Heidi Hein, Der Piłsudski-Kult und seine Bedeutung ... - Herder-Institut
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mäßig ist.“ 20 Daher basiert charismatische Autorität auf dem Glauben an den charismatischen (Kriegs-)Helden und gleichzeitig auf der Pflicht zu eben diesem Glauben und der Anerkennung, die der charismatisch Legitimierte für sich fordert und deren Verletzung er ahndet. Entfällt aber der Charismaträger und besteht das Herrschaftsverhältnis dennoch fort, so erkennt Weber dessen Tendenz, sich zu veralltäglichen. Dies bedeutet, daß es traditionalisiert wird, das Kriterium des Charismas auf einen „Jünger“ übergeht oder das Charisma selbst inhaltlich umgebildet wird. Dadurch definiert Weber eine soziale Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschten, ohne diese ethisch zu bewerten, wobei er lediglich Wert auf die Legitimität des Führungsanspruchs legt. Hatte sich Weber nur auf die charismatische Funktion beschränkt und das Schema legitimer Herrschaft auf keine empirische Grundlage gestellt, so lassen sich nach Franz Neumann 21 auch empirische Argumente finden, zumal die in modernen Gesellschaften wegfallende Legitimierung von Monarchen durch das Gottesgnadentum von anderen Beweggründen ersetzt werden mußte. 22 Insofern ersetzt eine charismatische Herrschaft nicht nur die tradierte Herrschaft eines Monarchen, sondern auch fehlende andere Legitimationen wie etwa eine demokratische Wahl. Da der Kult um einen politischen Führer als „solitär fungierendes Organ“ einer Massenbewegung einerseits die herausragende Rolle einer Persönlichkeit für die Geschichte eines Landes oder Regierungssystems in den Vordergrund stellt und andererseits den Herrschaftsanspruch bzw. die Herrschaft der führenden Person mit dessen Gefolgschaft „von unten“ legitimieren und festigen will, bedeutet dies, daß Personenkulte die charismatischen Führereigenschaften ihres Kultobjektes herausstellen und propagieren müssen. Daher läßt sich nach Thomas Geiger das Charisma eines Herrschers durchaus objektivieren: Es ist die Bedeutung, „welche der Persönlichkeit von den Mächten der öffentlichen Meinung beigemessen wird. Das Publikum wird gar nicht vom Großen Mann geführt, es wird zum Großen Mann geführt!“ 23 Durch diese Mediatisierung des Führercharismas muß also das charismatische Bild des Führers genauestens definiert werden, erst durch ein solches öffentlich anerkanntes Image kann der vorhandene „emotional-rationale Grundwille“ 24 ad hoc auf rationale Begründungen ausgedehnt werden. Dies kann nur dadurch geschehen, daß ein Mythos – also ein bestimmtes Bild der Persönlichkeit, das die für die charismatische Gestalt wichtigen charakterlichen Eigenschaften beschreibt – geschaffen und propagiert wird. Die allgemeine Anerkennung in der Öffentlichkeit kann ein Personenkult also nur dann finden, wenn seine inhaltlichen Grundlagen in der geschichtlichen Tradition des Landes bzw. in der 20 WEBER, Typen, S. 482. Vgl. zum Charisma-Begriff: LIPP. 21 Vgl. NEUMANN, S. 166 f.; ENNKER, Anfänge, S. 11. 22 Vgl. ebenda, S. 11 f. 23 GEIGER, S. 244 (Hervorhebungen im Original, die Ausführungen T. Geigers waren richtungsweisend); vgl. auch ENNKER, Anfänge, S. 14 f. 24 GEIGER, S. 233. 7
