Heidi Hein, Der Piłsudski-Kult und seine Bedeutung ... - Herder-Institut
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die Denkmalsprojekte und Todestagsfeiern nach dessen Tod dazu auf, seine geistige Hinterlassenschaft zu bewahren. Diese Eigenschaften sollten dem Staatsvolk nun über die verschiedenen Vermittlungsformen des Kultes nahegebracht und entsprechend umgesetzt werden. In diesem Sinne wirkte vor allem das Bild des Marschalls vom Erzieher seines Volkes; Piłsudski wurde das durch den Kult propagierte Leit- und Vorbild der staatsbürgerlichen Gemeinschaft, die patriotische Vater- und Führerfigur des polnischen Volkes. Es ging also um den Erhalt von Disziplin, Ordnung und Geschlossenheit innerhalb der polnischen Gesellschaft entgegen den Tendenzen der parlamentarischen Zersplitterung und um die Bewahrung der Größe und Macht des polnischen Staates nach außen. 71 Daher ist der Piłsudski-Kult letztlich als ein Mittel zu betrachten, die „moralische Gesundung“ (sanacja moralna) des polnischen Staates und der Gesellschaft durchzusetzen. Dafür war die Projektionsfläche für die das Andenken an Piłsudski wahrende und ihn verehrende Gruppe dessen „bewaffnete Tat“, die zum Erreichen der polnischen Unabhängigkeit geführt hatte. Auf diese Weise wurden gegenwärtige Vorstellungen auf die Vergangenheit übertragen, was den ideologischen Charakter dieser starken ritualisierten Verehrung ausmacht. Der Piłsudski- Kult war folglich der Kristallisationspunkt und die Essenz der Sanacja-Anschauungen und bildete letztlich einen Ersatz für die fehlende Ideologie der Sanacja, zumal er nach Piłsudskis Tod die einzige Gemeinsamkeit der in ihr rivalisierenden Gruppen darstellte. Er bot zugleich das wichtigste Mittel, um sie zu popularisieren und somit das Regime zu legitimieren. In diesem Sinne ist der Piłsudski-Kult als Staatsideologie zu verstehen. Er schuf durch seine Vermittlungs- und Ausdrucksformen bestimmte Traditionen und Rituale und beeinflußte somit nicht nur das offizielle Geschichtsbild, sondern prägte auch Selbstverständnis und Selbstdarstellung des polnischen Staates auf entscheidende Weise. Somit diente er dazu, die vielfach fragmentierte Gesellschaft und die ehemaligen Teilungsgebiete zusammenzuführen und auf den wiedergewonnenen polnischen Staat hin zu orientieren, um ihn auf diese Weise zu sichern. Nicht nur deswegen, sondern auch aufgrund der Tatsache, daß die verschiedenen Vermittlungsformen wesentlich in der Öffentlichkeit wirkten, ist insgesamt festzustellen, daß der staatliche Kult um Piłsudski in den Jahren von 1926 bis 1939 ein elementarer Bestandteil der politischen Kultur der Zweiten Republik war. 71 Vgl. AAN, WWNK, 2, 83 f., vgl. auch AAN, WWNK, 3, B. 32 und 80. 338
5.1.1. Der Piłsudski-Kult und andere politische Kulte – typologische Überlegungen Ist der Piłsudski-Kult bisher allein im polnischen Kontext behandelt worden, so muß er auch im Vergleich zu anderen politischen Kulten, vor allem zu denen des 20. Jahrhunderts betrachtet werden. 72 Die Forschungslage ist hinsichtlich der einzelnen Kulte oft sehr unterschiedlich und divergiert in bezug auf die verwendete Methode meist erheblich. 