurrierende Entwicklungen darin keinen Platz haben.<br />
Die weiteren Inhalte des vermittelten Mythos sind von den spezifischen historischen<br />
<strong>und</strong> weltanschaulichen Bedingungen abhängig, unter denen sich der <strong>Kult</strong> entwickelt<br />
hat, wobei etwa der <strong>Piłsudski</strong>-Mythos auf die Bedürfnisse der Sanacja zugeschnitten<br />
war. Beispielsweise wurde Tadeusz Kościuszko unter den Bedingungen der<br />
Teilungen Polens zunächst als Freiheitskämpfer für sein Volk <strong>und</strong> als Feind der russischen<br />
Teilungsmacht verehrt. Unter dem Einfluß der Bauern-Bewegung wurde der<br />
Mythos später noch durch die Vorstellung ergänzt, daß sich Kościuszko vor allem um<br />
die kämpfenden Bauern gekümmert habe. 105 Lenin etwa wurde, im Sinne des Postulats<br />
von der Weltrevolution, als „Führer der proletarischen Armee“, als „Genius der<br />
Arbeiterklasse“, als deren Lehrer <strong>und</strong> Führer gefeiert, der sich mit geradezu übermenschlicher<br />
Arbeitskraft in den Dienst der internationalen Arbeiterklasse gestellt<br />
<strong>und</strong> sich für diese aufgeopfert habe. Dadurch wurde er zum Symbol der neuen kommunistischen<br />
Welt. Nach Lenins Tod sollten – so die Rhetorik des Lenin-<strong>Kult</strong>es – in<br />
jedem Sowjetmenschen ein Teil Lenins, sein Geist <strong>und</strong> sein Name weiterleben <strong>und</strong><br />
sich in Gestalt der Einheit von Arbeitern <strong>und</strong> Bauern fortpflanzen. 106<br />
105 Vgl. MICIŃSKA, Myth, S. 193 f.<br />
106 Vgl. ENNKER, Anfänge, S. 90-93.<br />
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