Gesellschaft fest verankert sind. 25 Er gründet folglich auf einem „‚gemachten‘ politischen Mythos“ 26 , der sich als soziales, auf das Verhalten anderer orientiertes Handeln im Sinne Max Webers äußert. 27 Mythen 28 entstehen in der Regel durch eine selektive Interpretation der eigenen Vergangenheit. 29 Obwohl sich die Begriffe Mythos und Legende nur schwer von einander unterscheiden lassen, bleibt festzuhalten, daß Legenden im Vergleich zum Mythos im allgemeinen eine qualitativ niedrigere Ebene bezeichnen. Erstere beschäftigen sich mit sagenhaften Geschichten von Personen oder Ereignissen mit historisch wahrem Kern und bilden daher die „‚Bausteine‘ für das ‚Haus‘ der Mythen“ 30 , wenn sie einzelne historische Ereignisse nicht mehr den Tatsachen gemäß interpretieren. Bei Mythen werden bestimmte historische Aspekte über Gebühr betont, andere vernachlässigt, wobei ein Mythos Unbekanntes mit Bekanntem erklären will. Ein Mythos hat also eine politisch-soziale Orientierungsfunktion, weil er komplexe historische Ereignisse entflechtet und in einfache Vorgänge auflöst. 31 Damit ist ein Mythos „ein Bild oder eine Ordnung von Bildern (also eine Geschichte), in der ein metaphysischer Erklärungsanspruch erhoben wird. [...] Mythos ist etwas anderes als der bloße tradierte Fehler, etwas anderes als das Vorurteil und etwas anderes als die wissenschaftlich be- 25 Vgl. LÖHMANN, S. 10. 26 ENNKER, Anfänge, S. 8. 27 Vgl. WEBER, Wirtschaft, S. 1. 28 Zum Begriff des Mythos siehe WEIMANN, S. 488 ff.; HORSTMANN, S. 282-314; Stichwort „Mythologie“, in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, hrsg. von HANS-JÖRG SANDKÜHLER, Bd. 3, Hamburg 1990, S. 488 ff. Der Begriff Mythos wird in der Philosophie, aber auch in der Kunst- und Religionswissenschaft immer noch kontrovers diskutiert. In diesem Rahmen ist es aber nicht möglich, selbst die wichtigsten Ansätze zu erörtern. Angemerkt sei, daß es in der geschichtstheoretischen Literatur praktisch keine neuere Literatur zum Mythos-Begriff gibt. Vgl. SCHMID, S. 40 ff. Weder NIPPERDEY, Mythos, TOPOLSKI, Mythos „Revolution“, und BIZEUL noch die im folgenden genannten Arbeiten über verschiedene Ausprägungen von Mythen bzw. Kulten reflektieren den Begriff in geschichtstheoretischer Hinsicht. TOPOLSKI, Mythen, versucht zumindest ansatzweise eine geschichtstheoretische Reflexion von Mythen. Zum Verhältnis von politischen Mythen zur charismatischen Herrschaft vgl. BIERNAT, Mit, S. 331-340. 29 Nach Claude Lévi-Strauss basieren Mythen auf einem „bricolage“, einem zusammengesetzten Bild, vgl. STIERLE. 30 VON SALDERN, S. 14. 31 Vgl. ebenda, S. 18. Nach HERNEGGER, S. 166 f., entwickelt sich ein Mythos nie aus einer „privaten“ Erzählung eines Individuums, sondern erst dann, wenn die „offenbarende“ Erzählung eines Einzelnen von der Gesellschaft rezipiert worden ist. Dies geschieht jedoch nur dann, wenn der mythische Stoff bestimmte Funktionen für eine soziale Gruppe hat bzw. ein gesellschaftliches Grundbedürfnis erfüllt. Mythen sind insofern nach SCHMID, S. 40 f., eine erstarrte Interpretation eines historischen Sachverhaltes, ein historiographisches und wissenschaftliches Konstrukt. 8
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Gesellschaft fest verankert sind. 25 Er gründet folglich auf einem „‚gemachten‘ politischen<br />
Mythos“ 26 , der sich als soziales, auf das Verhalten anderer orientiertes Handeln<br />
im Sinne Max Webers äußert. 27<br />
Mythen 28 entstehen in der Regel durch eine selektive Interpretation der eigenen<br />
Vergangenheit. 29 Obwohl sich die Begriffe Mythos <strong>und</strong> Legende nur schwer von einander<br />
unterscheiden lassen, bleibt festzuhalten, daß Legenden im Vergleich zum Mythos<br />