73 Während es zahlreiche Studien zum Mythos bzw. Kult um Lenin 74 , Stalin 75 und Adolf Hitler 76 sowie Abhandlungen zu Teilaspekten des Kultes um Otto von Bismarck 77 oder um den polnischen Freiheitskämpfer Tadeusz Kościuszko gibt, liegen beispielsweise im Falle von Tomaš Masaryk 78 in der Tschechoslowakei, von Miklós Horthy in Ungarn oder Kemal Atatürk (= „Vater der Türken“) in der Türkei keine speziellen Untersuchungen über die Ausprägung des Kultes vor. Daher können in diesem Rahmen nur grundsätzliche typologische Überlegungen über wesentliche Funktionen von politischen Kulten insgesamt angestellt werden, die in diesem Rahmen und aufgrund der Forschungslage zu den politischen Kulten geradezu zwangsläufig skizzenhaft bleiben müssen. Zunächst lassen sich Kulte in die säkularen politischen (Massen-)Kulte des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts, in den Heiligenkult des Mittelalters 79 und in den 72 Vgl. zum folgenden: FROMM; The Cult of Power, darin vor allem SUEDFELD; siehe auch STÖLTING; GEIGER. 73 Oft wird die kultische Verehrung von Persönlichkeiten im Rahmen von Biographien über die jeweilige Person behandelt, so daß durch diesen Forschungsansatz der Kult selbst nur ergänzenden bzw. zusammenfassenden Charakter trägt, so z.B. LĄTKA über Kemal Atatürk, wobei der Verf. in der Einleitung darlegt, daß gerade die heute immer noch große Verehrung Atatürks ihn zu dieser Biographie angeregt habe. Vgl. ebenda, S. 7 f. 74 Zum Lenin-Kult siehe ENNKER, Anfänge; DERS., Ende des Mythos?; DERS., Leninkult; TURKMARIN, Lenin Lives!; DIES., Religion; TUCKER, Theory; BRAHM, Lenin-Mythos; WELIKANOWA. Zur sowjetischen Ausprägung des Führerkultes siehe auch: GILL, Leader Cult; DERS., Personality Cult (dort Kritik an der Sichtweise von PALTIEL); KOENEN; MEYER-LANDRUT. Wie sehr das Begräbnis Lenins zum Vorbild für die übrigen kommunistischen Staaten wurde, zeigt ZAREMBA. 75 Zur wichtigsten Literatur über den Stalinkult gehören: LÖHMANN; STITES; TUCKER, Rise; HEIZER. 76 Aus der umfangreichen Literatur seien stellvertretend genannt: KERSHAW, Hitler-Mythos; DERS., Führer Image; DERS., Mythe du Führer; WIESSBECKER; KETTENACKER; vgl. auch OBERMEIER; VONDUNG; GAMM. 77 Vgl. MACHTAN; REUTER; MÜLLER-WUSTERWITZ; HEDINGER, Bismarckkult; DERS., Bismarck-Denkmäler; PARR; BREITENBORN. 78 Vgl. ALEXANDER, der nur kurz auf den Masaryk-Kult hinweist. 79 Zum Heiligenkult siehe etwa: Le culte des saints aux IXe-XIIIe siècles. Es läßt sich bis ins 20. Jahrhundert ein politischer Heiligenkult nachweisen: Vgl. ANGENENDT; KORFF, Be- 339
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5.1.1. <strong>Der</strong> <strong>Piłsudski</strong>-<strong>Kult</strong> <strong>und</strong> andere politische <strong>Kult</strong>e – typologische Überlegungen<br />
Ist der <strong>Piłsudski</strong>-<strong>Kult</strong> bisher allein im polnischen Kontext behandelt worden, so muß<br />
er auch im Vergleich zu anderen politischen <strong>Kult</strong>en, vor allem zu denen des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
betrachtet werden. 72 Die Forschungslage ist hinsichtlich der einzelnen <strong>Kult</strong>e<br />
oft sehr unterschiedlich <strong>und</strong> divergiert in bezug auf die verwendete Methode meist<br />
erheblich. 73 Während es zahlreiche Studien zum Mythos bzw. <strong>Kult</strong> um Lenin 74 , Stalin<br />