im allgemeinen eine qualitativ niedrigere Ebene bezeichnen. Erstere beschäftigen<br />
sich mit sagenhaften Geschichten von Personen oder Ereignissen mit historisch wahrem<br />
Kern <strong>und</strong> bilden daher die „‚Bausteine‘ für das ‚Haus‘ der Mythen“ 30 , wenn sie<br />
einzelne historische Ereignisse nicht mehr den Tatsachen gemäß interpretieren. Bei<br />
Mythen werden bestimmte historische Aspekte über Gebühr betont, andere vernachlässigt,<br />
wobei ein Mythos Unbekanntes mit Bekanntem erklären will. Ein Mythos hat<br />
also eine politisch-soziale Orientierungsfunktion, weil er komplexe historische Ereignisse<br />
entflechtet <strong>und</strong> in einfache Vorgänge auflöst. 31 Damit ist ein Mythos „ein Bild<br />
oder eine Ordnung von Bildern (also eine Geschichte), in der ein metaphysischer Erklärungsanspruch<br />
erhoben wird. [...] Mythos ist etwas anderes als der bloße tradierte<br />
Fehler, etwas anderes als das Vorurteil <strong>und</strong> etwas anderes als die wissenschaftlich be-<br />
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Vgl. LÖHMANN, S. 10.<br />
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ENNKER, Anfänge, S. 8.<br />
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Vgl. WEBER, Wirtschaft, S. 1.<br />
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Zum Begriff des Mythos siehe WEIMANN, S. 488 ff.; HORSTMANN, S. 282-314; Stichwort<br />
„Mythologie“, in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie <strong>und</strong> Wissenschaften, hrsg.<br />
von HANS-JÖRG SANDKÜHLER, Bd. 3, Hamburg 1990, S. 488 ff. <strong>Der</strong> Begriff Mythos wird<br />
in der Philosophie, aber auch in der Kunst- <strong>und</strong> Religionswissenschaft immer noch kontrovers<br />
diskutiert. In diesem Rahmen ist es aber nicht möglich, selbst die wichtigsten Ansätze<br />
zu erörtern. Angemerkt sei, daß es in der geschichtstheoretischen Literatur praktisch keine<br />
neuere Literatur zum Mythos-Begriff gibt. Vgl. SCHMID, S. 40 ff. Weder NIPPERDEY, Mythos,<br />
TOPOLSKI, Mythos „Revolution“, <strong>und</strong> BIZEUL noch die im folgenden genannten Arbeiten<br />
über verschiedene Ausprägungen von Mythen bzw. <strong>Kult</strong>en reflektieren den Begriff<br />
in geschichtstheoretischer Hinsicht. TOPOLSKI, Mythen, versucht zumindest ansatzweise<br />
eine geschichtstheoretische Reflexion von Mythen. Zum Verhältnis von politischen Mythen<br />
zur charismatischen Herrschaft vgl. BIERNAT, Mit, S. 331-340.<br />
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Nach Claude Lévi-Strauss basieren Mythen auf einem „bricolage“, einem zusammengesetzten<br />
Bild, vgl. STIERLE.<br />
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VON SALDERN, S. 14.<br />
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Vgl. ebenda, S. 18. Nach HERNEGGER, S. 166 f., entwickelt sich ein Mythos nie aus einer<br />
„privaten“ Erzählung eines Individuums, sondern erst dann, wenn die „offenbarende“ Erzählung<br />
eines Einzelnen von der Gesellschaft rezipiert worden ist. Dies geschieht jedoch<br />
nur dann, wenn der mythische Stoff bestimmte Funktionen für eine soziale Gruppe hat<br />
bzw. ein gesellschaftliches Gr<strong>und</strong>bedürfnis erfüllt. Mythen sind insofern nach SCHMID, S.<br />
40 f., eine erstarrte Interpretation eines historischen Sachverhaltes, ein historiographisches<br />
<strong>und</strong> wissenschaftliches Konstrukt.<br />
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