75 <strong>und</strong> Adolf Hitler 76 sowie Abhandlungen zu Teilaspekten des <strong>Kult</strong>es um Otto von<br />
Bismarck 77 oder um den polnischen Freiheitskämpfer Tadeusz Kościuszko gibt, liegen<br />
beispielsweise im Falle von Tomaš Masaryk 78 in der Tschechoslowakei, von<br />
Miklós Horthy in Ungarn oder Kemal Atatürk (= „Vater der Türken“) in der Türkei<br />
keine speziellen Untersuchungen über die Ausprägung des <strong>Kult</strong>es vor. Daher können<br />
in diesem Rahmen nur gr<strong>und</strong>sätzliche typologische Überlegungen über wesentliche<br />
Funktionen von politischen <strong>Kult</strong>en insgesamt angestellt werden, die in diesem Rahmen<br />
<strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> der Forschungslage zu den politischen <strong>Kult</strong>en geradezu zwangsläufig<br />
skizzenhaft bleiben müssen.<br />
Zunächst lassen sich <strong>Kult</strong>e in die säkularen politischen (Massen-)<strong>Kult</strong>e des 19.<br />
<strong>und</strong> vor allem des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts, in den Heiligenkult des Mittelalters 79 <strong>und</strong> in den<br />
72<br />
Vgl. zum folgenden: FROMM; The Cult of Power, darin vor allem SUEDFELD; siehe auch<br />
STÖLTING; GEIGER.<br />
73<br />
Oft wird die kultische Verehrung von Persönlichkeiten im Rahmen von Biographien über<br />
die jeweilige Person behandelt, so daß durch diesen Forschungsansatz der <strong>Kult</strong> selbst nur<br />
ergänzenden bzw. zusammenfassenden Charakter trägt, so z.B. LĄTKA über Kemal Atatürk,<br />
wobei der Verf. in der Einleitung darlegt, daß gerade die heute immer noch große<br />
Verehrung Atatürks ihn zu dieser Biographie angeregt habe. Vgl. ebenda, S. 7 f.<br />
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Zum Lenin-<strong>Kult</strong> siehe ENNKER, Anfänge; DERS., Ende des Mythos?; DERS., Leninkult;<br />
TURKMARIN, Lenin Lives!; DIES., Religion; TUCKER, Theory; BRAHM, Lenin-Mythos;<br />
WELIKANOWA. Zur sowjetischen Ausprägung des Führerkultes siehe auch: GILL, Leader<br />
Cult; DERS., Personality Cult (dort Kritik an der Sichtweise von PALTIEL); KOENEN;<br />
MEYER-LANDRUT. Wie sehr das Begräbnis Lenins zum Vorbild für die übrigen kommunistischen<br />
Staaten wurde, zeigt ZAREMBA.<br />
75<br />
Zur wichtigsten Literatur über den Stalinkult gehören: LÖHMANN; STITES; TUCKER, Rise;<br />
HEIZER.<br />
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Aus der umfangreichen Literatur seien stellvertretend genannt: KERSHAW, Hitler-Mythos;<br />
DERS., Führer Image; DERS., Mythe du Führer; WIESSBECKER; KETTENACKER; vgl. auch<br />
OBERMEIER; VONDUNG; GAMM.<br />
77<br />
Vgl. MACHTAN; REUTER; MÜLLER-WUSTERWITZ; HEDINGER, Bismarckkult; DERS., Bismarck-Denkmäler;<br />
PARR; BREITENBORN.<br />
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Vgl. ALEXANDER, der nur kurz auf den Masaryk-<strong>Kult</strong> hinweist.<br />
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Zum Heiligenkult siehe etwa: Le culte des saints aux IXe-XIIIe siècles. Es läßt sich bis ins<br />
20. Jahrh<strong>und</strong>ert ein politischer Heiligenkult nachweisen: Vgl. ANGENENDT; KORFF, Be-<br />
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